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Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft Band 22 (2018/2019) Romania und Germania. Kulturelle und literarische Austauschprozesse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Reichert Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft Herausgegeben von Sieglinde Hartmann Band 22 (2018/2019) Reichert Verlag Wiesbaden 2019 Romania und Germania Kulturelle und literarische Austauschprozesse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Bernd Bastert und Sieglinde Hartmann unter redaktioneller Mitarbeit von Lina Herz Reichert Verlag Wiesbaden 2019 Romania und Germania. Kulturelle und literarische Austauschprozesse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Beiträge des interdisziplinären Symposions zum Thema „Deutsch-romanischer Literatur- und Kulturtransfer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Bilanz und Perspektiven“, veranstaltet von der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft vom 13. September bis 16. September 2017 in Verbindung mit dem Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik: Deutsche Literatur des Spätmittelalters an der Ruhr-Universität Bochum in der Kard. Nikolaus Cusanus Akademie Brixen, Südtirol. Umschlagabbildungen Vorderseite: König Sigismund 1415 vor Narbonne. Illustration aus Eberhard Windeck: Geschichte des Kaisers Sigismund. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Codex 13975, folio 77v, Werkstatt von Diebold Lauber, Hagenau: um 1445–1450 (http://data.onb.ac.at/rep/10002DD7) Rückseite: Wappenblatt „Wolckenstein“, Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von unbekannter Herkunft, Maße 31 × 15,5 cm (Privatbesitz von Prof. Dr. Sieglinde Hartmann, Frankfurt a. M., vormals Prof. Dr. Georg Glowatzki, Bern) Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig – pH7, neutral) © 2019 Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden ISBN 978-3-95490-376-4 ISSN 0722-4311 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Inhaltsverzeichnis Sieglinde Hartmann: Vorbemerkung/Preface .............................................................................................VIII–IX Bernd Bastert/Sieglinde Hartmann: Einleitung..............................................................1–8 Abkürzungen .........................................................................................................................9 Romanisch-germanischer Literaturtransfer im Hochmittelalter Fritz Peter Knapp (Heidelberg) Von der wälsche in diutsche zungen Kleine Blütenlese aus dem sechsbändigen Handbuch zur ‚theodisken‘ Dichtung à la française .....................................................................11–22 Der Artusroman zwischen Romania und Germania Patrick del Duca (Clermont-Ferrand) Der Rappoltsteiner Parzifal: Betrachtungen zur Übersetzungskunst der Autoren .................................................23–39 Julia Kermer (Regensburg) das ist ouch Parzefal und ist volletihtet und zuo ende braht Der Rappoltsteiner Parzifal als Replik auf Wolframs Parzival .................................40–52 Marie-Sophie Masse (Amiens) Transfers im Vergleich Der Burgundische und der Ambraser Erec(k) ............................................................53–67 Heldenepik zwischen Romania und Germania Elisabeth Lienert (Bremen) Erzähllogiken transnational Narratologische Aspekte der Rezeption französischer Heldenepik in frühneuhochdeutscher Prosa ...................................................................................68–81 Lina Herz (Bochum) Übersetzen, Übertragen, Überliefern. Zur Rezeption der französischen Heldenepik in den Saarbrücker Prosaepen ........82–97 Silke Winst (Göttingen) Allianz, Herrschaft und Verrat in den spätmittelalterlichen Bearbeitungen der Königin Sibille und der Königin von Frankreich ..............................................98–114 Seraina Plotke (Bamberg) Der Orient als Imaginationsraum Konstruktionen kultureller Identität in den spätmittelalterlichen Erzählversionen von Pontus und Sidonia ................115–128 VI Inhaltsverzeichnis Geistliche Texte zwischen Romnia und Germania Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken) Intention und Leistung – Die rheinfränkisch-lothringischen Übersetzungen der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs (15. Jh.) des Guillaume de Digulleville als mehrfache ‚ré-écriture‘ .....................................129–163 Markus Vinzent (Erfurt) Meister Eckhart in Paris Neues zur Wirkungsgeschichte Meister Eckharts..................................................164–172 Janina Franzke (Augsburg) Der ‚Kölner Taulerdruck‘, Surius und das Tauler- und Eckhartbild in der Romania ..........................................................................................................173–184 Silvia Bara Bancel (Madrid) Zur frühen spanischen Übersetzung des Horologium Sapientiae Heinrich Seuses: Relox de la Sabidoria (15. Jahrhundert) .....................................185–205 Auf der Grenze: Neue Stoffe in Romania und Germania André Schnyder (Bern/Lausanne) … ist hinach von den verlognen Franzosen dermaßen gebessert worden …, das es iezo bei unser zeiten alles für eitel und ain lauteres fabelwerk geschetzt wurt Schwäbische Melusinengeschichten aus der Zimmerischen Chronik und französische Hintergründe ...............................................................................206–223 Christine Putzo (Lausanne) Pierre und Maguelonne in Sachsen Die Rezeption der Belle Maguelonne am kurfürstlichen Hof und Veit Warbecks deutsche Fassung (1527) ..........................................................224–250 Henrike Schwab (Tübingen) Transformation und höfische Repräsentation: Der Amadisroman zwischen der Romania und Deutschland ...............................251–267 Fischarts Geschichtklitterung Peter Andersen-Vinilandicus (Strasbourg) Johann Fischart und die deutsche Heldensage mit Fokus auf seine Rabelais-Rezeption ...................................................................................268–282 Elsa Kammerer (Lille) Ein verkanntes Dokument über die Verbreitung von Jacques Yvers Printemps (1572) im deutschsprachigen Raum: Johann Fischarts Vorrede zur Geschichtschrift (1575) .......................................................................................283–295 Tobias Bulang (Heidelberg) Die Pantagruelische Vorsagung in Fischarts Geschichtklitterung Dimensionen eines kulturellen Übersetzungsprojekts ..........................................296–310 VII Inhaltsverzeichnis Mediale Transferprozesse Brigitte Burrichter (Würzburg) Sebastian Brants Narrenschiff und seine europäische Rezeption im 15. Jahrhundert Vorstellung der digitalen Edition wichtiger Ausgaben (deutsch, lateinisch, französisch und englisch) und erste Ergebnisse des Vergleichs. ...........................311–323 Simone Loleit (Duisburg-Essen) Et pource, quant l’en fait aulcune chose, l’en doit regarder la fin Zu Julien Machos Übersetzung von Heinrich Steinhöwels zweisprachigem Esopus.............................................................................................324–336 Rita Schlusemann (Berlin) Ein Drucker ohne Grenzen: Gheraert Leeu als erster ‚europäischer‘ Literaturagent .........................................337–359 Kulturelle Transferprozesse David Wallace (Pennsylvania) Oswald von Wolkenstein in the Context of Constance ........................................360–377 Danielle Buschinger (Amiens) Kaiser Octavianus im Kontext übersetzter französischer Prosaromane des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit .........................................................378–397 Jarosław Wenta (Toruń) Die französischsprachige Fassung der Deutschordensstatuen..............................398–411 Klaus Wolf (Augsburg) München leuchtete! Zur Rolle der Wittelsbacher im deutsch-romanischen Kulturtransfer des Spätmittelalters....................................................................................................412–423 Irma Trattner (Linz) Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts ..................................................................................................424–435 Ausblick ins 16. Jh und 17. Jh. Johannes Klaus Kipf (München) Jenseits des Decameron Der romanisch-deutsche Literaturtransfer im ‚langen‘ 16. Jh. (bis 1620) am Beispiel der Kurzerzählsammlungen.................................................................436–455 Personenregister ........................................................................................................457–463 Werkregister ...............................................................................................................465–468 Farbabbildungen .......................................................................................................469–478 Irma Trattner Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts Einleitung Internationaler Kulturaustausch hängt von ganz präzisen kulturhistorischen, technischen, politischen und mentalen Voraussetzungen ab. Das war im Mittelalter nicht anders als heute, doch wird diese an sich simple Tatsache im kunsthistorischen Alltagsgeschäft der Mediävistik oft nicht wirklich wahrgenommen. Denn künstlerischer Austausch wird zwar durchaus beschrieben, quantifiziert und positivistisch analysiert, selten aber als generelles Phänomen sozialer Interaktion betrachtet.1 Ein wichtiges Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Definition der wechselseitigen Beziehungen von Teilnehmern am kulturellen Austausch, denn Kulturtransfer ist keinesfalls ein je einseitiges Geben und Empfangen, sondern Geber und Empfänger verändern sich beide durch den Austausch.2 Als Albrecht Dürer 1521 während seines Aufenthaltes in den Niederlanden (1520–21) nach Ostern von Antwerpen aus in Begleitung des Ulmer Kaufmanns Hans Lüber und des Malers Jan Provoost nach Brügge reiste, scheint dies nicht zuletzt durch ein ausgesprochenes Interesse an Kunstwerken gewesen zu sein. Hatten doch Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, Hugo van der Goes, Dirk Bouts und Hans Memling ihr Lebenswerk bereits vollendet, die die Perspektive, von der aus man damals die flämische Malerei betrachtete, bereits grundlegend verändert hatte. Dürers Tagebucheinträge über diesen Aufenthalt zeigen nicht nur, in welchem Ansehen die verschiedenen Künstler damals standen – sie sind auch der eindrucksvollste schriftliche Beleg dafür, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein historisches Bewusstsein der lokalen künstlerischen Tradition entwickelt worden war, die man offenbar voller Stolz dem berühmten Maler aus dem fernen Nürnberg präsentieren wollte.3 Dieses geschichtliche, jedoch keineswegs nostalgische Bewusstsein, welches sich zur selben Zeit auch in einer mitunter geradezu retrospektiven Kunstauffassung der Altniederländischen Tafelmalerei zu Beginn des 16. Jahrhunderts auszudrücken vermochte, scheint engste Bezüge zu einem fundamental humanisti1 Vgl. Klein, 2008, 137. 2 Dass dies zumindest theoretisch auch anders ginge, und wie dies eventuell funktionieren könnte, hat beispielsweise die Postkolonialismus-Debatte der letzten Jahre gezeigt, worin Funktion und Bedeutung von Kulturtransfer analysiert wurden und der kulturhistorische Hintergrund aufgezeigt wurde. 3 Schriftlicher Nachlass |Werke, dt. /Albrecht Dürer. Hrsg. von Hans Rupprich. Berlin 1956. DOI 10.29091/9783954906765/028 Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts 425 schen Geschichtsbild Flanderns in dieser Zeit aufzuweisen.4 Es waren jedenfalls humanistisch orientierte, antiquarisch interessierte Dichter und Malerpoeten aus Brügge und Gent, in deren Werken sich erstmals Ansätze einer systematischen Betrachtung der älteren flämischen Malerei erkennen lassen, die, nicht zuletzt unter dem Eindruck der 1550 veröffentlichten Viten Vasaris, mitunter auch auf zeitgenössische Künstler des 16. Jahrhunderts ausgedehnt wurden.5 Die Dominanz des nördlichen Manierismus in der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde auf einer Subversion der Konventionen der frühen niederländischen Kunst gebaut, die wiederum auf öffentlichen Gefallen fiel. Und dieses Neue war auch in einigen königlichen Kunstsammlungen beliebt. Maria von Ungarn und Philipp II. von Spanien sammelten beide niederländische Maler und hatten eine Vorliebe für Rogier van der Weyden und andere altniederländische Künstler. Später, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, war die Betonung jedoch eher auf die nördliche Renaissance als Ganzes und mehr auf den deutschen Albrecht Dürer gerichtet. Er war bei weitem der sammelbarste nördliche Künstler dieser Ära. Giorgio Vasari (1550) und Karel van Mander (um 1604) platzierten diese Kunstwerke als Hauptwerke der Renaissance-Kunst. (Abb. 1, Abb. 2.) Beide Autoren (heute würden wir Kunstkritiker dazu sagen) waren maßgeblich daran beteiligt, eine spätere Meinung über die Maler der Region zu bilden mit Schwerpunkt auf Jan van Eyck als Innovator.6 Die ‚Internationale Gotik‘, unter deren Begriff zumeist Stilphänomene zusammengefasst werden, deren Preziosität der Objekte, Glanz, Kostbarkeit und Schönheit europaweit verbreitet war, stand um 1400 für kurze Zeit im Vordergrund. Bei den Darstellungen von Personen wurden schlanke, zierliche Figuren bevorzugt, die sich entsprechend dem höfischen Verhaltenscodex zeigen. Die hierfür maßgeblichen Künstler waren vor allem in Paris und Nordfrankreich tätig und besaßen beste Kontakte zu den übrigen französischen und internationalen Höfen, belieferten aber auch wohlhabende Bürger und Konvente. Man könnte sozusagen, wie Hans Belting bemerkt, von einer ‚Vorgeschichte‘ und der Entstehung des ‚Gemäldes‘ sprechen, wenn man die Schwelle um 1430 in den Blick nimmt. Vorher und nachher machen die Maler von dem gleichen Medium einen so verschiedenen Gebrauch, dass man erst viel später von dem Gemälde als von einer selbständigen Gattung der Tafelmalerei mit einem eigenen Konzept sprechen kann.7 Die elegante Formensprache des ‚Internationalen‘ Stils wird nun von realistischen Tendenzen überlagert und mit stärkeren Ausdrucksweisen angereichert, womit jene Wende angekündigt war, die mit der Altniederländischen Malerei begründet wurde, die wenig später durch die Rezeption der neuen niederländischen Bildfindung, durch Jan van Eyck und Robert Campin herbeigeführt werden sollte und mit der auch andere Länder in ihre spätgotische Phase eintraten. 4 Mit dem flandrischen Humanismus im 15./16. Jahrhundert und seinen vielseitigen Aspekten befasste sich Alfons Dewitte. 5 Borchert, 1998, 15–16. 6 Smith, 2004, 411–412. 7 Belting/Kruse, 1994, 36. DOI 10.29091/9783954906765/028 426 Irma Trattner Was dabei zu bedenken ist, ist die Tatsache, dass die altniederländische Tafelmalerei im 15. Jahrhundert in Flandern entstand. Die Grafschaft Flandern war zu dieser Zeit Teil der burgundischen Niederlande, ein Gebiet, das die heutigen Niederlande, Belgien und Luxemburg umfasste. Im Gegensatz zur aktuellen Situation bildeten die nördlichen und südlichen Niederlande damals eine politische Einheit, ein Zustand, der bis zum Ausbruch des Achtzigjährigen Krieges 1568 andauern sollte. Während der burgundischen Herrschaft konzentrierte sich die Kunstproduktion in den südlichen Niederlanden, was mehrere Gründe hat. Zum einen hielt der Landesherr, der Herzog von Burgund, in Brüssel glanzvoll Hof. Philipp der Gute und sein Sohn Karl der Kühne liebten und förderten die Schönen Künste und vergaben wichtige Kunstaufträge. Zum anderen lebte in den reichen flandrischen Städten Brügge, Antwerpen, Gent, Brüssel und Löwen eine wohlhabende Mittelschicht, die den wirtschaftlichen Aufschwung trug. An der Spitze der Gesellschaft standen sehr reiche Kaufleute, die sich mit Luxusgütern umgaben, die früher dem Adel vorbehalten gewesen waren. In diesem Umfeld kam es zu einer Blüte der Kunst, insbesondere der Malerei, des Kunsthandwerks und der Musik. Der Adel, das Bürgertum und die katholische Kirche agierten als Kunstmäzene im großen Stil.8 Die daraus resultierenden und immer wiederkehrenden Fragen der altniederländischen Malerei beschäftigen daher die Forschung seit mehr als hundert Jahren. Und das hat alles mit der Entstehung des neuzeitlichen Bildes im Norden Europas zu tun. Während die Italiener durch die Entdeckung der Zentralperspektive ihren Beitrag zur Renaissance lieferten, entwickelten die Niederländer die Ölmalerei – und damit für die Technologie der Künste mit neuen Materialien eine Voraussetzung für eine ganz neue Weltsicht. Die neue Malerei des Realismus Ars Nova hat Kunsthistoriker Erwin Panofsky diese neue Wirklichkeitsmalerei genannt. Damals entstand die Porträtkunst durch Überwindung der Typenmalerei, die bis dahin nur Standardgesichter nach den Vorbildern aus mittelalterlichen Musterbüchern geliefert hatte. Am Hof der Herzöge von Burgund wurden so gesehen vor fast 600 Jahren die ersten realistischen Bildnisse seit der Antike gemalt. Von hier entwickelte sich ein ununterbrochener Traditionsstrang bis zur modernen Porträtfotografie. Mit einer groß angelegten Werkschau wurde von 2008 bis 2009 im Frankfurter Städel Museum und im Anschluss daran in der Berliner Gemäldegalerie dem Ahnherrn der Ars Nova versucht auf die Spur zu kommen.9 Der eigene Frankfurter Gemäldebestand gab die Anregung: Vor 160 Jahren erwarb das Museum drei hochformatige altniederländische Altarflügel, die angeblich aus einer Abtei 8 Beilmann-Schöner: wissen/kultur/vertiefung/tafelmalerei (20.3.2018). 9 Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Ausstellungskatalog: [anlässlich der Ausstellung Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Städel-Museum, Frankfurt a. M., 21.11.2008 bis 22.2.2009], Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin. DOI 10.29091/9783954906765/028 Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts 427 in Flémalle stammten. Dabei handelt es sich um die Maria lactans, die Heilige Veronika mit dem Schweisstuch Christi und den Gnadenstuhl.10 Eine solche Abtei gab es aber nie! Man nannte den unbekannten Maler dennoch „Meister von Flémalle“ und schrieb ihm immer mehr Bilder zu. Aufgrund stilistischer Vergleiche schien es klar zu sein, dass er vor den Brüdern van Eyck wirkte und ihnen damit die Position als Begründer der altniederländischen Malschule streitig machte. Außerdem wollte man in ihm einen unmittelbaren Vorläufer des Rogier van der Weyden, der in Tournai wirkte, sehen.11 Felix Thürlemann kritisierte die beiden Kuratoren, die auch wesentliche Beiträge zum Ausstellungskatalog bearbeitet haben u. a. in einer Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung folgendermaßen: So haben sich die Ausstellungsmacher konsequenterweise auch entschieden, alle Werke, die sie nicht Jacques Daret und dem in Brüssel selbständig arbeitenden Rogier van der Weyden bzw. seiner Werkstatt zuschreiben wollen, mit dem Etikett ‚Meister von Flémalle‘ zu versehen, ein Notname, der nun aber nicht mehr – wie in der kennerschaftlichen Tradition üblich – eine künstlerische Persönlichkeit, sondern eine Werkstatt, d. h. die Summe aller darin tätigen Lehrlinge und Gesellen, bezeichnet. Der Notname ist nicht mehr, wie dies immer der Fall war, dazu bestimmt, durch den realen 10 Siehe Abbildungen in o. g. Ausstellungskatalog 207 und 208. 11 Der Meister von Flémalle (auch: Meister des Mérode-Altars) ist der Notname eines etwa von 1410 bis 1440 tätigen flämischen Malers. Der unbekannte Künstler erhielt seinen Notnamen nach drei Bildtafeln, die zu den bedeutendsten und zugleich rätselhaftesten Werken der altniederländischen Malerei gehören. Der Aachener Tuchhändler Ignaz van Houtem überbrachte diese 1849 dem Städel in Frankfurt mit der Erklärung, sie stammten angeblich aus der „Abtei von Flémalle“. Sie können jedoch nicht aus dem belgischen Ort Flémalle bei Lüttich stammen, da es dort überhaupt keine Abtei gab und auch sonst kein herausragendes kirchliches Gebäude stand. Allerdings gab es bei Löwen die namensähnliche Abtei Vlierbeek, die während der Zeit der französischen Besatzung zwischen 1796 und 1798 aufgelöst und verkauft wurde. Abgeleitet von der fehlerhaften Herkunftsbezeichnung bekam der Schöpfer dieser drei Tafeln um 1898 von Hugo von Tschudi den Notnamen „Meister von Flémalle“. Heute steht jedoch fest, dass dieser Name auf jeden Fall nicht richtig ist. Dem namenlosen Meister dieser drei Tafeln aus Aachen werden weitere Gemälde zugeschrieben. Thürlemann geht sogar so weit, indem er die drei Tafeln aus der angeblichen Abtei von Flémalle im Frankfurter Städel als Flügel der Madrider Kreuzabnahme des Rogier van der Weyden zuordnet. Damit erübrigt sich aber nicht das Problem der Zuschreibung, sondern wird eher noch verschärft und stiftet noch mehr Verwirrung. Da die Werkgruppe der Kunst des Rogier van der Weyden sehr nahesteht, wurde der Meister von Flémalle mit Robert Campin aus Tournai identifiziert, denn in dessen Werkstatt war Rogier van der Weyden von 1427 bis 1432 nachweislich tätig. Neuere Forschungen behaupten, die bisher dem ‚Meister von Flémalle‘ zugeschriebenen Werke stammten gar nicht von der Hand eines einzigen Künstlers, sondern von mehreren verschiedenen Mitarbeitern, die auch am Werk Mérode-Altar zusammengearbeitet haben könnten. Ob einer dieser Künstler mit Robert Campin zu identifizieren sei, und wenn ja, welcher, sei ungewiss. Dagegen verteidigen andere Forscher die Einheitlichkeit des Werkes und die Identifizierung mit Robert Campin. <https://de.wikipedia.org/wiki/Meister> (30.08.2017). Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, 2008. DOI 10.29091/9783954906765/028 428 Irma Trattner bürgerlichen Namen eines Malers ersetzt zu werden. Das Provisorium ‚Meister von Flémalle‘ soll für immer zementiert werden.12 Thürleman kritisiert insbesondere, dass die geniale Ausstellung zwar mit den Werken aus allen Museen der Welt bestückt war, aber nach seinem Ermessen diese eindrückliche Schau „Robert Campin und Rogier van der Weyden: Meister und Schüler“ hätte lauten sollen, und nicht „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“. Damit wird zwar die gleiche Generationenfolge und künstlerische Abhängigkeit suggeriert, man wolle sich aber in der „Meister von Flémalle“-Frage nicht entscheiden. Die Debatte um die angeblichen Flémaller Tafeln ist in der Stilkritik der Kunstwissenschaft ein Paradebeispiel dafür, wie dieselben Phänomene auf unterschiedlichste Art und Weise gedeutet werden können. Wo die einen dieselbe Hand am Werke sehen, erkennen die anderen unzweifelhaft verschiedene Meister. Diese immer noch ungelöste Frage ist eine der härtesten Nüsse, die die Stilkritik zu knacken hat.13 Nicht zuletzt ist diese Problematik auch für den anschließenden Kulturtransfer der Altniederländischen Malerei von grundlegender Bedeutung. Wie also kam es zu diesem Irrtum bzw. zu dieser immer noch offenen Frage? In Quellenfunden tauchte ein Robert Campin als Maler aus Tournai auf, den man – glücklich einen Namen erforscht zu haben – vor etwa hundert Jahren mit dem Meister von Flémalle gleichsetzte. Zu Recht? Einer der besten Kenner der Altniederländischen Malerei, Max Jakob Friedländer (* 1867 in Berlin; † Oktober 1958 in Amsterdam), hat die Wege der Forschung, die zu einer Aufstellung des altniederländischen Künstler-Œuvreverzeichnisses führten, auf folgende Weise beschrieben: Aus der großen Zahl von Gemälden, die im weiteren Sinne rogierartig erscheinen, ist eine Gruppe unter dem Notnamen ‚Meister von Flémalle‘ oder ‚Meister des Mérode‘-Altares zusammengeschlossen worden. [….] Da die Findung dieses Meisters so vor sich ging, daß man ihn von Rogier ablöste, daß man eine zweite Persönlichkeit in einigen Schöpfungen zu erkennen meinte, die mit fremdartigen Zügen aus Rogiers ‚Werk‘ herausfielen, begann man damit, in dem zweiten Maler einen Nachfolger Rogiers zu sehen. So hat Passavant14 die drei Tafeln im Städel-Institut zu Frankfurt am Main, die angeblich aus der Abtei von Flémalle bei Lüttich stammen, dem ‚jüngeren Rogier van der Weyden‘ zugeschrieben.15 12 Thürlemann, 2009, <http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/kunst_architektur/die_ kennerschaft_in_krise> (30.08.2017). 13 Vgl. Prochno, 2003, <http://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2003/ 10>. 14 Johann David Passavant war Altniederländerforscher und Städel Inspektor im Frankfurter Städel, als diese Gemälde erworben wurden. 15 Pächt, 1977, darin: „Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei,“ 20–56; „Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance,“ 107–120. – Ders.: „Antagonismus von Bildflä- DOI 10.29091/9783954906765/028 Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts 429 Hugo von Tschudi (1851–1911) hat die Gemälde als Kind der Stilkritik so am Ende des 19. Jahrhunderts als eine zweite Werkgruppe konstatiert, die den akzeptierten Gemälden Rogiers teilweise verwandt ist. Damit war der Notname ‚Meister von Flémalle‘ geboren und damit waren die dazu geordneten Gemälde erstmals um die namensgebenden Tafeln im Städel kraft der Autorität des Kunsthistorikers von Tschudi gruppiert.16 Darauf fußend hat Friedländer mit seiner umfassenden Darstellung der Altniederländischen Malerei (Narration) den Fall einer Wandlung des Sehens aufgezeigt, der heute nahezu einem Mythos gleicht, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dauerte. Wie Otto Pächt noch in der Folge feststellt, hatte „Rogier van der Weyden“, Maler der Stadt Brüssel, schon zu Lebzeiten einen internationalen Ruf und war immer eine bekannte Größe gewesen.17 Einige seiner Kunstwerke waren sogar urkundlich beglaubigt und gesichert. Da er und der später als eigener künstlerischer Anonymus, der sogenannte ‚Meister von Flémalle‘, typische Formulierungen und viele Kompositionsmotive gemeinsam haben, wurden sie zunächst als Komplex und Ausführung eines individuellen Stils begriffen. Allmählich jedoch setzte eine Differenzierung des ‚Sehens‘ ein und es wurden in dem künstlerischen Tun Persönlichkeiten künstlerischen Schaffens erkannt, die verschiedener Temperamente waren. Was uns nun zu der Fragestellung führt, warum das kunsthistorische Denken uns zu einer „anderen“ Fragestellung führt? Fortan müssen sowohl der Persönlichkeitsstil als auch der deskriptive Naturalismus, der Eklektizismus sowie quellenkundliche Sicherungen und Zeitstilkriterien als Kategorien der Zuschreibung der Kunstwerke bedacht werden. Jetzt verdient es festgehalten zu werden: Am Ende des 19. Jahrhunderts war das kunsthistorische Denken noch von der Idee von Persönlichkeitsstilen beherrscht. Da der Begriff des Zeitstils noch nicht im Bewusstsein verankert war, bemerkte man gewisse Analogien zum deskriptiven Naturalismus (Tschudi). Erst als sich ein Bild des Stilwandels in der Malerei des 15. Jahrhunderts in der Forschung abzuzeichnen begann, war die Voraussetzung für ein „sogenanntes richtiges Sehen“ vorhanden. Ebenso konnten urkundliche Bestätigungen erbracht werden. Und heute werden mit Hilfe der Technik (insbesondere der Infrarotreflektographie) im Bereich der Kennerschaft die Probleme der Zuschreibung und Datierung zu lösen gesucht, was der Erzählstruktur eines Kunstwerks jedoch häufig entgegenwirkt. che und Tiefenraum“. In: Van Eyck. Die Begründer der altniederländischen Malerei. München, 1989, 56–60. – Ders.: „Sehen in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive“, 227–231. 16 Stephan Kemperdick und Jochen Sander. In: „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ausstellungskatalog: [anlässlich der Ausstellung Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Städel-Museum, Frankfurt a. M., 21.11.2008 bis 22.2.2009, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin], 13–22. Vgl. Friedländer, 1924, 55. 17 Pächt, 1977, 56–60. DOI 10.29091/9783954906765/028 430 Irma Trattner Die Altniederländische Malerei aus heutiger Sicht Dies bewegt uns nun zu der Frage, warum das kunsthistorische Denken uns zu einer anderen Sichtweise führt: Erst der Perspektivenwechsel öffnet den Blick für jene spezifischen Qualitäten, die in dem Wechselspiel von Imitation und Innovation erreicht werden konnten. Und es steht ganz außer Frage, dass die zur Übermittlung geeigneten visuellen Medien als Informationsträger innerhalb der Imitationspraxis eine entscheidende Rolle spielten. Der Verdacht liegt nahe, dass die Orientierung am „Mérode-Altar“ (Abb. 3) zu den Konstanten der Ars nova zählte und deshalb die für den Transfer notwendige Entwicklung der neuen Malerei nach sich zog. Der Prozess des sehenden Sehens, des sehenden Erfassens eines individuellen Kunstwerks oder Künstlers ist ein Prozess wachsender Differenzierung. Was bei erster Annäherung im Einzelkunstwerk wahrgenommen und erzählt wird, ist noch weit davon entfernt das Wahrhafte zu sein, wenn man glaubt, Gemeinsamkeiten erkennen zu können. Man sieht zuerst, was vielleicht Lehrer und Schüler gemeinsam haben, nicht aber, was ihre Individualität ausmacht. Rogier van der Weyden inszenierte seine Werke mit einer gewissen Dramatik,18 während der sogenannte „Meister des Mérode-Altars“ aus dem Metropolitan Museum, ein monumentales Werk, dabei erstaunlich klein, die Verkündigungsszene erstmals im detailliert geschilderten bürgerlichen Wohnraum stattfinden lässt und zudem eher das Beschauliche erzählte (Abb. 3). Aufgrund dieser verschiedenen Narrationen kommen wir auch zu verschiedenen Ergebnissen und erfahren zugleich durch die Erzählung mehr über die Künstlerpersönlichkeit. Zudem ist auch zu bemerken, dass alles am Einzelobjekt Beobachtete solange vieldeutig ist, als es nicht von einer historischen Gesamtschau getragen wird. Aus diesem Grund registrierte die Forschung beispielsweise die Beziehung zu van Eyck und Rogier und legte dies als Eklektizismus aus, da noch kein Wissen von der Entwicklung im Ganzen vorhanden war. Ähnliche Beispiele bieten in der Portraitkunst Jan van Eycks das Gesicht und die Hände als die sprechenden Elemente des Portraits. Das Gemälde ist unterzeichnet und in einer aufwendigen Weise steht auf dem Rahmen geschrieben, das ist das Original. Die obere Inschrift, die einige griechische Buchstaben verwendet, ist eine Anspielung auf den Namen des Malers: Als Ich Can (wie ich / Eyck kann). Die untere Inschrift, auf Latein, gibt den Namen des Malers und das Datum: „Jan van Eyck hat mich am 21. Oktober 1433 gemacht.“ Die Buchstaben sind so gemalt, dass man glaubt, als seien sie geschnitzt worden.19 18 Siehe Tafeln der Kreuzabnahme, Madrid, Museo del Prado in: Belting/Kruse, 1994, Abbildungen 82–85. 19 Eyck, Porträt des Mannes mit dem Turban, London, National Gallery, 1333. <https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_a_Man_in_a_Turban_(Jan_van_Eyck)_with_ frame.jpg> (21.07.2018). DOI 10.29091/9783954906765/028 Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts 431 So stumm die Bildnisse sind, umso mehr erzählen sie. Das erweist sich besonders an der Arnolfini-Portrait-Hochzeit.20 Die Rahmen befinden sich in unserer Welt, der des Betrachters. Das Licht fällt auf die Rahmung, durch die Öffnung schauen wir in einen anderen Raum, die Welt des Bildes. Der „Meister des Mérode-Altars“ (ehemalig Meister von Flémalle) lässt uns gerne die Schlagschatten sehen, die die körperlichen Objekte werfen (besonders deutlich im Mittelteil des Mérode-Triptychons (Abb. 3), während Jan die Phänomene der Lichtführung, der Lichtflecken malte und in deren Formen sich das selbstleuchtende Licht abbildet. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Begriff des Transfers verweist, wie schon eingangs erwähnt, auf ganz unterschiedliche Dimensionen der kulturellen Vermittlung bzw. des kulturellen Austausches. Der kunsthistorische Kulturtransfer grenzt sich bewusst von einer Kunstgeschichte-Schreibung ab. Vielmehr verlagern sich das Interesse und das Hauptaugenmerk auf die Prozesse des Transfers und die Frage nach den Anlässen und äußeren Bedingungen. Sowohl die Träger und Mittel als auch die künstlerischen Medien und beabsichtigten Ziele des Austausches spielen eine bedeutende Rolle. Dabei sollte bedacht werden in welchen neuen Bezugssystemen sie stehen. Dies sind die primären Quellen, die mit ihrem künstlerischen Ausdruck für den Kulturtransfer stehen und ihre unterschiedlichen Kulturmodelle wiederspiegeln. Umso mehr verwundert es, obwohl es bekannt ist, dass bis heute keine klare Differenzierung zwischen Robert Campin alias ‚Meister von Flémalle‘ und Rogier van der Weyden und den übrigen namentlich bekannten Mitarbeitern vorgenommen worden ist, sodass sich die jüngste Forschergeneration sehr ‚salopp‘ und undifferenziert auf die Namensgebung des ‚Meisters von Flémalle‘ stützt.21 Unbestritten bleibt hingegen, dass Jan van Eyck und Rogier van der Weyden als die maßgeblichen Protagonisten der frühen Niederländer galten und in weiterer Folge schulbildend waren und somit einen enormen Kulturtransfer innerhalb Europas bewirkt haben, der bis heute viel zu wenig erforscht ist. In diesem Zusammenhang stelle ich einen Flügelaltar vor, der sich im Salzburgmuseum (Österreich) befindet, und der noch nicht überzeugend im Kontext des Einflussbereiches der Altniederländischen Malerei behandelt worden ist. Die Altniederländische Malerei und der Meister ‚Virgo inter Virgines‘ Mit seinem lebhaften und sehr persönlichen Erzählstil zählt der Meister der ‚Virgo inter Virgines‘ vor dem Hintergrund der niederländischen religiösen Laienbewegung der devotio moderna mit vielen seiner Zeitgenossen des späten 15. 20 Eyck, Die Arnolfini-Hochzeit, London, National Gallery London, 1434. <https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Van_Eyck_-_Arnolfini_Portrait.jpg> (21.07.2018). 21 In neuem Glanz: das Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle im Kontext = With new splendour: the crucified thief by the Master of Flémalle in context. Hrsg. von Jochen Sander. Liebieghaus Skulpturensammlung. Regensburg 2017. DOI 10.29091/9783954906765/028 432 Irma Trattner Jahrhunderts zu jenen Künstlern, die die herkömmliche, repräsentative und starre Darstellungsweise zu überwinden versuchten, um sie durch eine Erzählform zu ersetzen, die den Ansatz zu einem Geschehensablauf enthielt.22 Dieser Meister erhielt seinen Notnamen nach einer Tafel im Reichsmuseum Amsterdam, welche die Mutter Gottes im Kreise heiliger Jungfrauen darstellt (Abb. 4). Max Friedländer hatte bereits 1906 diesem Maler diesen Notnamen gegeben, das nach seiner Meinung das bekannteste Werk des Malers war.23 Von demselben Meister haben sich außer dem fünfteiligen Altar im Salzburg Museum noch mehrere Einzeltafeln erhalten. Es gibt einige Hypothesen, warum diese sich in Salzburg, Zagreb und auch in Florenz befinden. Die Forschung tritt aber auf der Stelle, da es keine Belege dafür gibt. Claudia Unger hat eine Liste mit elf Gemälden dieses Meisters zusammengestellt, die von Peter Klein aus Hamburg dendrochronologisch untersucht worden waren.24 Diese aufwändigen Untersuchungen geben uns zwar Aufschlüsse für Datierungen, ob aber diese Erkenntnis als Grundlage für die Annahme einer Entwicklung im Gesamtwerk des Meisters ‚Virgo inter Virgines‘ verwendet werden kann, betrachte ich als sehr gewagt. Meines Erachtens ist das aber ein typisches Beispiel des künstlerischen Transfers, dessen Ausgangspunkt am burgundischen Hof zu sehen ist. Als Auftraggeber für das Salzburger Altarwerk kommt zu dieser Zeit nur eine hochgestellte und vermögende Persönlichkeit in Frage.25 Auf je zwei Doppelflügeln sind die Verkündigung (Abb. 5), die Heimsuchung (Abb. 6) und die Beschneidung Christi (Abb. 7) sowie der Bethlehemitische Kindermord (Abb. 8) dargestellt, die die Mitteltafel der Anbetungsthemen rahmen (Abb. 9). Die Flügelaußenseiten zeigen gemalte Imitationen in Grisaille der vier Evangelisten als Steinfiguren (Werktagsseite, Abb. 10), eine Darstellungsform, die auf die Altniederländische Malerei zurückgehen dürfte. Die Mitteltafel zeigt sowohl die Anbetung der Hirten als auch die Ankunft der Könige, deren Hofstaat bis in den Mittelgrund des Gemäldes hinein verfolgbar ist. 22 Die devotio moderna (= neue Frömmigkeit) gilt als die bekannteste und wirksamste religiöse Erneuerungsbewegung des Spätmittelalters mit Nachwirkungen auf beide christliche Kirchen der abendländischen Neuzeit. Als eigenständige Frömmigkeitsbewegung, die einen ‚dritten Weg‘ zwischen weltlichem und klösterlichem Leben zu gehen versuchte, drückte sie nicht nur Kritik an bestehenden Verhältnissen aus, sondern sie war zugleich Ausdruck eines neuen Geistes, der dem Humanismus verwandt ist, und Wegbereiter weltlicher und kirchlicher Erneuerung im Übergang zur jüngeren Geschichte. Gegen Ende des 14.Jahrhunderts erstmalig nachweisbar, überdauerte diese Geistesströmung als praktizierte Bewegung ihre intensive Ausbreitung im 15.Jh. nur noch kurze Zeit bzw. an wenigen Orten. <http://www.dringenberghistory.de/History1/Notes/DevotioModerna.html> (28.3.2018). 23 Friedländer, 1906, 39–40. 24 Unger, 2004, 269–270. 25 Leonhard von Keutschach war von 1495 bis 1519 Erzbischof von Salzburg und dabei der letzte, der Salzburg auf feudal-ritterliche Weise regierte. Ich vermute, dass er diesen Auftrag erteilt hat. Siehe dazu: Dopsch/Spatzenegger, 1981. DOI 10.29091/9783954906765/028 Die Bedeutung der Altniederländischen Malerei im Kulturtransfer des 15. Jahrhunderts 433 Das Bemühen der Altniederländischen Malerei um eine glaubhafte Verräumlichung der szenischen Darstellung hat hinsichtlich der Landschaft zur Luftperspektive geführt, welche Landschaftspartien im Hintergrund blau erscheinen lassen (Abb. 11). Im Gegensatz zur italienischen Renaissancemalerei versuchen die Niederländer nicht, durch die konsequente Anwendung der Linearperspektive, sondern durch die optische Freistellung der Figuren und Objekte im Bildraum atmosphärisch erscheinende Zwischenräume zu schaffen. Die Anordnung der Figuren rings um die Madonna bietet ein gelungenes Beispiel dieser Bestrebungen. Ähnlich wie in der niederländischen Malerei gelingt es zudem, durch die sorgfältige Wiedergabe einzelner Materialien, etwa von Gold oder kostbarer Stoffe, zusätzliche Realitätsbezüge herzustellen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Transfer und Kulturaustausch anhand dieser Überlegungen noch so manchen spekulativen Charakter besitzen müssen, bis die Strukturen des Kunsttranfers im Mittelalter systematisch erforscht sind. Dennoch dürfte längst feststehen, dass künstlerischer Austausch nicht nur für die Kunst generell und speziell für die Epoche des Spätmittelalters eine unvermeidliche Begleiterscheinung ist, sondern ein wichtiges, künstlerische Prozesse determinierendes Element, dessen Erforschung für die Zukunft dringend geboten ist. Ich danke Herrn Direktor Hon.-Prof. Mag. Dr. Martin Hochleitner des Salzburg Museums für die großzügige Unterstützung, indem er uns das Bildmaterial und Copyright des „Meisters Virgo inter Virgines“ kostenfrei zur Verfügung gestellt hat. Bibliographie I. Forschungsliteratur ARS SACRA, Kunstschätze des Mittelalters aus dem Salzburg Museum, 2010. Beilmann-Schöner, Mechthild: wissen/kultur/vertiefung/tafelmalerei (20.3.2018). Belting, Hans/Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994. Borchert, Till-Holger: Die Entdeckung der Brügger Malerei. In: Maximiliaan P. J. 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Abbildungsnachweis Abb. 1 Titel der zweiten Ausgabe von Le Vite (Holzschnitt von Giorgio Vasari), Florenz (Giunti) 1568 (aus dem Archiv der Autorin). Abb. 2 Buchdeckel: Karel van Mander, Schilder-boeck, 1604 (aus dem Archiv der Autorin). Abb. 3 Mérode-Triptychon, früher als Meister von Mérode oder auch Meister von Flémalle, ca. 1425 und 1430, Öl auf Holz gemalt. Mittelteil 64,5 × 64,5 cm. Seitenflügel je 64,4 × 27,2 bzw. 27,8 cm. Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, New York, Abb. nach: „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“, Ausstellungskatalog, 2008, S. 139. Abb. 4 Meister „Virgo inter Virgines“, „Die Jungfrau inmitten der Jungfrauen“, Holz, 123,1 × 101,1 cm. Amsterdam, Rijksmuseum, Abb. nach: „ARS SACRA, Kunstschätze des Mittelalters aus dem Salzburg Museum, 2010“, S. 28. Abb. 5 u. 6 Meister „Virgo inter Virgines“, „Heimsuchung“ und „Verkündigung“, linker Doppelflügel. Abb. 7 u. 8 Meister „Virgo inter Virgines“, „Beschneidung“ und „Bethlemitischer Kindermord“, rechter Doppelflügel. Abb. 9 Meister „Virgo inter Virgines“, „Anbetung der Könige“ (Mitteltafel), Salzburg Museum. Abb. 10 Meister „Virgo inter Virgines“, Werktagsseite: Flügelaußenseiten zeigen gemalte Imitationen in Grisaille der vier Evangelisten als Steinfiguren. Abb. 11 Meister „Virgo inter Virgines“, Gesamter Marienaltar, Holz, 97 × 182,5 cm (Mitteltafel), 97 × 37 cm (Seitenflügel). Alle Abbildungen aus Salzburg Museum (Copyright), Inv.-Nr. 214/32 <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_a_Man_in_a_Turban_(Jan_ van_Eyck)_with_frame.jpg> (21.07.2018). <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Van_Eyck_-_Arnolfini_Portrait.jpg> (21.07.2018). Prof. Mag. Dr. phil. Irma Trattner M.A. Kunstuniversität Linz Kunst u. Bildung, Abteilung Bildnerische Erziehung Reindlstraße 16–18 4040 Linz – Urfahr (Österreich) Irma.Trattner@ufg.at DOI 10.29091/9783954906765/028 473 Abb. 1: Titel der zweiten Ausgabe von Le Vite 1604. (aus dem Archiv der Autorin). (Holzschnitt von Giorgio Vasari), Florenz (Giunti) 1568 (aus dem Archiv der Autorin). Abb. 2: Buchdeckel: Karel van Mander, Schilder-boeck, 1604 (aus dem Archiv der Autorin). Abb. 3: Mérode-Triptychon, früher als Meister von Mérode oder auch Meister von Flémalle, ca. 1425 und 1430, Öl auf Holz gemalt. Mittelteil 64,5 × 64,5 cm. Seitenflügel je 64,4 × 27,2 bzw. 27,8 cm. Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, New York, Abb. nach „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“, Ausstellungskatalog, 2008, S. 139. DOI 10.29091/9783954906765/028 474 Abb. 4: Meister „Virgo inter Virgines“, „Die Jungfrau inmitten der Jungfrauen“, ~ 1480–1495 Holz, 123,1 x 101,1 cm. Amsterdam, Rijksmuseum, Abb. nach: „ARS SACRA, Kunstschätze des Mittelalters aus dem Salzburg Museum, 2010“, S. 28. DOI 10.29091/9783954906765/028 475 Abb. 5 und 6: Meister „Virgo inter Virgines“, „Heimsuchung“ und „Verkündigung“, linker Doppelflügel. DOI 10.29091/9783954906765/028 476 Abb. 7 und 8: Meister „Virgo inter Virgines“, „Beschneidung“ und „Bethlemitischer Kindermord“, rechter Doppelflügel. DOI 10.29091/9783954906765/028 477 Abb. 9: Meister „ Virgo inter Virgines“, „Anbetung der Könige, (Mitteltafel) Salzburg Museum Abb. 10: Meister „ Virgo inter Virgines“, Werktagsseite: Flügelaußenseiten zeigen gemalte Imitationen in Grisaille der vier Evangelisten als Steinfiguren DOI 10.29091/9783954906765/028 478 DOI 10.29091/9783954906765/028 Abb. 11: Meister „Virgo inter Virgines, Marienaltar, gesamter Flügelaltar mit Darstellung der Geburtsgeschichte Christi, *~ 1490 Mitteltafel: 1, 83m, Seitenflügel: je 0,37 m, Gesamthöhe: 0,97m Abkürzungen DMF DU DWB EM EWN GLMF GRM GW JOWG LexMA LiLi LW MRFH MTU PBB RSM USTC VD16 VDHum VL ZfdA ZfdPh Dictionnaire du Moyen Français (1330–1500) Der Deutschunterricht Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. In 32 Teilbänden. Leipzig et al. 1854–1961. Enzyklopädie des Märchens Etymologisch Woordenboek van het Nederlands, onder hoofdredactie van Marlies Philippa u. a. 4 Bde. Amsterdam 2003–2009. Claassens, Geert H. 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