Fallbeispiel

Die 15-jährige Christina („Jonas“; Namen für die Falldarstellung geändert) wird in Begleitung ihrer Eltern in der Transgendersprechstunde vorstellig. Sie sei von einer Beratungseinrichtung an unsere Klinik verwiesen worden. Christina (im Folgenden Jonas genannt) berichtet, dass sie seit der Pubertät und dem Einsetzen der Menses Gefühle einer massiven Unzufriedenheit mit sich selbst verspüre und die aufgrund ihres Körpers gesellschaftlich zugedachte Geschlechterrolle zunehmend ablehne. Diese Gefühle hätten anfangs verwirrt und großen Leidensdruck ausgelöst. Schon als Kind habe Christina rückblickend betrachtet immer mit Jungen gespielt und beispielsweise rosa Kleider „gehasst“. Die Eltern bestätigen das, in ihren Augen sei Christina immer schon „sehr burschikos“ aufgetreten. Jonas habe sich ab dem 13. Lebensjahr selbst verletzt, seine Eltern hätten dann auch eine Psychotherapie organisiert, in der er es aber nicht schaffte, „das entscheidende Thema“ anzuschneiden.

Über Recherche im Internet und in sozialen Netzwerken sei ihm zunehmend klarer geworden, dass er ein „Transjunge“ sein könnte. Vor seinen Eltern und Geschwistern habe er aus Scham den Gedanken aber zunächst geheim gehalten und sich hauptsächlich mit gleichgesinnten Online-Bekanntschaften darüber ausgetauscht. Hierbei habe er zum ersten Mal das Gefühl verspürt, verstanden zu werden. Er habe dann den Tipp bekommen, eine Beratungseinrichtung für Jugendliche aufzusuchen. Dort habe man ihn hinsichtlich eines „Outings“ im familiären Umfeld bestärkt und zu einem Kontakt mit der Klinik geraten. Jonas hat sehr konkrete Ziele: Er strebe eine „Hormontherapie“ an, zudem eine amtliche Personenstandsänderung. Dafür brauche er eine Bestätigung von der Klinik.

Einleitung

Geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche wie Jonas sind zunehmend Thema im öffentlichen Diskurs, sowohl in Europa [13] als auch in den USA, wo beispielsweise die angesehene New York Times seit 2015 einen eigenen Blograum für Erfahrungsberichte von transidenten Menschen zur Verfügung stellt [4].

Auch im wissenschaftlichen Bereich bezeugen steigende Publikationszahlen die immer stärkere Auseinandersetzung mit geschlechtsdysphorischen jungen Menschen: So wurden unter der Verschlagwortung „transgender“ und „youth“ im Jahr 2000 vier einschlägige Studien veröffentlicht, im Jahr 2014 war diese Zahl bereits auf 145 angestiegen [5].

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind Beratungseinrichtungen und spezialisierte Kliniken zunehmend mit gut vernetzten und informierten Kindern, Jugendlichen und Familien konfrontiert, die sehr genaue Erwartungen an eine mögliche Behandlung haben [6]. Unverändert fehlen aber verbindliche Richtlinien, die für Kinder und Jugendliche zu einheitlichen Behandlungsentscheidungen führen, nicht zuletzt, weil das Phänomen transidenter junger Menschen auch unter Fachleuten kontrovers bewertet wird [711]. Durch das breite Spektrum unterschiedlicher ideologischer Zugänge entsteht für kinder- und jugendpsychiatrische Spezialeinrichtungen der Auftrag, als zentrale Drehscheibe in der Behandlung von transidenten jungen Menschen zu fungieren und möglichst neutral und evidenzbezogen die Risiken und Chancen möglicher Therapieschritte zu vermitteln.

Das Phänomen transidenter junger Menschen wird auch unter Fachleuten kontrovers bewertet

In diesem Beitrag sollen daher überblicksmäßig die derzeit gebräuchliche Terminologie und Klassifikation sowie verfügbare wissenschaftliche Evidenz zur Behandlung von transidenten Kindern und Jugendlichen dargestellt werden. Ergänzend werden die ersten klinischen Erfahrungen einer neuen universitären Spezialambulanz geschildert. Abschließend möchten wir aus unserer Sicht wichtige Kernaussagen in einem Fazit zusammenfassen.

Klassifikation und Terminologie

Mit Einführung des Begriffs Geschlechtsdysphorie im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen DSM-5 [12] wurden die zuvor gebräuchlichen Ausdrücke Transsexualität und Geschlechtsidentitätsstörung abgelöst, zugleich wurde der Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechtlichkeit in einem offiziellen Diagnosemanual verankert. Geschlechtsdysphorie (GD) bezeichnet laut DSM-5 einen klinisch relevanten Leidensdruck, der sich aus der Diskrepanz zwischen Gender und dem üblicherweise bei der Geburt festgelegten Zuweisungsgeschlecht ergibt.

Der Begriff Gender steht laut den Autoren für die öffentliche und in der Regel gesetzlich anerkannte Rolle als Junge oder Mädchen bzw. Mann oder Frau. Im Manual wird der Genderbegriff als etwas biologisch und psychosozial determiniertes angesehen. Damit wird eher eine Gegenposition zu konstruktivistischen Gendertheorien eingenommen. Unter Gender wird aber etwas völlig anderes verstanden als unter dem Begriff Geschlecht, der sich auf „biologische Merkmale zur Unterscheidung von männlich und weiblich im Sinne der Reproduktionsfähigkeit“ bezieht. Zuweisungsgeschlecht bzw. Geschlechtszuweisung nimmt auf den Vorgang Bezug, einem Neugeborenen anhand anatomischer primärer Geschlechtsmerkmale ein weibliches oder ein männliches Geschlecht zuzuweisen. Der Begriff Transgender schließlich bezieht sich auf Personen, „die sich vorübergehend oder dauernd mit einem Gender identifizieren, das sich von ihrem Zuweisungsgeschlecht unterscheidet“.

Laut den Autoren des DSM-5 soll mit dem Label GD ein deskriptiver und weniger wertender Begriff eingeführt werden, der das klinische Problem der Dysphorie in den Mittelpunkt stellt. Dadurch kann vermieden werden, die Identität eines Kindes oder Jugendlichen als etwas Pathologisches oder zu Behandelndes anzusprechen, wie das mit früheren Bezeichnungen wie Geschlechtsidentitätsstörung der Fall war [13].

Eine Behandlung von GD soll laut DSM-5 Geschlechtsangleichung genannt werden, darunter sollte die Summe aus medizinischen Interventionen und der offiziellen Personenstandsänderung verstanden werden. Die Geschlechtsangleichung hat zum Ziel, die individuelle Geschlechtsidentität zu erreichen, worunter die subjektive und individuelle „Identifikation einer Person als männlich, weiblich oder einer weiteren Kategorie“ verstanden wird.

Während im ersten Teil der neuen Kriterien zunächst ein dichotomer Genderbegriff angeführt wird („Junge-Mädchen“, „Mann-Frau“) wird in einem späteren Abschnitt ausdrücklich betont, dass Gender auch „alternative Geschlechtsidentitäten“ beinhalten kann und sich die GD nicht notwendigerweise „darauf beschränken muss, dem anderen Geschlecht anzugehören“.

Diagnostische Kriterien für Kinder bzw. für Jugendliche und Erwachsene (Tab. 1 und 2) unterscheiden sich in ihrer Bezugnahme auf alterstypische Verhaltensweisen, werden aber im DSM-5 in einem einheitlichen Kapitel verortet.

Tab. 1 Diagnostische Kriterien der Geschlechtsdysphorie im Kindesalter nach DSM-5 [12]
Tab. 2 Diagnostische Kriterien der Geschlechtsdysphorie im Jugend- und Erwachsenenalter nach DSM-5 [12]

Nach Reisner et al. [14] hat sich verschiedentlich auch die Konvention durchgesetzt, sowohl Zuweisungsgeschlecht als auch Gender explizit zu nennen: Transfeminine Personen oder Mann-zu-Frau-Personen („male to female“ [MTF]) wären hierbei biologisch männliche Menschen mit einem weiblichen Gender, transmaskuline Personen oder Frau-zu-Mann-Personen („female to male“ [FTM]) biologisch weibliche Menschen mit einem männlichen Gender.

Die ICD-10 beschreibt Geschlechtsdysphorie im juvenilen Alter als psychische Erkrankung

Als nicht mehr zeitgemäß wird von den meisten Fachleuten die Terminologie der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) angesehen, die von einer „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2)“ bzw. von „Transsexualismus (F64.0)“ spricht und diese Erkrankungen in verschiedenen Kapiteln platziert. Beide Störungen sind im Abschnitt „F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ verortet [15]. Damit wird das Erleben von Geschlechtsdysphorie in der juvenilen Altersperiode als eine psychische Erkrankung beschrieben, die sich von einer objektiv richtigen Identität abhebt. Manche Autoren sehen darin eine Analogie zur „Diagnose Homosexualität“ in früheren Ausgaben der ICD [6]. Bezüglich der für 2017 erwarteten ICD-11 wird daher diskutiert, diese beiden Begriffe aufzulösen, sie durch die Diagnose „gender incongruence“ zu ersetzen und die diagnostischen Kategorien für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einem einheitlichen Kapitel zu verorten. Der Ausdruck „gender incongruence“ soll die Unstimmigkeit zwischen Gender und Zuweisungsgeschlecht ausdrücken [16].

Im klinischen Alltag in Österreich sind Ärzte zum Gebrauch von Diagnosen nach ICD-10 verpflichtet. Bei im Behandlungsprozess stehenden jungen Menschen muss daher meist die Diagnose „Transsexualismus (F64.0)“ verwendet werden.

Verfügbare Leitlinien zur Behandlung transidenter Jugendlicher

Wichtige Leitlinien zur Behandlung geschlechtsdysphorischer junger Menschen sind auf internationaler Ebene die „Standards of care for the health of transsexual, transgender, and gender-nonconforming people, version 7“ der World Professional Association for Transgender Health (WPATH; [17]) sowie die klinische Leitlinie „Endocrine treatment of transsexual persons“ der Endocrine Society [18]. Beide Leitlinien enthalten in Unterkapiteln jeweils Empfehlungen für Kinder und Jugendliche. In einer weiteren Publikation veröffentlichte eine Taskforce im Auftrag der American Psychiatric Association (APA) 2012 eine ausführliche Literaturübersicht mit häufiger Bezugnahme auf minderjährige Patienten [19].

Auf deutschsprachiger Ebene wurden 2013 die AWMF-Leitlinien „Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter (F64)“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) veröffentlicht [20]. Österreichische Leitlinien zur Behandlung transidenter junger Menschen wurden von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, der auch der Autor dieses Beitrags angehört, 2016 fertiggestellt und zur Publikation im offiziellen Organ der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) eingereicht [21]. Die Leitlinien wurden dem Bundesministerium für Gesundheit und Frauen vorgelegt.

Zusammenfassend empfehlen die verfügbaren Leitlinien ähnliche Eckpunkte bzw. eine Abfolge von Behandlungsschritten, der sich auch die österreichischen Empfehlungen angeschlossen haben. Grundlegend werden als Basis jeglicher Behandlung folgende Schritte empfohlen, die möglichst früh durchgeführt werden sollten [19]:

  • Ausführliche psychodiagnostische Abklärung der GD

  • Ausführliche psychodiagnostische Abklärung vorhandener komorbider Störungen, im Bedarfsfall Behandlung dieser Störungen

  • Analyse der familiären Ressourcen, Identifizierung von problematischen Interaktionen auf Familienebene und (so vorhanden) Ansprechen dieser Probleme

  • Aufklärung der Sorgeberechtigten über alle potenziell möglichen Behandlungsoptionen, Ansprechen der limitierten Evidenzlage, Ansprechen möglicher Langzeitverläufe

  • Altersgerechte Aufklärung des Kindes selbst

  • Analyse der Umgebungsfaktoren (Schule, Familie, soziales Umfeld) auf mögliche protektive, aber auch auf destabilisierende Faktoren wie mögliches Mobbing oder mögliche Stigmatisierung, bei Bedarf Angebot von Hilfsmaßnahmen

Alle Leitlinien sind sich derzeitig einig, eine pubertätsunterdrückende Therapie nicht vor Einsetzen der Pubertät zu beginnen, als Kriterium werden eine Pubertätsentwicklung bis mindestens zum Tanner-2-Stadium sowie eine sich daraus deutlich entwickelnde GD gesehen. Weitere Einigkeit besteht in der Empfehlung, ab einem Alter von 16 Jahren als nächsten möglichen Schritt eine nur mehr partiell reversible Therapie mittels gegengeschlechtlicher Hormone zu ermöglichen. Irreversible (chirurgische) Interventionen werden ab dem 18. Geburtstag (rechtliche Volljährigkeit) empfohlen.

In Abb. 1 ist der mögliche leitliniengerechte Behandlungsrahmen zusammengefasst.

Abb. 1
figure 1

Abfolge von Behandlungsschritten. FTM „Female to male“ (Frau zu Mann); GnRH Gonadotropin-Releasing-Hormon; MTF „male to female“ (Mann zu Frau). (Nach [1721])

Für eine genauere Darstellung der somatischen Aspekte der Gonadotropin-Releasing-Hormon-Analoga-Therapie sowie der gegengeschlechtlichen Hormontherapie bei Jugendlichen wird auf den Beitrag von Kapelari in dieser Ausgabe von Gynäkologische Endokrinologie verwiesen.

Infobox 1 Leitlinien zur Behandlung transidenter Kinder und Jugendlicher

  • World Professional Association for Transgender Health (WPATH): „Standards of care for the health of transsexual, transgender, and gender-nonconforming people, version 7“ [17]

  • Endocrine Society: „Endocrine treatment of transsexual persons: an Endocrine Society clinical practice guideline“ [18]

  • Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP): „Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter (F64)“ [20]

  • Österreichische Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen, in Vorbereitung [21]

Entwicklungsepidemiologie

Bisher steht weltweit lediglich eine Studie mit einer repräsentativen bevölkerungsbasierten Stichprobe zur Verfügung, in der die Prävalenz von Transidentität bei Jugendlichen untersucht wurde. In dieser Studie mit über 8000 Teilnehmern aus Neuseeland wurde unter anderem die Frage gestellt, ob der Jugendliche glaubt, Transgender zu sein, in einer Anmerkung wurde dieser Begriff näher erklärt. Ein Anteil von 1,2 % der befragten Jugendlichen antwortete, Transgender zu sein, 2,5 % gaben an, sich bezüglich ihres Genders nicht sicher zu sein [22]. Eine Prävalenzrate von 1,2 % unter Jugendlichen würde allerdings eine weitaus höhere Prävalenzrate im Kindesalter bedeuten: Die Mehrzahl aller Kinder, die vor der Pubertät eine GD erleben, arrangiert sich im Laufe der Zeit mit diesen Gefühlen. Je nach Studie erleben lediglich 2–27 % aller Kinder, die wegen GD vorstellig wurden, diese Gefühle auch als Jugendliche und möchten sich deshalb behandeln lassen. Anders formuliert liegt der Prozentsatz derjenigen Jugendlichen, deren GD-Erleben in der Adoleszenz nach Einsetzen der Pubertät nahezu sistierte, in Studien bei knapp 85 % [23].

Entwicklungsverläufe von Kindern, die vor der Pubertät eine ausgeprägte GD erleben, lassen sich in 3 Gruppen unterteilen [23, 24]:

  • „Desisting gender dysphoria“ („Desister“) – Gruppe A: Kinder arrangieren sich mit ihren geschlechtsspezifischen Körpermerkmalen und entwickeln später in der Pubertät eine homosexuelle oder bisexuelle Orientierung → häufigster Verlauf!

  • „Desisting gender dysphoria“ („Desister“) – Gruppe B: Kinder arrangieren sich mit ihren geschlechtsspezifischen Körpermerkmalen und entwickeln später in der Pubertät eine ausschließlich heterosexuelle Orientierung → seltenster Verlauf!

  • „Persisting gender dysphoria“ („Persister“): Die GD persistiert bis in die beginnende Adoleszenz und exazerbiert im Zuge der in der Pubertät beginnenden Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale → Behandlungswunsch und möglicherweise Behandlungsindikation

Möller et al. [24] betonen, dass einer möglichst zuverlässigen Identifikation der „Persister“ eine Schlüsselrolle im Behandlungsprozess von GD bei Kindern und Jugendlichen zukommt: Es gilt, „Desister“ nicht vorschnell mit einer nicht indizierten und möglicherweise irreversiblen Hormonbehandlung zu belasten, umgekehrt aber eindeutige „Persister“ auf ihrem Weg optimal zu unterstützen und ihnen auch eine pubertätsunterdrückende und das gewünschte Geschlecht induzierende Behandlung zu ermöglichen.

Die wenigen verfügbaren Longitudinaldaten weisen darauf hin, dass „Persister“ im Kindesalter folgende Merkmale aufweisen [23]:

  • Starke Ausprägung der GD

  • Weibliches Geschlecht

  • Homosexuelle Orientierung

  • Stärkere Sichtbarkeit geschlechtsrollennonkonformer Verhaltensweisen

  • Überzeugung, das andere Geschlecht zu sein („Ich bin ein Junge“), wohingegen „Desister“ eher wie das andere Geschlecht sein wollen („Ich wäre gern wie ein Junge“)

Behandlung transidenter Jugendlicher

Zentrale Fragen hinsichtlich einer möglichen Behandlung von GD im Kindes- und Jugendalter sind nach Möller et al. [24]:

  • Ethische Fragestellung: Ist ein irreversibler Eingriff in eine natürlich ablaufende geschlechtliche Entwicklung gerechtfertigt?

  • Diagnostische Fragestellung: Wie kann man möglichst gut die Gruppe junger Menschen identifizieren, in der eine Unterdrückung der ursprünglichen körperlichen Pubertätsentwicklung sowie ein künstliches Induzieren gewünschter sekundärer Geschlechtsmerkmale indiziert sind („Persister“)?

  • Ist eine Einschätzung möglich, ob die GD mit einer Psychotherapie bereits ausreichend behandelt ist und ob keine körperlichen Interventionen nötig sind?

  • Frage des richtigen Zeitpunkts: Ab wann sollte welche Behandlung erfolgen?

Die publizierten Längsschnittstudien zeigen für Jugendliche, die leitlinienkonform (Infobox 1) zunächst mittels Pubertätssuppression und später mittels Induktion gewünschter sekundärer Geschlechtsmerkmale behandelt wurden, erfreuliche Ergebnisse. Entsprechend hat sich dieses vor 15 Jahren eingeführte Protokoll („Dutch model“) in den meisten Behandlungszentren durchgesetzt [25]. In einer aktuellen niederländischen Studie wurde eine Gruppe von Jugendlichen zu Beginn der Pubertätssuppression (Durchschnittsalter 13,6 Jahre), zu Beginn der gegengeschlechtlichen Hormontherapie (Durchschnittsalter 16,7 Jahre) und im jungen Erwachsenenalter (Durchschnittsalter 20,7 Jahre) ausführlich psychodiagnostisch untersucht. Hier zeigte sich eine gute longitudinale Entwicklung. Die Patienten wiesen nach der stufenweisen Behandlung keine GD mehr auf, ihr subjektives Wohlbefinden und das psychosoziale Funktionsniveau unterschieden sich nicht von einer gesunden Kontrollgruppe [26]. Im bisher längsten dokumentierten Verlaufsfall zeigten sich bei einem FTM-Patienten, der mit 13 Jahren eine pubertätsunterdrückende Therapie sowie ab einem Alter von 17 Jahren androgene Hormone bekommen hatte, nach einer 22-jährigen Beobachtungsperiode keinerlei somatische Komplikationen [27].

Eine aktuelle Studie zeigte bezüglich der Behandlung von Kindern mit GD, dass auch bei sehr jungen Patienten ein Leben in der gegengeschlechtlichen Rolle unter laufender professioneller psychologischer Beratung zu einer deutlichen Reduktion der psychopathologischen Symptombelastung führen kann. Die in die Studie eingeschlossenen Kinder (Durchschnittsalter 7,7 Jahre) wurden in der sozialen Transition von ihren Familien ausdrücklich unterstützt und wiesen in den untersuchten Bereichen Angst und Depression keine höheren Werte auf als eine Kontrollgruppe [28].

Junge Menschen mit geschlechtsdysphorischem Erleben zeigten bisher im Vergleich zu heterosexuellen Kindern und Jugendlichen ohne GD ein deutlich schlechteres psychisches Wohlbefinden mit erhöhten Raten von affektiven Störungen, Angststörungen, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Studien weisen darauf hin, dass diese Probleme vor allem durch sozialen, aber auch durch intrapsychischen Druck ausgelöst werden, der aus der Unmöglichkeit entsteht, eine gewünschte Identität zu leben. Soziale Akzeptanz bzw. ein Coming-out konnten als schützende Faktoren identifiziert werden [29].

Junge Menschen mit unbehandelter Geschlechtsdysphorie zeigen ein deutlich schlechteres psychisches Wohlbefinden

Zusammenfassend weist also eine immer robustere Datenlage darauf hin, dass eine leitliniengerechte Behandlung von transidenten Kindern und Jugendlichen angesichts einer deutlich erhöhten psychopathologischen Symptombelastung klar indiziert ist. Die derzeit angewandten Behandlungsprotokolle können in dieser Patientengruppe zu einer Konsolidierung führen.

Eigene Erfahrungen nach eineinhalb Jahren Transgenderambulanz

Zunehmende Konsultationen von transidenten Kindern, Jugendlichen (Abb. 2) und deren Familien haben uns dazu bewogen, an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck eine interdisziplinäre Transgendersprechstunde einzurichten. Als Anbieter von tertiären Gesundheitsleistungen verfügen die Universitätskliniken bzw. die Medizinische Universität Innsbruck über ein geeignetes Netz aus spezialisierten Einrichtungen. Somit konnten wir 2014 in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Gynäkologische Endokrinologie sowie dem Department für Kinder- und Jugendheilkunde Innsbruck (Spezialbereich Endokrinologie) unsere Sprechstunde starten.

Abb. 2
figure 2

In der Kunsttherapie wurde der Schatten einer Patientin (Frau zu Mann) fotografiert und damit über soziale Rollenbilder reflektiert. (Mit freundl. Genehmigung von Barbara Oberhofer, Österreich)

Wir sehen unser Angebot als einen notwendigen Schritt, um einen leitliniengerechten und interdisziplinären Kompetenzbereich zu ermöglichen. Dazu haben wir neben der Erstellung eines internen Ablaufstandards auch den Rahmen eines „Transgenderboards“ für Kinder und Jugendliche geschaffen, in dem Fallbesprechungen erfolgen und Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Die Einführung einer Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern wurde von uns forciert und hat sich, neben der engen Zusammenarbeit mit einschlägigen extramuralen Beratungseinrichtungen, bewährt.

Im Einklang mit internationalen Trends [30] waren unsere bisherigen Patienten in der überwiegenden Mehrzahl transmaskuline Jugendliche, also biologisch weibliche Menschen mit männlichem Gender (Abb. 3). Bei allen Patienten hatte zum Zeitpunkt der Erstvorstellung die Pubertät bereits begonnen, sie waren somit „Persister“ und erfüllten die Leitlinienkriterien für den Beginn einer pubertätsunterdrückenden Therapie. Bis auf eine Patientin mit intersexuellem Gender, die den Wunsch nach Psychotherapie formulierte, bestand bei allen Patienten ein eindeutiger Behandlungs- und Transitionswunsch.

Abb. 3
figure 3

Diagnostische Verteilung bisheriger Patienten in der Transgenderambulanz (n = 19)

In unserer kinder-und jugendpsychiatrischen Spezialsprechstunde übernehmen ein Arzt, ein Sozialarbeiter sowie eine klinische Psychologin und Psychotherapeutin

  • das Erstgespräch,

  • die Psychodiagnostik,

  • die Vernetzung mit den Sorgeberechtigten,

  • die Sozialberatung,

  • die ausführliche Psychoedukation,

  • die Vermittlung einer Psychotherapie,

  • die Vernetzung mit dem extramuralen Helfersystem und

  • die Vernetzung mit den intramuralen somatischen Behandlern.

Behandlungsentscheidungen sind trotz Bezugnahme auf Leitlinien immer Einzelfallentscheidungen und werden ausschließlich im multiprofessionellen Team getroffen. Zunächst erfolgen eine umfangreiche Diagnostik und Verlaufsbeobachtung (diese ist für Jugendliche, die unsere Sprechstunde bereits mit viel Druck und genauen Erwartungen an eine Behandlung aufsuchen, häufig schwer auszuhalten). Danach wird gemeinsam mit der Familie ein individueller Behandlungsplan erstellt.

Fazit für die Praxis

  • Nur wenige Kinder, die wegen GD vorstellig werden, erleben diese Gefühle auch als Jugendliche und möchten sich deshalb behandeln lassen.

  • Hält die GD jedoch bis in die Pubertät an, kann dies zu einer ernsthaften psychopathologischen Symptombelastung bis hin zu Suizidalität führen. In diesem Fall ist eine eindeutige Behandlungsindikation gegeben.

  • Längsschnittstudien zeigen für Kinder und Jugendliche, die leitliniengerecht behandelt werden, erfreuliche Ergebnisse.

  • Ein vor 15 Jahren eingeführtes Behandlungsprotokoll („Dutch model“) hat sich in den meisten Behandlungszentren durchgesetzt.

  • Nur ein interdisziplinäres und entwicklungsbegleitendes Vorgehen kann der individuellen Situation der jungen Patienten und ihrer Familien Rechnung tragen.

  • Der Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist dabei auch eine sorgfältige psychiatrische Differenzialdiagnostik. Es gilt, im Jugendalter Störungen wie Psychosen oder beginnende Persönlichkeitsstörungen auszuschließen und behandelbare komorbide Störungen zu erkennen und zu therapieren.