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Die Uhr von Goethe

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Schmidt-Weißenfels
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Titel: Die Uhr von Goethe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 238-240
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Uhr von Goethe.

Ein halbes Jahrhundert war verflossen, seitdem Wolfgang Goethe in Weimar wohnte, wohin Karl August ihn 1775 aus Frankfurt entführt hatte. Das glücklichste Leben eines Weisen und Dichters neigte sich bereits seinem Untergange zu, in ruhiger Pracht, wie die Sonne am reinen Horizont niedersinkt. Fünfzig Jahre waren es her, daß die Dichtungen des „Götz von Berlichingen“ und des Werther die Stirn des deutschen Apoll mit Lorbeeren bekränzt hatten, die in unvergänglicher Frische erhalten und mit zahlreichen neuen Blättern vermehrt waren. So lange der brave thüringische Herzog sein kleines, liebliches Land beherrschte, so lange war sein Freund, mit dem er als Jüngling getollt und gereist und mit dem er als Mann gedacht und regiert, der unbestrittene Gebieter der mit ihm erstandenen glänzenden Republik der deutschen Literatur. Goethe, im weimar’schen Ländchen als der mächtigste Herr außer dem geborenen Fürsten betrachtet, war in ganz Deutschland und weit darüber hinaus als der vornehmste und erste der [239] Geister anerkannt, und unaufhörlich ging die Wallfahrt der Großen von Geist wie von Geburt nach der ruhmvollen Dichterstätte an der Ilm, um neidlos seinem reinen Ruhm zu huldigen. Fast war es ein ernster Cultus der Vergötterung, der Goethe in seinem letzten Jahrzehnt zu Theil ward und der noch lange über seinen Tod hinaus erhalten wurde.

Karl August’s fünfzigjährige Regierung war eben erst glänzend und herzlich vom weimar’schen Volke gefeiert worden, als sich die Elite der Dichterstadt und des deutschen Landes anschickte, Goethe’s goldenen Jubeltag als Dichterfürst und Dioskur des Großherzogs von Weimar zu feiern. Am 7. November 1825 waren es fünfzig Jahr, daß Goethe in jugendlicher Kraft und geschmückt mit den ersten Kränzen dichterischen Ruhmes in Weimar eingetroffen; an diesem Tage sollte die Jubelfeier stattfinden.

Der Großherzog Georg Friedrich von Mecklenburg-Strelitz war einer der eifrigsten unter den deutschen Fürsten, seine Verehrung für Goethe an diesem Festtage in sinniger Weise an den Tag zu legen. Er gehörte noch zu dem Geschlecht der aufgeklärten Despoten, welches gewissermaßen die letzte Blüte des dem Tode verfallenen fürstlichen Absolutismus in Deutschland bildete und instinctartig bedacht war, die Interessen des Staats von den persönlichen ihrer Herrscher zu emancipiren. Gegenüber der frivolen Gesinnung Ludwig’s XIV. und der ihm nachäffenden kleinen Tyrannen von Deutschland im vorigen Jahrhundert: l’état c’est moi! proclamirte dies Geschlecht den Grundsatz, daß der Fürst der erste Diener des Staates sei. Georg Friedrich hat seinem Lande mit diesem Grundsatz viel Wohlthaten erwiesen; er kümmerte sich nicht um den Groll seiner Ritter und hob bald nach seinem Regierungsantritte 1816 die noch bestehende Leibeigenschaft auf. Des Volkes Bildung lag ihm ernstlich am Herzen, und die Schulen und Lehrinstitute, die er stiftete, zeugen genugsam davon. Ein braver Herr, der mit Recht als ein Landesvater galt und dem man es nicht nachtragen konnte, daß er als siebzigjähriger Greis sich nicht gut in die neue Zeit von 1848 finden konnte, war er ein Freund der Literatur und der Kunst und liebte es, sich auch als solchen zu zeigen. Er starb fast achtzigjährig erst 1860, geehrt als einer der besten der alten Patriarchenfürsten unter den gekrönten Häuptern Europas.

In aufrichtiger Verehrung für Goethe sann Georg Friedrich vergeblich darüber nach, wie er dieselbe an dem goldenen Jubeltage bezeigen könne. Er war nicht von den Fürsten, die da meinen, mit einem Orden tue er schon einem solchen Manne gegenüber das Möglichste; er begriff die Wahrheit, die Bürger ausgesprochen:

... edel sind der Götter Söhne schon,
Die muß kein Fürst erst adeln wollen.

Und einem Dichterkönig wie Goethe gegenüber, wie winzig und sinnlos war da nicht als Zeichen der Verehrung das Spielzeug eines Ordens!

Der Großherzog fand endlich den Weg, um das zu erreichen, woran ihm lag: ein würdiges Geschenk für den Jubeldichter. Die Mutter Goethe’s, die herrliche „Frau Rath“ von der ihr Sohn die Frohnatur und die „Lust zu fabuliren“ geerbt, war schon 1808 gestorben; der Vater gar schon 1782. Die Wirthschaft der Eltern hatte längst ihre Auflösung erhalten; diese und jene Freunde in Frankfurt besaßen etwas davon; das Meiste war verkauft worden, längst in anderen Besitz gekommen. Georg von Mecklenburg empfahl nun seinem Geschäftsträger in Frankfurt am Main dringend an, irgend ein Stück von der Wirthschaft des Goethe’schen Hauses wieder zu erwerben, womöglich geeignet, in dem greisen Dichter eine recht lebhafte Erinnerung an seine schöne Jugendzeit zu erwecken. Es war nicht leicht für den Geschäftsträger, diesem Wunsche zu entsprechen. Was sich fand und echt war, konnte selten als ein für Goethe besonders interessanter Gegenstand angesehen werden, war kaum in eine Beziehung zu seinem Kindesleben im Elternhause zu setzen. Doch die ernstlich betriebene Nachforschung lohnte sich zuletzt in besserer Weise, als man hoffen konnte, nachdem die Wirthschaft seit siebzehn Jahren auseinander gerissen war. Man fand die große, alte Schlaguhr mit dem stattlichen Gehäuse, die in der Familienstube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt gestanden hatte. Welcher Gegenstand konnte wohl geeigneter sein, auf Goethe den beabsichtigten Eindruck hervorzubringen, als diese tagtägliche Mahnerin seiner Jugend, diese Gebieterin des pedantisch geordneten Hauswesens der Eltern, nach deren Fingerzeig und ewig gleichmäßigem gravitätischem Stundenschlag Alles geregelt war?

Der Großherzog war höchst erfreut über diesen Fund. Kurz vor dem Jubeltage sandte er die Uhr nach Weimar an den Kanzler von Müller, den kunstsinnigen Freund Goethe’s, der zu den Wenigen gehörte, mit denen er bei der strengen Zurückgezogenheit in seinem Hause am Frauenplan in fast täglichem Verkehr stand, und der das Arrangement für die Jubelfeier in die Hand genommen hatte. Es bedurfte nur der brieflichen Mittheilung des Großherzogs über die Absicht, welche er mit jenem Geschenk verbinde, um Friedrich von Müller den Werth des letzteren kennen zu lehren und für eine sinnige Ueberraschung damit am Festtage zu sorgen. Der Großherzog hatte die Bitte ausgesprochen, die Uhr derart aufzustellen, daß ihr Schlag zu gewohnter Stunde womöglich den greisen Dichterfürsten erwecke.

Abends vor dem Jubeltage ward nun die Uhr, ohne daß Goethe es ahnte, in sein Haus gebracht. Während er schlief in jenem kleinen, schmalen Zimmer neben dem einfachen Arbeitscabinet, stellte der treue Diener Friedrich sie an die schmale Fensterwand des kleinen Vorzimmers, wo in Schränken die mineralogischen Sammlungen sich befinden. Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe regelmäßig zu erwachen; auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der ehrwürdigen Uhr gestellt. Im richtigen Augenblick, am andern Morgen, sollte der Diener den Pendel in Bewegung setzen.

Goethe lag in ruhigem Schlummer, vielleicht umschwebt von Träumen der Erinnerungen an sein langes, schönes Leben. Plötzlich hebt im Vorzimmer schnarrend die Uhr aus, und durch die tiefe Stille tönt ein sonorer, lang aussummender Schlag. Der Dichter horcht, noch im Schlafe, auf. Träumt er, daß er im Elternhause sei und die alte Uhr wieder vernehme, ihren Stundenschlag, der ihn in erster Jugendliebe zu Gretchen getrieben und später zu Lili? - Wieder klingt der Ton an sein Ohr. Nein, das ist kein Traum! Goethe hebt sich hoch auf in seinen Kissen; er fühlt, daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter. Der Dichter läßt ihn verklingen; ein Wonnegefühl preßt ihm das Herz zusammen, und er lauscht begierig dem Auszittern der Tonwelle, bis sie stirbt. Dann zieht er die Klingel an seinem Bett, und als der wartende Diener hereintritt, ruft er ihm wie jubelnd zu:

„Friedrich! Friedrich! Was war denn das? Ich hörte eben die Uhr aus meinem Elternhause schlagen.“

Der Diener nickte lächelnd mit seinem Haupt und wies mit der Hand nach dem Vorzimmer.

„Diese Uhr steht da, Excellenz!“ sagte er mit vor Freude zitternder Stimme.

Mit einem Sprung war der rüstige Greis aus dem Bett, und kaum mit dem Nöthigsten bekleidet, eilte er nach dem Vorzimmer, in dem er, von ein paar Lichtern erhellt, die Uhr aus dem Elternhause am Hirschgraben in Frankfurt erblickte. Ein paar Thränen der Rührung traten in seine großen blauen Augen; lange stand er vor der Uhr und horchte auf ihr gravitätisches Tiktak, auf diesen Herzschlag der elterlichen Wohnung. Eine Fluth von Erinnerungen durchströmte seine Brust; eine Seligkeit kam über ihn, die keine Worte fand. Es erstand vor seinen Augen das Bild des gestrengen Vaters, der schönen, herzigen Mutter, der geliebten, nun auch längst gestorbenen Schwester Cornelia; er sah in Gedanken die Uhr an ihrem alten Platze in der Familienstube, daneben den großen, schweren Sorgenstuhl, den der Vater zuweilen Abends einnahm, in dem er manches Mal gesessen und das Haupt geschüttelt, wenn sein Sohn ihm von dem Universitätsleben in Leipzig und Straßburg mit übermüthigem Frohsinn erzählte, und die Mutter währenddeß am großen Eßtisch in der Mitte des Zimmers ihrem Platz hatte, mit einer Handarbeit beschäftigt und stolz lächelnd ihren Wolfgang von der Seite betrachtend. Wenn dann diese selbe Uhr mit diesem selben Schlag die Stunde anzeigte, in der pünktlich die Betten aufgesucht wurden, stieg Goethe nach seiner Dachstube hinauf und wartete gewöhnlich ab, bis die Alten zur Ruhe gegangen waren. Dann schlich er leise die Treppe wieder hinab, öffnete das Hausthor, und nun ging’s fort zu den lustigen Genossen, um mit ihnen den Abend und die halbe Nacht zu verjubeln. Ein Bild dieser Erinnerungen an die wilde Zeit seiner Jugend reihte sich schnell an das andere; der Greis schwelgte in dieser Fata morgana, bis ein neuer Schlag der Uhr sie wie durch Zauber verscheuchte und ihn an die Wirklichkeit mahnte.

Schon dämmerte der Tag, und wie gewöhnlich öffnete der Dichter die Fenster seines Schlafzimmers. Liebliche Morgenmusik [240] begrüßte ihn aus seinem Garten – die Feier seines goldenen Jubeltages, wie sie vom Großherzog Karl August angeordnet war, hatte damit ihren Anfang genommen. Bald darauf waren alle Wagen der Stadt in Bewegung, alle angesehene Leute auf der Wallfahrt nach des Dichters Hause. Deputation folgte auf Deputation, um ihm Diplome, Medaillen, Ehrengeschenke und dergleichen zu überreichen; der Großherzog und seine Gemahlin besuchten ihn und widmeten ihm eine Stunde; es kamen die Mitglieder der großherzoglichen Familie, die Minister, die höchsten Beamten des Landes, die ersten Damen von Weimar, um der Enthüllung der schönen Büste Goethe’s in seinem eigenen Hause beizuwohnen. Ein großes Festessen im Rathhaussaale fand ihm zu Ehren statt; am Abend wurde seine „Iphigenia“ aufgeführt und der Dichter beim Eintritt in die Loge mit begeistertem Zuruf empfangen. Noch ehe er, kränklich etwas und ermüdet von dem Wirrwarr des Tages, sich zur Ruhe begab, brachte ihm die großherzogliche Capelle eine Abendmusik; die Fenster aller Häuser am Frauenplan waren erleuchtet; in seinen Prunkzimmern feierte ihn eine zahlreiche Gesellschaft. Zahllose und kostbare Geschenke waren in seinem Hause aufgestapelt, aber das theuerste von allen blieb doch die alte Uhr aus seinem Elternhause. Der schöne Tag war reich an Huldigungen und Ueberraschungen, doch die sinnigste unter allen war für ihn die, welche der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz ersonnen hatte. Noch als er an jenem Jubeltag in’s Bett ging, sprach er mit Entzücken von der ersten Begrüßung, die ihn erweckte, von jenen fünf Schlägen der Uhr, die ihn in den Garten seiner Jugend, in den Zauberkreis der bunten Erinnerungen seiner Kinderzeit und des elterlichen Hauses versetzt hatten. Er lauschte so lange, bis er diese lieben Töne noch einmal hörte; dann schloß er die Augen und mit dem Gedanken an den Herrn Vater und sein herziges Mütterlein schlief er ein.

Schmidt-Weißenfels.