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Der andere

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Der andere
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aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 129–130
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 29. November 1927
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Der andere

Für wen bin ich eigentlich unglücklich? Für wen verpasse ich alle Gelegenheiten, alle großen Lose, alle günstigen Zuganschlüsse? Wenn es eine Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt, dann muß doch auch eine andre Seite da sein; ich werfe die schwarzen Scheiben, gut, aber einer muß doch dann auch die weißen werfen … „Unter 2786 Würfen sind nur 2 …“ Ich bin unter den 2784 – die helfe ich auffüllen, Komparse fremden Glücks, Hintergrund glatter Aktschlüsse des andern.

Muß der ein Glück haben –!

Wir sind, denke ich, miteinander verbunden wie die Figuren an den alten Wetterhäuschen: wir stehn auf einem drehbaren Brettchen, und wenn ich ins Haus zurücktrete, tritt er hinaus … Immer ist er draußen, das Luder.

In den letzten Jahren, zum Beispiel, wohnt er stets auf der Sonnenseite, hat von morgens elf Uhr bis abends sechs Uhr Sonne in seinem Arbeitszimmer; er arbeitet in der äußersten Stille, manchmal macht er Krach, läßt das Grammophon laufen, liest sich laut etwas von Edschmid vor, spült sich dann den Mund aus … nur um etwas Leben in die Bude zu bringen. Wenn er einen Untergrundbahnhof betritt, zischt, kaum hat man sein Billett geknipst, der Zug herein, den er benötigt – keine Sekunde wartet er. Die Damen fliegen ihm zu und, [130] worum ich ihn besonders beneide, sie fliegen auch wieder davon; wenn er sich Geld wünscht, bekommt er es nicht in drei Monaten, wo es ihm nichts mehr nützt, sondern er hat es dann, wann er es braucht; seine Verleger tun etwas für seine Bücher – daß dem Kerl nicht ganz unheimlich wird! So viel Glück hat er in den letzten Jahren.

Ich bin es, der es ihm gibt. Er hat es nur durch mich. Damit die göttliche Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgehe, verpasse ich die Züge, die er erwischt; horche ich den Lärm auf, um den er herumwohnt; gewähren sich mir plappernde und bunte Frauen und versagen sich zur Unzeit wie kann man so undelikat sein dergleichen aufzuschreiben; für mich geht alles schief, damit es ihm gerade gehe. Bedankt er sich –?

Weiß er überhaupt etwas von meiner Existenz? von meiner unendlichen Arbeit, mit der ich ihm das Unglück abnehme und mir aufbuckle? Ahnt er denn, daß ich ihm Hilfsstellung leiste, daß ich die punktierte Linie bin, mit der man in der Quarta geometrische Sätze bewies, nachher wurde sie wieder wegradiert, und siegreich stand der Pythagoras da? Weiß er das?

Er geht herum, dieser Großprotz, und sagt: „Mein Instinkt, müssen Sie wissen …“ Du Affe. Du Prahlhans. Du Luftballon des Glücks. Ich trage dich, ich stütze dich, ich ermögliche dich – ohne mich wärst du nicht da, ohne mich wärst du eine Null, ein Krümel, hör doch! Meine Stimme dringt aus einem tiefen Brunnenschacht; tief unten, wo der vom Fremdenführer geworfene angezündete Fidibus verlöscht, hocke ich, rufe dumpf herauf, aber der Hall dringt zu keinem Glücklichen.