Qualitätskorrigiertes Lebensjahr

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ein qualitätskorrigiertes Lebensjahr (englisch quality-adjusted life year oder QALY) ist eine Kennzahl für die Bewertung eines Lebensjahres in Relation zur Gesundheit. Ein QALY von 1 bedeutet ein Jahr in voller Gesundheit, während ein QALY von 0 einem Versterben entspricht. QALY ist damit ein Nutzwert für ein Leben(-sjahr). Das QALY ist die meistgenutzte Kennzahl in der gesundheitsökonomischen Evaluation.

Die QALYs sind eine Form der Kosten-Nutzwert-Analyse[1]. Bei dieser Methode werden Vor- und Nachteile einer Maßnahme in Einheiten einer kardinalen Nutzenfunktion gemessen und sollen so das mehrdimensionale Konzept der Gesundheit in einem Index abbilden. Sie ähneln der Kosten-Nutzen-Analyse, unterscheiden sich aber von dieser dadurch, dass der Nutzen nicht in Geldeinheiten, sondern in Lebensqualität (und -dauer) gemessen wird. Neben den QALYs wurden in der Kosten-Nutzwert-Analyse auch andere Nutzenkonzepte entwickelt, z. B. DALY (disability-adjusted life years) oder HYE (healthy-years equivalent).

Das QALY-Konzept wurde ursprünglich 1968 von Herbert Klarman für die gesundheitsökonomische Analyse bei chronischem Nierenversagen entwickelt.[2] Das heutige QALY-Konzept wurde dann 1977 von Weinstein und Stason weiterentwickelt.[3] An der Ausformulierung waren aber auch Fanshel und Bush (1970) sowie Zeckhauser und Shepard (1976) maßgeblich beteiligt.[4] 2002 gewann Paul Dolan den Philip Leverhulme Prize für seine Beiträge zu Gesundheitsökonomie, insbesondere für seine Arbeiten zum QALY-Konzept.

Ziel dieser Kennzahl der Versorgungsforschung ist es, das subjektive Gut Gesundheit in eine messbare Kennzahl zu überführen, um Kosten-Nutzwert-Analysen durchführen zu können. Im Gegensatz zu einfacheren Kosten-Kosten- oder Kosten-Effektivitäts-Analysen führt der QALY verschiedene Dimensionen von medizinischen Outputs zusammen und erlaubt so im Gegensatz zu den einfacheren Konzepten auch den Vergleich von Behandlungen über verschiedene Diagnosen hinweg (Interindikationsvergleich). Dadurch wird es theoretisch möglich, eine transparente Rationierungsentscheidung zu treffen: Eine medizinische Maßnahme wird bezahlt, solange sie eine Grenze von x EUR/QALY nicht überschreitet. Ein solcher Schwellenwert ist bisher nirgendwo explizit festgelegt worden, vielmehr wird mit Intervallen gearbeitet. Eine Schätzung geht davon aus, dass der Schwellenwert des englischen NICE (National Institute for Health and Care Excellence) zwischen 20.000 GBP und 30.000 GBP liegt. Allerdings werden auch immer wieder Maßnahmen bewilligt, deren Kosten je QALY deutlich über diesem Wert liegen.[5]

Konzeptualisierung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Kern des QALY-Modells werden die Aspekte Lebensquantität (vgl. Lebenserwartung) und Lebensqualität multiplikativ verknüpft, um einen QALY-Wert zu errechnen:

.

Hier steht T für die Anzahl an Jahren und Q für die gesundheitsbezogene Lebensqualität (zunächst normiert von 0 bis 1). Man nehme an, dass eine Chemotherapie das Leben eines Patienten im Durchschnitt um zwei Monate (ungefähr 0,17 Lebensjahre) verlängern kann. Die Infusionen sind aber mit Nebenwirkungen verbunden und belasten den Patienten stark. Daher bewertet der Patient seine gesundheitsbezogene Lebensqualität während der Therapie mit 0,8. Dann entspricht dies einem QALY-Wert von .[6]

Eine kontrovers diskutierte Frage ist, ob QALYs diskontiert werden müssen.[7] Eine Diskontierung bedeutet, dass der Nutzen einer Behandlung umso schwächer in die Rechnung eingeht, je weiter er in der Zukunft liegt. Die meisten Befürworter schlagen einen niedrigen einstelligen Zinssatz im Bereich von 3–5 % vor.

Bestimmung der Kennzahl

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zur Errechnung der QALY werden also zwei Komponenten benötigt, die beide multiplikativ verknüpft werden: zum einen der Gewinn an Lebenszeit (z. B. in Jahren) und die gesundheitsbezogene Lebensqualität.

Mit gezielten Studien kann meist zuverlässig gemessen werden, ob und inwieweit eine Maßnahme die Lebenszeit verlängern kann.

Lebensqualität

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es wurden verschiedene Instrumente entwickelt, um die gesundheitsbezogene Lebensqualität zu erfassen.

Time-Trade-Off
Eine mögliche Herleitung des QALY ist durch den sogenannten Time-Trade-Off möglich: „Wie viele Jahre von meinem Leben bin ich bereit, abzugeben, wenn ich dafür stets ohne jedwede gesundheitliche Einschränkungen leben kann.“ Die verbleibenden Jahre entsprechen dem persönlichen QALY. Dabei wird der Befragte vor die Wahl zwischen einem Zustand mit eingeschränkter Lebensqualität – keiner spezifischen Diagnose – für den Rest seiner statistischen Lebenserwartung und einer Zeitspanne x in vollkommener Gesundheit und anschließendem Tod gestellt. Die Zeitspanne x wird so lange variiert, bis der Befragte zwischen beiden Zuständen indifferent ist.[8]
Standard-Lotterie
Die Standard-Lotterie (standard gamble) versucht herauszufinden, welche Todeswahrscheinlichkeit man für eine vollständige Heilung in Kauf nehmen würde. Noch präziser im Sinne der Erwartungsnutzentheorie ist die Frage, bei welcher Todeswahrscheinlichkeit p man indifferent ist zwischen einem Zustand mit eingeschränkter Lebensqualität über eine Zeitspanne t und einer Lotterie mit vollkommener Gesundheit über die Zeitspanne t und der Todeswahrscheinlichkeit p.[9]
Ratingskalen
Eine Bewertungsskala besteht aus einer Linie mit eindeutig definierten Endpunkten, die den schlechtesten Gesundheitszustand (normalerweise den Tod) und den besten Gesundheitszustand beschreiben. Die befragte Person soll einen bestimmten Gesundheitszustand bewerten, indem sie einen Punkt auf der Linie angibt, der diesem Gesundheitszustand entspricht.[10] Der EQ-5D beispielsweise ist ein Gesundheitsfragebogen, der die Lebensqualität eines Patienten in einer eindimensionalen Maßzahl von 1 (sehr gut) bis 0 (extrem niedrig) ausdrückt. Er liegt derzeit in ca. 70 Sprachen vor und ist der weltweit am häufigsten eingesetzte Fragebogen zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Der QALY ist ein extra-welfaristisches Konzept; es wird nur eine Maximierung innerhalb des Gesundheitswesens angestrebt. Ob ähnliche Effekte auch durch andere Maßnahmen zu geringeren Kosten erreicht werden können, wird nicht hinterfragt. Für eine solche Kosten-Nutzen-Analyse sind Konzepte entwickelt worden, die den gesundheitlichen Nutzen monetär bewerten. Die Ermittlung dieser Werte ist aber noch problematischer als die Ermittlung der QALYs, so dass sich diese Konzepte bisher nicht durchgesetzt haben.[11]

Kritik am QALY-Konzept

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das QALY-Konzept ist eine Annäherung zur einheitlichen Bewertung von Gesundheitsleistungen, bei der eine Ressourcenverwendung im Gesundheitssektor effizient dargestellt wird. Jedoch ist, obwohl das Vergleichsproblem verschiedener Indikationen beseitigt und der Interessenkonflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit behoben sind, die Kennzahl nicht unumstritten. Es gibt zum einen methodische Argumente, die an den QALYs zweifeln lassen, und zum anderen auch ethische Meinungen, die das Konzept kritisieren.

Zu den Annahmen des QALY-Modells zählen Risikoneutralität in Bezug auf die Lebensdauer, wechselseitige Nutzenunabhängigkeit und konstant proportionaler Trade-off.[12] Wenn sich der Krankheitszustand im Verlauf ändert, gilt zudem die Annahme der additiven Unabhängigkeit der Krankheitszustände. Es gibt empirische Belege, dass die QALY-Annahmen verletzt werden.[13]

Zu den methodischen Gegenargumenten gehört, dass trotz einer einheitlichen Verwendung des Time-Trade-Off-Instruments verschiedene Studien äußerst unterschiedliche Ergebnisse über die Abschätzung der Lebensqualitätseffekte bei den Probanden ergeben. Die dargelegten Szenarien, bei denen sie Auskunft darüber geben sollen, wie viel Lebenszeit sie bereit wären abzugeben, um im Gegenzug vollständige Lebensqualität zu erhalten, sind nicht identisch. Dies führt zu einer nur bedingten Vergleichbarkeit. Außerdem sind kleinere Veränderungen der Lebensqualität derzeit noch nicht messbar nachzuweisen. Daher könnte der QALY nicht korrekt berechnet sein und somit zur Verschleierung der tatsächlichen Präferenzen von Patienten führen.

Hinzu kommt, dass der Nutzenzuwachs von 0,1 QALYs bei einem schwer erkrankten Patienten und einem nahezu gesunden Menschen – der bereits eine Lebensqualität von 0,9 QALYs aufweisen kann – gleichgesetzt werden. Nach dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens ist jedoch davon auszugehen, dass eine geringe Verbesserung des Gesundheitszustandes umso besser bewertet wird, je schlechter der Allgemeinzustand vorher war. Dieser Aspekt findet im QALY-Konzept keine Berücksichtigung. Überdies besteht hierbei unter ethischen Gesichtspunkten der Vorwurf der Diskriminierung von Kranken oder auch Behinderten. Ältere Menschen werden aufgrund der Einbeziehung der Lebenserwartung in die QALY-Berechnung ebenfalls benachteiligt. Sie können wegen ihres fortgeschrittenen Lebensalters nur weniger QALYs hinzugewinnen als Jüngere.

  • What is a QALY? (PDF-Datei)
  • QALY – kurzer Artikel bei Ärzte Zeitung online, 9. September 2009
  1. Peter Zweifel, F. Breyer, M. Kifmann. Gesundheitsökonomie. Berlin, Heidelberg, New York. 6. Auflage. 2013. S. 24.
  2. Peter Zweifel, F. Breyer, M. Kifmann. Gesundheitsökonomie. Berlin, Heidelberg, New York. 6. Auflage. 2013. S. 28.
  3. Klaus Koch, Andreas Gerber: QALYs in der Kosten-Nutzen-Bewertung. Rechnen in drei Dimensionen. 2010. Auszug aus BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010 (Seite 32–48). Online-Version auf archive.org (PDF).
  4. Julia Schmidt-Wilke. Nutzenmessung im Gesundheitswesen: Analyse der Instrumente vor dem Hintergrund zielfunktionsabhängiger Informationsverwendung. Duv, 2004. S. 104.
  5. Schulenburg/Schöffski (Hrsg.): Gesundheitsökonomische Evaluationen. Springer, Berlin 2007, S. 139 ff.
  6. Klaus Koch, Andreas Gerber: QALYs in der Kosten-Nutzen-Bewertung. Rechnen in drei Dimensionen. 2010. Auszug aus BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010 (Seite 32–48). Auf archive gespeicherte Online-Version (pdf).
  7. Peter Zweifel, F. Breyer, M. Kifmann. Gesundheitsökonomie. Berlin, Heidelberg, New York. 6. Auflage. 2013. S. 34.
  8. Schulenburg/Schöffski [Hrsg.], Gesundheitsökonomische Evaluationen, Springer, Berlin 2007, S. 361 ff.
  9. Eva-Julia Weyler, Afschin Gandjour: Empirical Validation of Patient versus Population Preferences in Calculating QALYs. In: Health Services Research. Band 46, Nr. 5, 21. April 2011, ISSN 0017-9124, S. 1562–1574, doi:10.1111/j.1475-6773.2011.01268.x, PMID 21517837, PMC 3207192 (freier Volltext).
  10. Peter Zweifel, F. Breyer, M. Kifmann. Gesundheitsökonomie. Berlin, Heidelberg, New York. 6. Auflage. 2013. S. 40.
  11. C. Donaldson, R. Thomas, D. Torgerson (1997). Validity of open-ended and payment scale approaches to eliciting willingness to pay. Applied Economics 29: 79–84.
  12. Joseph S. Pliskin, Donald S. Shepard, Milton C. Weinstein: Utility Functions for Life Years and Health Status. In: Operations Research. Band 28, Nr. 1, 1. Februar 1980, ISSN 0030-364X, S. 206–224, doi:10.1287/opre.28.1.206 (informs.org [abgerufen am 12. November 2022]).
  13. Afschin Gandjour, Amiram Gafni: The additive utility assumption of the QALY model revisited. In: Journal of Health Economics. Band 29, Nr. 2, März 2010, S. 325–328, doi:10.1016/j.jhealeco.2009.11.001 (elsevier.com [abgerufen am 12. November 2022]).
  • Herbert E. Klarman, John O’S. Francis, Gerald D. Rosenthal: Cost effectiveness analysis applied to the treatment of chronic renal disease. In: Medical Care. Bd. 6, Nr. 1, 1968, S. 48–54, JSTOR:3762651.
  • Milton C. Weinstein, William B. Stason: Foundations of cost-effectiveness analysis for health and medical practices. In: The New England Journal of Medicine. Bd. 296, Nr. 13, 1977, S. 716–721, doi:10.1056/NEJM197703312961304.
  • Erik Nord. Cost-value analysis in health care. Making sense out of QALYs. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1999, ISBN 0-521-64308-2.
  • Matthias Graf von der Schulenburg, Wolfgang Greiner: Gesundheitsökonomik. Mohr Siebeck, Tübingen. 2000, ISBN 3-16-146681-0.
  • Michael F. Drummond, Mark J. Sculpher, George W. Torrance, Bernie J. O’Brien, Greg L. Stoddart: Methods for the Economic Evaluation of Health Care Programmes. 3rd edition. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-852945-7.