Fampridin

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Strukturformel
Struktur von Fampridin
Allgemeines
Freiname Fampridin[1]
Andere Namen
  • Pyridin-4-amin (IUPAC)
  • 4-Aminopyridin
  • γ-Aminopyridin
  • p-Aminopyridin
  • 4-Pyridylamin
  • Dalfampridine (USAN)
  • 4-AP
  • Avitrol
Summenformel C5H6N2
Kurzbeschreibung

beiger Feststoff mit unangenehmem Geruch[2]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 504-24-5
EG-Nummer 207-987-9
ECHA-InfoCard 100.007.262
PubChem 1727
ChemSpider 1664
DrugBank DB06637
Wikidata Q372539
Arzneistoffangaben
ATC-Code

N07XX07

Wirkmechanismus

Kaliumkanal-Blocker

Eigenschaften
Molare Masse 94,12 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Dichte

1,26 g·cm−3 (25 °C)[2]

Schmelzpunkt

158,5 °C[2]

Siedepunkt

274 °C[2]

Löslichkeit

löslich in Wasser (83 g·l−1 bei 20 °C)[2]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung[2]

Gefahr

H- und P-Sätze H: 300​‐​311​‐​331​‐​314​‐​411
P: 301+330+331+310[3]
Toxikologische Daten
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet.
Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa).

Fampridin bzw. 4-Aminopyridin ist eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Aminopyridine. Pharmakologisch wirkt es als reversibler Kaliumkanal-Blocker, weswegen es unter anderem als Medikament zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit multipler Sklerose (MS) mit Gehbehinderung höherer Schweregrade eingesetzt wird.

Verwendung in der Humanmedizin

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Klinische Angaben

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Anwendungsgebiete

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Wenn eine MS weiter fortgeschritten ist, können die Betroffenen eine Gehbehinderung entwickeln, die durch Krankengymnastik und bestimmte, z. B. krampflösende Medikamente behandelt werden kann. Hat die Gehbehinderung einen bestimmten Schweregrad, kommt eine Behandlung mit Fampridin infrage. Fampridin ist in Deutschland seit 2011 für Patienten zugelassen, die als Folge einer Multiplen Sklerose (MS) eine Gehbehinderung höheren Grades haben (Grad 4–7 auf der EDSS-Behinderungsskala).[5]

Fampridin ist als Retardtablette formuliert und wird zweimal täglich eingenommen.[5])

Zu den Gegenanzeigen zählen Überempfindlichkeit gegen Fampridin, Krampfleiden, chronisches Nierenversagen oder eine gleichzeitige Behandlung mit Hemmstoffen des organischen Kationentransporters 2 (OTC2), z. B. Cimetidin.[5]

Unerwünschte Wirkungen

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Fampridin ist ein Wirkstoff mit einer engen therapeutischen Breite. Zu den Nebenwirkungen gehören Parästhesien, Harnwegsinfekte, Schlaflosigkeit, Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit, Asthenie, Rückenschmerzen, Gleichgewichtsstörungen sowie in seltenen Fällen auch Krampfanfälle und Vorhofflimmern.[6][7]

Pharmakologische Eigenschaften

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Wirkungsmechanismus

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Fampridin ist ein Kaliumkanalblocker. Er wirkt auf geschädigte Nerven, wo er verhindert, dass Kaliumionen aus den Nervenzellen entweichen. Es wird angenommen, dass dadurch die elektrischen Impulse weiter an den Nerven entlang wandern können, um die Muskeln zu stimulieren. Dadurch wird das Gehen erleichtert.[5]

Aufnahme und Verteilung im Körper

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Die Formulierung als Retardtablette bewirkt eine Verzögerung der Resorption von Fampridin, was sich durch einen langsameren Anstieg zu einer niedrigeren Spitzenkonzentration ohne Auswirkung auf das Resorptionsausmaß bemerkbar macht.[5]

  • Nach Abzug der Ansprechrate unter Placebo profitierten in den Zulassungsstudien etwa 30 % der mit Fampridin behandelten Patienten von einer verbesserten Gehfähigkeit: ca. 20 % der Patienten konnten eine bestimmte Gehstrecke 10 bis 20 % schneller zurücklegen und für ca. 10 % der Patienten verbesserte sich die Gehgeschwindigkeit um 20 % und mehr. Die Patienten in diesen Studien wurden maximal 14 Wochen mit Fampridin behandelt.[8][9]
  • In einer Zwischenauswertung der laufenden ENABLE-Studie (Lebensqualität) zeigte sich eine signifikante Verbesserung der subjektiven Einschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch die Steigerung der Gehfähigkeit mit Fampridin.[10]
  • Eine weitere Zwischenauswertung der laufenden ENABLE-Studie zeigte, dass der Effekt von Fampridin auf die Verbesserung der Gehfähigkeit und die damit verbundene gesundheitsbezogene Lebensqualität über 48 Wochen anhielt.[11]

Erstattungsfähigkeit

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Der deutsche GKV-Spitzenverband und das Unternehmen Biogen Idec einigten sich 2013 auf einen Erstattungsbetrag für Fampyra. Der verhandelte Erstattungsbetrag spiegelt den Interessensausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und Biogen Idec wider. Mit ihm liegt erstmals ein Verhandlungsergebnis für ein neues Arzneimittel mit einer nicht-medikamentösen zweckmäßigen Vergleichstherapie vor. Für den verordnenden Arzt bedeutet dies im Falle von Fampridin, dass es sowohl in Kombination mit, als auch ohne Krankengymnastik verordnet werden kann und bei adäquatem Einsatz im zugelassenen Anwendungsgebiet erstattungsfähig ist.[12]

Entwicklung und Vermarktung

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Fampridin wurde erstmals 1902 durch den Karlsruher Chemiker Rudolf Camps synthetisiert.[13] Der internationale Freiname (INN) Fampridin wurde 1995 erteilt.[1] Abweichend davon wurde 2010 in den USA der Freiname Dalfampridine (USAN) eingeführt.[14]

2010 erhielt der Hersteller Acorda eine US-Zulassung für ein Fampridin-haltiges Retard-Arzneimittel zur unterstützenden Behandlung der Multiplen Sklerose.[15] Ein entsprechender Antrag für die EU wurde zunächst aufgrund eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses Anfang 2011 abgewiesen.[16] Nach Widerspruch erhielt Acordas Lizenznehmer Biogen Mitte 2011 eine Zulassung unter der Auflage, weitere Studien durchzuführen.[17][18][19] Für die Schweiz erfolgte die Zulassung durch Swissmedic im August 2018.[20]

Seit 2022 sind in Deutschland Generika verfügbar.[21] Fampridin kann auch nach Verschreibung durch einen Arzt in Apotheken zu Rezepturarzneimitteln verarbeitet werden.[22] Im Jahr 2024 wurde die EU-Zulassung für Fampyra auf Acorda Therapeutics übertragen.[23]

Der Handelsname für das Fertigarzneimittel des Originators in der EU und in der Schweiz ist Fampyra[23][24] und in den USA Ampyra.

Verwendung außerhalb der Humanmedizin

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4-Aminopyridin hemmt verschiedene Typen von spannungsgesteuerten Kaliumkanälen (Kv-Kanäle). Daher wird 4-AP in der Grundlagenforschung als pharmakologisches Werkzeug (Antagonist) zur Charakterisierung von Kaliumkanal-Subtypen eingesetzt. Folgende Kanäle sind abhängig von einer 4-Aminopyridin Konzentration:[25][26] Kv1.1 (Gen: KCNA1), Kv1.3[27](Gen: KCNC3), Kv1.4[28](Gen: KCNA4), Kv1.5 (Gen: KCNA5), Kv1.7 (Gen: KCNA7), einige der Kv2- und Kv3-Subtypen und Kv4.2[29](Gen: KCND2).[25] Es wurden jedoch auch andere Ionenkanäle beschrieben, die empfindlich auf 4-AP reagieren, z. B. ist 4-AP ein potenter Aktivator (Agonist) von Calciumkanälen, der die synaptische und neuromuskuläre Funktion durch direkte Wirkung auf eine Beta-Untereinheit eines Calciumkanals verbessern kann.[30]

Chemische Synthese

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4-Aminopyridin wird u. a. zur Herstellung von 4-Halogenpyridinen oder des Wirkstoffs Pinacidil verwendet. 4-(Dimethylamino)pyridin (DMAP), ein an der Aminogruppe dimethyliertes Derivat von Fampridin, ist ein in der präparativen Chemie häufig verwendeter Katalysator.

Fampridin wird bei Haus- und Nutztieren in Kombination mit Yohimbin als Aufwachbeschleuniger nach einer Xylazin- und Ketamin-NarkoseHellabrunner Mischung«) eingesetzt.[31]

4-Aminopyridin wird unter dem Handelsnamen Avitrol als Vogelgift und -repellent verwendet. 4-Aminopyridin vertreibt Vögel, indem die Tiere, die den Giftköder aufgenommen haben, paralysiert werden und Notschreie ausstoßen, wonach der übrige Schwarm verhofft und vergrämt wird.[32]

Commons: Fampridin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b Recommended International Nonproprietary Names for Pharmaceutical Substances. INN List 35. In: WHO Drug Information. Band 9, Nr. 3, 1995, S. 174 (who.int [PDF]).
  2. a b c d e f Eintrag zu 4-Aminopyridin in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 8. Januar 2020. (JavaScript erforderlich)
  3. Datenblatt 4-Aminopyridin bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 27. Januar 2020 (PDF).
  4. a b c d Eintrag zu Dalfampridine in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM) (Seite nicht mehr abrufbar)
  5. a b c d e Europäische Kommission: Fampyra: Anhang I - Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels. Abgerufen am 5. Oktober 2024.
  6. T. Pickett, R. Enns: Atypical presentation of 4-aminopyridine overdose. In: Ann Emer Med. 27, 1996, S. 382–385. PMID 8599505.
  7. N. Johnson, M. Morgan: An unusual case of 4-aminopyridine toxicity. In: J Emer Med. 30, 2006, S. 175–177. PMID 16567254.
  8. A. D. Goodman, T. R. Brown, L. B. Krupp u. a.: Sustained-release oral fampridine in multiple sclerosis: a randomised, double-blind, controlled trial. In: The Lancet. 373, 2009, S. 732–738. PMID 19249634.
  9. A. D. Goodman, T. R. Brown, K. R. Edwards u. a.: A phase 3 trial of extended release oral dalfampridine in multiple sclerosis. In: Ann Neurol. 68, 2010, S. 494–502. PMID 20976768.
  10. Richard Macdonnell, Guy Nagels, Per Solberg Sorensen, David Laplaud, Carlo Pozzilli, Ana Silva, Richard Nicholas, Mathias Niedhammer, Julia Gaebler, Sonalee Agarwal and James Potts: Change in Quality of Life Outcomes with Prolonged-Release Fampridine Treatment: Interim Analysis of the ENABLE Study. In: Neurology. Band 80, Supp. 7, 2013, S. P03.218–P03.218 (neurology.org).
  11. R. Macdonell: Long-term prolonged-release fampridine treatment and health-related quality of life outcomes: 12-month analysis of the ENABLE study. (Memento vom 27. Februar 2014 im Internet Archive) In: ECTRIMS Online Library, 3. Okt 2013, 34145; abgerufen am 27. Februar 2014.
  12. AMNOG-Verhandlungen für MS-Therapeutikum erfolgreich beendet, Gemeinsame PM von GKV-Spitzenverband und Biogen Idec vom 1. März 2013, abgerufen am 27. Februar 2014.
  13. R. Camps: Ueber einige Harnstoffe, Thioharnstoffe und Urethane des Pyridins. In: Arch Pharm. 240, 1902, S. 345–365. doi:10.1002/ardp.19022400505.
  14. Raymond Lamore III, Elsen Jacob, Susan C. Jacob, Olga Hilas: Dalfampridine (Ampyra). In: Pharmacy and Therapeutics. Band 35, Nr. 12, 2010, S. 665–669, PMC 3008376 (freier Volltext).
  15. U. S. Food and Drug Administration (22. Januar 2010): FDA Approves Ampyra to Improve Walking in Adults with Multiple Sclerosis. Abgerufen am 26. Januar 2010.
  16. Refusal of the marketing authorisation for Fampyra (fampridine). (PDF; 51 kB) Europäische Arzneimittelagentur, 20. Januar 2011; abgerufen am 30. Januar 2011.
  17. [1] (PDF-Datei) auf ema.europa.eu
  18. „Neue Arzneimittel“ Fampyra® Zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit Multipler Sklerose (MS) mit Gehbehinderung (EDSS 4–7). (PDF; 318 kB) Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ); abgerufen am 1. Dezember 2011.
  19. Biogen Idec erhält bedingte Marktzulassung für FAMPYRA® in der Europäischen Union zur Verbesserung der Gehfähigkeit erwachsener Multiple-Sklerose-Patienten. Businesswire, 25. Juli 2011; abgerufen am 26. Juli 2011.
  20. Ralf Behrens: Fampyra® (Fampridin): Kaliumkanalblocker fördert Gehleistung bei MS-Patienten. In: Ars Medici. Nr. 01/02, 24. Januar 2020, Kap. Neue Wirkstoffe und Fixkombinationen, S. 35–36.
  21. Einsparungen durch AMNOG-Rabatte - Monitor Versorgungsforschung. In: monitor-versorgungsforschung.de. 14. Oktober 2023, abgerufen am 4. Oktober 2024.
  22. Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände: Neues Rezeptur-Formularium. Rezepturhinweise: 3,4-Diaminopyridin und 4-Aminopyridin. Govi, Eschborn 2009.
  23. a b Eintrag EU/1/11/699. Union Register of medicinal products - Public health - European Commission. In: ec.europa.eu. 2. Oktober 2024, abgerufen am 4. Oktober 2024 (englisch).
  24. SAI-Datenbank: AMPYRA Ret Tabl 10 mg. In: sai.refdata.ch. Abgerufen am 4. Oktober 2024.
  25. a b Gutman GA, Chandy KG, Grissmer S, Lazdunski M, McKinnon D, Pardo LA, Robertson GA, Rudy B, Sanuinetti MC, Stühmer W, Wang X: International Union of Pharmacology. LIII. Nomenclature and molecular relationships of voltage-gated potassium channels. In: Pharmacol Rev. Band 57, Nr. 4, 2005, S. 473, PMID 16382104.
  26. IUPHAR/BPS Guide to Pharmacology: Potassium channels. Abgerufen am 27. September 2024.
  27. Chandy KG, Wulff H, Beeton C, Pennington M, Gutman GA, Cahalan MD: K+ channels as targets for specific immunomodulation. In: Trends Pharmacol Sci. Band 25, Nr. 5, 2004, S. 280, PMID 15120495.
  28. Judge SI, Monteiro MJ, Yeh JZ, Bever CT: Inactivation gating and 4-AP sensitivity in human brain Kv1.4 potassium channel. In: Brain Res. Nr. 831, 1999, S. 43, PMID 10411982.
  29. Kehl SJ: A Model of the Block of Voltage-Gated Potassium Kv4.2 Ionic Currents by 4-Aminopyridine. In: J Pharmacol Exp Ther. Band 363, Nr. 2, 2017, S. 184, PMID 28864468.
  30. Wu ZZ, Li DP, Chen SR, Pan HL: Aminopyridines Potentiate Synaptic and Neuromuscular Transmission by Targeting the Voltage-activated Calcium Channel β Subunit. In: J Biol Chem. Band 284, Nr. 52, 2009, S. 36452, PMID 19850918.
  31. Wolfgang Löscher, Fritz Rupert Ungemach, Reinhard Kroker: Pharmakotherapie bei Haus- und Nutztieren. Thieme, Stuttgart 2006, ISBN 3-8304-4160-6, S. 101.
  32. Pesticide Information Profiles.