Erblast: Ein Dorf schweigt - Polit-Krimi
Von Erich Schütz
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Über dieses E-Book
Erich Schütz
Erich Schütz, Jahrgang 1956, ist freier Journalist, Buchautor und Autor verschiedener Fernsehdokumentationen und Reiseberichte, zudem Herausgeber mehrerer Restaurantführer. Aufgewachsen im Schwarzwald, lange in Berlin und Stuttgart zu Hause, erfüllte er sich vor über zwanzig Jahren seinen Traum und zog an den Bodensee. Die verführerische, spannende Grenzregion übt auf den Gourmet und Autor einen besonderen Reiz aus, der sich in seinen Büchern niederschlägt. Erich Schütz’ Krimis und Kulturführer sind ein Muss für alle See- und Krimifreunde.
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Buchvorschau
Erblast - Erich Schütz
Zum Buch
Last der Vergangenheit Vor 70 Jahren, gegen Kriegsende, wurde in Seeldorf ein junger Mann umgebracht. Jetzt sind die Knochen wieder aufgetaucht – und mit ihnen Fragen zur Vergangenheit. Im Tagebuch seiner Mutter findet Jakob Hinweise, der Tote könnte der Jude Levi Roth sein, den seine Mutter einst liebte und vor der Gestapo versteckt hatte. Doch hatte sie schließlich Otto Simon geheiratet, seinen Vater, einen Gestapo-Polizisten. Während sein Vater nach Kriegsende als vermisst galt, hört Jakob zum ersten Mal von Levi Roth. Er befragt alte Dorfbewohner. Dabei wird er von einer ehemaligen Nazigröße als »Judenbrut« beschimpft und von dessen Enkel in Nazimontur angegriffen. Jakob stellt daraufhin ungeahnte Familienerblinien fest und muss schon bald die eigene Identität infrage stellen. Ist er tatsächlich der Sohn von Gestapo-Polizist Otto Simon oder ist in Wahrheit Levi Roth sein leiblicher Vater? Und welches furchtbare Familiengeheimnis hat Jakobs Mutter zeit ihres Lebens panisch zu verbergen versucht?
Erich Schütz, Jahrgang 1956, ist freier Journalist, Buchautor und Autor verschiedener Fernsehdokumentationen und Reiseberichte, zudem Herausgeber mehrerer Restaurantführer. Aufgewachsen im Schwarzwald, lange in Berlin und Stuttgart zu Hause, erfüllte er sich vor über zwanzig Jahren seinen Traum und zog an den Bodensee. Die verführerische, spannende Grenzregion übt auf den Gourmet und Autor einen besonderen Reiz aus, der sich in seinen Büchern niederschlägt. Erich Schütz’ Krimis und Kulturführer sind ein Muss für alle See- und Krimifreunde.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
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(»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © Landesarchiv Baden-Württemberg Generallandesarchiv Karlsruhe 498-1 Nr. 4780 und https://ba.e-pics.ethz.ch/#detail-asset=c4b269f5-578f-4fd2-8967-beb1d9a3dc25«
ISBN 978-3-7349-3350-9
Zitate
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung […].
Grundgesetz Artikel 1. (1)
*
Was Du nicht willst, das man Dir tut,
das füg auch keinem anderen zu.
Immergültige Kinderweisheit der 1. Klasse
Personen
Die Obergfells
Franz-Karl Obergfell (*1890 – †1956) und Ehefrau Theres Obergfell (*1898 – +1954)
Sohn Friedrich Obergfell (*1920 – †2010) und Tochter Verena (*1925 – †2012)
Jakob, Sohn von Verena (*1945), und Ernst – Sohn von Friedrich (*1949)
Luis (*1975) – Sohn von Ernst und Erika, und Luca (*1998) Enkel von Ernst und Erika
*
Die Simons
Paul Simon (*1888 – †1954)
Vier Söhne, Walter, Fritz, Otto und Alfred
Otto Simon (*1922 – vermisst)
Alfred Simon (*1930)
Alexander Simon, Sohn von Walter und Enkel von Alfred (*1990)
*
Bürgermeister- und Arztfamilie
Franz-Josef Haas, Bürgermeister (*1885 – †1956), und
Schwester Wilhelmine Wolf (*1890 – †1955)
Sohn Adi Haas (*1943)
Doktor Nathan Wolf (*1898 – †1957)
Jakob Roth (*1920 – †1945)
Saarah Wolf (*1944)
*
Kronenwirt
Hubert Rieger (*1893 – †1970)
Sohn Artur (*1924)
Enkel Michael (*1964)
*
Die Bendzkos
Eltern kommen als Flüchtlinge 1945 nach Seeldorf
Katharina Bendzko (*1944)
Ihre Brüder Slado (*1940) und Igor (*1942)
*
Knecht Baptist (*1908 – †1952)
Mai 2010
»Jetzt macht keinen Aufstand wegen der paar Knochen.« Katharina Bendzko stand in ihren roten Prada-High Heels im schwarzen, glitschigen Schlamm, den die Arbeiter gerade aus dem ehemaligen Löschteich des Hofguts Obergfell gebaggert hatten, und gab energisch Befehl: »Los, Lorenzo, wirf den Bagger wieder an und weiter geht’s, vàmonos!«
Lorenzo kannte diese hochgewachsene Frau, die er noch nie ohne ihre High Heels gesehen hatte. Groß gewachsen war sie eh, aber in den Stöckelschuhen und mit ihrer Hochfrisur wirkte sie noch größer, was sie sicher beabsichtigte. Ihre auf Kante gebügelten Bluejeans waren ausgewaschen, der helle Business-Blazer spannte sich leicht um ihre Hüften, ihre Lippen unter ihrer hellen Stupsnase leuchteten hellrot.
Lorenzo hatte längst erfahren, dass mit dieser Frau nicht gut Kirschen essen war, das hatte er während mehrerer Auseinandersetzungen mit ihr immer wieder zu spüren bekommen. Sie hatte den kurzen Draht zu seinem Chef. Wenn er mit dabei war, hielt sein Boss immer zu ihr und gab ihr bei jeder von ihrer aufgeblasenen Beanstandung recht.
Er selbst stand in seinen schwarzen, von dunkelbrauner schmieriger Erde verdreckten Gummistiefeln, im Blauen Anton im Schlamm auf dem Grund des ehemals zwei Meter tiefen Tümpels und hob ergeben seine Hände in die Höhe: »Isch verbote!« Als spanischer Gastarbeiter hatte er längst schwäbische Idiome angenommen. »De Bürgermeischter sagt, wir müssen auf Polizei warte.«
»Das heißt: auf die Polizei warten«, betonte Katharina Bendzko den von Lorenzo verschluckten Artikel laut und deutlich und echauffierte sich: »Ihr müsst gar nichts! Außer machen, was ich sage!« Dazu warf sie dem kleinen Spanier noch eine Frage in die Grube: »Wer hat denn den Bürgermeister überhaupt geholt? Wer zahlt euch denn? Der vielleicht?«
Die resolute Bauherrin stand unter Zeitdruck. Sie zählte mit ihren über 60 Jahren zu den erfolgreichen Immobilienmaklerinnen am Bodensee. Sie hatte die geplanten neuen Wohnungen schon verkauft, die sie hier auf dem Gelände des ehemaligen Bauernhofs der Obergfells errichten wollte, bevor das Fundament ausgehoben war.
So ging das Geschäft seit Jahren. Mit dem Erwerb des Grundstücks floss das Geld. In diesem Fall reichlich, denn was zählte, war alleine die Lage: Seeblick war das eine, aber Panoramablick unschlagbar, wie hier auf dem ehemaligen Bauernhof der Obergfells in Seeldorf, auf den Höhen des Linzgaus, über dem Bodensee.
Die zu Geld gekommenen Finanziers der Frankfurter Banken oder die Manager aus den Stuttgarter Industriebetrieben oder auch hochdekorierte Pensionisten der Politik aus Berlin oder Brüssel, sie alle reihten sich ein in den Kreis der vielen Kaufinteressenten auf den ausgewiesenen Neubauplätzen rund um den südlichen Alpensee an der Grenze zur Schweiz.
Früher pickten hier oben, auf dem Obergfellen-Hof, Hühner auf dem Misthaufen. Sie hatten sich um die heute begehrte Aussicht wohl wenig gekümmert. Doch was ahnten sie schon von dem mediterranen Flair auf deutschem Grund, der heute die zu Wohlstand Gekommenen die Portemonnaies zücken ließ.
Der Blick ging über den See und die Alpen schier bis in das sonnige Italien, bei garantierter deutscher Gesundheitsfürsorge mit besten, hochqualifizierten Ärzten und exklusiven Privatkliniken um die Ecke. Sie stärkten das Sicherheitsgefühl der Wohlstandsrentner und boten Luxus-Seniorenresidenzen in der unmittelbaren Nachbarschaft.
»Panoramaweg« hieß über Nacht die Anschrift zu dem ehemaligen Bauernhof der Obergfells in Seeldorf. Den neuen Straßennamen hatte Katharina Bendzko im Rathaus durchgesetzt. »Kramergässle« hieß der Weg zuvor. Ein Sohn der Obergfells hatte nach dem Krieg im Kramer-Werk in Überlingen gearbeitet. Bald fuhr jeder Bauer in der Straße einen Kramer-Traktor.
»Schokoladengasse« nannten die Bewohner im Ort den Weg zuerst, als Katharina Bendzko als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtling in dem Dorf in eine schnell erstellte hölzerne Baracke eingewiesen wurde.
Damals war der Weg noch ein unebener Feldweg. Nach jedem Regen stand in den Dreckpfützen das Wasser, die Erde wurde durch die groben Profile der Traktorreifen zu schokoladenbraunem Matsch aufgewühlt. Aber wer interessierte sich heute noch für den Dreck von damals?
»Unser Dorf soll schöner werden«, hatte Katharina Bendzko vor dem Gemeinderat plädiert, »wir müssen aber auch unsere Vorzüge zeitgemäß bezeichnen und die Vorteile unserer Gemeinde und die einmalige Lage benennen.«
Die Gemeinderäte hatten schnell verstanden und übersetzten Benennen mit Verkaufen. Das gefiel den Bauern und Handwerkern im Rat. Folgsam hoben sie ihre Hände und stimmten den neuen Straßennamen zu. Aus dem Zinken wurde der Säntisblick, aus dem Schulweg der Alpenblick und aus dem Kramergässle eben der Panoramaweg.
Mit den neuen Namensgebungen waren parallel die Grundstückspreise für die Wiesen und Äcker der Landwirte in wenigen Jahren geradezu explodiert. Die Quadratmeterpreise, die Katharina Bendzko ihnen als Maklerin bot, waren schneller gestiegen als jeder Hahn auf sein Huhn, lachten die Bauern selbstzufrieden und verkauften am liebsten, wie die Obergfells, die Äcker mit Haus und Hof.
»Los jetzt, Lorenzo, komm jetzt da hoch und füll das Loch mit dem Bauschutt auf und terminado!« Die Immobilienmaklerin wurde lauter und zeigte ihre Verärgerung deutlich. Sie kickte mit der Spitze ihres rechten Schuhs die paar Knochen, die die Arbeiter in dem Schlamm des Löschteichs gefunden und an den Grubenrand gelegt hatten, wieder zurück in die Grube vor Lorenzos Füße.
Lorenzo schlug entsetzt das Kreuzzeichen über seiner breiten Brust. Er war ein untersetzter Kanarier, etwas dicklich, hatte ein freundliches Gesicht und eigentlich auch ein ebenso freundliches Gemüt.
»Oh Santa Maria«, brummelte er und wagte entrüstet, Katharina Bendzko darauf hinzuweisen: »Das war ein Mensch!«
»Vielleicht«, antwortete sie schnippisch, »vielleicht auch ein Tier, auf jeden Fall war!« Das »war« hatte sie besonders laut betont und nochmals bestimmt: »Jetzt macht weiter. Morgen planieren wir die Fläche und dann heben wir endlich das Fundament aus!«
Genervt schaute sie zu den beiden anderen Arbeitern, die hilflos neben Lorenzo in der Grube standen. Aber was sollte sie an die beiden hinreden? Die verstanden sowieso kein Deutsch.
Ganz früher waren es Italiener oder Spanier wie Lorenzo. Dann kamen Polen, dann Rumänen und jetzt Albaner. Sie nervte es, dass diese Menschen von ihr Geld bekamen, aber kein Wort Deutsch konnten. Doch ohne diese Ausländer, das wusste sie auch, wurde auf den Baustellen längst kein Stein mehr auf den anderen gesetzt.
Lothar Glatz, der Maurer im Ort, hatte mit dem eingesetzten Bauboom sein eigenes Baugeschäft aufgemacht und mit den Gastarbeitern, so nannten man die ersten Hilfsarbeiter aus Italien und Spanien, alle Bauaufträge des Immobilienunternehmens Bendzko der Reihe nach hochgezogen.
»Mach rapido«, rief sie nochmals Lorenzo zu, »heute Abend ist das Loch cerrado, und morgen kommt die Planierraupe, esta claro!«
Energisch drehte sie ab. Als ob somit klar wäre, dass nun genau das geschehen würde, was sie eben angeordnet hatte. Sie stöckelte entschlossen und gekonnt in ihren High Heels selbstbewusst, ohne auf Hindernisse vor ihren Füßen zu achten, von der verdreckten Baustelle zu ihrem dunkelgrünen Porsche Cayenne, stieg ohne Rücksicht auf ihre Dreckklumpen an den Schuhen in den metallic glänzenden SUV und rauschte davon.
Lorenzo schaute der Immobilienmaklerin ratlos hinterher. Er hatte nun schon über zehn Jahre bei dem kleinen Baugeschäft Glatz in Seeldorf gearbeitet. Er war kein kleiner Hilfsarbeiter mehr, sondern der Polier, der den Auftrag von seinem Chef hatte, mit den beiden Kollegen den ehemaligen Feuerlöschteich auszupumpen und danach mit dem Bauschutt des alten Bauernhauses, der daneben lag, wieder aufzufüllen. Bis zur Mittagspause sollten sie fertig sein, und jetzt das.
Maldito, hätte er doch nur den Schlamm auf dem Grund des Teichs in Ruhe gelassen. Aber kaum hatten sie mit dem Abpumpen aufgehört, hatten sich auch schon diese Knochen gezeigt, und schon stand auch dieser Bürgermeister neben ihnen, warum auch immer.
Den Zeitplan konnte er eh nicht mehr einhalten, und die Bendzko war ihm jetzt egal. Diese verdammten Knochen lähmten ihn, es war beklemmend für ihn. Schließlich hatte er zu Hause auf Gomera unzählige Lämmer, Ziegen oder Hühner geschlachtet. Doch diese Knochen auf dem Grund des Tümpels waren anders, kräftiger und dicker, wenn auch zum Teil ausgefranst und langsam morsch. Sie mussten schon sehr lange in dem Tümpel gelegen haben, doch ihm war klar, es waren Menschenknochen.
Er stieg entschieden aus der Grube und wies seine beiden Arbeiter an, ihm die von der Chefin in den Schlamm des Tümpels gekickten Knochen wieder hochzugeben und in dem Schlick auf dem Grund vorsichtig nach weiteren zu suchen. Er selbst nahm die ausgebuddelten Knochen an sich und betrachtete sie zunächst unschlüssig.
Am Eingang zu dem Stall des ehemaligen Bauernhofs tropfte ein Wasserhahn in die alte Viehtränke. Lorenzo sah auf die verdreckten Knochen und dann zu dem Hahn, nahm schließlich die Knochen wieder in seine Hände und ging zu der ehemaligen Viehtränke. Er drehte den Wasserhahn auf und spülte die Knochen vom Schlamm frei. Seine beiden Kollegen brachten ihm weitere Knochen, die sie im Schlick gefunden hatten, und schauten ihm interessiert zu.
Lorenzo war als junger Mann ein traditioneller »Lucha-Canaria«–Kämpfer. Als kanarischer Ringkämpfer wurde er in Seeldorf sofort Mitglied des dortigen Ringerklubs. Mit seinem Gewicht schmiss ihn so schnell niemand um, doch leider hatte er weiche Knochen und schon bald viele Brüche erlebt. Dadurch hatte er den Knochenaufbau des Menschen kennengelernt und begann nun fachgerecht, auf dem Boden neben dem Brunnen mit den gesammelten Knochenteilen ein menschliches Skelett zu formen.
Als ihm einer seiner Kollegen einen Beckenknochen reichte, huschte ein kurzes Lächeln über seine dicken Wangen. Jetzt sah er das menschliche Skelett deutlich vor sich. Schnell begann er, das Knochen-Puzzle neu zu formen. Der Beckenknochen wurde zum zentralen Punkt, darunter – für ihn klar ersichtlich – legte er einen Oberschenkelknochen. Fast unversehrt war der Schädelknochen, einige Zähne steckten noch in dem Unterkiefer.
Andächtig standen die drei vor dem nun klar ersichtlichen ehemaligen Menschen. Lorenzo nahm den Hut ab und brummelte ein »Santa Maria, Madre de Dios«.
»Ja seid ihr denn total bescheuert!«, riss eine gellende Stimme Lorenzo aus seiner Andacht. »Finger weg, sofort!«
Erschrocken drehten die drei sich um. Sie hatten das Kommen der anderen nicht bemerkt. Hinter ihnen standen zwei Männer und eine Frau.
»Gehen Sie sofort weg! Lassen Sie die Finger von den Knochen! Was machen Sie denn da?«, herrschte die stattliche, etwas kräftige Frau die drei an.
Lorenzo schluckte trocken. Er ahnte, dass die drei von der Polizei sein mussten, und wusste nicht, was er sagen sollte. »Das ist ein Mensch«, stammelte er.
»Gut erkannt, und kein Spielzeug!«, klang ihre Stimme streng und durchdringend.
»Wir wollten nur schauen, ob …«, stockte Lorenzo hilflos.
»Ob was?«, giftete die Frau weiter, besann sich aber plötzlich und wechselte vom lautstarken Forte zu einem verständnisvollen Piano: »Gehen Sie jetzt weg von den Knochen. Ich bin Kommissarin Gerber, zeigen Sie uns, wo Sie die Knochen genau gefunden haben, und dann verschwinden Sie hier, Sie versauen uns alle Spuren!«
»Ich glaube nicht, dass wir da etwas versaut haben«, wollte Lorenzo sich nicht schon am Morgen von einer zweiten Frau unterbügeln lassen, »schließlich haben wir die Knochen erst ausgebuddelt, sonst wären sie jetzt noch da unten im Schlamm.«
»Und damit ist Ihr Job erledigt«, brauste die Kommissarin erneut auf, »oder können Sie mir sagen, wer der Tote war?«
Lorenzo schaute hilflos zu seinen beiden Kollegen. Doch die hatten nur erstarrt zugehört. Sie hatten nicht viel verstanden, aber ihr Polier schien dieser aufgebrachten Frau couragiert gegenüberzutreten. Doch nun schien auch er nicht mehr weiterzuwissen. Weshalb alle drei bedröppelt schwiegen.
»Na also, und jetzt zeigen Sie uns genau, wo und wie Sie die Knochen gefunden haben, und dann verschwinden Sie«, klang die Kommissarin schon wieder versöhnlicher und befahl, zu ihren beiden Kollegen gewandt: »Sperrt die Baustelle ab und ruft die Spurensicherung.«
»Glauben Sie, dass die da noch was finden und wir noch was ermitteln können?«, fragte der jüngste der Kriminalpolizisten. »Schon die Knochen scheinen doch uralt und fast verwest zu sein.«
»Mord verjährt nicht, und ob es das war, das werden wir herausbekommen«, herrschte sie ihren jungen Kollegen an, schnürte mit beiden Händen und flinken Fingern mit einem Gummi ihre grauen Haare am Hinterkopf zu einem Zopf zusammen und stellte klar: »Wir werden die Knochen nach Verletzungen untersuchen, den Schlamm nach eventuellen weiteren Spuren, vielleicht finden wir sogar noch das Mordwerkzeug, ich denke, die Spurensicherung wird hier ihre Freude haben, und wir wissen am Schluss, ob die Person nur in den Tümpel gefallen ist oder ob es Mord war.«
3. Mai 2015, Sonntag
»Es war Mord!«
Jakob Simon sitzt in der Küche seiner Mutter und liest Zeitungsberichte von vor fünf Jahren, die er gerade in ihrer Kommode herausgekramt hatte. Er erinnert sich noch gut daran, als seine Mutter ihm am Telefon aufgeregt von dem Knochenfund in dem Feuerlöschteich ihrer Eltern im Obergfellenhof erzählt hatte. Er hatte sich schon damals sehr gewundert, warum sie wegen der Knochen mehr als nur aufgebracht war. Die Schlagzeile aber, die er erst jetzt liest, gibt ihr recht. Es war Mord!
Doch der Mord war lange her.
Seine Mutter hatte ihm schon damals, vor fünf Jahren, jede neue Erkenntnis über den Knochenfund und die Mordtheorie der Polizei brühwarm mitgeteilt, obwohl ihn die alten Knochen einen feuchten Kehricht scherten. Trotzdem hatte sie ihm dann das Ergebnis der Polizei, dass es Mord war, verschwiegen oder hatte er es einfach vergessen und nicht mehr nachgefragt, weil es ihn nicht interessiert hatte?
Seine Mutter, Verena Simon, war eine geborene Obergfell, auf dem Hof ihrer Eltern ist sie aufgewachsen, und als Jakob 1945 auf die Welt kam, hat auch er die ersten Lebensjahre auf dem Hof verbracht.
Sein Vater, Otto Simon, galt im Krieg als vermisst, doch er war ihm ehrlicherweise nie abgegangen. Denn bis er zehn Jahre alt war, war der Bauernhof seiner Großeltern sein Zuhause, und sein Opa, Franz-Karl Obergfell, war für ihn sein Vater.
Auf dem Feuerlöschteich hinter dem Bauernhaus hatte Jakob mit einem alten aufgepumpten Schlauch eines Traktorreifens Kapitän der Weltmeere gespielt. Dass er damals über einen Toten im Feuerteich gepaddelt ist, kam ihm nicht in den Sinn. Das Wasser war immer trüb, darin zu schwimmen war den Kindern verboten, der Tümpel schien unendlich tief. Doch das alles war lange her, deshalb wollte er das Theater, das seine Mutter um den Knochenfund vor Jahren gemacht hatte, auch nicht verstehen.
Langsam erinnert er sich, dass nach den ersten Ermittlungen der Polizei feststand, dass die Knochen erstens von einem Mann stammten, und zweitens, dass der Mann schon vor über 50 Jahren in dem Teich gelandet sein musste. Ob er aber erst in dem Teich ertrank oder schon tot in dem Teich entsorgt wurde, konnte nicht mehr festgestellt werden, da sich außer den fragilen Knochen keine Rückstände des menschlichen Körpers mehr finden ließen.
Für seine Mutter war der Fund in dem elterlichen Feuerlöschteich ein Skandal! Dabei war nicht einmal klar, wer der Tote ist noch wie er umkam. Jakob hatte versucht, sie zu beruhigen. Ein Familienmitglied war er auf jeden Fall nicht, denn nie hatte er von einem verschollenen Onkel gehört und man hatte auch nie jemanden gesucht.
»Vielleicht ist ein Fremder betrunken in den Tümpel gefallen«, hatte er seine Mutter zunächst beruhigen wollen. »Vermisst hat ihn jedenfalls niemand«, hatte er nonchalant festgestellt und ihr geraten, die Knochen zu vergessen. Doch seine Mutter ließ sich nicht beruhigen, immer wieder wollte sie mit ihm über den Knochenfund reden und haderte mit dem Toten bis zu ihrem Tod.
Er selbst hatte die Story um den Toten im Teich seiner Großeltern schnell verdrängt und längst vergessen. Erst jetzt, wo er die Wohnung seiner verstorbenen Mutter leer räumt, ist er auf die alten Zeitungsberichte gestoßen. Die Lokalzeitung musste fast täglich über den mysteriösen Fund berichtet haben. Seine Mutter hatte alle Artikel fein säuberlich und akkurat nach den Erscheinungen abgeheftet. Jakob fand sie in einer Schublade in der Kommode im Schlafzimmer. Zunächst steht in den Artikeln die Frage im Mittelpunkt: War es ein Unglück oder doch Mord?
Seine Mutter aber musste von Anfang an ein Verbrechen geahnt haben. »Schrecklich, wenn du wüsstest«, hört er sie heute noch jammern, wenn er an die Zeit des Fundes denkt, »warum konnte man diesen vermaledeiten Teich nicht einfach zuschütten und die alten Geschichten ruhen lassen?«
»Was für alte Geschichten?«, hatte er sie anfangs noch gefragt. Doch wann immer er nachbohrte und auf ihre Bedenken eingehen wollte, winkte sie ebenso schnell und entschieden wieder ab.
Seine Mutter ist vor drei Jahren, mit 90 Jahren, gestorben. Bis zu ihrem Tod telefonierten sie und er fast jeden Sonntagmorgen. Ein Ritual, das sie gemeinsam pflegten, seit er vor fast 50 Jahren, als junger Student, aus dem Kaff Seeldorf in die damals noch geteilte Stadt Berlin gezogen war.
Heute sitzt er wieder in diesem verwünschten Ort Seeldorf und fühlt sich in der Wohnung seiner Mutter allein gelassen. Es ist Sonntag, er sieht das alte grüne Telefon mit der Wählscheibe. In Stuttgart hatte er die sonntäglichen Telefonate mit seiner Mutter nach ihrem Tod kaum vermisst. Aber jetzt, hier in ihrer Wohnung, fehlt sie ihm plötzlich.
Hätte er doch mehr Zeit mit ihr verbringen sollen? Dann hätte er sie auch stärker bedrängen können, warum sie der anonyme Tote im Löschteich ihrer Eltern so beschäftigt hatte.
Er hat die alten Zeitungsartikel auf dem großen Küchentisch ausgebreitet vor sich liegen. Seine Mutter hatte die Vierzimmerwohnung auf das Dach der ehemaligen Milchzentrale und Lagerhalle der bäuerlichen Zentralgenossenschaft bauen lassen. Sie war die sogenannte Genossenschaftsrechnerin und hatte den Aufbau der Wohnung klug berechnet. Ihr Schulkamerad, Anton Glatz, der Vater des heutigen Bauunternehmers Lothar Glatz, hatte die Wohnung auf die große Lagerhalle aufgesetzt.
Das war Anfang der 1950er-Jahre, in der Zeit der großen Wohnküchen. Das Küchenfenster mit Veranda auf dem Dach der Halle bot einen Blick in den Obstgarten des Nachbarn und über den Bodensee bis zu den Alpen.
In seinen jungen Jahren war diese Aussicht für Jakob nichts Besonderes. Den weiten Blick hatte jeder Seeldorfer, doch dafür kann er sich nichts kaufen, dachte er damals.
Nun saß er an dem gezimmerten Küchentisch mit der langen Eckbank. Er bot ausreichend Platz für mindestens sechs Personen. Auch das große Küchenbuffet hatte der damalige Schreiner gebaut. Er hatte auch die hellbraunen Tannendielen verlegt, die mit der Zeit immer breitere Fugen aufgewiesen hatten. Seine Mutter hatte den Schmutz immer mit einem Messer aus den Fugen gekratzt, danach den Holzboden geschrubbt. Als Kind saß er dann auf dem Blocker, wenn sie das Bohnerwachs über die Dielen auf Hochglanz polierte.
Wo einst das alte Ausgussbecken stand, erstreckt sich jetzt eine moderne Küchenzeile mit Elektroherd und Kühlschrank. Auf der Anrichte steht noch die alte blaue Porzellanschüssel, in die seine Mutter immer das Obst gelegt hatte. Jetzt ist sie leer. Es hat alles seinen Platz, wie eh und je.
Nur seine Mutter fehlt.
Es ist der erste Tag allein in ihrem Haus. Es ist still wie noch nie. In Stuttgart hatte er gesagt, er fahre »nach Hause«. Aber nun fühlt er sich hier eher wie in der Fremde oder in einer Geschichtserzählung.
Jakob wohnte mit seiner Mutter immer allein in den vier Zimmern mitten im Ort mit Blick über das Dorf. Auf der Terrasse vor dem Küchenfenster sammeln sich plötzlich Regentropfen. Gerade schien noch die Sonne. Typisches Aprilwetter im Mai, denkt Jakob, dann winkt er ab. Alles Schnee von gestern. »Ich will wieder nach Hause«, sagt er sich und denkt an Stuttgart.
Eine Woche gibt er sich Zeit, dann will er die Wohnung leer geräumt und verkauft haben und sich schnellstmöglich wieder vom Acker machen.
In Seeldorf hat er nichts mehr verloren.
Der Hof seiner Großeltern ist abgerissen. Heute stehen Luxusapartments auf dem ehemaligen Grundstück. Das Grab seiner Mutter kann er vom hiesigen Friedhofsgärtner pflegen lassen, und nach dem Toten im ehemaligen Feuerlöschteich kräht kein Hahn mehr. Somit kann er das Kapitel Seeldorf abschließen.
Er muss die Wohnung aufräumen, will damit fertig werden, damit er wieder nach Hause fahren kann, zurück nach Stuttgart. Er packt die Zeitungsartikel vor sich zusammen, überfliegt noch manche Überschriften und sieht eine Schlagzeile, die ihm wohl bisher verborgen geblieben war: »Wurde der Tote an einem Stein versenkt?«
Verdammt, was heißt das jetzt? Neugierig liest er den Artikel, der ihm gerade ins Auge gestochen ist. Die Staatsanwaltschaft hatte die Obduktionsergebnisse der Gerichtsmediziner bekanntgegeben und damit gleichzeitig den Mord bestätigt. Zwar blieb nach wie vor unklar, ob der Mann ertrank oder schon tot in den Tümpel geworfen wurde. Doch Spuren einer Eisenkette, die um einen Stein gebunden in dem Schlamm gefunden worden waren, fanden sich auch an einigen Knochen.
Seltsam, dass ihm davon seine Mutter nichts gesagt hatte. Sie hatte ihm die Ohren über den Knochenfund vollgejammert. Von einer Fremdeinwirkung hat sie doch wirklich nie etwas erzählt und auch nicht von dem Stein und der Kette. Das kann er doch nicht alles verdrängt haben? Sicher nicht. Im Gegenteil, noch hört er sie klagen: »Tote soll man ruhen lassen.« Und schon kurze Zeit später stimmte sie ihm zu: »Wen interessiert das noch, nach so langer Zeit?«
Das hätte ihn sicher interessiert, das musste seine Mutter auch gewusst haben. Die Frage ist jetzt nur, warum hatte sie plötzlich kein Interesse mehr an den neuen Erkenntnissen der Polizei?
Seltsam, denkt Jakob, dabei war doch erst dadurch erwiesen, dass tatsächlich auf dem Hof ihrer Eltern ein Verbrechen stattgefunden hatte. Jemand hatte einen jungen Mann umgebracht und im Teich seiner Großeltern, ob tot oder lebendig, entsorgt.
Ein Mord! Wenn auch vor vielen Jahren. Auf dem Hof ihrer Eltern beziehungsweise seiner Großeltern.
Warum nur hat sie, nach ihrer anfänglichen Aufregung über den Knochenfund, plötzlich kein Interesse mehr daran gezeigt und beschwichtigt: »Kann man nicht endlich die alten Geschichten ruhen lassen?« Doch verdammt, welche Geschichten?
Jetzt, wo geklärt war, dass es ein Mord war.
Steckt doch ein unaufgeklärtes Verbrechen hinter dem Toten, von dem seine Mutter wusste? Ein Verbrechen von vor über 50 Jahren?
Seine Mutter ist tot. Seine Großeltern liegen ebenfalls längst auf dem Friedhof, und auch der Bruder seiner Mutter wurde vor Kurzem beerdigt. Mit wem also könnte er über die Zeit von damals noch reden?
Es wird ihm klar, er zählt heute zu den Alten. Aber er weiß leider gleich gar nichts, was vielleicht auch schon vor seiner Kindheit in Seeldorf hätte passiert sein können. Dabei hatte er doch immer alles, was die Großen hinter vorgehaltener Hand im Ort redeten, mitbekommen. Aber nichts in seinen Erinnerungen hatte mit einem Toten im Löschteich seiner Großeltern zu tun.
Er schiebt den Stapel der Zeitungsberichte vor sich auf die Seite, das Gleiche will er auch mit seinen Gedanken über den Toten im Feuerlöschteich tun. Was jucken ihn denn die alten Storys von vorgestern. Er wird die ganze Sammlung seiner Mutter wegwerfen, er will die Geschichte vergessen. Was geht ihn das heute noch an? Seit nunmehr über 40 Jahren fühlt er sich in diesem Kaff Seeldorf eh nicht mehr zu Hause. Er ist hier, um die Zelte endgültig abzubrechen.
Er muss den Haushalt seiner Mutter auflösen, die Wohnung beziehungsweise das Haus verkaufen und dem Kaff für immer den Rücken kehren.
Im Nachhinein tut es ihm leid, dass er in den letzten Wochen vor ihrem Tod seiner Mutter nicht beigestanden ist. Aber er hatte endlich mal wieder einen größeren Auftrag. Er war für eine ARD-Dokumentation unterwegs gewesen, als sie vor drei Jahren nach einem plötzlichen Schlaganfall auch schon wenige Tage später starb.
Ihm war keine Zeit geblieben, schnell nach Seeldorf zu düsen. Er hatte in Sachsen gedreht. Dort war er schon Jahre zuvor, kurz nach der Wende, auf Neonazis gestoßen. In seiner neuen Dokumentation wollte er zeigen, wie die altbekannten Nazis sich in der vermeintlich bürgerlichen Partei, der AfD, sammelten.
Zur Gründung der AfD hatten ursprünglich ein paar Wirtschaftsliberale um den Hamburger Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke gegen den Euro Stellung bezogen. Eine lautere, politische Forderung, die selbst namhafte Industriebosse unterstützten. Doch gegen den Euro hieß in der Partei bald gegen die EU und schon bald auch gegen Migranten und Flüchtlinge.
Jakob wollte am Beispiel verschiedener Neonazis, die er kannte, zeigen, wie sich die rechtsradikalen Jugendlichen in der AfD beziehungsweise in
