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Niendorf … jetzt mit Leiche: Ostsee-Krimi
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eBook412 Seiten4 Stunden

Niendorf … jetzt mit Leiche: Ostsee-Krimi

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Über dieses E-Book

Wenn sich der Tod mit Flossen tarnt …
Gierige Investoren wollen in Niendorfs Seewäldchen direkt neben dem Hafen ein Hotel mit Fisch-Erlebniswelt bauen. Das Vorhaben spaltet den Ort – ein Mensch stirbt. Lianne Paulsen, die Strandkörbe in Timmendorf vermietet, will von ihrer Chefin Thea Harms den Bereich Niendorf übernehmen. Dadurch gerät diese mitten hinein in den Kampf um den geplanten Touristenmagneten. Umweltschützer und Fischer stehen plötzlich auf einer Seite. Eines Morgens sitzt ein Toter im Park. Verdächtigungen machen die Runde. Liannes beste Freundin Britt ist zu neugierig und riskiert ihr Leben. Kann Lianne sie und das Seewäldchen retten?
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition CW Niemeyer
Erscheinungsdatum28. Feb. 2022
ISBN9783827184238
Niendorf … jetzt mit Leiche: Ostsee-Krimi
Autor

Sabine Latzel

Die Journalistin Sabine Latzel, Jahrgang 1970, hat nach dem Studium der Publizistik, Geschichte und Wirtschaftspolitik ihr Volontariat bei den Lübecker Nachrichten absolviert. Inzwischen arbeitet sie dort über zwei Jahrzehnte als Redakteurin, wobei sie seit mehr als zehn Jahren von der Küste Ostholsteins berichtet. Nach „Das gibt es nur in Timmendorf“ ist „Niendorf … jetzt mit Leiche“ ihr zweiter Ostsee-Krimi. Sabine Latzel hat einen erwachsenen Sohn, ist verheiratet und vor Kurzem aufs Land gezogen.

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    Buchvorschau

    Niendorf … jetzt mit Leiche - Sabine Latzel

    Kapitel 1

    Im Sekundentakt hackte der scharfe Schnabel in den zarten, weichen Körper, tak-tak-tak, präzise wie eine Maschine, es floss kaum Blut. Flauschige blaue und gelbe Federn wirbelten umher. Auf einem abgerissenen Flügel war ein weißer Streifen zu erkennen.

    Eine Blaumeise diente hier als Zwischenmahlzeit, schätzte Daniel von Ingelsheim und betrachtete die Silbermöwe, die ihre Beute weiter zerstückelte. Weißes Federkleid, hellgraue Flügel, der typische rote Punkt auf dem gelben Schnabel – ein ausgewachsener Vogel, einer mit Erfahrung im Töten.

    Die Möwe hob den Kopf und musterte Daniel mit ihren starren gelben Augen. Wachsam, intelligent und emotionslos. Aber was soll sie auch fühlen, dachte Daniel. Sie hat gewonnen, fertig.

    Möwen zeigten sich bei ihrer Nahrung nicht wählerisch. Man musste kein Ornithologe sein, um das zu wissen. Daniel hatte häufig beobachtet, wie die Seevögel den Inhalt von Mülleimern ans Tageslicht zerrten und darin herumstocherten, frei von Ekel oder Skrupeln. Schlau waren die Möwen außerdem und ein faszinierender Anblick, wenn sie im Sturzflug ahnungslose Touristen hinterrücks überraschten. Die ließen dann vor Schreck ihre Pommes fallen, womit auf dem Asphalt vor der Imbissbude am Hafen angerichtet war. Einige besonders geschickte Räuber rissen sogar im Flug binnen Bruchteilen von Sekunden das Matjesfilet aus dem Brötchen.

    Warum auch nicht. Daniel würde es genauso machen, wäre er eine Möwe. Er war allerdings keine, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann, aber Moment: Einmal war er doch mit den Seevögeln verglichen worden. In einem Kampflied, das die linken Chaoten gesungen hatten, als sie damals in der Hamburger Hafen-City dieses tolle Gelände besetzten, jetzt fiel es Daniel wieder ein. Ein Anti-Makler-Lied war es, primitiv und infantil. Trotzdem kamen ihm die Zeilen in den Sinn. „Sie stürzen sich auf Grundstücke – so gierig wie die Möwen."

    Daniel richtete seinen Blick erneut auf die Silbermöwe. Mittlerweile hatte sie offenbar den Darm der Meise zu fassen bekommen (Meisen hatten doch wohl einen Darm?) und zog daran. Niedliche Tierbilder gingen anders, aber Daniel störte sich nicht daran. Das war die Natur der Möwe, und er wäre der Letzte, der ihr Vorhaltungen machen würde.

    Dieser Märztag war von der milden Sorte. Eine schwache Sonne tauchte die Umgebung in sanftes Licht. Daniel sah umher. „Park" nannten einige der Ureinwohner dieses traurige Areal, was für ein Witz. Daniel hätte diese Leute gern gefragt, wann sie zuletzt einen echten Park gesehen hatten, einen schönen Park, nicht so etwas wie das hier.

    Gewiss, Bäume gab es reichlich auf den etwa 9500 Quadratmetern Fläche. Über hundert, schätzte Daniel, die meisten davon hoch, bis zu zehn Meter vermutlich. Ahorne, Birken, Eichen, Buchen sowie eine zugegebenermaßen beeindruckende Esche, deren Stamm sich in Bodenhöhe in vier Stämme geteilt hatte, die nebeneinander schnurgerade in den Himmel ragten. Der Rasen wirkte ungepflegt – löch­rig und größtenteils vermoost. In regelmäßigen Abständen brachen daraus scheinbar unmotiviert in die Gegend gepflanzte krüppelige Kiefern hervor, aus denen nichts Nennenswertes mehr werden würde. Ein leidlich befestigter Schotterweg schlängelte sich durch das Gelände. Ein mehrere Meter breiter Gebüschstreifen trennte das Grundstück vom Strand, der durch das Dickicht aus Schneebeere, Ackerrose und Sanddorn nur zu erahnen war.

    Vielleicht könnte sich Daniel hindurchschlagen, mit einer Machete, wie ein Ostsee-Rambo für Arme. Allerdings im Slalom, um diversen fleckigen Taschentüchern auf dem Boden auszuweichen. Doch dann stieße er bloß auf einen Zaun aus scheußlichen verzinkten Gittermatten, hinter denen wiederum ein halbhohes weißes Mäuerchen vor sich hin rottete. Daniel wunderte sich. Was sollte diese strikte Abtrennung zum Wasser hin bewirken?

    Egal, dieser Weg reizte ihn ohnehin nicht. Er drehte sich um und ließ seinen Blick über den Teich oder vielmehr Ex-Teich in der Mitte des Parks gleiten. Klares Wasser und Fische: Fehlanzeige. Das Ganze war ein mit Schilfgras und Rohrkolben zugewucherter Sumpf. An dessen Rand in einigen Metern Abstand voneinander schmutzig weiße Plastikbänke auf Interessenten warteten, für die ein sauberer Hosenboden von untergeordneter Bedeutung war.

    Nein, eine Schönheit war das Gelände nicht, aber wertvoll. Ungeheuer wertvoll, vermutlich eines der wertvollsten Grundstücke an der Ostseeküste überhaupt. Eines der letzten seiner Art, unbebaut, direkt am Wasser, westlich des Niendorfer Hafens gelegen, an der Grenze zwischen Niendorf und Timmendorfer Strand. Unbebaut mit Strandzugang – ein Maklertraum, fast unbezahlbar, aber eben nur fast.

    Vor einigen Jahren war ein Grundstück in Timmendorfer 1-a-Lage auf den Markt gekommen, knapp 3000 Quadratmeter, gleich neben dem Hotel Meerespalais. Lediglich Omas windschiefes Holzhäuschen stand darauf. Vier Millionen Euro hatte ein Investor an die Erbengemeinschaft gezahlt, und darin waren die Abrisskosten noch gar nicht enthalten.

    Vor diesem Hintergrund taxierte Daniel den Preis für dieses mehr als dreimal so große Stück Niendorfer Land auf mindestens 15 Millionen Euro. Die Lage war noch besser, und die Preise waren weiter explodiert. Wobei sie mit einem deutlich niedrigeren Ansatz in die Verhandlung gehen würden, das verstand sich ja von selbst.

    Die Silbermöwe hatte ihr kannibalistisches Mahl beinahe beendet – oder war es nicht kannibalistisch, wenn ein Vogel einen anderen fraß? Jedenfalls balancierte die Möwe zögerlich ein blaugraues Beinchen mit einem bekrallten Fuß im Schnabel, ließ diesen Rest aber fallen und pickte unschlüssig im blaugelben Federhaufen herum.

    Die Meise hat nicht aufgepasst, ging es Daniel durch den Kopf. Das war schlecht, weil es immer schlecht war, nicht aufzupassen. Sie hätte vor der Möwe auf der Hut sein müssen, natürlich. Vielleicht hatte sie das vergessen oder sich darauf verlassen, dass die Möwe sie verschonen würde.

    Das jedoch konnte Daniel sich nicht vorstellen. Tiere, auch Meisen, hatten einen Instinkt, den sie nicht vergaßen und der sie nicht im Stich ließ, anders als Menschen. Menschen, die zum Beispiel gelegentlich mit ihm zu tun hatten. Denen fehlte oft der Instinkt oder wenigstens irgendein inneres Warnsignal. Was selbstverständlich von Vorteil war, denn mit vorsichtigen, misstrauischen Zeitgenossen waren keine Geschäfte zu machen. Und auf Geschäfte waren er und seine Auftraggeber aus, das war ihre Natur, so wie es die Natur der Möwe war, ab und an eine Meise zu zerhäckseln.

    Von daher hatten die autonomen Spinner einst mit ihrem albernen Anti-Makler-Lied sogar recht gehabt. Nicht, dass es ihnen etwas genützt hätte. Auf dem ehemals besetzten Gelände ragte längst ein massives Apartmenthaus empor, viel Glas und Stahl, sehr geschmackvoll, begehrte Lage. So etwas ließ sich auf Dauer nicht wegsingen oder wegbesetzen.

    Jetzt wohnten dort nette Menschen, wohlhabende, nette Menschen. Keine kapitalistischen Monster, wie sich diese abgerissenen, selbst ernannten Proletarier das wahrscheinlich vorstellten. So wie sie sich Daniel als gierige Möwe vorstellten. Dabei hatte er auch andere Seiten, das Leben war nie ausschließlich schwarz oder weiß.

    Daniel von Ingelsheim trat stets höflich und zurückhaltend auf, mit Türaufhalten und Small Talk mit der geschwätzigen alten Nachbarin und allem. Körperliche Gewalt lehnte er ab und hatte noch niemals einen anderen Menschen physisch verletzt, nicht einmal täppisch geschlagen. Er unterstützte seine verwitwete Mutter, hatte sich schon fünfmal in seinem 36-jährigen Dasein verliebt und sogar ein Patenkind in Afrika, für das er monatlich 28 Euro spendete. Also bitte.

    Das waren seine guten Seiten, unter anderem. Aber er wollte auch Geld verdienen. Armut war nichts für Daniel, das hatte er bereits früh bemerkt, als einziger Sohn ambitionsloser Eltern im unteren Drittel des Mittelstandes. „Die grauen Jahre" nannte er seine Kindheit, grau und ereignislos. Niemals würde er zu einem Lebensstil wie jenem zurückkehren.

    Die Möwe gab ihr Gewühle im zerfledderten Meisenkörper auf und wandte sich ab. Scheinbar ziellos trippelte sie einige Schritte nach links. Breitete dann die Flügel aus, zeigte eine beträchtliche Spannweite – 1,40 Meter, mindestens, glaubte Daniel – und stieg in den blassblauen Märzhimmel auf. Ob sie bereits satt war? Viel konnte an der Meise nicht dran gewesen sein.

    Daniel fiel ein, dass er vor langer Zeit in einem Internetvideo gesehen hatte, wie eine gewaltige Mantelmöwe, diese Riesen mit den schwarzen Flügeln, ein Kaninchen im Ganzen herunterwürgte. Ein unglaublicher Anblick und ziemlich abstoßend. Aber auch hier die Frage: Was hätte die Möwe sonst tun sollen? Diesen Brocken liegen lassen?

    „Ach herrje, das war doch bestimmt eine Meise." Eine brüchige Stimme riss Daniel aus seinen Überlegungen. Eine ältere Frau mit einem fetten, kleinen Hund an der Leine war vor ihm auf dem Weg stehen geblieben und sah ihn kopfschüttelnd an.

    „Die hat sicher eine der Krähen erwischt oder eine Möwe, schreckliche Vögel sind das", klagte sie mit traurigem Gesichtsausdruck. Als sei gerade etwas wirklich Tragisches geschehen, ein schlimmer Unfall mit einem schwer beschädigten Sportwagen etwa oder ein Börsencrash.

    „Ja, schrecklich. Daniel nickte ihr zu. „Aber da kann man wohl nichts machen.

    „Nein, leider." Die Frau zuckte mit den Schultern. Bevor sie Daniel in ein längeres Gespräch verwickeln konnte, nickte er noch einmal kurz und freundlich und drehte ab in Richtung Straße.

    Der Schotterweg führte an der östlichen Grenze des Geländes entlang. Eicheln knirschten unter Daniels cognacfarbenen Schnürschuhen aus Kalbsleder. Das weiße Mäuerchen ging in eine massive Mauer aus dunkelrotem Ziegelstein über, in die ein weißes Tor eingelassen war. Daran prangte der sorgsam bemalte Vereinsstander des Yacht-Vereins Niendorf, ein dreieckiger Wimpel in Rot, Weiß und Blau.

    Ein weiteres Rasenstück war von abgerundeten, weiß getünchten Steinen umgeben, die wie Mini-Grabsteine aussahen. Ein hölzernes Schild samt Pfeil wies Richtung Hafen. An dieser Stelle waren die Eichen riesig, mit teilweise bedenklich morsch erscheinenden Ästen.

    Daniel trat an die Straße. Neben dem unvermeidlichen Hundekot-Tütenspender regte ein Schild mit einem durchgestrichenen kackenden Hund zum Einsammeln der widerlichen Hinterlassenschaften an. Was Daniels Gedanken zurück zu der Hundefreundin führte, die soeben die Meise bedauert hatte.

    Wie alt mochte die Frau sein? Anfang siebzig vielleicht, wie seine Mutter. Deutlich jünger also als die Eigentümerin dieses fantastischen Grundstücks, die sich allerdings nach allem, was Daniel gehört hatte, einer unverschämt guten Gesundheit erfreute. Natürlich hatte er sich über die angebliche „Grande Dame" der Gemeinde Timmendorfer Strand informiert. Über ihren Einfluss in Timmendorf und Niendorf, über ihre geistige Fitness – die augenscheinlich ebenfalls noch unverschämt gut war. Und über ihre Nachkommen, was einfach war, denn es gab nur einen Neffen, einen Großneffen, um genau zu sein. Der bald die Bekanntschaft von Daniel von Ingelsheim machen würde. Um ihn in sein Herz zu schließen – ach nein, das war Blödsinn. Aber ein hervorragendes Angebot würde der Mann erkennen und zu würdigen wissen.

    Anders als seine Großtante, die ein regelrechter Besen zu sein schien. Halsstarrig, uneinsichtig und von dieser grässlichen, heimatverbundenen Sentimentalität beseelt, so stellte Daniel sie sich vor. Denn wie sonst konnte man es erklären, dass die alte Dame dieses Filetstück von einem Gelände seit Jahrzehnten brachliegen ließ? Um es als „öffentlichen Park", sprich: Hundeklo für jedermann, ein ödes Schattendasein führen zu lassen.

    Die Dämmerung setzte ein. Die kurzfristig gestiegene Temperatur sank rapide. Kälte drang durch die dünnen Sohlen von Daniels Schuhen, die ausgezeichnet zum mittelblauen Slim-Fit-Designeranzug passten. Der kurze braune Mantel wärmte auch nicht.

    Daniel trat auf den Fußweg, der wie die Straße am Hafen vorbeiführte. Mit weit ausholenden Schritten eilte er zum Hafenparkplatz. Er musste jetzt wirklich aufbrechen. Bis Hamburg war es noch eine lange Strecke zu fahren auf der verfluchten Autobahn mit ihrer Staugarantie.

    Einmal noch warf er einen Blick zurück. Vor seinem geistigen Auge baute sich das auf, was hier entstehen würde. Ein einmaliges und einzigartiges Projekt, ein Meilenstein in der Geschichte der Lübecker Bucht. Und am Ende würde es, wie meistens, nur Gewinner geben, die Bäume vielleicht ausgenommen. Aber mal im Ernst: Wie viele Bäume wurden denn jeden Tag auf der ganzen Welt gefällt?

    Eine mittelmäßig hübsche Frau Mitte zwanzig kam Daniel entgegen und musterte ihn relativ interessiert. Das war er gewohnt. Obwohl er nicht besonders groß oder von beeindruckender Statur war, strahlte er mit seinen akkurat geschnittenen hellbrauen Haaren, den freundlichen blauen Augen und dem geraden Gesicht eine unaufdringliche Attraktivität aus. Diverse Frauen registrierten dazu seine teure Kleidung. Diese Lady hier allerdings nicht, denn wer eine billige grüne Funktionsjacke trug, hatte mit Sicherheit keinen Sinn für Stil und Design.

    Daniel guckte die Frau kurz an und dann wieder weg. Es reichte, um das Brötchen in ihrer Hand zu erkennen, aus dem ein rosafarbenes Matjesfilet wie eine übergroße Zunge herauslappte. Hinter der Frau, hoch in der Luft, tauchte die Silhouette einer Silbermöwe auf, die Flügel weit ausgebreitet, als befände sie sich im Landeanflug.

    Viel Glück, dachte Daniel. Und damit meinte er nicht die arglose Besitzerin des Fischbrötchens.

    Auf dem Meere tanzt die Welle nach der Freiheit Windmusik. Raum zum Tanz hat meine Zelle siebzehn Meter im Kubik.

    Erich Mühsam (1878–1934), „Gefängnis"

    Kapitel 2

    Gestank und Gitter. Menschen rebellieren wegen Geringerem.

    Seit einer halben Stunde gingen Lianne diese Worte durch den Kopf. Sie mussten aus einem Krimi stammen, den sie in den vergangenen Jahren gelesen hatte, und waren weder bedeutsam, noch passten sie zur Situation. Denn es gab zwar Gitter, aber keinen Gestank und erst recht keine Rebellion.

    Die beiden Beamten hatten einen schnellen Schritt drauf, eine Frau und ein Mann, groß und sportlich, in dunkelblauen Uniformen. Lianne konzentrierte sich darauf, nicht den Anschluss zu verlieren. Trotzdem warf sie unauffällig einige Blicke nach links und rechts, musterte die anderen Frauen aus der Gruppe, die mit ihr den Gefängnishof überquerten. Sieben durchschnittliche Frauen waren das, irgendwo zwischen dreißig und sechzig, ordentlich gekleidet, dünn und mittelschlank und eine Dicke, die Gesichter zu müde und zu grau, hatte Lianne vorhin gedacht. Aber vielleicht hatte das nur an der ungünstigen Beleuchtung im Warteraum gelegen. Sie selbst wirkte im Vergleich vermutlich richtig frisch mit ihren gerade vorgestern neu getönten kastanienroten Haaren, ihren veilchenblauen Augen und ihrem fast makellosen Seeluft-Teint.

    Die Beamten – oder sagte man „JVA-Bedienstete"? – stoppten vor einer weiteren Tür, der Mann schloss sie auf. Eine Frau nach der anderen folgte ihm ins Innere des Gebäudes mit den unzähligen Gittern vor den Fenstern.

    Liannes Beklemmung wuchs. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, beherrscht und ausgeglichen zu bleiben, hatte sie bereits bei ihrer Ankunft die anscheinend kilometerlange, mindestens sechs Meter hohe graue Betonmauer rund um die JVA Lübeck tief beeindruckt. Dann das Prozedere an der Pforte: Ausweis abgeben, Handtasche in einem Fach deponieren, sämtliche Gegenstände aus den Taschen ihrer Jeans und ihres Blazers ebenfalls. Der Schritt durch den Metalldetektor, Abscannen mit der Handsonde durch die Beamtin, Abtasten. Wie im Fernsehen. Nur nicht als Zuschauerin beim sonntäglichen „Tatort"-Ritual, gemütlich vom Sofa aus. Sondern live und ungemütlich mitten in Lauerhof, wie die Lübecker die JVA nannten. Lianne hätte gern auf dieses Erlebnis verzichtet.

    Sie vergewisserte sich, dass ihr Besucherausweis brav am Revers ihres türkisfarbenen Blazers prangte. Dann trat Lianne hinter den JVA-Beamten in einen großen, überraschend hellen Raum, in dem acht Kiefernholztische verteilt waren. Die anderen Frauen hatten sich schon auf ihre Plätze gesetzt. Lianne sah nach rechts. Er war da, wartete auf sie.

    Mit welchem Bild hatte Lianne gerechnet? Jedenfalls nicht mit diesem. Steco sah überraschend erholt aus, anders ließ es sich kaum ausdrücken. Seine Gesichtszüge wirkten entspannt, die scharfen Falten links und rechts des Mundes schienen sich geglättet zu haben. Um seine vollen Lippen spielte ein leises Lächeln, das dünne grau­blonde Resthaar war sorgfältig gekämmt. In seinen grauen Augen lag ein warmer Glanz. Er trug eine blaue Stoffhose und einen dünnen blauweißen Segler-Pullover, teure Marken und mit Sicherheit keine Anstaltskleidung. Gewiss, Steco war blass, aber vermutlich gab es in Lauerhof auch keine Gelegenheit, sich in die Sonne zu legen. Schon gar nicht im März.

    „Lianne, hallo." Er lächelte glücklich wie ein verliebter Galan, der seine Angebetete im Restaurant empfängt, und reichte ihr die Hand, die Lianne unwillkürlich ergriff.

    „Hallo, Steco", brachte sie hervor und ließ sich auf den Besucherstuhl sinken. Jetzt habe ich ihm tatsächlich die Hand gegeben, dachte sie. Reflexe funktionieren doch immer.

    Und auch auf Liannes Gedächtnis war Verlass. Stecos Anblick löste eine Flut an Erinnerungen an jenen dramatischen Abend vor eineinhalb Jahren aus, von dem sie bis heute schlecht träumte. Der enge Innenraum des Strand-Treffs mit dem Ausgabetresen, auf dem Steco seine Sprengsätze deponiert hatte. Stecos Geschrei und die Pistole, mit der er herumfuchtelte (ein Imitat, wie sich später herausstellte, was nichts mehr an der Todesangst änderte, die Lianne empfunden hatte). Sophie Augsbach, die junge, blonde Internet-Reporterin, die Steco eine Flasche Rotwein über den Schädel zog. Thea, Liannes unverwüstliche Freundin und Chefin, die ohnmächtig in einer Ecke des muffigen Pavillons lag. Es kam jetzt alles wieder hoch.

    „Jetzt kommt vermutlich alles wieder hoch, oder?", sagte Steco, der sich anscheinend in der Haft die Kunst des Gedankenlesens angeeignet hatte. Er musterte Lianne aufmerksam.

    „Ich … ja." Lianne räusperte sich. Ihr war schlecht. Warum nur hatte sie sich auf dieses Treffen eingelassen? Sie rieb ihre rechte Hand an ihrer Jeans und scharrte mit ihren Sneakern unruhig über den Linoleum-Fußboden.

    „Es tut mir sehr leid." Steco beugte sich vor, legte seine Hände auf die Glasplatte des Tisches und faltete sie ineinander.

    „Ich habe großen Schmerz verursacht. Unter anderem bei dir. Ich möchte dir jedoch helfen, diesen Schmerz loszulassen", erklärte er ruhig.

    „Du willst mir helfen?" Lianne starrte ihn an. Dem äußeren Anschein zum Trotz hatte sich Stecos geistige Verwirrung offenbar doch nicht gelegt. Sondern lediglich eine andere Richtung eingeschlagen.

    „Ja. Steco nickte ernst. „Ich möchte zumindest einen Teil meiner Schuld wieder abtragen. Und dazu gehört, dass ich den Menschen, die ich verletzt habe, helfe. Bei der Vergebung.

    Sein Tonfall geriet von Wort zu Wort salbungsvoller, zumindest in Liannes Ohren, und das half ihr in der Tat: Ärger verdrängte die Angst, die sie in den ersten Minuten in diesem Besucherraum empfunden hatte.

    „Deswegen also deine … tja, wie soll ich sagen? Einladung?" Lianne erinnerte sich, wie sie fassungslos auf den Besuchsschein gestarrt hatte, der ohne jede Vorwarnung per Post bei ihr eingetrudelt war. Name des Gefangenen, Termin, Anfahrtsbeschreibung, Personalausweis mitbringen und unbedingt 30 Minuten vor Besuchsbeginn vor Ort sein. Die Telefonnummer des JVA-Besuchszentrums hatten sie ihr auch geschickt, falls sie den Besuch stornieren wollte.

    Was auch Liannes erster Impuls war. Dann aber hatte sie gezögert. Mit Kristof gesprochen und mit Britt und Thea. Und jetzt saß sie hier. Vielleicht war der erste Impuls doch der richtige gewesen.

    „Einladen im klassischen Sinne darf ich natürlich niemanden. Steco schüttelte lächelnd den Kopf. „Aber ich kann Besuch beantragen, viermal im Monat, für jeweils eine Stunde. Das ist mehr, als ich verdient habe, und ich bin dankbar dafür. Das gehört zu den Geschenken, die das Leben mir macht.

    „Hast du wieder zum Buddhismus zurückgefunden?, gab Lianne gereizt zurück. „Ach, entschuldige, was heißt hier zurückgefunden. Du warst zuvor ja gar nicht da, denn damals hast du nur so getan, als seist du Buddhist, nicht wahr?

    „Du bist zornig, das verstehe ich gut. Steco nickte. „Ich werte das als Zeichen deiner Kraft. Denn in dir steckt viel Kraft, das habe ich von Anfang an gespürt. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass du mir vergeben kannst.

    Was für ein scheinheiliges Gewäsch, ging es Lianne durch den Kopf. Eine konsequentere Frau hätte jetzt versucht, Steco einen Faustschlag zu verpassen – ungeachtet der insgesamt drei JVA-Beamten, die über den Raum verteilt das Geschehen an den Tischen aufmerksam beobachteten. Doch aus diesem Holz war Lianne nicht geschnitzt. Leider.

    „Schöne Worte, Steco, erwiderte sie stattdessen spitz. „Aber wir sind hier nicht in der Kirche – oder, um es aus deiner Sicht zu formulieren, in einem buddhistischen Tempel. Das hier ist die Wirklichkeit, und in der Wirklichkeit hast du versucht, drei Leute und dich selbst in die Luft zu jagen. Also zu töten. ,Nur‘ drei Leute, muss ich ja sagen, denn eigentlich sollten es doch viel mehr sein.

    Steco blickte Lianne weiterhin ruhig und freundlich an, als sei er ein erfahrener Psychologe und sie die verwirrte Patientin. Verkehrte Welt, dachte Lianne. Mit diesem absurden Rollentausch muss es schleunigst ein Ende haben.

    „Ich weiß das alles, selbstverständlich. Steco nickte. „Du sollst auch nicht vergessen, was war. Doch mit Vergebung meine ich, dass du lernst, den Schmerz zu verarbeiten und dann eben loszulassen. Und das kann nur gelingen, wenn du mir vergibst.

    „Steco, nimm es mir nicht übel – aber das hört sich alles an wie die Sprüche, die man in Glückskeksen findet." Lianne hatte nicht geplant, so grob zu sein. Aber Stecos vermeintliche Erleuchtung ging ihr auf die Nerven. Immerhin hatte sie jedoch keine Angst mehr vor ihm. Anders als damals – im Pavillon sowieso, aber auch später, während der Gerichtsverhandlung, die auf eine verschwommene Art an Lianne vorbeigezogen war, als habe sie während ihrer Zeugenaussage unter einer schmutzigen Glasglocke gesessen.

    Steco lachte.

    „Nicht schlecht pariert, sagte er anerkennend. „Ich habe nicht erwartet, dass du sofort beim ersten Gespräch alles nachvollziehen kannst, was ich vorhabe. Doch ich finde, dass ein guter Anfang gemacht ist.

    „Wie – beim ersten Gespräch? Lianne starrte Steco misstrauisch an. „Denkst du, es folgen noch weitere?

    „Wenn du damit einverstanden wärst, würde mich das sehr freuen. Wieder dieses glückliche Lächeln. „Ich dachte mir, dass wir miteinander beginnen. Später möchte ich auch Sophie treffen und irgendwann Thea.

    „Tolle Reihenfolge. Ich fühle mich geschmeichelt. Inzwischen lag die Option „Faustschlag für Lianne in deutlich greifbarer Nähe. „Du meinst, du fängst sozusagen mit der einfachsten Variante an, sprich: mit der unwichtigsten der drei Frauen, die du umbringen wolltest. Und dann arbeitest du dich weiter nach oben."

    „So ist es nicht. Steco schüttelte den Kopf. „Ich habe dich nur als die – sagen wir: zugänglichste unter euch im Gedächtnis. Ich bedaure es, wenn ich dich damit gekränkt habe.

    „Ich komme darüber hinweg." Diese ganze Unterhaltung ist bescheuert, überlegte Lianne. Wie Britt und Thea wohl reagieren würden, wenn Lianne ihnen davon erzählte? Die beiden saßen garantiert schon gespannt wie die Flitzebögen im Café Möchtegern zusammen und warteten auf Liannes Rückkehr.

    „Das ist gut." Wieder dieses verständnisvolle Nicken. Die reinste Provokation.

    „Ich kann mich leider nicht mit jedem treffen, dem ich Schaden zugefügt habe, fuhr Steco fort. „Aber ich schreibe Briefe, viele Briefe.

    „Das glaube ich gern. Lianne sah vor ihrem geistigen Auge einen prall gefüllten Jute-Postsack. „Du hast ja auch Zeit.

    „Es geht so. Ich bin verpflichtet, hier zu arbeiten. Steco schmunzelte. „Was ich natürlich gern tue. Ich habe einen Platz in der Bücherei bekommen, kümmere mich um die Registratur und die Katalogisierung, stell dir vor. Was für ein Glück.

    Entzückend, dachte Lianne. Gerät dieses Treffen jetzt zu einer Art Kaffeeklatsch ohne Kaffee? Sie hatte zwar etwas Münzgeld in den Besucherraum mitnehmen dürfen, um sich an einem Automaten mit Getränken oder Süßigkeiten zu versorgen, verspürte jedoch nicht das geringste Interesse an Speis oder Trank.

    „Was ist mit dem Projekt deines Mannes?", fragte Steco. „Wir können hier zwar Zeitungen lesen, haben aber keinen Internetzugang. Aber soweit ich weiß, steht der Strand-Treff immer noch. Warum das?"

    „Mein Ex-Mann, korrigierte Lianne. „Wir sind seit einem Jahr geschieden. Und aus dem Neubau ist dann doch nichts geworden.

    Sie dachte an das Vorhaben der Gemeinde, Stecos Strand-Treff abzureißen, um stattdessen eine edle Beachlounge zu errichten. Matthias und sein Partner waren damals mit den ersten Plänen beauftragt worden, und als Steco davon erfahren hatte, hatte er angefangen, Anschläge im Ort zu verüben – bis zu jenem schrecklichen Finale in seiner Bude.

    „Die Ideen von ,Paulsen-Projekte‘ sind in irgendeiner Schublade verschwunden, schätze ich, fuhr Lianne fort. „Du hast das ganze Theater also vergebens veranstaltet.

    Eigentlich müsste Steco nun ausflippen, oder? Doch er strahlte weiter die Ruhe des Erleuchteten aus.

    „Das hat sich noch nicht erwiesen, gab er freundlich zurück. „Dass alles vergebens war, meine ich. Welcher Weg für uns vorgesehen ist, können wir meist erst am Ende erkennen.

    Auf einmal wurde Lianne

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