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Wildhof
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eBook240 Seiten3 Stunden

Wildhof

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Über dieses E-Book

Selbstmitleid ist Lina fremd, denn sie hat reichlich Humor. Doch woher all die Wut kommt, die mitunter aus ihr herausbricht? Sie scheint dann ganz außer sich, völlig daneben. Weil wohl einfach zu viel zusammengekommen ist. Kein kleines Familiendrama, ein großes. Ihre Zwillingsschwester Luise ist spurlos verschwunden. Vor Jahren. Schon lange lebt Lina deshalb nicht mehr in Wildhof. Jetzt aber muss sie dorthin zurückkehren, um aufzuräumen, nachzuforschen, zu begraben und abzuschließen.

Gut dreißigjährig und frisch verwaist sucht sie nun einen Käufer für das Elternhaus und findet wieder, was auf immer versunken schien. Auch endlich eine Spur. Denn Luise hat ihr einen Wegweiser hinterlassen …

In einer Gegenwart, in der sie gehalten wird vom durchsonnten Wald und von alten Freundschaften, kratzt Lina beidhändig die vermooste Vergangenheit frei. Und damit ihre eigene Zukunft.

Ein sinnliches Buch, voller Gefühle, Gerüche und Geräusche, angespannt und spannend bis zum Schluss.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Klaus Wagenbach
Erscheinungsdatum20. Feb. 2025
ISBN9783803144126
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    Buchvorschau

    Wildhof - Eva Strasser

    1

    Das Haus sieht aus wie immer. Als hätte es ein Gesicht, das sich auch über Jahrzehnte nicht verändert. Drei Augen auf der Stirn, zwei Löcher in den Wangen, eine Nasentür. Abgeblättertes Holz. Verwitterte Fensterläden. Der Zaun ist morsch und der Garten verwildert. Lina rüttelt am Gartentor, nichts zu machen. Sie wirft den Koffer rüber, springt über den Zaun und sieht sich um. Mit beiden Füßen versinkt sie im dichten Moos, das über das Gras gewuchert ist wie ein Pelz, zum Schutz vor der Dunkelheit und Kälte. Einmal die Woche hat Herr Weber früher den Rasen gemäht, im Herbst die Hecke und die Bäume geschnitten. An der Hecke sieht man genau, wann er das letzte Mal hier war. Da, wo die Äste dünner und die Blätter heller werden, hat ihm die Natur ein Denkmal gesetzt.

    Lina steht mit dem Koffer im Garten, und plötzlich fällt ihr ein, dass sie keinen Schlüssel hat. An den Schlüssel hat sie gar nicht gedacht. Hat sie überhaupt einen?

    Unter einer dicken Tanne steckt ein Holzkreuz im Rasen: »Sherry« ist darauf geschrieben, sie kann es nur lesen, weil sie weiß, dass es da steht. Neben dem Kreuz liegt ein Fußball, zerfleddert, seit fünfzehn Jahren nicht mehr bewegt und fast komplett überwuchert.

    »Die grüne Hölle« hat Henny den Garten immer genannt, was Richard nie hören wollte. Für ihn war der Garten ein Paradies, ein Wunder des Lebens. Herr Weber hat all die Jahre um den Ball und um das Kreuz herum gemäht. Lina muss den Ball nur kurz ansehen und weiß genau, wie er riecht. Sie knurrt. Tief und dunkel klingt das. Eine Warnung an die Welt.

    Neben der Küchentür steht immer noch der dicke Blumentopf mit dem Hibiskus. Der Stamm ist knorrig und dünn, lila Blüten bedecken den Boden, die Blätter kringeln sich, er sieht aus, als hätte ihn seit Jahren niemand mehr gegossen. Und trotzdem lebt er noch. Ein Geisterbaum. Sie tastet um den Blumentopf herum, aber da ist kein Schlüssel. Nur tote Kellerasseln, Moos und Erde.

    Mit einem großen Stein schlägt sie die Scheibe der Küchentür ein. In Filmen werden Scheiben andauernd eingeschlagen. Aber sie ist jetzt fast dreißig, und das ist ihre allererste Scheibe.

    Sie greift vorsichtig durch das zerbrochene Glas, öffnet die Tür und wird sofort von einem bestialischen Gestank wieder zurückgetrieben in den Garten, stolpert über ihren Koffer und kotzt den ICE-Kaffee in ein vertrocknetes Gemüsebeet. Hier hat Richard einmal versucht, Salat anzubauen, dann den Platz aber aufgrund seines konfliktscheuen Naturells den Nacktschnecken überlassen. Jetzt wachsen hier im Schatten des Hauses Brennnesseln und Efeu. Viele Brennnesseln. Hunderte. Sie recken sich in die Höhe, die Härchen auf den gezackten Blättern zittern in ihre Richtung.

    Wie ein grüner Haufen neugieriger Nachbarn beobachten sie den Neuankömmling, ein Mensch, ein neuer Mensch, der neue Mensch hat uns vollgekotzt. Lina starrt die Brennnesseln an, die starren zurück. Wieder knurrt sie. Atmet tief durch, wischt sich über den Mund, spuckt nochmal auf den Boden. Und geht wieder rein, aber hält sich die Nase zu dabei.

    Auf dem Küchenfußboden liegen zwei halb verweste Ratten. Sie haben es vom Fluss in die Küche geschafft, und dort sind sie verhungert, haben den Ausgang nicht wiedergefunden. Ihre kleinen Wirbelsäulen kleben an den Kacheln, die Köpfe haben sie einander zugewandt. Es sieht aus, als hätten sie sich Geschichten erzählt, gegen den Tod angekuschelt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie versucht haben, sich gegenseitig aufzufressen.

    Lina bindet sich ihr Halstuch um Mund und Nase, reißt die Küchentür und das Fenster auf, beugt sich fluchend unter das Waschbecken, findet dort eine Schaufel, kratzt die Ratten vom Fußboden, wirft sie in den Putzeimer, rennt in den Garten und kotzt nochmal.

    Eine sehr nette Polizistin hatte ihr angeboten, sie zu unterstützen, bei den Behördengängen, die jetzt vor ihr liegen, die sie abarbeiten muss, nach so einem Ereignis. Zum Rathaus. Zum Bestatter. Sich die Eltern anzusehen, davon hat die Polizistin abgeraten. Sonst fällt das Abschiednehmen vielleicht schwerer, das Abschließen, und Abschließen ist doch so wichtig.

    »Schauen Sie sich das Auto an und denken Sie sich den Rest.«

    Dabei will sie genau das nicht, denken. Steht im Garten und fängt schon damit an. Gibt es ein Testament? Irgendeine Gebrauchsanweisung? Haben Henny und Richard sich Särge ausgesucht, irgendwo Sargvorlieben hinterlegt? Macht man das, irgendwann mal, an einem verregneten Sonntagnachmittag, Liebling, such dir einen Sarg aus. Oder wenigstens einen Song. Was, wenn die Eltern sich um nichts gekümmert haben? Wenn sie ihr Leben genauso verlottert hinterlassen wie diesen Garten und das Haus? Lina starrt auf eine durchweichte Pizzaschachtel, die neben ihrer Kotze im Gras liegt, eine Schnecke sitzt darauf. Warum sollten sie ausgerechnet das Jenseits organisieren, wenn es schon mit dem Diesseits nicht geklappt hat.

    Sie hustet. Sie ist wütend. Ihre Atmung wird immer schneller, ihr Herz klopft, und sie kickt die Pizzaschachtel durch die Luft und schlägt mit ihrer Hand gegen den Stamm des Walnussbaums, mehrmals.

    Der Walnussbaum. Groß ist er, eine Kathedrale, mitten im Garten. Er wurde gepflanzt zu Linas und Luises Geburt. Lina schüttelt ihre Hand. Die Haut ist abgeschürft, und trockene Rindenstückchen kleben an ihren Fingern, dunkles Holz und rotes Blut.

    Und vom Baum hängt immer noch das Seil. Dass diese Dinge nicht einfach abfallen und vermodern, dass dieses Seil da jetzt seit über fünfzehn Jahren hängt und darauf wartet, dass jemand daran zieht. Sie läuft an dem Seil vorbei, sie streift es sogar mit der Schulter, und dann, kurz bevor sie die Terrasse erreicht, springt sie zurück und zieht.

    Es bimmelt. Oben im Baum bimmelt eine verrostete Glocke. Tausend Splitter fallen aus den Zweigen, lauter kleine Bilder tanzen um sie herum, wie ein Hornissenschwarm. Und sie kann sich nicht wehren.

    Rehe, Glockenblumensträuße, Lagerfeuer.

    Hundehaare, Wasserläufer, Maracujaeis.

    Farbpinsel, Baumstümpfe, Champagnergläser.

    Fahrräder, Sonnenpfützen, Mühlrad.

    Nusskuchen, Laubhaufen, Waldsee.

    Die Erinnerungen wollen rein, in ihr Leben, in ihren Körper, irgendwo weiterleben, dem Nichts entkommen. Sie flieht vor dem Baum zum Haus, ihr war nicht klar, dass sie fliehen muss, sie wusste nicht, dass der Baum eine Falle ist und welche Macht er hat, sie muss das Seil abschneiden. Oder gleich den Baum fällen. Das ganze Haus abreißen lassen. Weg damit. Den Garten umgraben, bis nichts mehr so aussieht wie die alte Welt, die es mal gab und die jetzt plötzlich wieder anklopft und rein will. Die ganze Zeit konnte sie noch so tun, als sei niemand zu Hause, und jetzt, plötzlich, wird das schwierig. Die alte Welt hat sie entdeckt, und sie hat noch eine Rechnung offen. Vielleicht war es ein Fehler, dass sie jetzt hier ist, was weiß denn die Polizistin schon von Abschließen. Es fühlt sich an wie ein Aufschließen, und das war nicht der Deal.

    Richard und Henny, die gesperrte Straße, der Straßengraben, der Wald, alles voller Zitronen, weil es ein Südfrüchtetransporter war, der Lastwagen. Das alte grüne Auto, das nach Brezel riecht und nach Banane, wo überall Papier zwischen den Sitzen steckt, Bilder, Skizzen, Ideen. Wie damit umgehen, mit so einer Nachricht, aus dem Nichts, an einem Mittwoch gegen 16 Uhr, was tun, zwei Polizisten in ihrem Büro, fünfter Stock, es tut uns sehr leid, frontal, sie waren sofort tot, haben Sie jemanden, den Sie anrufen können.

    Sie spürt es tief in sich brodeln, ein Meer aus Lava, in dem sich stinkende Krokodile ineinander verbeißen, sie versucht zu lächeln und zu atmen, und außerdem tut ihre Hand weh. Herzliches Beileid. Sie muss irgendwas tun.

    Hennys Putzmittelvorrat ist beeindruckend. Und das hier unter der Spüle ist erst der Anfang. Als professionelle Alkoholikerin hat sie in jedem Zimmer Kalkentferner, Scheuermilch und Essigreiniger versteckt. Vor dem Putzen bitte am Inhalt der Flasche riechen. In den meisten Flaschen ist Wodka, nur in der Scheuermilch ist tatsächlich Scheuermilch. Lina wäscht sich die Hände und das Gesicht, mit Seife, lange. Das beruhigt.

    Überall stehen Teller mit angetrockneten Essensresten herum, sogar im Garten. Das normale Geschirr, das gute Geschirr, das Silberbesteck, spielt alles keine Rolle. Englische Porzellantässchen mit Kaffeeresten neben dem Geräteschuppen; eine weißblaue holländische Schüssel, in der vielleicht einmal Gemüsesuppe war, im Rhododendron; die guten Gläser, die nicht in die Spülmaschine dürfen, auf dem Klavier; es riecht nach Fertigsuppen und verschüttetem Sekt. Ungeöffnete Post, ungeputzte Fenster, keine Anzeichen dafür, dass hier irgendjemand mal einen Staubsauger benutzt hätte in der letzten Zeit.

    Lina kratzt die Knochenreste mit einem Pfannenwender ab, wischt den Boden, dann schleppt sie den Koffer in die Küche und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch steigt zur Zimmerdecke und hüllt sie sofort in die vertraute kleine Tabakwolke, aus der heraus die Außenwelt weniger bedrohlich wirkt. In den Schränken findet sie eine große geblümte Tasse, das war Richards Teetasse, grüner Tee mit geröstetem Reis, jeden Morgen um 9 Uhr, dazu ein Stück Hefezopf mit Butter, sie zieht die Nase hoch und stellt die Tasse auf die Fensterbank, das ist jetzt ihr Aschenbecher. Sie rückt einen Stuhl ans Fenster, legt die Beine hoch, sieht auf ihr Smartphone, es ist kurz nach 14 Uhr, kein Empfang, weder Telefon noch Internet, wie schön, dass zumindest die Uhrzeit funktioniert, dann nimmt sie noch einen tiefen Zug an ihrer Zigarette und fühlt sich besser.

    2

    Über dem Herd hängt die Kuckucksuhr. Rotes Dach, braunes Haus, schiefe Tannen rechts und links, und oben das runde Dachfenster. An zwei vergoldeten Schnüren hängen zwei dicke Tannenzapfen. Irgendwann, um kurz vor fünf, ist die Uhr stehen geblieben. Kurz vor Sonnenaufgang oder kurz nach dem Kaffee am Nachmittag. Sie könnte sie aufziehen, damit es hier wieder tickt, jede Stunde ein Kuckuck, wie sie am Wochenende mittags vor dieser Uhr standen, die Sonne scheint draußen auf das Gras, das Fenster ist offen, es riecht schon nach Mittagessen, und dann geht oben das kleine Fenster auf und Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck. Der Kuckuck ist grün mit rotem Schnabel, Lina weiß es noch genau, sie weiß auch noch, wie das Ticken der Uhr klingt, es gehört zur Küche dazu, es ist viel zu laut hier ohne das Ticken der Uhr.

    Durch das Küchenfenster sieht man auf moosdurchtränktes Gras, bis zu der kleinen buckligen Steinmauer am Ende des Gartens. Dahinter beginnt der Wald, dahinter beginnen die Berge. Hunderte Tannen drängen sich dicht an dicht und wuchern ungehindert den Hang hinauf. Henny hat sich hier immer beobachtet gefühlt. Man kann in den Wald nicht hineinschauen, die Bäume schlucken alles Licht, aber die Tannen starren Tag und Nacht direkt ins Haus. Und sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Deshalb hat Henny irgendwann die Vorhänge nicht mehr geöffnet.

    Alles ist mehr geworden, breiter, tiefer, größer, wo es doch immer heißt, dass die Orte der Kindheit kleiner werden und schrumpfen. Aber der Garten mit dem hohen Gras, den wilden Blumen, dem dicken Baum wächst immer weiter, unaufhörlich wird hier gewachsen, jeden Tag. Lina kennt den Anblick trotzdem. So gut, als würde sie in den Spiegel sehen. In einen Spiegel, der langsam von der Wand tropft, wenn sie zu lange hineinschaut. Vielleicht sollte sie aufhören zu rauchen. Vielleicht ist es die Luft hier, die gute Luft. Sie drückt die Zigarette aus und steht auf.

    Die Treppe knarzt wie früher. Holz spricht, hat Richard immer gesagt, altes Holz hat viel zu erzählen. Oben sind die Schlafzimmer: Linas Zimmer, Luises Zimmer und das Zimmer der Eltern, das dann später nur noch Hennys Zimmer war. Sie kennt das Geräusch jeder Stufe, bevor sie es hört. Die knarzende Treppe, die klappernden Fensterläden, die tschilpenden Vögel, alles für immer eingeschrieben auf der Playlist ihres Lebens, lang nicht mehr abgespielt, und trotzdem kennt sie noch alles ganz genau, jeder Ton ein Herzschlag, jeder Schritt eine Welt.

    Linas Zimmer ist das mit Balkon. Henny wollte keine Fenster zum Fluss. Sie wollte sein Rauschen nicht auch noch in der Nacht hören müssen, also wählte sie für sich und Richard das einzige Zimmer zur Seite, schattig, dafür aber ohne Fluss und Wald, mit Blick auf den schmalen Kiesweg, der zum Kurpark führt, vorbei an dem Mühlrad, mit dem Lina als Kind immer gesprochen hat.

    Auf dem Balkon steht der alte Schaukelstuhl. Vorsichtig setzt sie sich, er quietscht und knarzt und riecht, wie man eben riecht, wenn man aus Rattan ist und seit Jahren draußen steht. Der Baum streckt seine Äste dem Haus entgegen, ein in die Wiese gebannter Zombie, der Fluss springt unten plätschernd über die Steine, und die Wiese dahinter ist neblig und vermückt. Es ist alles wie früher. Deshalb ist sie im ersten Moment auch nicht verwundert, als sie plötzlich ein Lachen hört, ein glucksendes Kinderlachen.

    Luises Lachen.

    Sie hat es ganz deutlich gehört, es war keine Einbildung. Luise hat gelacht. Sofort hat Lina wieder das Kitzeln in der Nase, blonde Haarsträhnen, ein Kinderkopf, der nach Sonne riecht, nach Sommer. Bin ich immer noch deine beste Schwester. Luise lacht.

    Linas Herz klopft dumpf, eingesperrt in einem gläsernen Sarg wie fucking Schneewittchen, und jetzt reichts.

    Sie springt aus dem Schaukelstuhl, macht im ganzen Haus das Licht an, läuft laut singend in jedes Zimmer, raucht zwei Zigaretten gleichzeitig, rennt ins Wohnzimmer und dreht die Stereoanlage so laut auf, bis das Geschirr mit dem Rosenmuster im Schrank zu klirren beginnt.

    »I’m about to lose control and I think I like it, oh yeah«, brüllen die Pointer Sisters aus dem Radio im Wohnzimmer, und sie wirft ihren Pulli über einen Stuhl, kniet sich vor die Spüle, kramt alle Putzmittel hervor, leert die falschen Flaschen aus, packt sie in zwei große Müllsäcke, stapelt die im Garten bei den Rattenresten, schnappt sich zwei gelbe Gummihandschuhe und fängt mit dem Erdgeschoss an. Luise muss verschwinden.

    Den Holzboden nicht mit zu viel Wasser, sonst geht er kaputt. Die Möbel kann sie mit Schuhcreme polieren, farbloser, das haben sie früher immer gemacht, heimlich, erlaubt ist das nicht, aber es riecht interessant. Das Geschirr können die neuen Bewohner einfach gleich behalten, vorausgesetzt, es wird jemals wieder sauber. Sie weicht die schmutzigsten Teller in der Spüle ein, der Rest kommt irgendwie in die Spülmaschine, Goldrand hin oder her. Sie füllt Pulver ein, drückt den Knopf und freut sich fast, als das vertraute Brummen beginnt. Wischt über alle Oberflächen, geht mit einem Müllsack durchs Erdgeschoss, und sprüht die Gästetoilette einmal komplett voll mit nach Bergwiese riechendem Küchenreiniger, aber welche Bergwiese, jemals, riecht so.

    Langsam sieht es im Haus so aus, als ob die Abschiedsparty, die hier seit vielen Jahren gefeiert wurde, zu Ende geht. Im Wohnzimmer versteckt sich hinter einer geblümten Vase aus Portugal ein kleiner Hund aus Ton. Henny hat den gemacht, für die Kinder, der Hund hebt seine Vorderpfoten und dazwischen steckt eine Kerze voll bunter Wachsflecken. Lina wischt über das geschlossene Klavier und stellt den Hund auf das glänzend schwarze Holz. Man sieht ihn kaum, denn auch der Hund ist pechschwarz. Es sieht aus, als würde die Kerze aus dem Klavier herauswachsen. Oder darin versinken. Sie streicht dem Hund vorsichtig über den Kopf. Das linke Ohr ist angeklebt, es ist vor langer Zeit einmal abgefallen, bei einer Party, Luise und Lina sind damals stundenlang durchs Wohnzimmer gekrabbelt, um es wiederzufinden, denn ein Hund mit nur einem Ohr, das ist ungerecht.

    In den Nachrichten gibt es eine Sturm- und Unwetterwarnung für die nächsten Tage. Als sie das Radio leiser stellt und das Küchenfenster öffnet, hört sie das Murmeln aus den Baumwipfeln so laut, als stünden sie gleich im Zimmer. Diese Bäume schreien sich gegenseitig an, und der Wind rast zwischen ihren Stämmen und Kronen umher wie ein irrer Dirigent.

    Mit Stürmen und Gewittern kennt sie sich aus. Früher hat Henny in jedem Raum des Hauses Taschenlampen und Kerzen verteilt, für den Notfall. Falls der Strom ausfällt, ein Feuer ausbricht, der Blitz einschlägt. Der hat nie eingeschlagen, doch noch immer liegen auf allen Fensterbänken zwei Ersatzbatterien, eine Taschenlampe, rote Kerzen und ein Päckchen Streichhölzer.

    Um 17 Uhr sieht das Erdgeschoss aus wie aus einem Retro-Wohlfühlmagazin, 70er-Jahre-Möbel, gemusterte Tapeten, sie könnte hier ein Café eröffnen, Cupcakes ins Buffet, Gurkenscheiben in die Karaffe, wenn es nur nicht so streng nach Bergwiese riechen würde überall. Auf dem Haufen im Garten warten dafür jetzt diverse Flaschen, Kartons und Mülltüten dem Regen entgegen, eigentlich müsste sie sich

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