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Kaltenhaide: Erzgebirge Krimi
Kaltenhaide: Erzgebirge Krimi
Kaltenhaide: Erzgebirge Krimi
eBook512 Seiten5 Stunden

Kaltenhaide: Erzgebirge Krimi

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Über dieses E-Book

Authentisch, intensiv und hochspannend.

Nachkriegszeit im Erzgebirge. Eine Lichtung im Wald, ein verwaister Geigenkasten – und darin ein menschliches Herz. Bald wird klar: In den Wäldern wütet ein Serienmörder. Über siebzig Jahre später taucht die damals verschwundene Geige wieder auf, und das abgelegene Bergdorf Kaltenhaide wird erneut von geheimnisvollen Morden erschüttert. Das Böse ist immer noch da, es war nie verschwunden. Außenseiterin Sascha Berghaus ist die Einzige, die das Geflecht aus Hass und Lügen durchdringen kann..
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum26. Aug. 2021
ISBN9783960417811
Kaltenhaide: Erzgebirge Krimi

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    Buchvorschau

    Kaltenhaide - René Seidenglanz

    René Seidenglanz, 1976 in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge geboren, ist Professor für Kommunikationsmanagement, studierter Publizist und Psychologe und promovierter Kommunikationswissenschaftler. Er leitet als Präsident eine Hochschule in Berlin. Nach dem Debüt »Toter Schacht« ist »Kaltenhaide« sein zweiter Kriminalroman aus dem Erzgebirge, in dem die beiden Hauptpersonen Sascha Berghaus und ihr Vater, der Professor Jan Berghaus, Geheimnisse aus der Vergangenheit und Verbrechen in der Gegenwart aufklären.

    Nähere Informationen zur Buchreihe, zum Buch, zu den Handlungsorten und den historischen Hintergründen:

    www.erzgebirgekrimi.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Romanende findet sich ein Personenverzeichnis.

    © 2021 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: Dirk Wustenhagen/Arcangel.com

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

    von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Karte: René Seidenglanz

    Lektorat: Lothar Strüh

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-781-1

    Erzgebirge Krimi

    Originalausgabe

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    Kostenlos bestellen unter

    www.emons-verlag.de

    Meinem Großvater, Anton Tanzhaus

    (1919/Christophhammer – 2008/Grumbach, Erzg.),

    bei dem die Geschichte von Kaltenhaide beginnt

    Und meiner Lebenspartnerin Danielle Zinn,

    mit der sich diese Geschichte wieder zusammenfügt

    Teil I

    Totes Herz

    1. Elisabeth

    7. April 1946

    Sie wusste längst nicht mehr, wo sie war. Nur Nacht und die hohen Schatten von Bäumen ringsum. Tiefer Wald. Es ging talwärts, dann wieder bergauf. Wurzelwerk legte sich ihr in den Weg.

    Immer weiter stapfte der Lange voran. Sie konnte kaum mit ihm Schritt halten. Immer weiter entfernte er sich von ihr. »Nicht so schnell!«, wollte sie ihm nachrufen, aber Rufen war verboten. Die Grenzposten könnten sie hören. Und die Grenze musste ganz nah sein. Sie durften auf keinen Fall entdeckt werden. Der Lange hatte ihr versichert, er wisse, wo die Grenzer Patrouille liefen. Deshalb diese verschlungenen Wege, deshalb der dunkle Steig. Ein Weg durch die Verborgenheit.

    Die tschechischen Grenzposten durften sie auf keinen Fall entdecken. Sie würden ihr die Geigen wegnehmen, denn die Geigen waren verboten. Sie würden sie verhaften. Vielleicht würde sie in einem dunklen Verlies verschwinden, für lange Zeit. Vielleicht würden sie sie schlagen. Vielleicht würden sie sie anfassen. Vielleicht würden sie sie auch gleich umbringen. Es gab die schrecklichsten Geschichten darüber, was denjenigen passierte, die sie hier oben an der Grenze fassten. Beim Überqueren dieser unsichtbaren Linie mitten im Wald. Beim Schmuggeln.

    Die Gestalt des Langen wurde undeutlich. Sein Schatten verschmolz mit dem Wald und mit der Nacht. Warte doch! Sie stolperte. Der Weg wurde noch steiler, ein Hohlweg, eingeschnitten in den Hang. Warte doch! Der Sack mit den Geigen drückte immer schwerer. Der Lange wurde noch schneller. Mit großen Schritten stapfte er durch das Unterholz. Dann rannte er, sprang zur Seite die Böschung hinauf, wurde endgültig zu einem undeutlichen Schatten.

    »Warte!«, rief sie ihm nach. Doch sie erschrak sofort über das Echo ihrer Stimme. Leise sein! Die Grenzposten konnten sie hören. Erschrocken drehte sie sich um. Auch er blieb kurz stehen. Ganz kurz sah sie das Weiß seiner Augen im Dunkel aufleuchten. Dann war er zwischen den Bäumen verschwunden. Ohne ein Geräusch. Sie war jetzt auf einer kleinen Lichtung angekommen. Ob das schon die Grenze war? Direkt vor ihr baute sich eine Felsformation auf. Kannte sie diesen Ort? Wo war sie? Über ihr ein merkwürdig geformter Felsvorsprung. Wie der verzerrte Kopf eines Tieres. Ein Tierschädel, ein Schaf oder Widder mit nur einem Horn. Der Schatten des Felsens bildete sich vor dem Himmel ab.

    Nein!

    Sie kannte diesen Ort. Sie kannte diesen Felsen. Sie erkannte ihn wieder. Trotz der Dunkelheit … das konnte nur … das konnte nur … aber wenn es so war, dann hatte der Lange sie in die Irre geführt, dann war sie falsch. Das hier war nicht der Weg nach Kaltenhaide. Sie hätten diesen Hohlweg überhaupt nicht entlanggehen sollen … Was passierte hier? Warum?

    Sie drehte sich wieder um, hektisch. Angst. Panik. Die Felsen direkt vor ihr. Dann ein Atem in ihrem Gesicht. War sie entdeckt worden?

    Es war der Lange, der plötzlich direkt vor ihr stand. Sie sah, dass er grinste und dass seine Augen funkelten. Aber er war ganz still, er schien nicht einmal zu atmen. Dann spürte sie einen stechenden Schmerz, der ihre Eingeweide zerriss. Der Lange lächelte. Er hielt das große Messer hoch, betrachtete es und lächelte. Dann stach er noch einmal zu, in ihren Hals. Blut floss warm an ihr herunter. Er lächelte. Sie sackte langsam zusammen. Er schaute ihr nach und lächelte. Über ihr war noch das Stückchen Himmel, der Felsen, die Spitzen der Bäume. Dann verschwanden sie.

    2. Federenko

    Heute

    Daniel Federenko versteht sein Geschäft. Er ist der Beste hier oben. Im ganzen Erzgebirge findet man keinen besseren Strafverteidiger, sagt man. Der Gerichtssaal ist sein Revier. Er hat alles geplant, und alles läuft wie geplant. »Gefährliche Körperverletzung«, damit kann man nicht spaßen. Seine Strategie ist einfach: Sascha hat einen Schaden. Darum geht es in der Verhandlung hier, quälend lange Stunden. Sascha hat einfach einen Schaden, eine Macke, sie ist irgendwie durchgedreht, und deshalb kann sie letztlich nichts dafür, dass sie nachts eine andere junge Frau von hinten überfallen, niedergeschlagen, in den Schnee gedrückt und noch ein paarmal mit ihren schweren Stiefeln gegen Magen, Brust und Kopf getreten hat. Das Opfer – sie heißt Cindy Kupfer – hat eine gebrochene Nase, einen angebrochenen Kiefer, zwei ausgeschlagene Zähne und Hämatome am ganzen Körper davongetragen. Der Angriff war absolut brutal.

    Normalerweise fläzen sich in solchen Fällen stiernackige Glatzköpfe mit dicken Fäusten auf der Anklagebank. Doch heute sitzt nur ein schmales, blasses Mädchen neben Federenko. Die Tochter eines Professors – das ist ungewöhnlich. Und dann auch noch ihr Aussehen! Diese schwarze Kleidung, die schwarz gefärbten Haare, die dunkle Schminke im Gesicht, die Piercings in Lippe und Wange und diese Tätowierungen. Saschas linke Hand ist vollständig schwarz vom Handgelenk bis zu den Fingerkuppen, und auf dem Handrücken prangt ein gestochener Totenkopf. Weiter den linken Arm hinauf wachsen verwelkte Blüten und schwarze Ranken mit Dornen über Schulter und Hals hinauf und hinter den Ohren entlang, wo die Haare ausrasiert sind.

    Sascha sieht die ganze Zeit nach unten und schweigt.

    Sie soll auch nichts sagen. So hat es ihr Federenko befohlen. Sie redet viel zu leise. Sie stottert, wenn sie aufgeregt ist. Sie verhaspelt sich. Sie spricht ihre Sätze nicht zu Ende. Sie sieht ihr Gegenüber nicht an, wenn sie spricht. Das ist alles nicht gut, sagt Federenko. Das wirkt nicht glaubwürdig. Und im schlimmsten Fall sagt sie noch etwas Falsches. Deshalb ist es am besten, sie sagt gar nichts. Sie macht keine Aussage, sie macht überhaupt nichts. Wenn das Stillhalten zu schlimm wird, soll sie die Finger ganz fest zusammendrücken, sich auf ihre Hände konzentrieren. Zum Beispiel auf den Totenkopf auf ihrem Handrücken, funkelnde Brillanten in seinen Augenhöhlen. Der Totenkopf grinst.

    Es gibt einen Zeugen, das ist immer schlecht. Dieser Zeuge heißt Benjamin Bräunig, und er ist vielleicht achtzehn oder neunzehn, vielleicht auch zwanzig Jahre alt. Er wirkt aber deutlich jünger. Sein fülliger, unbeholfener Körper, das leicht aufgedunsene Gesicht, nur dünner Flaum über dem Mund, wo bei Gleichaltrigen schon ein dunkler Schatten liegt, lassen ihn eher wie einen großen Jungen wirken. Benjamin Bräunig ist ein Freund von Cindy Kupfer. Besser: Er wäre gerne der Freund von Cindy Kupfer. Vor allem aber: Benjamin hat Sascha gesehen, als sie auf Cindy eindrosch. Er hat sie erkannt. Denn leider ist Sascha so schrecklich auffällig.

    Außerdem gibt es noch den Abdruck der Stiefelsohle in Cindy Kupfers Gesicht. Alles war ganz blutig, die hart gefrorene Schneewehe rot bekleckert, Blutspritzer überall. Ein wenig von dem Blut klebte noch auf Saschas Stiefeln, obwohl sie sie geputzt hatte. Sogar mehrfach. Sie hing an diesen Stiefeln. Deshalb hatte sie viel Mühe darauf verwendet. Sascha hätte sie wegwerfen sollen! Hätte aber auch nicht viel gebracht. Sie war ja beobachtet worden. Und sie hatte ein Motiv.

    Cindy, Benjamin und noch ein Dritter, sie hatten Sascha zuvor überfallen.

    »Weil sie es verdient hat, die blöde Schlampe!«, schreit Cindy plötzlich auf, und ihre Zahnlücke wird sichtbar. Sie ist aufgestanden und stützt sich mit beiden Armen fest auf dem Tisch vor ihr ab. Ihr Anwalt, der Vertreter der Nebenklage, hustet auffällig.

    »Wir hätten ihr die Scheißnase brechen sollen oder ihr hässliches Gesicht zerkratzen.«

    Dieser Überfall hatte einen Grund. Es ging um den »Toten Schacht« und die Leichen, die man dort unten tief im Berg seinerzeit gefunden hatte. Saschas Vater, Jan Berghaus, hatte die Geschichte ausgegraben. Eine Geschichte, die in die siebziger Jahre und die DDR zurückreichte.

    Der Großvater von Benjamin hing in der Sache drin. Er hatte Angst, entdeckt zu werden. Also schickte er seinen Enkel und dessen Clique vor. Sie sollten Sascha angreifen, stellvertretend für ihren Vater. Und die machten das gerne. Aber Sascha ließ sich nicht vertreiben. Am Ende hatte sie einen Mörder gefunden, jemand ganz anderen. Jemanden, der sich jahrzehntelang versteckt gehalten hatte. Und Sascha war von diesem Irren in aller Öffentlichkeit angegriffen worden, mitten auf der großen Bergparade, direkt auf dem Marktplatz der Stadt, zwischen Tausenden Einheimischen und Touristen. Federenko muss das nicht weiter ausführen, jeder hier kennt die Geschichte.

    Sascha ist beobachtet worden, es gibt Beweise, und es gibt ein Motiv: Sascha hat irgendwann brutal zurückgeschlagen. Federenko glaubt ohnehin nicht, dass er Saschas Täterschaft widerlegen kann.

    Deshalb ist es wichtig, dass Sascha einen Schaden hat. Federenko hat ein Gutachten anfertigen lassen. Der Gutachter hat Sascha einmal kurz gesehen. Eine Kapazität, sagt man, und genauso teuer sind die wenigen bedruckten Seiten, die er mit ausladendem Schwung unterschrieben hat. Das dramatische Ende dieser Geschichte um den »Toten Schacht«: Ein traumatisches Erlebnis sei das gewesen. Psychisch hoch belastend, zumal Sascha ohnehin hochlabil sei. Depression. Bipolare Störung. Autistische Züge. Einen ganzen Komplex von Schäden will er diagnostiziert haben.

    Aber das ist nicht alles. Um zu belegen, dass Sascha einen Schaden hat, muss Federenko außerdem ihre Kindheit und ihre Jugend sezieren, und er seziert sie in diesem Saal und vor den Zuschauerreihen bis ins kleinste Detail. Überall finden sich Ursachen, die schließlich bis zu dieser gefährlichen Körperverletzung führten. Beide Eltern sind Professoren. Saschas Mutter ist Wirtschaftswissenschaftlerin, ihr Vater Soziologe, beide an großen Universitäten. Die Mutter, Nikola, ist eine international gefragte Expertin, die sich ihrer Karriere widmete und für ihre verschrobene Tochter nur wenig Interesse hatte. Die Eltern sind seit sieben Jahren geschieden (»Scheidungskind!«).

    Auch Saschas Vater Jan habe sich nie wirklich um seine Tochter gekümmert. Ein Einzelgänger, der mit seinen Kollegen, seinen Nachbarn und eigentlich mit jedem in seiner Umgebung im Streit liegt. Er ist vor fast zwei Jahren in seine Geburtsstadt Annaberg im Erzgebirge zurückgekehrt. Er hat ein regionalgeschichtliches Magazin gegründet und schreibt darin über alte Erzählungen wie die vom »Toten Schacht«. Er hat die gemeinsame Wohnung in der Universitätsstadt verkauft. Sascha war zu der Zeit im Ausland. Als sie zurückkam, stand sie auf der Straße. Ihr Zimmer war weg, ihre Sachen irgendwo eingelagert. Berghaus kaufte sich ein altes Haus – ach was, eine Ruine – und versucht seitdem, sie wieder bewohnbar zu machen. Auch Sascha lebt jetzt dort. Auf einem staubigen Dachboden.

    Quälend langsam wird die Anatomie von Saschas Seelenleben ausgebreitet, beleuchtet. Sascha starrt nach unten, drückt ihre Hände zusammen, sieht dem Totenkopf beim Grinsen zu.

    »Mobbing«, sagt Federenko, als sich der Verhandlungstag dem Ende entgegenneigt. Das ist seine letzte Karte, und er ist sicher, diese Karte sticht. Er setzt ein ernstes Gesicht auf. Er atmet tief ein und sieht die Richterin an. »Was macht das mit jemandem, wenn er sein Leben lang gedemütigt wird?«

    Wenn Federenko spricht, dann rollt er das »R« dramatisch und sagt »je« statt »e«. Man hört immer noch, dass er vor über zwanzig Jahren von der Wolga mit seiner russlanddeutschen Familie hierhergekommen ist.

    Ellie Koppatz wird aufgerufen. Eine ehemalige Klassenkameradin von Sascha.

    Mobbing.

    Federenko sieht, wie Sascha anfängt zu zittern. Sie wollte das nicht. Sie hat ihn angefleht, Ellie nicht aufzurufen. Aber es muss sein. Es ist wichtig. Es ist ein zentraler Baustein.

    Ellie berichtet freimütig darüber, wie die Klasse Sascha gequält hat.

    Federenko findet Ellie großartig. Weil sie es ganz offen zugibt.

    »Sie war halt immer so komisch … Klar war sie die Außenseiterin … Klar hat sie keiner gemocht … Alle haben sie gemieden … Es war leicht, auf ihr herumzutrampeln, weil sie allein war … Heute würde ich das nicht mehr machen. Damals waren wir halt alle noch nicht so erwachsen … Heute tut mir das natürlich sehr leid …« Ellie lächelt, schlägt schüchtern die langen Wimpern herunter, sieht hübsch aus, und alle im Saal haben Mitleid mit ihr.

    Federenko triumphiert. Was zu beweisen war, denkt er. Sascha hat einen Schaden. Scheidungskind, vernachlässigt, gedemütigt. Jahrelanges Mobbing in der Schule. Keine Freunde, Zurückweisungen. Mobbing. Noch mal »Mobbing!«. Dann dieser Fall, Morde, die Presse berichtet. Sascha ein Opfer. Wieder Demütigung. Und zuletzt Cindy und ihre Clique, die Sascha überfallen haben. »Demütigung!«, ruft Federenko in den Saal. Es ist jetzt ganz still.

    Sascha hat einen Schaden. Punkt.

    Deshalb muss hier nach Jugendstrafrecht verhandelt werden. Punkt. Sascha ist unter einundzwanzig. Das ist viel günstiger für seine Mandantin. Im allgemeinen Strafrecht würde Sascha mindestens ein halbes Jahr für gefährliche Körperverletzung kriegen.

    Federenko sieht die Richterin an und weiß, dass er sie auf seiner Seite hat. Sie ist mit ihm einig, dass Sascha in ihrer Entwicklung verzögert ist. Sie komme mit anderen einfach nicht klar, wisse nicht, wie man mit anderen umgehen müsse (Ansätze von Autismus!). Es fehle ihr hier eindeutig an (sozialer!) Reife. Die Jugendgerichtshilfe bestätigt das alles zum Abschluss noch einmal und empfiehlt die Anwendung des Jugendstrafrechts.

    Federenko wischt sich fettige Strähnen von der Stirn.

    Nur noch eine Sache fehlt, dann ist die Sache gelaufen.

    3. Ein Schatten

    7. April 1946

    Ihr Blut war warm, und er kostete davon. Warm. Er hatte noch ein paarmal auf sie eingestochen. Etwas in ihr wehrte sich noch. Sie war noch nicht tot, aber ihr Körper wusste schon, dass es bald vorbei war. Sie röchelte, sie spuckte Blut aus. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er leckte seine Finger ab, an denen ihr Blut klebte, und sah ihr dabei zu, wie sie langsam starb. Ihr Atem wurde leiser, das Röcheln versiegte. Diese Verzweiflung, mit der sie sich ans Leben klammerte, während es vorüberging. Er beobachtete sie, wie sie ihn fixierte. Genoss die Gewissheit, dass er das Letzte sein würde, was sie in ihrem Leben sah.

    Es war noch ein bisschen Atem da, ganz leise. Dann musste er seine Ohren ganz fest an ihre Lippen pressen. Ja, da war immer noch ein bisschen Leben. Die Augen immer noch aufgerissen, voller Entsetzen. Dieses Entsetzen würde das Letzte sein, was sie fühlte. Und er war das letzte Bild, der letzte Gedanke, das letzte Gefühl in ihrem Leben. Er hatte vollständig Besitz von ihr ergriffen. Er war jetzt ihr ganzes Leben. Sie gehörte ganz und gar ihm. Er lauschte noch eine Weile diesem leisen Atem. Dabei lächelte er und wurde ganz ruhig. Genoss diesen langen Moment.

    Erst dann setzte er einen kräftigen Schnitt an ihrer Kehle an. Er schnitt so tief, dass er den Kopf beinahe vollständig vom Körper trennte. Das Blut schoss heraus, weil das verzweifelte Herz immer noch eine Weile weiterpumpte. Weil es sich immer noch gegen das Unvermeidliche wehrte.

    Er lauschte. Der Wald war ganz still. Ihre Augen waren immer noch offen, das Entsetzen in ihrem Gesicht war für immer konserviert. Sie gehörte ihm. Ihm hatte ihr Leben gehört, und nun besaß er sie auch über den Tod hinaus.

    Das Herz. Das wunderbare Herz. Wie es seine letzten verzweifelten Schläge tat. Dein Herz. Nur ein paar Schläge noch, dann endlich war es stumm.

    Er knüpfte ihre Bluse auf, betrachtete ihre Brüste, die voller Einstiche waren. Dabei erlebte er jeden dieser Stiche noch einmal. Jeden Stich in ihr volles, wohlgeformtes Fleisch, mit dem er ihr Stück für Stück das Leben nahm. Er atmete schwer und heftig. Gab sich dem Hochgefühl hin. Strich mit seinen Fingern über ihren entblößten Oberkörper. Überall war Blut, immer noch warm. Er kostete davon. Er kostete von ihr. Nach und nach wurde sie sein.

    Dann nahm er ein großes Messer und öffnete ihre Brust. Hebelte mit dem Messer eine Rippe auf, die ihr Herz schützte. Schnitt den Herzbeutel auf. Griff in sie hinein und hob ihr Herz vorsichtig heraus. Mit dem Messer trennte er die Venen, die Arterie und die Aorta ab. Er ging präzise vor, behände, zügig. Jeden dieser Handgriffe hatte er schon so unzählige Male durchgeführt. Er schnitt das Herz aus ihrem Körper heraus. So wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Umfasste es mit beiden Händen und hob es empor. Ein gewaltiger Strom von Glück und Macht durchfloss ihn.

    Er nahm sie jetzt vollständig in Besitz.

    »Du bist mein. Ich habe dein Leben. Ich habe deinen Tod. Ich habe deinen Körper. Ich habe dein Herz. Und jetzt habe ich auch deine Ewigkeit. Du gehörst für immer mir.«

    4. Sascha

    Pause. Die Verhandlung wird in einer Stunde fortgesetzt.

    Federenko hat Sascha seine Packung Zigarillos überlassen. Sascha saugt Rauch ein, kaut auf der schweren Tabakwolke herum, schluckt sie herunter. Ihre Finger sind ganz taub, das ganze Blut ist inzwischen aus ihnen gewichen, so fest hat sie die ganze Zeit zugedrückt. Sie zittert immer noch.

    »Demütigung.« Wenn sie vorher keinen Schaden hatte, dann hat sie jetzt einen, denkt Sascha. Alles ist wieder da. Alles, woran sie nie wieder denken wollte. Einfach nicht mehr daran denken.

    Nur Federenko triumphiert und klopft ihr vertraut auf die Schulter. »Läuft«, säuselt er, grinst und verschwindet auf der Toilette am Ende des Flurs.

    Nicht mehr daran denken, nur ein bisschen durchdrehen. Diese Cindy verprügeln und sich gut dabei fühlen. Diese Cindy hassen. Sie zusammenschlagen. Sich gut dabei fühlen. Das war alles.

    Stattdessen musste sie alles noch einmal durchexerzieren, was Federenko als die wesentlichen Stationen ihres verpfuschten Lebens betrachtete. »Strategie«, sagte er. »Die Strafe maximal reduzieren.« »Läuft!« Sascha fragt sich, ob das hier nicht die viel schlimmere Strafe ist.

    Ellie wiederzusehen, das war das Schlimmste. Sascha zittert. Sascha hat Ellie zwei Jahre nicht gesehen – seit sie Abitur gemacht hat, und trotzdem zittert sie noch. Ellie war der Fixpunkt. Ellie hat die anderen angestachelt. Ellie hat gesagt: »Jeder hier hasst dich.« Ellie hat gesagt: »Warum bringst du dich nicht einfach um?« Ellie hat gesagt: »Dann machen wir Party hier und kotzen auf deinen leeren Stuhl.« Sascha hat nie verstanden, warum. Sie hat es nur ertragen, all die Jahre. Und jetzt soll gerade das ihr nutzen?

    Plötzlich steht Ellie vor ihr. Und dann lächelt sie auch noch, mustert sie. »Das ist ja schön, dich zu sehen«, säuselt sie. »Du siehst anders aus.« Und dann: »Ich wusste ja gar nicht, dass … dass es dir so schlecht ging, damals … dass es dir so schlecht geht.« Sie probiert eine mitfühlende Miene, dann wendet sie sich ab, tippt etwas in ihr Smartphone und grinst.

    Sascha zittert, und das ist das Allerschlimmste.

    Weil sie wieder schwach ist.

    Weil die Zeit nicht geholfen hat. Weil die ganze Zeit seit damals umsonst vergangen ist. Weil ihre Verwandlung in etwas anderes, ihre Tarnung unter all der schwarzen Farbe – weil das alles nichts geholfen hat.

    Weil Cindy zusammenzuschlagen nichts bewirkt hat.

    Weil sie immer noch zittert, wenn Ellie ihr gegenübersteht.

    Weil all die Demütigungen wieder da sind.

    Sascha pustet Rauch aus. Auf dem Flur vor dem Verhandlungsraum vermischen sich Anwälte, Zeugen und Angeklagte. Gäste schnattern. Der Flur ist eine lange Halle mit den hohen Fenstern eines Fabrikgebäudes. Blau gestrichene, rissig gewordene Türen führen in die einzelnen Verhandlungsräume.

    »Kann ich eine schnorren?«, fragt jemand anders. Sascha saugt noch einmal Rauch ein. Sie dreht sich langsam um. Dort steht ein unglaublich dürrer Junge mit eingefallenem, grauem Gesicht. Er ist kaum älter als Sascha, aber er sieht älter aus, verbraucht. Sascha hält ihm Federenkos Zigarillopackung hin, er zieht sich hastig einen heraus, so als hätte er Angst, sie könne es sich doch noch anders überlegen. Er lässt das Feuerzeug aufblitzen und steckt den Zigarillo hastig in seinen Mund. Dann hustet er. »Boah, die sind stark.« Auf seinem Handgelenk klebt ein unglaublich schlecht gestochenes Tattoo, eine grüne Schlange oder ein Wurm mit Hütchen. Die Farben sind verwischt, ausgewaschen. »Hab ich selbst gemacht«, sagt er stolz.

    »Hm.«

    »Und du?« Er tippt auf Saschas Handrücken.

    »Hab ich mir in den USA stechen lassen.«

    »Echt? Angeberin!«

    »Ist aber so.«

    »Hm. Zeig mal.« Er schiebt ihren Ärmel etwas hoch, dort, wo der Arm vollkommen schwarz von Farbe überzogen ist, dann zupft er an ihrem Kragen, wo die schwarze Fläche in Mustern ausläuft und seitlich den Hals hinaufwandert. »Krass!«

    »Lass das!«

    »Schon gut. Schon gut. Trotzdem krass.«

    »Hm.«

    »Tommy«, sagt er und hält ihr die Hand hin.

    »Sascha«, sagt Sascha und zieht an ihrem Zigarillo.

    »Hab Crystal geschmuggelt, von den Tschechen über die Grenze rüber. Haben mich erwischt. Scheiße. Ich hätte es mir irgendwo reinstecken sollen. In den Arsch oder so. Hatte ich aber Schiss davor, wenn das Zeug platzt oder so. Ist ’ner Freundin von mir passiert. Scheiße, so was. Hammse mich erwischt, gleich hinter der Grenze. Zum Glück hatte ich da nicht so viel dabei. Bin gerade drei Schritte hüben gewesen. Da standense.«

    »Okay.«

    »Und du?«

    »Und ich?«

    »Na, weswegen bist du hier?«

    »Gefährliche Körperverletzung.«

    Tommy sieht das schmale Mädchen verwundert an. »Krass!«, sagt er anerkennend.

    »Alexandra Berghaus« wird aufgerufen. »Das bin ich«, sagt Sascha. »Alexandra« sagt sonst nur ihre Mutter zu ihr. Ihre Mutter mag die Koseform Sascha nicht. Sascha kann den Namen Alexandra nicht ausstehen. Sie kann ihre Mutter nicht ausstehen.

    Nur noch eine Sache muss Sascha gleich tun. Federenko hat ihr jedes Wort genau eingeschärft. Sie muss sich selbst demütigen. Sascha schnipst den abgebrannten Zigarillo weg. Ihre Hände zittern.

    5. Ein Besucher

    8. April 1946

    Als die Morgendämmerung kam, war alles längst vergangen, was sich nachts auf der Lichtung unter der Felsformation abgespielt hatte. Es war ein eiliger Besucher, der jetzt die kleine Lichtung überquerte. Die Dämmerung war gefährlich, man konnte ihn entdecken. Der Besucher auf der Lichtung war ebenfalls jemand von denen, die über die Grenze hinüber nach Sachsen, nach Kaltenhaide wollten, die ein Bündel auf dem Rücken trugen mit Dingen, die ihnen einst gehörten, Dingen, die sie zurücklassen mussten und die herüberzuholen streng verboten war.

    Alles war in Auflösung in dieser Zeit, der ganze Wald und die ganze Nacht waren voller schwarzer Gestalten mit Bündeln auf dem Rücken. Oben an der Grenze liefen sie Patrouille. Er war fast schon zu spät. Die Dämmerung brach an. Ein Eichelhäher schreckte über ihm auf und flog laut krächzend davon. Es schallte durch den ganzen Wald bis hinüber auf die andere Talseite. Vor allem: Es schallte bis hinüber zur Grenze. Verflucht, dachte er, und seine Angst davor, es nicht mehr auf die andere Seite zu schaffen, wuchs. Er war viel zu spät, es hatte alles zu lange gedauert heute Nacht. Er war dem Pfad gefolgt, der hinauf zur Grenze führte. Auf einer kleinen Lichtung blieb er stehen. Er hatte eigentlich keine Zeit, stehen zu bleiben, aber der eilige Marsch den Berg hinauf hatte ihm die Kraft geraubt und den Atem. Er musste einfach kurz haltmachen, Atem holen. Er stützte sich ab und sah sich um. In der Mitte der Lichtung war ein Baumstumpf, auf dem etwas lag. Er trat näher heran, immer noch schwer atmend. Es war eine dunkle Kiste, ein Kasten. Es war ein Geigenkasten. Der Eichelhäher krächzte wieder. Der Besucher auf der Lichtung erschrak erneut. War da noch jemand? Die Dämmerung, er musste weiter. Er brauchte nur noch einen kurzen Atemzug.

    Er war viel zu spät heute. Die Dämmerung brach schon an. Doch in der Stadt vorhin war es stockdunkel, kein Licht brannte dort. Er musste sich bis hinunter zu seinem Haus vorantasten. Das war ungewohnt. Obwohl er glaubte, jede Straße zu kennen, hatte er sich verlaufen. Denn die Stadt Preßnitz war fast völlig verlassen. Fast alle Einwohner waren vertrieben worden. Sein Haus war verschlossen, jemand hatte einen schweren Riegel an der Tür angebracht. Denn es war ja nicht mehr sein Haus. Sie hatten es ihm weggenommen, und er durfte nicht mehr zurück. Die Fenster waren vernagelt, sie waren gründlich gewesen. Er musste über den Hof, die Hintertür eintreten, nur nicht zu laut. Tschechische Grenzposten und Polizei konnten noch irgendwo sein. Drinnen war alles durcheinander, alle Schränke waren aufgebrochen, die Regale zerwühlt. Alles, was er im Schein einer Kerze sehen konnte, war Durcheinander. Er hatte eilig ein paar Sachen zusammengerafft, er wählte nicht aus. Eine teure Spitzendecke, Erbstück seiner Mutter, ein paar Bücher, das Jesusgemälde aus dem Flur, das seine Frau so liebte. Mehr fand er nicht wieder.

    Doch schon jetzt war es zu spät. Die Dämmerung brach an.

    Das Bündel mit Hausrat drückte schwer auf seinen Rücken. Der Besucher trat noch etwas näher heran und betrachtete den Geigenkasten. Es war ein sehr fein gearbeiteter Kasten und gleichzeitig stabil. Er war für eine teure Geige gemacht. Der Besucher öffnete ihn sorgfältig und schaute ins Innere. Das Innere war voller Blut. Es füllte den gesamten Boden des Kastens aus. Und in dem Blut lag ein Klumpen aus Fleisch. Es war ein Herz, ein menschliches Herz. Der Besucher tastete ungläubig. Das Herz war noch warm. Es hatte vor Kurzem noch geschlagen. Jetzt erst erschrak er.

    Er sprang entsetzt zurück. Er drehte sich panisch um. Fort hier! Nur fort! Er stolperte. Der Eichelhäher krächzte und verriet, dass noch jemand ganz in der Nähe war. Fort hier! Er musste über die Grenze, schnell, bevor es noch heller wurde und die Grenzposten ihn entdeckten. Er packte sein Bündel. Er zitterte vor Entsetzen. Doch er musste weiter. Fort! Und er musste das hier vergessen, schnell. Er durfte nicht mehr daran denken, dass hier mitten im Wald auf einem Baumstumpf ein Geigenkasten lag – mit einem Herzen darin, das man jemandem eben erst herausgeschnitten hatte.

    6. Berghaus

    »Ich komme wegen der Geige!«, sagt die junge Frau mit fester Stimme. Trotzdem versteht Jan Berghaus sie kaum.

    »Was für eine Geige?«, ruft er aufgebracht. Er hat keine Zeit für so was. Für Besuch.

    Es ist laut um ihn herum. Das ganze Haus dröhnt. Im Keller wird gebohrt. Es geht um die Wasserrohre, alles verschlissen. Muss raus. So hat es ein gelangweilter Bauleiter gesagt, auf die Uhr gesehen, weil noch eine andere Baustelle wartet. Seitdem bohren sie, schlagen die Wände auf. Überall ist Staub. Ein junger, dicker Lehrling mit feistem, schweißnassem Gesicht schleppt die alten, verrosteten Rohre mühsam aus dem Keller herauf. Er wirft sie achtlos in den Flur. Die wenigen altertümlichen Fliesen auf dem Boden, die noch nicht zerbrochen waren, zerbrechen. Berghaus dreht sich um, schreit in das schwitzende Gesicht, das keine Miene verzieht. Dann schreit er in das Gesicht desjenigen, der heute die Aufsicht hat. Der sieht ihn unbeeindruckt an und sagt, dass die alten Fliesen doch sowieso rausmüssen.

    »Nein, müssen sie nicht!«, schreit Berghaus. Der andere zuckt mit den Schultern und beißt in eine Käsestulle.

    Die junge Frau bleibt ungerührt stehen und setzt noch einmal an: »Wir waren verabredet«, sagt sie. »Martha«, sagt sie, »Martha König.«

    »Davon weiß ich nichts!«, ruft Berghaus aufgebracht. »Ich bin nicht verabredet. Sie sehen doch, was hier für ein Chaos herrscht.«

    Sie stehen im Türrahmen im Staub. Von unten setzt erneut ein lautes Bohren ein.

    Seit beinahe zwei Jahren ist das Haus eine Baustelle. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hat Berghaus etwas Unüberlegtes getan. Abstand zum Universitätsbetrieb gewinnen, zu den Eifrigen, zu den Teamplayern, die sich plötzlich dort vermehrten. Hierherziehen. Ein Magazin über die Geschichte der Region herausgeben. Ein Arbeitszimmer oben einrichten, mit Blick auf den Garten, in dem eine große Linde steht. So dachte er es sich. Und stattdessen? Das Haus ist eine einzige schmutzige Baustelle. Das Magazin hat nur ein einziges Mal eine größere Leserschaft erreicht, als es um den Leichenfund im »Toten Schacht« ging. Doch der Preis dafür war gewesen, dass ihn jemand hier im Haus überfallen hatte, dass er sich lächerlich gemacht hatte in der Stadt und am Ende zusammengebrochen und im Krankenhaus gelandet war.

    Jetzt ist Berghaus krankgeschrieben und wehrt die Versuche seiner Ärzte, daran etwas zu ändern, konsequent ab. Eine neue Ausgabe des »Gebirgsboten« gab es seitdem nicht mehr. Berghaus hat ein paar halbherzige Recherchen angestellt – besser gesagt: Sascha hat recherchiert und Texte entworfen. Er hat sie dann in ein paar Ordnern oben im Wohnzimmer abgelegt, dem einzigen Raum im Haus, in dem der Staub nicht millimeterhoch liegt. Sie müssten nur sortiert werden. Aber er verzettelt sich. Er sieht die Struktur nicht, die all diesen Unterlagen innewohnt.

    Strukturen sehen, das ist das, was Berghaus sein ganzes Leben lang getan hat. Strukturen in der Gesellschaft, das war sein Job als Professor. Darüber hat er irgendwann einmal promoviert, Muster, Zusammenhänge. »Systemtheorie« nennt sich das. Eine Lehre der Ordnung. Eine Lehre, die alles Menschliche und Individuelle am liebsten ganz hinwegdefinieren würde. Doch Berghaus hat schon lange nichts mehr publiziert. Bei diesem Fall um den »Toten Schacht« sind seine Strukturen gescheitert. Er ist einfach zu keinem Ergebnis gekommen. Die Muster versagten in einem Durcheinander von menschlichem Kram: Gefühlen wie Hass, Verlust oder sogar Liebe. Seitdem hat Berghaus nichts mehr geschrieben. Seitdem verstauben seine lustlos zusammengetragenen Akten. Seitdem lässt er seine Krankenscheine immer wieder verlängern und wehrt Versuche der Universität ab, ihn irgendwie wieder in den Lehrbetrieb zu integrieren.

    Stattdessen bewacht er ein Haus mit Gewölben aus dem 16. Jahrhundert und Keramikfliesen aus dem späten 19. Jahrhundert, die gerade zerschlagen werden. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hat Berghaus etwas Unüberlegtes getan. Dieses Haus zu kaufen war der Ursprung von all dem Chaos. Das Dach ist undicht, der Putz bröckelt, die Wände sind feucht, die Fenster sind undicht, die Wasserleitungen verstopft.

    »Abreißen und neu bauen«, sagt der Bauleiter ungerührt und beißt noch mal in seine Käsestulle. Das Haus ist ein einziges Chaos.

    Eine gelbe Katze schlüpft von draußen ins Haus, Lola aus der Hausnummer fünf, das weiß Berghaus inzwischen. Der Lärm scheint sie nicht zu stören. Sie

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