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Blick auf Legnica in Polen.
exklusiv

Schäden in Milliardenhöhe Steuerdiebstahl mit Strohleuten

Stand: 30.07.2024 05:05 Uhr

Kriminelle Banden betrügen den Staat jährlich um Milliarden Euro Steuergelder. Nach rbb-Recherchen benutzen sie dafür suchtkranke und obdachlose Menschen aus Osteuropa als sogenannte Strohleute - und ein schwer durchschaubares Firmengeflecht.

Von Adrian Bartocha und Jan Wiese, RBB

Es ist dunkel, es riecht nach Schimmel, die Gänge des Hauses sind verstellt mit Sperrmüll. Tomek Z. öffnet die Tür - Oberkörper frei, Badelatschen. Der 60-jährige Mann aus dem polnischen Legnica ist Geschäftsführer von 13 Unternehmen in ganz Deutschland. Darunter ein Speditionsunternehmen mit einer Geschäftsanschrift am Potsdamer Platz in Berlin-Mitte. Doch davon weiß er nichts.

Woran er sich erinnern könne, so sagt er im rbb-Interview, sei, dass er mal vor einem Einkaufsladen angesprochen wurde. Damals habe er kein Geld zum Saufen gehabt. "Aber trinken muss man ja, Hauptsache jemand gibt was aus", erzählt er weiter. Also sei er "dann in das Auto eingestiegen und ist nach Deutschland gefahren".

Tomek Z. Strohman

Tomek Z. aus dem polnischen Legnica ist "Geschäftsführer" von 13 Unternehmen.

In seiner Heimatstadt Legnica - vier Autostunden von Berlin entfernt - sind noch elf weitere Geschäftsführer deutscher GmbHs gemeldet. Sie führen von hier aus offiziell rund 80 Unternehmen in ganz Deutschland, viele davon in Berlin. Darunter Firmen, die sich laut Auszügen aus dem Handelsregister mit Auto-, Strom- und Immobilienhandel beschäftigen, aber auch Bau-, Speditions- und Sicherheitsunternehmen sowie Export-Import- Firmen. Doch einige der polnischen Geschäftsführer sind nach Recherchen des rbb längst tot, andere als vermisst gemeldet. Wieder andere sind alkoholkrank und obdachlos. Mit den tatsächlichen Geschäften der Unternehmen, für die sie verantwortlich sind, hatten sie nie etwas zu tun. Es sind sogenannte Strohleute, die - ahnungslos - nach Deutschland vermittelt wurden.

Tausende Strohleute in Deutschland

Die polnische Stadt Legnica ist nicht der einzige Ort, in dem Strohleute für Deutschland rekrutiert werden. "Diese Menschen werden busweise nach Westeuropa gebracht", sagt Ralf Simon, leitender Ermittler in der Abteilung für Organisierte Kriminalität des Zollkriminalamts (ZKA) in Köln. In fast jedem großen Ermittlungsverfahren würden Strohleute aus Polen, Rumänien oder Bulgarien auftauchen. "Wir reden von mehreren Tausend Strohmännern und Strohfirmen, die eingesetzt werden", so Simon weiter in einem Interview mit rbb24 Recherche. Deren Einsatz diene "immer dazu, Sachen zu verschleiern, Geldflüsse zu verschleiern, Gewinne zu verschleiern und die Ermittlungen zu erschweren".

Wenn die Strohleute aus dem EU-Ausland kommen, funktioniert diese Verschleierung besonders gut, denn deutsche Ermittler können nicht einfach nach Polen oder Bulgarien fahren, um mit einem Strohmann zu sprechen. Sie müssen komplizierte Regeln einhalten, Amtshilfeverfahren einleiten, Dolmetscher beauftragen. Ein langwieriger Prozess, der den kriminellen Hinterleuten Zeit verschafft.

Auch deshalb habe sich nach Erkenntnissen des Zollkriminalamts in Deutschland ein regelrechter "Markt" etabliert, auf dem "professionelle Dienstleister" Strohleute anbieten. Alle in Deutschland relevanten kriminellen Organisationen - ob "Mafia, Clans, Motorradgangs" - würden nach Erkenntnissen der Ermittler darauf zurückgreifen.

Professionelle Vermittler und Notare

Damit die Strohleute aus dem polnischen Legnica offiziell Geschäftsführer deutscher Unternehmen werden konnten, mussten sie zuerst vor einem deutschen Notar erscheinen: Denn ohne Beurkundung beim Notar kein Geschäftsführerwechsel. Die Notare müssen die Ausweise der neuen Geschäftsführer kontrollieren, überprüfen Unterschriften und sollen einschätzen, ob die Menschen, die vor ihnen sitzen, überhaupt geschäftsfähig sind.

Ein Reporterteam des rbb hat über Monate Hunderte Notar-Verträge in deutschen Handelsregistern eingesehen. Bei rund 70 Verträgen, alle im Namen der Strohleute aus Legnica geschlossen, war ein und derselbe Dolmetscher zugegen. Auch er stammt aus Legnica. Nach rbb-Recherchen handelt es sich bei dem angeblichen Dolmetscher um einen in Polen vorbestraften Kriminellen. Er selbst soll eine halbe Million Steuerschulden in Deutschland angehäuft haben.

Auch Tomek Z. aus Legnica ist diesem "Dolmetscher" mehrfach begegnet: Bei einem Notar in der Nähe von Hamburg, wie die Auswertung der Notarverträge ergibt. Doch Tomek Z. erinnert sich nicht daran und zeigt sich im Gespräch mit dem rbb überrascht, dass der Notar die Verträge beurkundet haben soll, in denen er zum Geschäftsführer gemacht wurde. "So ein Notar ist doch eine Amtsperson, oder?", fragt Tomek Z. das rbb-Reporterteam. "Wissen Sie - Ich war ja die ganze Zeit besoffen und dieser Notar, der hat dem zugestimmt?!" Der Notar, der die Verträge beurkundet hatte, war für ein Interview nicht bereit und hat den Fragenkatalog des rbb unbeantwortet gelassen.

Das System

"Die Notare - auffällig ist, es sind immer dieselben - die sind ein Teil des Systems. Ohne sie funktioniert das ganze System nicht", sagt ein Steuerfahnder aus Baden-Württemberg, der nicht namentlich genannt werden darf. Der Fahnder ermittelt in großen Steuerbetrugsfällen, zunehmend auch gegen die Organisierte Kriminalität. Mit Strohleuten aus Osteuropa hat er fast täglich zu tun.

Das "System", von dem der Fahnder spricht, sind komplexe und nur schwer durchschaubare Firmengeflechte. Offiziell werden diese Geflechte von Geschäftsführern aus Osteuropa geleitet. Ihr einziger Zweck sei, so der Fahnder, "Menschen auszubeuten und dem Fiskus zu schaden". Den kriminellen Hinterleuten, deren Identität dank der Strohleute verschleiert wird, ermöglichten diese Firmengeflechte schwere Straftaten wie Geldwäsche, Schmuggel, Sozialversicherungs- und millionenschweren Steuerbetrug.

Wenn der Betrug auffliegt, dann wird als erstes gegen die verantwortlichen Geschäftsführer, also die Strohleute ermittelt. Gegen die involvierten Notare dagegen, so der Steuerfahnder, könne man in Deutschland kaum vorgehen: "Mir ist es auch ein Dorn im Auge, aber die müssen uns nichts sagen, so ähnlich wie beim Arzt. Uns sind da gesetzlich die Hände gebunden."

Wirtschaftskriminalität in großem Stil

Für Annegret Ritter-Victor von der Europäischen Staatsanwaltschaft ist es offensichtlich, dass "organisierte Täterstrukturen immer mehr den Bereich der Wirtschaftskriminalität für sich entdecken". Erst vor Kurzem ist es der erfahrenen Staatsanwältin in einem aufwendigen Verfahren in Berlin gelungen, die Organisatoren eines Steuerbetrugs mit Luxusautos und Corona-Masken hinter Gitter zu bringen. Der Schaden: 50 Millionen Euro. Auch hier spielten ein deutscher Notar, ein komplexes Firmengeflecht und ahnungslose Strohleute aus Polen eine zentrale Rolle. Den Gesamtschaden solcher Steuerdelikte in der EU beziffert ihr Kollege, der Staatsanwalt Tobias Lübbert, sogar auf 50-60 Milliarden Euro jährlich.

Es sind solche Zahlen, die 2021 zahlreiche EU-Staaten zur Gründung der Europäischen Staatsanwaltschaft motiviert haben. Denn sie macht grenzüberschreitende Ermittlungen deutlich einfacher, zumindest wenn es um internationalen Steuerbetrug geht. Annegret Ritter-Victor und Tobias Lübbert gehören zu einem Team von Staatsanwälten, das Deutschland in diese neue Institution entsendet hat. Ohne die bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit seien solche großen Betrugssysteme kaum zu ermitteln, sagen die beiden. Sie begrüßen es, dass kürzlich auch Polen der Europäischen Staatsanwaltschaft beigetreten ist. Denn ohne die Strohleute aus Polen, die oft ahnungslos ihre Namen hergeben müssen, wäre der Steuerbetrug in Deutschland nicht möglich.

Zum System der Strohmann-Rekrutierung zeigt das Erste am 30.7.2024 um 22:50 Uhr die Dokumentation "Das Strohmann-Kartell. Dienstleister für die Mafia" - oder schon jetzt in der ARD-Mediathek abrufbar.