Zahlen des Auswärtigen Amts Noch immer Deutsche im Gazastreifen
Rund 100 Menschen, die einen deutschen Pass haben oder deren Angehörige Deutsche sind, wollen aus Gaza ausreisen, erfuhr der NDR vom Auswärtigen Amt. Bis zu neun Deutsche könnten seit Kriegsbeginn ums Leben gekommen sein.
Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes empfiehlt die Bundesregierung den Deutschen, die sich noch im Gazastreifen aufhalten, aus dem Kriegsgebiet auszureisen. Doch nicht alle, die das Gebiet verlassen wollen, konnten das bisher auch tun.
Bislang hatte das Auswärtige Amt nicht konkret benannt, wie viele Deutsche noch im Gazastreifen sind. Es sprach lediglich von einer "niedrigen dreistelligen Zahl". Nun heißt es auf Anfrage des NDR aus dem Auswärtigen Amt, dass sich offenbar insgesamt noch rund 200 Menschen mit Deutschlandbezug im Gazastreifen aufhalten könnten, also deutsche Staatsbürger und Familienangehörige von Deutschen. Aus dem Ministerium heißt es zudem, man stehe mit rund 100 Personen in Kontakt, die aus Gaza ausreisen wollten.
Die konkreten Zahlen ergeben sich aus der sogenannten Elektronischen Erfassung von Deutschen im Ausland, kurz ELEFAND. In die Liste können sich Deutsche während Auslandsaufenthalten freiwillig eintragen. Sie soll es den jeweiligen deutschen Auslandsvertretungen ermöglichen, sich im Ernstfall um ihre Staatsbürger zu kümmern.
Genaue Zahlen schwierig
Die ELEFAND-Liste birgt jedoch Unsicherheiten: So kann Regierungskreisen zufolge nicht festgestellt werden, ob sich alle Deutschen in Gaza in das System eintragen. Genauso sei denkbar, dass sich Einzelpersonen oder Familien an einem anderen Ort befinden oder bereits aus dem Gebiet geflohen sind, ohne die Regierung darüber informiert zu haben.
Auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Nicole Gohlke an die Bundesregierung, die dem NDR exklusiv vorliegt, bestätigte das Auswärtige Amt, dass sich noch "bis zu 57 deutsche Staatsangehörige" im Gazastreifen aufhalten. Bei den restlichen bis zu 150 Menschen handelt es sich Regierungskreisen zufolge um Familienangehörige. Bei ihnen würden die jeweiligen Nationalitäten nicht im System erfasst.
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass die Zahl der Deutschen im Gazastreifen seit Kriegsbeginn im Oktober gesunken sei. Mit Unterstützung der Bundesregierung seien seit November 2023 mehrere Hundert Deutsche inklusive ihrer Familienangehörigen aus Gaza ausgereist. Zudem hätten mehr als 20 Personen das Gebiet verlassen, die zwar keinen deutschen Pass, aber einen gültigen deutschen Daueraufenthaltstitel besäßen. Für die verbleibenden Deutschen wolle sich das Auswärtige Amt intensiv um eine Ausreise bemühen.
Über den Landweg konnten Menschen den Gazastreifen seit Kriegsbeginn aber nur in das benachbarte Ägypten im Süden verlassen - und auch das war bereits schwierig. Seitdem die israelische Armee die Grenzübergänge Anfang Mai dann vollständig unter Kontrolle nahm und schloss, besteht diese Möglichkeit nicht mehr.
Bis zu neun tote Deutsche
Der Krieg forderte wohl auch unter Deutschen im Gazastreifen Opfer. Die Bundesregierung hat NDR-Recherchen zufolge Hinweise, dass seit Beginn der Gefechte bis zu neun Deutsche vor Ort ums Leben gekommen sind. Bisher wurde aus Medienberichten nur bekannt, dass Ende Oktober 2023 sechs Mitglieder einer deutsch-palästinensischen Familie bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen sein sollen.
Den Recherchen zufolge soll zudem ein deutscher Staatsbürger nach Kriegsbeginn durch einen medizinischen Vorfall in der Grenzregion gestorben sein. In zwei weiteren Fällen gibt es Hinweise auf mögliche Todesfälle von Deutschen, deren Details allerdings bislang unklar sein sollen. Wegen der anhaltenden Kriegssituation sei es für die Bundesregierung derzeit unmöglich, Informationen über mögliche Opfer vor Ort zu überprüfen.
Hamas-Geiseln nicht eingerechnet
In die derzeit vorliegenden Zahlen sind die von der Hamas verschleppten Geiseln nicht mit einberechnet. Auch unter ihnen sollen sich deutsche Staatsbürger befinden: Das Auswärtige Amt geht von einer "niedrigen zweistelligen Zahl von Personen mit Deutschlandbezug" aus. Insgesamt hält die Hamas seit ihrem Angriff auf Israel im vergangenen Oktober bis heute offenbar noch mehr als 100 Geiseln fest.
Das von der Hamas kontrollierte palästinensische Gesundheitsministerium gab jüngst bekannt, dass seit Kriegsbeginn mindestens 39.583 Menschen im Gazastreifen getötet worden seien. Die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation WHO beriefen sich in den vergangenen Monaten ebenfalls auf die Zahlen der Behörde - unabhängig nachprüfen ließen sich die Werte aber noch nicht. Die israelische Regierung selbst gab im Mai an, sie habe in Gaza 14.000 "Kämpfer" und 16.000 Zivilisten getötet.
Kritik aus der Opposition
Dass offenbar weder die Bundesregierung noch das Auswärtiges Amt genau wüssten, wie viele deutsche Staatsangehörige sich aktuell in Gaza befinden, und wie viele von ihnen seit dem 7. Oktober getötet wurden, bezeichnet die Linken-Abgeordnete Nicole Gohlke als "skandalös".
Die Bundesregierung solle sich stärker für einen Waffenstillstand einsetzen, fordert Gohlke. Nur so könne "auch für die Familien in Deutschland endlich Gewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen geschaffen und ein weiteres Sterben verhindert werden".