Austriaca
Cahiers universitaires dʼinformation sur lʼAutriche
87 | 2018
Finis Austriae : la chute de l’aigle bicéphale
Wovon man nicht sprechen kann
Der Große Krieg und die Intellektuellen – das Beispiel Wien
Ce dont on ne peut parler. La Grande Guerre et les intellectuels : l’exemple de
Vienne
What You Can’t Talk About. The Great War and the Intellectuals: the Example of
Vienna
Wolfgang Maderthaner
Édition électronique
URL : http://journals.openedition.org/austriaca/311
DOI : 10.4000/austriaca.311
ISSN : 2729-0603
Éditeur
Presses universitaires de Rouen et du Havre
Édition imprimée
Date de publication : 1 décembre 2018
Pagination : 41-60
ISBN : 979-10-240-1354-1
ISSN : 0396-4590
Référence électronique
Wolfgang Maderthaner, „Wovon man nicht sprechen kann“, Austriaca [Online], 87 | 2018, Online
erschienen am: 01 März 2020, abgerufen am 28 Januar 2021. URL: http://journals.openedition.org/
austriaca/311 ; DOI: https://doi.org/10.4000/austriaca.311
Austriaca. Cahiers universitaires dʼinformation sur lʼAutriche
Wolfgang Maderthaner
Österreichisches Staatsarchiv, Wien
Wovon man nicht sprechen kann
D G K I –
B W
Machismus 1: Otto Bauer
Otto Bauer, Sohn eines bedeutenden liberalen Textilindustriellen,
hatte Staatswissenschaften und Nationalökonomie studiert, u. a. bei
Eugen von Böhm-Bawerk, an dessen legendärem Privatseminar er –
neben anderen so prominenten Teilnehmern wie Rudolf Hilferding
und Otto Neurath, Josef Schumpeter und Ludwig von Mises – regelmäßig teilnahm. An der Seite seines Mentors Victor Adler startete
er eine kometenhafte politische Karriere und stieg mit einer epochalen Studie zur Nationalitätenproblematik binnen kurzem in die erste
Reihe der Theoretiker der sozialistischen Internationale auf. Seit 1909
Leutnant der Reserve, wurde er an jenem 28. Juli 1914 im Zuge der
allgemeinen Mobilisierung zur aktiven Dienstleistung eingezogen.1
Bauer wurde an die Ostfront beordert, wo er unter anderem Ende
August in der schweren zweiten Schlacht um Lemberg, bei Grodek
– makaberer Vorschein und erste konkrete Manifestation der Massenabschlachtungen des industrialisierten Vernichtungskrieges zugleich
– an vorderster Front zum Einsatz kommt. Eine erste, an Victor Adler
gerichtete Feldpostkorrespondenzkarte ist mit 22. Oktober datiert.2
Er habe sich „an die Entbehrungen, Gefahren und an die Romantik
des Krieges“ einigermaßen gewöhnt, der Gruß erreiche Adler aus
einem lediglich 800 Schritt von den feindlichen Stellungen entfernten Schützengraben, in dem man seit nunmehr sechs Tagen ausharre.
Militärisch seien einige „ganz nette Erfolge“ zu verzeichnen, „mit
denen, glaube ich, unser General zufrieden gewesen wäre“; letzteres
1. Zu Bauers Militärzeit siehe Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881-1938),
Wien/Köln/Weimar, Böhlau, 2011, S. 75 ff.
2. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), Adler Archiv, M 84-7.
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eine Anspielung auf Friedrich Engels und dessen in der Internationale
allgemein geschätzten hohen militärischen Sachverstand.3 Lediglich
zwei Tage später vermerkt Bauer auf einer weiteren, an Adler gerichteten Korrespondenzkarte:
Ich bin jetzt den neunten Tag ununterbrochen im Gefecht, aber trotz
Schrapnells und Granaten, Kälte und Regen, Ruhr und Cholera vollständig
unversehrt. Man gewöhnt sich an alles! Hoffentlich kommt die Zeit zum
Erzählen, – es gibt hier viel, was erzählt werden muß.4
Am 8. Dezember 1914 wird Bauer in Anerkennung seines tapferen Verhaltens im Gefecht bei Szysakj am 4. September, wo er „durch
mutvolles Eintreten den Rest der Komp. von Vernichtung bewahrt u.
in besond. geschickter Führung den Anschluß an das Baon gefunden“
hatte, mit dem Militärdienstkreuz 3. Klasse ausgezeichnet.5 Zum Zeitpunkt der Verleihung ist er in den Abwehrkämpfen gegen die nördlich
der Szreniawa „einer Dampfwalze gleich“ vordringende 3. Russische
Armee bereits in Kriegsgefangenschaft geraten – als einer von letztlich
54 146 Offizieren der habsburgischen Streitmacht. Wie sein militärischer Vorgesetzter handschriftlich notierte, war Bauer „mit übergroßer Schneidigkeit“ gegen die russischen Stellungen vorgegangen: „Ein
sehr braver Offizier“.6 In einem großen Gefangenentransport ging es in
zehn Tage lang währenden Fußmärschen nach Nova Alexandria und
von dort per Bahn über Lublin und Minsk nach Smolensk, von wo
aus Bauer seine Frau Helene in einem ausführlichen Schreiben über
die genaueren Umstände seiner Gefangennahme in Kenntnis setzte.7
Physisch sei er weitgehend in Ordnung, psychisch jedoch, „nach der
gewaltigen stetigen Nervenanstrengung der letzten Monate“, durchaus
angeschlagen.
3. Victor Adler hatte mit zunehmender Vertrautheit seine späteren Briefe an Friedrich Engels
stets mit der Grußformel „Lieber General“ eingeleitet. Vgl. Victor Adler – Friedrich Engels,
Briefwechsel, hrsg. von Gerd Callesen/Wolfgang Maderthaner, Berlin, Akademie Verlag,
2011, xiii.
4. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Adler Archiv, M 84-8.
5. Ernst Hanisch, Illusionist, op. cit., S. 84.
6. VGA, Teilnachlass Otto Bauer, M1.
7. Der im Nachlass Julius Braunthal im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam verwahrte Brief ist abgedruckt in: Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 9, Wien, Europaverlag, 1980, S. 1035 ff.
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Auch trägt man es, wenn man drei Monate im Kriege war und zweiundvierzig
Tage im Gefecht gestanden ist, nicht leicht, in den Händen des Feindes zu
sein, von Soldaten mit Gewehr und Bajonett eskortiert und vom Publikum als
erbeutete Trophäe begafft zu werden.8
Anfang Jänner 1915 schließlich wird, nach weiteren, an die körperlichen Leistungsgrenzen rührenden Fußmärschen und Bahntransporten, das sibirische, 28 000 Mann fassende und nördlich des Baikalsees
gelegene Militärlager Berezovka erreicht, wo er bis in den Herbst dieses Jahres interniert bleiben sollte.
Es folgt die Verlegung in das an der Seidenstraße, nächst der mongolischen Grenze gelegene Kriegsgefangenenlager Troizkosawsk, wo
Bauer eine bereits in Berezovka begonnene theoretische Arbeit fertig
stellt – „in solcher Zeit bitterer Zwang“, wie er Ende März dieses Jahres
an Karl Seitz geschrieben hatte.9 Ausgeführt als reine Gedächtnisleistung, ohne die Zuhilfenahme jeglicher Primär- oder Sekundärliteratur, ist Das Weltbild des Kapitalismus ein Meisterwerk, das in anschaulicher Weise Bauers so souverän gehandhabte Methode demonstriert,
soziale Tatbestände in ihrer Korrespondenz zur kulturellen Semantik,
und kulturelle Praktiken als Artikulation des Sozialen zu untersuchen.10 Es ist der Versuch der Konzeption einer zeitgemäß reformulierten marxistischen Erkenntnistheorie, und es ist Bauers definitive
Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Krieges, in dem er das
letzte Mittel der kapitalistischen Konkurrenz, die ultima ratio der
kapitalistischen Produktionsweise schlechthin erblickte.11 Der Versuch einer Wirtschafts- und Vergesellschaftungsform, die allerdings
seit der im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen errungenen freien
Konkurrenz eine entscheidende Transformation durchlaufen hatte:
Mit dem Erstarken und der neuen Qualität eines tendenziell global operierenden, zunehmend dominanten Finanzkapitals (und den
daran eng gekoppelten jeweiligen nationalen Imperialismen), mit der
Entwicklung des monopolistischen Trust- und Syndikatswesens, mit
Aktiengesellschaften und Kartellen, Genossenschaften und Gewerk8. Ebd., S. 1036.
9. Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 9, op. cit., S. 1037 f.
10. Als Auszug abgedruckt in: Otto Jennssen (Hg.), Der lebendige Marxismus. Festgabe zum
70. Geburtstag von Karl Kautsky, Jena, Thüringer Verlagsanstalt und Druckerei, 1924,
S. 407-464.
11. Heinrich Weber (Pseud. für Otto Bauer), „Der Sozialismus und der Krieg“, in Der Kampf,
Jg. 6/Nr. 3 (1. Dezember 1912), S. 97-106.
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schaften als zentralen, den Markt bestimmenden Akteuren hatte sich
ein organisierter, kollektivistischer Kapitalismus entwickelt. „Nicht
mehr freie Konkurrenz, sondern Organisation ist die Parole des Zeitalters.“12 Und mit diesem Übergang, so Bauers zentrale Argumentation,
war ein Prozess der Selbstauflösung der klassischen Weltanschauungen des älteren, individualistischen Kapitalismus einhergegangen,
eine Zersetzung des mit dem politischen wie ökonomischen Liberalismus eng verflochtenen wissenschaftlichen Materialismus, und damit
der gesamten mechanistischen Naturauffassung und aller auf sie
gründenden philosophischen Systeme. Der organisierte Kapitalismus
überwindet Individualismus wie Universalismus gleichermaßen, hebt
den Gegensatz auf zwischen Kausalität und Teleologie. Er zerstört die
Selbstherrlichkeit des nunmehr ausschließlich in und durch die Organisation wirkenden Individuums. Er begreift den Staat als das Ergebnis des Kräftespiels dieser Individuen und nicht länger als eine über
diesen stehende Universalität. Er setzt die großen Ideensysteme des
frühen, gegen die Feudalgewalten aufbegehrenden Bürgertums, die
Denk- und Ideenwelten der Epoche des individualistischen Besitzkapitalismus außer Geltung: die gesetzgebende menschliche Gattungsvernunft Kants, den Weltgeist Hegels.
Vollzogen ist die Auflösung der mechanistischen Naturauffassung
in der modernen Erkenntnistheorie, im skeptischen Positivismus
und Relativismus eines Avenarius, Poincaré, James und Mach, deren
Weltbild von nichts als Elementen-Komplexen, von stets wechselnden, nirgends scharf voneinander geschiedenen, überall ineinander
übergehenden Wahrnehmungsbündelungen bestimmt ist – darin
der impressionistischen Malerei gleich, mit ihrer gegeneinander verschwimmenden, sich überlagernden, vage konturierten Linienführung und Farbgebung. Die Hypothesen, aus denen die Naturwissenschaften ihre experimentell überprüfbaren Naturgesetze deduzieren
– dem Bürgertum der Aufklärung Weltanschauungsinstrument in
seinem Kampf gegen den Feudalismus –, sind für den modernen Positivismus lediglich mehr in ihrer Funktion als Hilfsmittel zur Ordnung
und rechnerischen Verknüpfung von Erfahrungstatsachen relevant.
Das Weltbild einer Zeit, der die alten großen Fragen nach dem Rechte der
Persönlichkeit und der Menschheit, nach dem Wesen der Welt und der Gottheit
12. Otto Bauer, Weltbild des Kapitalismus, op. cit., S. 452.
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nichts mehr bedeuten, deren Politik nur mehr ökonomische Gruppeninteressen
durchsetzen, deren Wissenschaft nur ökonomisch ordnen will, was wir erfahren,
und deren Kunst nur wiedergeben, was wir wahrnehmen.13
Es ist nahe liegend, dass Bauer in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Werk des Physikers, Physiologen und Erkenntnistheoretikers Ernst Mach, Professor für Philosophie, Geschichte und Theorie
der induktiven Wissenschaften an der Universität Wien, Bezug nimmt.
Mach kritisierte den Newtonschen Massebegriff als metaphysisch und
negierte die apriorisch-synthetischen Kategorien der absoluten Bewegung, des absoluten Raums und der absoluten Zeit. Mit seiner stark
von Avenarius inspirierten Erkenntnistheorie bekämpfte er jegliche
idealistische, insbesondere kantianische Tradition in der Philosophie:
Synthetische Urteile a priori, traditionelle Kausal- und Gesetzesbegriffe, transzendierende Wesenheiten und metaphysische Spekulation
wurden verworfen.14 Machs Destruktion der klassischen Mechanik
machte ihn zu einer Leitfigur und Bezugsperson einer ganzen, revolutionären Wissenschaftlergeneration des neuen Jahrhunderts, sein
sensualistisch fundiertes Prinzip der Relativität wurde zu einem symbolischen Modell für den wissenschaftlichen und politischen Geist der
Generation Albert Einsteins und Sigmund Freuds.15 Seine Antimetaphysik und sein Werterelativismus finden sich im Frühwerk Ludwig
13. Ebd., S. 458.
14. Manfred Geier, Der Wiener Kreis, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1998, S. 64 ff.
15. Einer strengen Werteneutralität im Sinne des empirischen Positivismus folgend, bot der
sogenannte Empiriokritizismus eine spezifische Deutung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
an, die konsequenterweise die Auflösung jedes substanziellen Ich-Begriffs, die Dekonstruktion des Selbst implizierte. Gegenüber Hermann Bahr hat sich Mach 1908 folgendermaßen geäußert: „Wenn ich sage: ’Das Ich ist unrettbar’, so meine ich damit, daß es nur in
der Einfühlung des Menschen in alle Dinge, in der Erscheinung besteht, daß dieses Ich sich
auflöst in allem, was fühlbar, hörbar, sichtbar, tastbar ist. Alles ist flüchtig, eine substanzlose
Welt, die nur aus Farben, Konturen, Tönen besteht. In diesem Spiel der Phänomene kristallisiert, was wir unser ’Ich’ nennen – vom Augenblick der Geburt bis zum Tod wechselt
es ohne Ruhe.“ (zit. u. a. in Walter Prigge, Urbanität und Intellektualität im 20. Jahrhundert.
Wien 1900 – Frankfurt 1930 – Paris 1960, Frankfurt/New York, Campus, 1996, S. 25.) Die
Auflösung einer kontinuierlichen Ich-Identität, die durchgehende Betonung der Relativität, der Flüchtigkeit, des ständigen Wechsels kann als das eigentliche Charakteristikum, als
die grundlegende Befindlichkeit des geistigen Wien im Fin de Siècle identifiziert werden.
Eine Befindlichkeit, die in einer veritablen Sinnkrise kulminieren sollte. In der Interpretation durch den ästhetisierenden, anti-naturalistischen Literatenzirkel des Jungen Wien
um Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Peter Altenberg nimmt die
Krise des liberalen Individuums schließlich die besondere Form der philosophischen Zerstörung des Subjekts an.
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Wittgensteins wieder, Robert Musil dissertierte über seinen fundamentalen Beitrag zur Debatte um die Grundlagenkrise der Wissenschaften.
Mach durchdrang radikale politische Milieus und beeinflusste, über
Lenins 1904 verfasste Kritik am Empiriokritizismus, nachhaltig und
folgemächtig die Fraktionskämpfe in der russischen Sozialdemokratie.
Fritz Adler, führender Exponent der um den Verein Karl Marx gruppierten österreichischen Kriegslinken, sah in seiner Auffassung von
der pragmatisch-erfahrungsgebundenen Entwicklung des Denkens,
im ’Machismus’ überhaupt die der Marxschen Geschichtsauffassung
entsprechende Naturauffassung.
Auch Bauer ging davon aus, dass es erst die im modernen Relativismus vorgenommene Dekonstruktion des Newtonschen Raum- und
Zeitbegriffs ermöglicht habe, Kants apriorische Anschauungsformen
als das zu erkennen, was sie eigentlich sind: letztlich historische Kategorien in Korrespondenz zum Erkenntnismodell einer mittlerweile überwundenen Entwicklungsphase der Naturwissenschaften. So besehen
erscheine die gesamte mechanistische Naturauffassung – insbesondere
aber der Materialismus als deren avancierteste, für unanfechtbar gehaltene Entwicklungsstufe – als nichts anderes denn ein letztes dogmatisches System des Kapitalismus, als die „Projektion der kapitalistischen
Konkurrenz in das Weltall“.16 Eine aktuelle, den bevorstehenden dramatischen Umwälzungen genügende, ja sie befördernde Erkenntnistheorie habe sich demgemäß vom älteren historischen Materialismus
Marxscher Provenienz loszulösen und nicht etwa, wie es Fritz Adler
anstrebte, diesen mit dem Positivismus Machs zu verknüpfen. Sie
müsse vielmehr über beide Systeme hinausweisen, und:
[…] im einzelnen das Verfahren aufzeigen, den geistigen Prozeß, mittels dessen
die Menschen nach dem Vorbilde ihrer eigenen Arbeit, nach dem Ebenbilde
der Gesellschaftsordnung, in der sie leben, oder der Gesellschaftsordnung,
nach der sie ringen, nach den Bedürfnissen ihrer wirtschaftlichen und sozialen,
politischen und nationalen Kämpfe ihr Weltbild schaffen.17
An diesem, ihrem wohl spannendsten Punkt, da sich die konkrete
Perspektive einer radikalen Reformulierung des klassischen historisch-materialistischen Paradigmas auftut, bricht Bauers in methodi-
16. Otto Bauer, Weltbild des Kapitalismus, op. cit., S. 462.
17. Ebd., S. 464.
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scher Hinsicht vielleicht innovativste Studie abrupt und ohne weiteren Kommentar ab. Es war ihm offensichtlich darum zu tun gewesen,
ein in letzter Instanz Politik begründendes und Politik anleitendes
theoretisches Instrumentarium zu entwickeln, ein auf die kommenden revolutionären Umbrüche anwendbares Theoriegerüst; denn ein
europäischer Krieg dieser Dimension und vollkommen neuer Qualität werde, ja müsse notwendig und in letzter Konsequenz in einen
erneuten Zyklus sozialer und nationaler Revolutionen umschlagen. Er
sei, wie er Victor Adler schon im Oktober 1914 in wenig verklausulierter Mitteilung wissen ließ, durch Karls (Seitz) Berichte „über unser
Geschäft“ hinreichend im Bilde und hoffe auf „Hochkonjunktur nach
dem Krieg“. Und hatten nicht, wie in einem anlässlich der Balkankrise
verfassten Bauerschen Grundsatzartikel penibel aufgelistet, alle kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngeren Geschichte stets entsprechende Erschütterungen nach sich gezogen? Um wie viel gewaltiger
erst würden und müssten die politischen wie sozialen Folgewirkungen
einer der Logik und dem Mechanismus des komplexen Bündnissystems gemäß zum Weltkrieg erweiterten Konfrontation der europäischen Großmächte sein!18
Die Nachrichten von der russischen Februarrevolution des Jahres 1917 und dem Ende der Zarenherrschaft erreichen Bauer dann im
Lager Berezovka, in das er nach eineinhalb Jahren rückverlegt worden
war.19 Im Juli befiehlt das Kriegsministerium – offenbar nach Interventionen des führenden schwedischen Sozialdemokraten Hjalmar
Branting wie des österreichischen Außenamts – seine Überstellung
nach Petrograd, wo er in engen Kontakt mit prominenten Exponenten
des linken Flügels der Menschewiki (dem Ehepaar Theodor und Lydia
Dan sowie Julius Martow) tritt und eine gewisse, wenn auch durch
permanente geheimdienstliche Überwachung eingeschränkte Bewegungsfreiheit genießt. Das Vorfeld der Oktoberrevolution durchlebt er
unmittelbar, hautnah, am Puls der Zeit; dem forcierten Putschismus
der Bolschewiki, ihrer „Politik der gefährlichsten Abenteuer“ begegnet
er mit großer Skepsis. Die Märzereignisse (i. e. „Februarrevolution“)
hätten im russischen Proletariat eine Überschätzung der eigenen Kraft
bewirkt, und eben dies, so wird er Karl Kautsky eine Woche nach sei18. Heinrich Weber (Pseud. für Otto Bauer) „Der Sozialismus und der Krieg“. in Der Kampf,
Jg. 6/Nr. 3 (1. Dezember 1912), S. 97-106.
19. Dazu und im Folgenden, falls nicht anders ausgewiesen: Ernst Hanisch, Illusionist, op. cit.,
S. 86 ff.
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ner Rückkunft nach Wien mitteilen, finde seinen getreuen Ausdruck
in der Taktik Lenins und Trotzkis. „Der Aberglaube der Jakobiner an
die Allmacht der Guillotine ist in Petersburg wiedererstanden als Aberglaube an die Allmacht der Maschinengewehre.“20
Die vorzeitige Rückkehr war im Rahmen eines erweiterten Invalidenaustausches zwischen Russland und den Mittelmächten arrangiert
worden; Bauer selbst vermutete, die russische Regierung habe ihn
bewusst außer Landes sehen wollen, umso mehr als verschiedentlich
in der Presse bereits Spionagevorwürfe aufgetaucht waren. Im Oktober 1917 wird der Oberleutnant Dr. Otto Bauer als Nationalökonom
der Kriegswirtschaftlichen Abteilung des Wiener Kriegsministeriums
zugeteilt, im März 1918 für seine Tätigkeit in der Arbeiter-Zeitung beurlaubt, Anfang August auf unbestimmte Zeit vom Dienst entbunden.
Ein gegen ihn angestrengtes Rechtfertigungsverfahren vor dem Offiziersehrenrat wird Ende August mit der Begründung niedergeschlagen,
dass er ein unleugbarer Gegner der bolschewistischen Tendenz sei und
ihm die Vorbereitung der Aufstände der Wiener industriellen Arbeiterschaft im Jänner 1918 nicht nachgewiesen werden könne. Formell endet
Bauers Dienstleistung im Kriegsministerium am 31. Oktober 1918, am
21. November folgt er dem einen Tag vor Ausrufung der Republik verstorbenen Victor Adler als Staatssekretär (i. e. Minister) im Deutschösterreichischen Außenamt nach.21
Machismus 2: Robert Musil
Im Pressearchiv eben dieses Ressorts war seit 15. Jänner 1919 der
demobilisierte, hoch dekorierte Landsturm-Hauptmann Robert Musil
tätig, und zwar auf direkte Vermittlung des Leiters des ministeriellen
Pressedienstes, Otto Pohl, der seinerseits als enger Vertrauter Bauers
galt. Einer vermögenden jüdischen Prager Bankiersfamilie entstammend, hatte Pohl für zwei Jahrzehnte der Redaktion der Arbeiter-Zeitung angehört, war dem äußersten linken Flügel der Sozialdemokratie
zuzurechnen und sollte ab 1924 als erster österreichischer Gesandter
20. Otto Bauer, Werkausgabe, Bd. 9, op. cit., S. 1039.
21. Vgl. Ernst Hanisch, „Im Zeichen Otto Bauers. Deutschösterreichs Außenpolitik in den Jahren 1918 bis 1919“, in Helmut Konrad/ Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), ...der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. 1, Wien, Gerold, 2008, S. 207-222.
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in der Sowjetunion fungieren. Musils eigentliche Tätigkeit im Presseamt bestand nun darin, durch „essayistische Tätigkeit in verschiedenen
Zeitschriften“ auf das von Bauer ausgegebene Hauptziel der österreichischen Außenpolitik, den Anschluss an ein republikanisches und demokratisches Deutschland, hinzuwirken.22 Er unterzog sich dieser Aufgabe
mit der gleichen stilistischen Brillanz und inhaltlichen Bravour wie er
dies nur wenige Zeit davor, als Angehöriger des Kriegspressequartiers
und verantwortlicher Redakteur von Soldatenzeitungen, ganz im Sinne
der übernationalen österreichischen Reichsidee unternommen hatte.
Als maßgeblicher Kriegspublizist initiierte Robert Musil den umfassenden Relaunch von vordem praktisch unter Ausschluss der (soldatischen) Öffentlichkeit erscheinenden Propagandablättern, öffnete sie
für aufwändig gestaltete Kunstdruckbeilagen und Repros, etwa der
Arbeiten eines Albin Egger-Lienz, oder für bis dato schlicht undenkbare
politische Kontroversen, etwa um Kriegswucher und Schiebertum.23
Seine höchste militärische Auszeichnung, das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens für „vorzügliche Dienstleistung vor dem Feinde“ wurde
ihm konsequenterweise denn auch in Anerkennung der erbrachten
journalistisch-literarischen Leistung verliehen.24
Am Beginn dieses erstaunlichen Avancements war eine schwere
Erkrankung des allgemein als korrekt, umsichtig und tapfer geltenden
Offiziers gestanden. Im März 1916 war Musil, nach gut einem dreiviertel
Jahr an der Front, in durchaus erbärmlichem Zustand in die Innsbrucker
Halsklinik eingeliefert worden, wo eine mit starken Blutungen verbundene Mundhöhlenentzündung, neurasthenische Erscheinungen depressiver Art und fortgeschrittene Unterernährung konstatiert wurden.
Wohl aufgrund von befürchteten Spätfolgen einer aus Jugendjahren herrührenden syphilitischen Infektion behandelten die Ärzte zunächst mit
hoch toxischem Quecksilberdioxyd und überstellten ihn anschließend
nach Prag-Karolinenthal.25 In den Tagebucheintragungen des allmählich
Genesenden klingt das massierte Grauen des Vernichtungskrieges nach,
werden im grotesken Inferno menschlicher Verwüstung Assoziationen
zu den Endzeitszenarien eines Hieronymus Bosch evoziert:
22. Vgl. Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2003,
S. 597 f, sowie Klaus Amann, Robert Musil – Literatur und Politik, Reinbek bei Hamburg,
Rowohlt, 2007, S. 10.
23. Corino, Musil, op. cit., S. 560, S. 580.
24. Ebd, S. 565.
25. Robert Musil, Tagebücher, Bd. 2 (Kommentarband), hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei
Hamburg, Rowohlt, 1983, S. 1010 ff.
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Chirurgie: Unversehens komme ich ins Ambulatorium. Fünfzig Menschen
in dem nicht großen Raum. Ärzte und Schwestern in weißen Kitteln,
nackte, halbnackte, bekleidete Kranke. Erfrorene Füße, aufgedeckte Steiße,
Schenkelstümpfe, verkrüppelte Arme. Um entblößtes Liegen, Hin und Hereilen,
Zugreifen von Instrumenten, Pinseln von Frauenhänden wie eine Abart
sorgfältigen Malens, Hinaushumpeln und Hereintragen. – Mischung von nackt
u. bekleidet.26
Die freiwillige Meldung des zu Kriegsbeginn als Redakteur der
Neuen Rundschau des Samuel Fischer Verlages in Berlin tätigen Musil
(der erst Ende 1913 nach insgesamt 12-jähriger Dienstzeit aus dem
Militär entlassen worden war) stand außer jeglicher Debatte. Der Krieg,
so wird er sich 1941, knapp vor seinem Tod, im Schweizer Exil erinnern,
sei „wie eine Krankheit, besser wie das begleitende Fieber“ über ihn
gekommen.27 Tatsächlich hat er in einem Beitrag « Europäertum, Krieg,
Deutschtum » für die Septemberausgabe der Rundschau – die nicht
zuletzt als eine Art intellektuelle Gegenbekundung zu den Gewalt verherrlichenden und offensiv interventionistischen Manifesten des italienischen Futurismus intendiert war – die Schönheit und Brüderlichkeit
des Krieges beschworen, „Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung,
Schlichtheit“ eingefordert. Als man erkennen hätte müssen, dass von
„allen Rändern dieses Weltteils“ her eine Verschwörung hereingebrochen war, die „unsere [der Deutschen] Ausrottung“ beschlossen hatte,
sei ein „neues Gefühl“ geboren worden: „[...] eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen
Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten.“28 Vielleicht im gegenständlichen Fall auch mehr als bloß nur für einen Augenblick, denn in
Musils nicht zur Veröffentlichung bestimmten Notizen erscheint der
chauvinistische Jargon jener Tage relativiert, die patriotisch-pathologische Phrase schlicht aufgehoben:
Berlin, August, Krieg. […] Die entwurzelten Intellektuellen. […] Neben aller
Verklärung das häßliche Singen in den Cafés. Die Aufgeregtheit, die zu jeder
Zeitung ihr Gefecht haben will. Leute werfen sich vor den Zug, weil sie nicht
26. Robert Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 326.
27. Corino, Musil, op. cit., S. 495.
28. Robert Musil, Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen,
Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1978, S. 1021.
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ins Gefecht dürfen. […] Die Aufrufe der verschiedenen Berufe: Apollo schweigt
und Mars regiert die Stunde, schließt der der Schauspielervereinigung. […]
Psychotiker sind in ihrem Element, leben sich aus. […] Die Verlustlisten: ... tot
... tot ... tot ... so untereinandergedruckt, niederschmetternder Eindruck.29
Zunächst wurde Musil in der Abgeschiedenheit der Südtiroler Berge
zu Zwecken des Grenzschutzes stationiert (ab Februar 1915 im Gebiet
des östlich von Trient gelegenen Caldozzanosees), bis schließlich der
italienische Kriegseintritt das eher beschauliche Etappendasein abrupt
beendete. Als Adjutant eines neu aufgestellten Landsturm-Infanteriebataillons wird er u. a. an der Isonzofront sowie in den horrenden Gefechten um den Col di Lana und die Cima di Vezzana im Valsugana eingesetzt.30 „Der Tod ist etwas ganz Persönliches. Du denkst nicht an ihn,
sondern – zum erstenmal – du spürst ihn“, notiert er in seinen persönlichen Aufzeichnungen, und: „Man glaubt immer, dass man im Angesicht des Todes das Leben toller genießt, voller trinkt. So erzählen es
die Dichter. Es ist nicht so.“31 Der Ingenieur und Naturwissenschaftler
nähert sich dem Krieg primär im Wege der mathematisch-statistischen
Abstraktion, indem er aus Gründen der Überlebenssicherung akustische Signale möglichst präzise zu lokalisieren, die jeweiligen Quellen
des Geschützlärms mit modellhafter Genauigkeit zu verorten und zu
differenzieren versucht. Auch wenn gegen ungezieltes flächendeckendes Feuer letztlich nicht einmal der „Gedanke an einen Schutz“ gegeben sei: „[…] der Menschenleib ist wie ein Quadratmillimeter in einem
Millimeterpapier auf das die ’Streuung ’ irgendeiner Wahrscheinlichkeit
projiziert (geworfen) wird. Eingebettet in eine zufällige Verteilung.“32
Und eben dies erschließt eine weitere, das rein Mathematische überragende Dimension, die etwas Anderes, schwer Fassliches, kaum Sagbares
indiziert und auf Initiation, Archaik und Mystik des Kampfes, letztlich
auf die „Inversion von Todesunbehagen zu Lebensbejahung“33 verweist.
Ganz in diesem Sinn ist denn auch eine (später zur berühmten Fliegerpfeil-Episode34 ausgebaute) Tagebucheintragung vom 22. September
29. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. 1, S. 298 f.
30. Vgl. Wilfried Berghahn, Robert Musil, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2004, S. 70 ff, sowie
Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils
Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, München, Wilhelm Fink, 1995, S. 225 ff.
31. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. 1, S. 325, 344.
32. Musil, Gesammelte Werke, op. cit., Bd. 2, S. 758.
33. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. 1, S. 339.
34. Siehe Arno Russegger, „’Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe aller
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1915 gehalten, die Musil verfasst hat, nachdem er bei Tenna während
eines italienischen Luftangriffs solch „geworfener Wahrscheinlichkeit“
ausgesetzt gewesen war:
Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie
Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Choc auch ohne Angst eintritt. –
Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe
Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe.35
Gleichwohl ist seine sonstige Kriegsprosa, soweit identifiziert, von
politisch und historisch dekontextualisierter, religiös und mystisch
überhöhter Idealisierung wie Ästhetisierung des industrialisierten Destruktionsgeschehens weitgehend frei; abgesehen lediglich von einem
anonym erschienenen (jedoch eindeutig zuordenbaren) Text in der
Tiroler Soldaten-Zeitung vom Juli 1916, der unter dem Titel „Geschichte
eines Regiments“ die motorische Ekstase und ureigene Unschuld des
Schützengrabenkampfes zelebriert und von Biograph Karl Corino als
„kleine bellizistische Parallelaktion zu den Kriegstexten Ernst Jüngers“
klassifiziert worden ist.36 Musil, nach seiner schweren Erkrankung nicht
mehr zum aktiven Frontdienst herangezogen, war Redakteur der von
ihm neu ausgerichteten Soldatenzeitung geworden; nicht ganz ein Jahr
darauf, am 16. April 1917, wurde er dem Heeresgruppenkommando
Boroević zu Adelsberg/Postojna, dem Hauptquartier der Isonzoarmee, zugeteilt, wo er, nach dem Durchbruch von Tolmein-Karfreit,
u. a. als „kunsthistorischer Sachverständiger“ tätig wird, mithin als eine
„Art Marodeur in dienstlichem Auftrag“.37 Im März 1918 wechselt er
als Redakteur des militärischen Wochenblattes Heimat in das Wiener
Kriegspressequartier (KPQ), und trifft dort auf den subtilen Defaitismus eines Franz Blei oder auf die (wenn auch vorerst unbemerkt) längst
in das sozialrevolutionäre Lager übergegangenen Egon Erwin Kisch
und Franz Werfel.
Eingeflossen sind seine Erfahrungen und intimen Kenntnisse des
militärisch-bürokratischen Mechanismus in einen Text, der ohne das
widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.’ Erster
Weltkrieg und literarische Moderne ‒ am Beispiel von Robert Musil“, in Uwe Schneider/
Andreas Schumann (Hrsg.), „Krieg der Geister“. Erster Weltkrieg und literarische Moderne,
Würzburg, Königshausen und Neumann, 2000, S. 229-245, hier S. 240 f.
35. Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. 1, S. 312.
36. Corino, Musil, op. cit., S. 561 f.
37. Ebd., S. 574.
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persönliche Kriegserleben nicht denkbar gewesen wäre – ein Text, an
dem er ein Leben lang arbeiten und immer wieder scheitern sollte, den
er immer wieder neu aufnahm und revidierte, der schließlich unvollendet blieb, Fragment bleiben musste: Musils Hauptwerk Der Mann
ohne Eigenschaften, jenes grandios-epochale Portrait der geistigen
Physiognomie einer in ihrem Todeskampf liegenden kakanischen Vorkriegsgesellschaft aus der Perspektive ihres unvermeidbar gewordenen
Zusammenbruchs.38 Trotz der Fixierung auf den (unerzählt gebliebenen) Kairos des Augusterlebnisses bleibt der Krieg im Erzählduktus des
Romans lediglich indirekt, gleichsam über Ersatzartikulationen präsent:
„Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt“
und „Seinesgleichen führt zum Krieg“.39 Dieser fungiert, wie Alexander
Honold in einer brillanten Studie bemerkt:
[…] als Fluchtpunkt der Perspektive, der sich selbst außerhalb des abgebildeten
Raums befindet und doch alle sichtbaren Elemente untereinander in Relation
setzt. Daß die Figurenreden von einem bevorstehenden „Zusammenbruch“ oder
einem „Massenunglück“ ihren historischen Sinn erst außerhalb des historischen
Geschehens erhalten, ist für ihre Wirkung unerlässlich.40
In Musils Deutung des vorkriegszeitlichen Krisenszenarios erscheint
der Krieg somit als „Signatur der Zeit“41, insofern, als den sozialen und
kulturellen Spannungen des ausgehenden Fin de Siècle ein latenter,
dem manifesten voraus laufender Kriegszustand unterlegt ist, von letzterem lediglich in das Überdimensionale weiter getrieben, als maximale
Potenzierung der Normalzustände. „Die Zeit: Alles, was sich im Krieg
und nach dem Krieg gezeigt hat, war schon vorher da.“42
Dazu tritt ein weiterer, entscheidender Aspekt: Im Werk Musils wird
der Einfluss der Ideen Ernst Machs auf die große Literatur der Wiener
Moderne wohl am prägnantesten sichtbar. Er hatte in Berlin bei dem
Mach-Kritiker Carl Stumpf eine Dissertation Beiträge zur Beurteilung
der Lehre Machs (1908) verfasst, in der er das Verhältnis, die Problemgeschichte von metaphysischer Philosophie und szientistisch-positivistischer Naturwissenschaft problematisiert. Im Mann ohne Eigenschaften
38.
39.
40.
41.
42.
Vgl. Klaus Amann, Literatur und Politik, op. cit., S. 8.
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1972, S. 1022, 1901.
Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg, op. cit., S. 260.
Musil, Tagebücher, op. cit., Bd. 1, S. 367.
Ebd., S. 353.
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zieht er nunmehr radikal und experimentell die Konsequenzen aus der
von Mach postulierten Unrettbarkeit des Ich und konfrontiert eine neutralisierende Wahrnehmungsdarstellung mit ständig sich neu aktualisierenden Identitäten.43 Personifiziert ist dieses sich stets neu schaffende
und neu geschaffene Ich im Hauptprotagonisten Ulrich, dessen Person
durch das Fehlen einer „wesenhaften“, metaphysischen Substanz und
durch einen permanenten Prozess der Rekonstituierung seiner selbst
gekennzeichnet ist. Zum zentralen Thema, zur eigentlichen Problemstellung werden Musil dabei die Grenzen der Sprache, des Sagbaren,
der Verlust des Vermögens, mittels Sprache Realität, Emotion, „Leben“
wiederzugeben. All dies bringt ihn in unmittelbare Nähe zur Problemstruktur Ludwig Wittgensteins.
Machismus 3: Ludwig Wittgenstein
Ludwig Wittgenstein betrachtete den Ausbruch des Krieges als ultima
ratio seiner zu diesem Zeitpunkt ausweglos scheinenden persönlichen
Situation, da die radikale Infragestellung seiner selbst und anhaltende
Zweifel am Sinn des Daseins ihn an den Rand des geistigen Zusammenbruchs und Selbstmords getrieben hatten. Zum ehest möglichen
Zeitpunkt, am 7. August 1914, mithin einen Tag nach der österreichischen Kriegserklärung an Russland, meldete er sich zur Assentierung
und freiwilligen Kriegsdienstleistung, um damit, wie er rückschauend
bemerken sollte, den Tod zu suchen.44 Er sah in diesem Schritt nicht
zuletzt auch eine Art moralischer Selbstverwirklichung, die Bekundung
des Willens zur Macht über sich selbst, die notwendige Selbstvervollkommnung im Angesicht des Todes.45 „Wittgenstein erhoffte also vom
Krieg, schreibt sein Biograph, ein anderer Mensch zu werden, eine
religiöse Erfahrung zu machen, die sein Leben unwiderruflich verändern würde.“46 Seine freiwillige Meldung zu den Waffen ist denn auch
43. David S. Luft, Eros and Inwardness in Vienna. Weininger, Musil, Doderer, Chicago/London,
University of Chicago Press, 2003, S. 93 ff.
44. Wilhelm Baum, Ludwig Wittgenstein, Berlin, Colloquium, 1985, S. 26.
45. Kurt Wuchterl/Adolf Hübner, Ludwig Wittgenstein. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2006, S. 64 f.
46. Ray Monk, Ludwig Wittgenstein: Das Handwerk des Genies, Stuttgart, Klett-Cotta 1992,
S. 130. Ibid., Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius, New York, The Free Press, 1990,
S. 112 : „What Wittgenstein wanted from the war, then, was a transformation of his whole
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ganz in diesem Sinne als ein Akt der Verzweiflung und zugleich als eine
aus neuen Zwängen herrührende Selbstbefreiung interpretiert worden.47 Jedenfalls war sie einem nachdrücklichen ethischen Rigorismus
geschuldet, der alternative Handlungsoptionen nicht einmal in Ansätzen erwog; auch dann nicht, wenn dies eine unaufhebbare Frontstellung
gegenüber einem feindlichen England implizieren musste. So notierte
er – der überaus enge Affinitäten zum akademischen Milieu in Cambridge entwickelt und mit Bertrand Russell und George Edward Moore
zwei der bedeutendsten Philosophen seiner Zeit zu Freunden gewonnen hatte – am 25. Oktober 1914 in sein (einem nur wenig elaborierten
Code gemäß) verschlüsseltes „geheimes“ Kriegstagebuch:
Fühle daher heute mehr denn je die furchtbare Traurigkeit unserer – der
deutschen Rasse – Lage! Denn daß wir gegen England nicht aufkommen können,
scheint mir so gut wie gewiß. Die Engländer – die beste Rasse der Welt – können
nicht verlieren! Wir aber können verlieren und werden verlieren, wenn nicht in
diesem Jahr, so im nächsten! Der Gedanke, daß unsere Rasse geschlagen werden
soll, deprimiert mich furchtbar, denn ich bin ganz und gar deutsch!48
Im Übrigen ist niemand Geringerer als John Maynard Keynes (in
einem Schreiben vom Jänner 1915) dem Wittgensteinschen Rigorismus
mit distinguierter Ironie und ebenso elegantem wie unterkühltem britischen Witz gegenübergetreten: Es müsse doch viel angenehmer sein,
sich im Krieg zu befinden, als etwa in Norwegen über logische Sätze
und Aussagen nachzudenken. „Aber ich hoffe, Du wirst solcher Verweichlichung bald ein Ende setzen.“49
Unter Verzicht auf seine Rechte als Einjährig-Freiwilliger war der
erst im Sommer 1914 aus England zurückgekehrte Wittgenstein im
niedrigsten Dienstgrad, als einfacher Kanonier, zunächst dem 2. Festungsartillerieregiment in Krakau zugeteilt worden und auf dem gekaperten Wachschiff Goplana auf der Weichsel zum Einsatz gekommen.
Im Dezember 1914 wurde er in die Etappe abkommandiert – in das
Artillerie-Autodetachement der Garnisonswerkstatt, und danach zu
einem Artillerie-Werkstättenzug bei Sokal im wiedereroberten Ostga-
personality, a ’variety of religious experience’ that would change ais life irrevocably“.
47. Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, op. cit., S. 56.
48. Ludwig Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914–1916, hrsg. von Wilhelm Baum, Wien,
Turia & Kant, 1991, S. 34.
49. Ebd., S. 55, Anm. 74.
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lizien. Erst nach mehr als anderthalb Jahren, im März 1916, wurde seinen prolongierten, zunehmend dringlicher geäußerten Ansuchen um
Versetzung an die Front stattgegeben. Als Angehöriger des 5. Feldhaubitzen-Regiments in Sanok war er nunmehr im äußersten südlichen
Abschnitt der Ostfront, nahe der rumänischen Grenze, stationiert und
fand, auf eigene Initiative, in der wohl riskantesten aller Positionen,
jener eines Artilleriebeobachters Verwendung. „Komme morgen vielleicht auf mein Ansuchen zu den Aufklärern hinaus. Dann wird für
mich erst der Krieg anfangen. Und kann sein – auch das Leben“, so
die Notiz in seinem Tagebuch vom 4. Mai. „Vielleicht bringt mir die
Nähe des Todes das Licht des Lebens. Möchte Gott mich erleuchten.
Ich bin ein Wurm, aber durch Gott werde ich zum Menschen. Gott
stehe mir bei. Amen.“50 Die wahre Herausforderung allerdings sollte
noch bevorstehen, als zwei Monate später in der ersten Brussilow-Offensive die zaristische Militärmaschinerie noch einmal ihr gesamtes
Vernichtungspotenzial mobilisiert und in Wolhynien und Galizien
Kämpfe einleitet, die zu den schwersten und verlustreichsten des
gesamten Krieges zu zählen sind. In den Schlachten bei Kolomea in
der Bukowina wird Wittgensteins unter dem Kommando von General
Pflanzer-Baltin stehende Einheit aufgerieben und mehr als drei Viertel
ihres kompletten Mannschaftsstandes einbüßen, der verbleibende Rest
einen fluchtartigen Rückzug in die Karpaten antreten.51 Stets aber und
in geradezu selbstmörderischer Todesverachtung ist Wittgenstein an
vorderster Linie zu finden; er bleibt wie durch ein Wunder gänzlich
unversehrt, wird zum Korporal befördert und schließlich, nach fünf
Monaten Fronteinsatz, an die Offiziersschule in Olmütz abgestellt.
Zu Weihnachten des Jahres 1916, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Fähnrich der Reserve, hat er der österreichischen Armee
eine Donation, die speziell seiner Heeresgattung zugutekommen sollte,
gewidmet und aus seinem Privatvermögen die enorme Summe von
einer Million Kronen zwecks Anfertigung eines 30cm-Mörsers gespendet.52 Ende Jänner des Folgejahres findet er sich erneut im Fronteinsatz, der mit nur kurzen Unterbrechungen bis zum Ende des Krieges
andauern sollte; zunächst im Stellungskrieg in der Bukowina, ab März
1918, zum Leutnant avanciert, an der italienischen Front um Asiago,
50. Ebd., S. 70.
51. Wilhelm Baum, „Wittgensteins Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg 1914-1918“, in Geheime
Tagebücher, op. cit., S. 123-140.
52. Ebd., S. 134.
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bis er schließlich am 3. November in Trient in Kriegsgefangenschaft
gerät. Er hatte sich den Ruf eines geradezu herausragenden Offiziers
erworben: „Sein hervorragend tapferes Verhalten, Ruhe, Kaltblütigkeit
und Heldenmut erweckte bei der Mannschaft vollste Bewunderung.
Durch sein Benehmen gab er ein leuchtendes Beispiel soldatischer
Pflichttreue und Pflichterfüllung.“53 Die vorgesetzte beurteilende Stelle
erkannte in ihm – in geradezu verblüffender, wenn auch unbewusster
Analogie zu seinem philosophischen Habitus – einen gefestigten, verschlossenen Charakter, der als Aufklärer hervorragend, in „sonstigen
Diensten“ allerdings weniger verwendbar sei.
Im Verlauf seines Kriegsdienstes erwarb sich Ludwig Wittgenstein
eine Reihe von Tapferkeitsauszeichnungen; gleichwohl wird in den
Belobungsanträgen wiederholt ein durchaus „eigenartiges Benehmen“
vermerkt: So habe er etwa, mitten in den Stürmen der Brussilow-Offensive stärkstem Artillerie-Trommelfeuer ausgesetzt, unbeeindruckt
und unbedeckt auf seinem Beobachtungsstand an exponierter Stelle
ausgehalten, ja seinerseits feindliche Minenwerfer durch Volltreffer zerstört. Gleiches gilt für sein Verhalten in den bukowinischen Stellungen
1917, oder in der von Feldmarschall Conrad im Juni 1918 eingeleiteten letzten österreichischen Offensive, wo er „im wahrsten, rasenden
Trommelfeuer“, „unter Hintansetzung seiner Person“ die Rettung von
Verwundeten organisierte.54 Der in hohem Maße Suizidgefährdete zelebriert so geradezu seine Unsterblichkeit, der höchste Einsatz, jener des
Lebens selbst, erobert eben diesem Leben seinen vollen Inhalt zurück.
Jedenfalls aber verweist Wittgensteins im Kampf so auffälliges Verhalten auf ein formatives Prinzip seiner Persönlichkeit wie analytischen Sprachphilosophie: Die bis ins Autistische gesteigerte Emotionslosigkeit, die absolute Dominanz des mathematisch-logischen Kalküls,
des Abstrakten, die Gleichzeitigkeit von Todesverachtung, Entkörperlichung und demonstrativer Bekundung des kultisch Männlichen, die
in letzter Instanz die Erfahrungen und den Bereich des Nicht-Aussagbaren bezeichnen.
Wittgenstein hat in diesem Sinn seine philosophischen Problemstellungen stets mit bestimmten militärischen Konstellationen zu verknüpfen gewusst55; so etwa lautet eine charakteristische Tagebucheintragung vom 21. November 1914:
53. Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, op. cit., S. 60.
54. Vgl. Monk, Wittgenstein, op. cit., S. 146 f, 154.
55. Brian McGuiness, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1988, S. 323 ff.
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Anhaltende Kanonade. Große Kälte. Fast ununterbrochener Donner von den
Werken. Ziemlich gearbeitet. Aber noch immer kann ich das eine erlösende Wort
nicht aussprechen. Ich gehe rund um es herum und ganz nahe, aber noch konnte
ich es selber nicht erfassen!!56
Im Sommer und Herbst 1915 führte er, in der ostgalizischen Etappe,
seine seit dem Aufenthalt in Cambridge und vermehrt in der Abgeschiedenheit Norwegens entwickelten Überlegungen und logisch-technischen
Ausführungen zusammen. Die stark von Russell und Frege beeinflusste
(allerdings nicht überlieferte) Arbeit zum Wesen der Logik muss zentrale Elemente der kommenden Abhandlung bereits vorweggenommen
haben, so eine semiotische Theorie der Bedeutungen, eine analytische
Logik im Spannungsfeld von Tautologie und Widerspruch, die Methode
der „Wahrheitstafeln“ etc.57 Mit Wittgensteins Fronteinsatz allerdings
durchlief diese erste Studie ihre entscheidende Transformation in jenes
verstörend-rätselhafte, eigenartig hybride, meisterhafte Frühwerk, das
eine Theorie der Logik mit religiösem Mystizismus zu verbinden suchte
und das im Sommer 1918 unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus seine endgültige Form erhielt.58 Dessen erster Teil, dessen ominöser
erster Satz schließt direkt an den Machschen antimetaphysischen Gestus an: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Die Dinge erscheinen nur in
Sachverhalten; Sätze stellen Sachverhalte dar und bilden sie logisch ab,
ohne allerdings über deren Wahrheit zu entscheiden. Synthetische Urteile
und Ordnungen a priori sind, dem Machschen Werterelativismus gemäß,
nicht gegeben: „Alles, was wir sehen können, könnte auch anders sein.
Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.
Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori“ (Tractatus 5.634).
In der mystisch-metaphysischen Wende der Schlusspassagen hingegen
hat Wittgenstein seine traumatischen Fronterfahrungen eingearbeitet
und verdichtet.
Seine Aussagen über Ethik, Ästhetik, die Seele und den Sinn des Lebens wurzeln in
jenem „Anstoß zum philosophischen Besinnen“, den Schopenhauer auf das „Wissen
um den Tod, die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens“ zurückführt.59
56. Wittgenstein, Geheime Tagebücher, op. cit., S. 44.
57. Monk, Wittgenstein, op. cit., S. 133 f.
58. Thomas Macho, „Trauma und Kriegserfahrung in Wittgensteins Philosophie“, in Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkriegs,
Wien, WUV, 2000, S. 46-62.
59. Ray Monk, Ludwig Wittgenstein: Das Handwerk des Genies, op. cit., S. 155. Ibid., Monk,
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Im Frühsommer 1916, praktisch mit Einsetzen der Brussilow-Offensive, begann er mit der Niederschrift von Überlegungen, die zentrale Aussagen des Tractatus gleichermaßen vorwegnahmen. Am 6. und
7. Juli heißt es im Kriegstagebuch:
Kolossale Strapazen im letzten Monat. Habe viel über alles mögliche
nachgedacht, kann aber merkwürdigerweise nicht die Verbindung mit meinen
mathematischen Gedankengängen herstellen. Aber die Verbindung wird
hergestellt werden! Was sich nicht sagen läßt, läßt sich nicht sagen!60
Diese Problematik vor allem wird er aufzulösen versuchen, eine
Grenzziehung vornehmen: die Trennung des aussagbaren Bereichs der
Naturwissenschaft von dem nicht-aussagbaren der Metaphysik, Ethik,
Mystik, die Scheidung zwischen (wissenschaftlich) Sagbarem und
(metaphysischem) Zeigen. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies
zeigt sich, es ist das Mystische“ (Tractatus 6.522). Die Philosophie soll
das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare; sie soll das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt; und so endet der
Tractatus denn auch in der programmatischen Forderung: „Wovon man
nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“
Damit war, wie Ludwig Wittgenstein in einem Schreiben an John
Maynard Keynes vermerkt, ein nicht weiter überschreitbarer Endpunkt
gesetzt: „Alles, was ich wirklich sagen musste, habe ich gesagt und
damit ist die Quelle vertrocknet. Das klingt sonderbar, aber es ist so.“61
In der Tat war er überzeugt, mit seinem analytischen Ansatz, seinem
radikalen Weiterdenken von Russells logischem Atomismus zentrale
Probleme der Philosophie endgültig gelöst zu haben. Erstmals erschien
die Philosophie ganz im Medium der Sprache („Alle Philosophie ist
Sprachkritik“), ein Medium, in dem sich philosophische Reflexion verobjektivieren und vermittels der exakten Methoden mathematischer
Logik beschrieben werden kann. Während die exakten Wissenschaften
das Sagbare bezeichnen, nimmt die Philosophie auf das Sichzeigende
Bezug. Und so verweist der zweite, mystische Teil der Abhandlung auf
Wittgenstein, op. cit., S. 137: „The remarks in it about ethics, aesthetics, the soul and the
meaning of life have their origin in precisely the ’impulse to philosophical reflection’ that
Schopenhauer describes, an impulse that has as its stimulus a knowledge of death, suffering
and misery“.
60. Wittgenstein, Geheime Tagebücher, op. cit., S. 72 f.
61. Zit. nach Brian McGuinness/G. H. von Wright (Hrsg.), Ludwig Wittgensten. Briefwechsel
mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes et al., Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1980, S. 11.
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60
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eine ihrem Wesen nach zwar unaussprechliche Ethik, die sich gleichwohl im handelnden Subjekt zeigt.62 Die „Wahrheit“ seiner Gedanken erschien Wittgenstein, wie er im Vorwort zum Tractatus schreibt,
„unantastbar und definitiv“ – allerdings lediglich um dies sofort, in
beinahe lakonischer Anmutung, wieder zu relativieren: „Und wenn
ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme
gelöst sind.“63
Eine zweifellos den Zeitenläufen geschuldete Grunddisposition, die
in einem hohen Maße auch für Robert Musil kennzeichnend ist: Am
6. November 1918, dem 38. Geburtstag Musils, erging der Demobilisierungsbefehl; er selbst verblieb, inmitten der Wirren des Umbruchs,
bis Mitte Dezember gleichsam in Eigenregie weiter im Amt und nutzte
die Zeit zum intensiven Aktenstudium im Kriegsministerium. Auf die
Frage des anarchistischen Expressionisten Karl Otten, was er denn weiterhin dort mache, wo doch der Krieg mitsamt der Monarchie zu einem
Ende gekommen sei, antwortete Musil ebenso sarkastisch wie lakonisch: „Ich löse auf.“64
62. Vgl. Dominick La Capra, „Reading Exemplars: Wittgenstein’s Vienna and Wittgenstein’s
Tractatus“, in Dominick La Capra, Rethinking Intellectual History. Texts, Contexts, Language, Ithaca/London, Cornell University Press, 1983, S. 84-117.
63. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung,
Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1963 (edition suhrkamp 12), S. 8.
64. Zit. nach Karl Corino, Musil, op. cit., S. 592.
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