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Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland

2008

Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland von C o r n e l i a Soldat Klaus Zernack zum 75. Geburtstag In der Disziplin der mediävistischen Russlandstudien herrscht schon seit etwa einem Jahrzehnt Konsens darüber, dass das moskovitische Herrschaftssystem auf einem diffizil austarierten Konsensprinzip einer herrschenden Elite mit dem Großfürsten als Mittelpunkt, jedoch nicht als allein herrschendem Zentrum beruhte. Dies ist auch der Grund, warum Andre Berelowitch seine Untersuchung des russischen Adels der frühen Neuzeit „La hierarchie des egaux" nannte. Auf das Konsensprinzip hat außerdem Sergej Bogatyrev anhand von Archivmaterialien in seinem Buch „The Sovereign and his Counselors" hingewiesen. Hartmut Rüß hat in seiner Geschichte des russischen Adels den Herrscher als primus inter pares, den ihn umgebenden Adel als „Herren und Diener" gekennzeichnet.1 Das moskovitische Herrschaftssystem ist von Nancy Kollmann nach einer Idee von Edward Keenan untersucht worden, der darauf hingewiesen hat, dass das System nicht hierarchisch aufgebaut war, sondern eher einem Atomkern gleicht, der von Protonen umgeben wird.2 Kollmann extrahierte aus den dem Dienst in Moskovien gewidmeten Quellen wie den razrjadnye und dvorovye knigi ein Herrschaftssystem, in dem die Balance der Macht zwischen den herrschenden Clans oder Sippen eine enorme Rolle spielte, die verwandtschaftliche Nähe zum Herrscher Machtzuwachs bedeutete und Heiratspolitik entsprechende Wichtigkeit erlangte. Die verwandtschaftlichen und machtpolitischen Verbindungen schlugen sich, wie Russell Martins Forschungen zeigen, auch in den Memoriallisten nieder, anhand derer Familien für die Seelen der Mitglieder anderer Familien in 3 ANDRE BERELOWITCH: La hierarchie des egaux. La noblesse russe d'Ancien Regime XVIe-XVIIe siecles, Paris 2001; SERGEJ BOGATYREV: The Sovereign and His Counsellors. Ritualised Consultations in Muscovite Political Culture, 1350s-1570s, Helsinki 2000 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, ser. Humaniora 307); HARTMUT RÜSS: Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels. 9.-17. Jahrhundert, Köln u.a. 1994 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 17). Vgl. DANIEL ROWLAND: Edward Keenan Not in Print, in: Canandian Slavonic Papers 48 (2006). S. 235-245, hier S. 241. Vgl. NANCY SHIELDS KOLLMANN: Kinship and Politics. The Making of the Muscovite Political System, 1345-1547, Stanford/CA 1987; außerdem das Exempel von Rüssel E. Martin, der die Praxis des Heiratens mit dem Ziel, Machtzuwachs zu erhalten, am Bojaren Morozov im 17. Jahrhundert nachzeichnet: RUSSELL E. MARTIN: Political Folkways and Praying for the Dead in Muscovy, in: Canadian Slavonic Papers 48 (2006), S. 269-290. Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008) H. 1 7ß: Cornelia Soldat Abhängigkeit von ihren verwandtschaftlichen Beziehungen Gebete sprechen ließen.4 Daniel Rowland hat jüngst in seiner Untersuchung der Fresken der Großen Audienzhalle des Moskauer Kreml'palastes verdeutlicht, dass die abgebildeten Szenen nicht nur als Darstellung einer christlichen Überhöhung des Herrschaftsbereichs der Moskauer Zaren als Haus der Weisheit nach Spr. 9 gesehen werden können.5 Zu den weiteren wichtigen Merkmalen des moskovitischen Herrschaftssystems, die in den Fresken dargestellt wurden, gehörten nach Rowland die familiären Bande des Zaren über die aktuelle Kleinfamilie hinaus, was wiederum eine Koinzidenz zu den Forschungen Kollmanns und Martins aufzeigt.6 Die Darstellung des moskovitischen Heeres als Abbild des israelitischen Heeres, das unter der Führung von Moses, Josua und Gideon das heilige Land einnimmt, und schließlich die moralisierenden Darstellungen des Herrschers als Bewahrer der Ordnung in der Welt, wie sie von Gott präfiguriert wurde, nehmen prominente Orte in der Ausschmückung der Halle ein.7 Sie münden in der Darstellung persönlicher Frömmigkeit und moralischen Verhaltens von Seiten des Zaren und der Frage nach Ratgeberschaft auf der anderen Seite. Das Vestibül der Großen Halle, also der Vorraum, in dem die Adeligen warteten, bis sie zum Zaren vorgelassen wurden und wo sie deshalb laut Rowland viel Zeit hatten, sich in den Bildern an der Wand wiederzuerkennen, zeigt alttestamentliche Herrschaftsideale, die in neutestamentlichen Szenen um Christus im Thronsaal selbst gespiegelt werden. Gezeigt wird der Herrscher als Alter der Tage, umgeben von sieben Säulen mit guten Taten, die ein Zeichen der heiligen Weisheit darstellen, die im Herrscher vorhanden ist. Der Herrscher wird dargestellt, wie er von Gott oder von Engeln mit Herrschaftsinsignien ausgestattet wird, wie er betet, den Armen Geld gibt, Recht schafft, seine Untertanen und schließlich mit einem Buch in der Hand seinen Sohn belehrt. Im Thronraum selbst werden diese Fresken von szenischen Darstellungen neutestamentlicher Gleichnisse komplementiert: das Gleichnis vom Sämann, von den Hochzeitsgästen, vom reichen Mann und Lazarus, vom verlorenen Schaf und von den verlorenen Groschen. Diese Szenen stehen in Opposition zu den Darstellungen zweier Herrscher, die ihren eigenen Tod vorhersehen: Hesekia, der bereut und fünfzehn Jahre länger lebt (2. Kön 20, 1-6; Jes 38, 1-6), und der Kaiser Anastasios, der nicht bereut und 5 Vgl. ebenda; RUSSELL E. MARTIN: Gifts for the Dead. Death, Kinship, and Commemoration in Muscovy (The Case of the Mstislavskii Princes), in: Russian History 26 (1999), 2, S. 171-202. DANIEL ROWLAND: TWO Cultures, One Throne Room. Secular Courtiers and Orthodox Culture in the Golden Hall of the Moscow Kremlin, in: Orthodox Russia. Belief and Practice under the Tsars, hrsg. von VALERIE A. KIVELSON und ROBERT H. GREENE, 6 7 University Park 2003, S. 33-57, hier S. 41 und 48 ff. Ebenda, S. 49. Ebenda, S. 50 f. Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland mit seinen Sünden verdammt stirbt.8 Rowland sieht in diesen Bildern ebenso wie in den allegorischen Darstellungen des engen Weges der Rechtschaffenheit und des breiten Weges des Schlechten nicht so sehr die moralisierende Tendenz, dem Zaren den rechten Weg zu zeigen, sondern das Anliegen, die Bedingungen der herrscherlichen Macht darzulegen: ein Herrscher, der den Weg der Rechtschaffenheit verlässt, separiert sich von Gott. Sein Heil und Gottes Segen auf seiner Herrschaft hängen von der Rechtschaffenheit seiner Seele ab.9 Schließlich weist Rowland darauf hin, dass der Herrscher normalerweise in diesen exemplarischen Szenen nicht allein, sondern immer umgeben von seinen Adligen oder Bojaren dargestellt wird. Diese sind nicht als Untertanen, sondern als Partner des Herrschers dargestellt; aus seiner Analyse der Darstellungen schließt er: „[...] ,boyars' or ,grandees' are more accurately depicted as partners of the tsar in governance. Perhaps the modern viewer is too influenced here by a Whig view of history, which posited a constant and inevitable conflict between the ruler and his nobles: the designers of the Golden Hall murals seem to have regarded a ruler surrounded by powerful boyars as more powerful than one who rules by himseif."10 Die folgende Untersuchung der Ratgeberfunktion innerhalb des Herrschaftssystems der Moskoviter Rus' soll zugleich eingeschränkt und ausgeweitet werden. Eingeschränkt insofern, als eine erneute Interpretation der die Herrschaft in Moskau beschreibenden Passagen von Iosif Volockijs „Prosvetitel"' vorgenommen wird, also die Textauswahl auf diesen Text beschränkt wird. Ausgeweitet andererseits, als dieser Text im Kontext spätmittelalterlicher Fürstenspiegel untersucht werden soll und dadurch eine neue Nuance der Ratgeberschaft im frühneuzeitlichen Russland gezeigt wird, die weniger auf direkter als auf indirekter Einflussnahme beruht. Iosif Volockijs Spätwerk, die „Kniga o novgorodskich eretikov", wurde ab dem 17. Jahrhundert „Prosvetitel"', zu deutsch „Aufklärer", genannt. Der „Prosvetitel"', der über 500 Druckseiten stark ist, liegt in einer kürzeren Redaktion von 1502-1504 und einer längeren, 16 Slova umfassenden Redaktion von 1510-11 vor." Er ist in 97 Handschriften erhalten, von denen nur 37 die kürzere Redaktion enthalten.12 Diese Verbreitung gerade der längeren Redaktion zeigt, dass ihr im 16. Jahrhundert der Vorzug vor der mit Sicherheit schneller zu lesenden kürzeren Redaktion gegeben wurde. Die Tatsache, dass ein so 9 Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 53. MARC SZEFTEL: Joseph Volotsky's Political Ideas in a New Historical Perspective, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 13 (1965), S. 19-29, hier S. 26; vgl. JAKOV S. LUR'E: Iosif Volockij, in: Slovar' kniznikov i kniznosti drevnej Rusi, hrsg. von DMITRU SERGEEVIC LICHACEV, Vyp. 2.1, Leningrad 1988, S. 434-439, hier S. 435, 437. 12 SZEFTEL (wie Anm. 11), S. 26, Anm. 22. 25 26 Cornelia Soldat umfangreiches Buch in so vielen Handschriften vorliegt, lässt außerdem auf seine Popularität und die Konsensfähigkeit seines Inhalts schließen. Die Novgoroder „Judaisierenden" waren eine Gruppe von einflussreichen Adeligen und Funktionsträgern am Hof, deren Bezeichnung darauf zurückzuführen ist, dass sie neben den für die Orthodoxie kanonischen Schriften auch die im Westen bekannten alttestamentarischen Schriften studierten und der Kabbala nahestehende Texte verfassten, mithin Vorstellungen hatten, die mit dem althergebrachten orthodoxen Weltbild nicht übereinstimmten. Der Novgoroder Bischof Gennadij war Ende des 15. Jahrhunderts der prominenteste Vertreter der Gegner der Judaisierenden, und aus seinen Briefen kann man einiges über die Grundlage ihrer „Häresie" erfahren.13 Natürlich waren die Judaisierenden nicht wirkliche Häretiker. Ihre intellektuelle Beschäftigung mit im Westen bekannten, in der Orthodoxie aber nicht geläufigen Texten des alten Testaments war den Vertretern der russischen Orthodoxie jedoch so fremd, dass sie die Gruppe mit einem aus ihrem Weltbild stammenden Etikett, nämlich als „Häretiker" bezeichneten. Der Kampf gegen diese „Häresie" wurde von kirchlicher Seite vehement geführt, und Iosif Volockijs „Prosvetitel"' ist ein Text, der im Zuge dieses Kampfes verfasst wurde. Der Abt des Klosters in Volokolamsk14, Iosif Sanin, besser bekannt als Iosif Volockij, machte es sich hierbei nicht leicht: Er führte auf den über 500 Druckseiten (also wesentlich mehr handschriftlichen Seiten) die orthodoxen Traditionen aus den „heiligen Schriften" zusammen. Unter „heiligen Schriften" verstand Iosif sämtliche die orthodoxe Tradition von den Kirchenvätern her konstituierenden Schriften, also auch seine eigenen Texte, nachdem sie einmal niedergeschrieben waren. Er hat sie in den „Prosvetitel"' wieder aufgenommen und ergänzt, um in der Abwehr der Häretiker darauf hinzuwirken, dass die Heilsgeschichte sich vollenden könne.15 Dass er sich hierbei dazu hinreißen ließ, gelegentlich auch einmal ein Prophetenzitat zu fälschen, um dem Gesagten mehr Autorität zu verleihen, gehört zu den Eigentümlichkeiten seines Werkes. Iosif schrieb den „Prosvetitel"' gegen die Häresie der Novgoroder Judaisierenden und damit dezidiert zu dem Zweck, dass der Großfürst diese unterbinden und die Urheber zur Rechenschaft ziehen sollte. Er entwarf dabei nicht nur ein ideales Fürstenbild, sondern darüber hinaus ein ideales Weltbild. Er Zu den Novgoroder Judaisierenden vgl. die kürzlich erschienene Dissertation von ELKE WIMMER: Novgorod - ein Tor zum Westen? Die Übersetzungstätigkeit am Hofe des Novgoroder Erzbischofs Gennadij in ihrem historischen Kontext, hrsg. von JUDITH HENNING, Hamburg 2005 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 13). Zur Bedeutung des Klosters und der sozialen Herkunft der Mönche siehe TOM E. DYKSTRA: Russian Monastic Culture. „Josephism" and the Iosifo-Volokolamsk Monastery 1479-1607, München 2006 (Slavistische Beiträge, 450). THOMAS M. SEEBOHM: Ratio und Charisma. Ansätze und Ausbildung eines philosophischen und wissenschaftlichen Weltverständnisses im Moskauer Rußland, Bonn 1977 (Mainzer philosophische Forschungen, 17), S. 273 ff. Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland 27 verfasste somit eine Apologie der orthodoxen Tradition, die ein allumfassendes Weltbild determiniert, an dessen Spitze der Herrscher als in seiner Macht Gott gleich dargestellt wird.16 Ein Ratgeber hat in diesem Schema sehr wenig Platz und kommt deshalb auch nicht wirklich vor. Doch ist Iosif Volockij als Autor selbst so präsent, dass man in ihm auch den Ratgeber erkennt, der dem Herrscher die einzig mögliche Verhaltensweise gegen die Häretiker sehr deutlich empfiehlt.17 Iosif orientierte sich beim Schreiben seiner Argumentation an den Methoden der Kirchenväter, indem er Bekanntes zusammenfasste. Im 7. Slovo des „Prosvetitel" zeigt er, dass die Herrschaftsordnung von Gott kommt und man in ihr unter allen Umständen zum Heil komme, während die Häretiker den Kanon der Schriften und damit auch die in ihnen zementierte Weltordnung zerstörten.18 In seiner Art gehört Iosif zu den Konservativen seiner Zeit, dem es daran gelegen war, sämtliches Wissen zu sammeln und es geballt als Argument für den Erhalt eines angeblich autokratischen Status quo der Regierung einzusetzen. Sein Ziel war es dabei weniger, eine Staatstheorie oder ein ideales Bild zu entwerfen oder gar die Macht des Herrschers theoretisch zu festigen. Seine Beschreibung des Status quo gipfelte vielmehr darin, dem Herrscher seinen Platz in einem hierarchischen Weltbild zu zeigen und ihn auf die daraus resultierenden Verantwortlichkeiten und zwangsläufigen Handlungen in dem Augenblick hinzuweisen, in dem das Weltbild durch Häresie zerstört werden könnte. Iosif unterscheidet sich damit in nichts von seinen konservativen Nachfolgern, die einen Erhalt des Alten einer dynamischen und damit schlecht zu beeinflussenden Entwicklung vorzogen. Iosif Volockij verfasste sein Werk bereits um 1505 in einer Situation, in der die Berater des Herrschers selbst - denn solche waren die vermeintlichen Häretiker - sich Informationen von außerhalb des russischen Horizontes holten und damit neue Ratschläge geben konnten. losifs konservative Antwort auf diese als Häresie getarnte Beratungskrise lautete, dass das Wissen der Zeit ausreichend sei, da es mit dem Weltbild übereinstimme. Als einzigen Ausweg im Falle eines schlechten Herrschers könne man sich vom Zaren umbringen und damit zum Märtyrer für die gute Sache machen lassen - dies die Quintessenz der Passage über den Car'-Mucitel', den tyrannischen Zaren, im 7. Slovo des „Prosvetitel"'. Somit könne man gerechtfertigt sterben, was aus seelsorgerlicher Perspektive durchaus bedeutsam war. Der „Prosvetitel"' enthielt das 7. Slovo bereits in der kürzeren Redaktion, die direkt in der Zeit der Auseinandersetzungen mit den Judaisierenden komCORNELIA SOLDAT: Urbild und Abbild. Untersuchungen zu Herrschaft und Weltbild in Altrußland, 11.-16. Jahrhundert, München 2001 (Slavistische Beiträge, 402), S. 209. Vgl. SEEBOHM (wie Anm. 15), S. 252. SOLDAT (wie Anm. 16), S. 221. Vgl. v.a. Slovo 16 des „Prosvetitel"'. SOLDAT (wie Anm. 16), S. 221. Die fundamentale Gleichsetzung von Welt und Schrift in losifs Weltbild zeigt sich auch in seiner Behandlung der Mönchsgemeinschaft als Abbild der himmlischen Hierarchie in seiner Mönchsregel. 28 Cornelia Soldat piliert wurde. Das 16. Slovo, das erst in der 1511er-Redaktion enthalten ist, bestätigt das im 7. Slovo beschriebene Herrschaftsbild noch einmal. David Goldfrank zeigt in seiner Diskussion der Dichotomie von Car' vs. Mucitel' einige Ursprünge von Iosifs Denken auf, wie sie im 16. Slovo des „Prosvetitel'" zu Tage treten. In seiner Textanalyse belegt Goldfrank, dass losif den Ausdruck ,mucitel' in einer Tradition gebrauchte, die christliche und heidnische Herrscher einschloss, und er führt aus, dass losif sich von den ihm bekannten byzantinischen Fürstenspiegeln inspirieren ließ, die weltliche Herrschaft an ihre christlichen Pflichten zu erinnern. Der Ursprung dieser Fürstenspiegel lag wiederum in hellenischer Zeit, als zweifellos legitime Herrscher wie Philipp von Makedonien einen Regierungsstil pflegten, der von den demokratisch sozialisierten Athener Philosophen als Tyrannis empfunden wurde. Weil mit dem Ende der Athener Demokratie der ursprüngliche Hintergrund für ihre Ermahnungen verloren ging, mündete diese Überlieferung in den Gegensatz vom guten vs. schlechten Herrscher und pflanzte sich von Aristoteles über Agapetos bis hin zu losif fort. Goldfrank lässt die Frage offen, inwieweit Iosifs Dichotomie den aktuellen politischen Kontext wie auch seine eigenen Machtspiele widerspiegeln, er weist aber darauf hin, dass Iosifs Auslassungen im 16. Slovo des „Prosvetitel"' der einzige bekannte, von der Forschung bis dato jedoch übersehene Versuch sind, die göttlich legitimierte Fürstenherrschaft durch eine - wie auch immer geartete - Kontrollinstanz in Schach zu halten.19 Für das moskovitische Herrschaftssystem zeigt sich hier eine gewisse Dynamik. Richard Hellie hat in seiner essayistischen Untersuchung darüber, warum die Moskoviter Elite sich nicht gegen das autokratische Herrschaftssystem wehrte, die These aufgestellt, dass die adelige Elite des 16. Jahrhunderts in völliger ökonomischer Abhängigkeit vom Zaren stand und deshalb nicht daran denken konnte, gegen seine Entscheidungen zu opponieren.20 Dies stimmt jedoch so nicht. An anderer Stelle konnte ich nachweisen, dass es im Gegenteil nicht wirklich erstrebenswert war, im frühneuzeitlichen Russland Zar zu sein, weil der Zar in seinen Entscheidungen durch die Regeln des Entscheidungsfindungsverfahren im allgemeinen Konsens einerseits und durch traditionelles Benehmen andererseits in alleinigen Entscheidungen stark moralisch limitiert war. Gerade die Ausführungen losif Volockijs machen dies deutlich.21 Auf der anderen Seite konnte gezeigt werden, dass es unter der DAVID GOLDFRANK: The Deep Origins of Tsar'-Muchitel'. A Nagging Problem of Muscovite Political Theory, in: Russian History/Histoire russe 31 (2005), 3/4, S. 341354. RICHARD HELLIE: Thoughts on the Absence of Elite Resistance in Muscovy, in: Kritika 1 (2000), l.S.5-20. Vgl. CORNELIA SOLDAT: The Limits of Muscovite Autocracy. Relations between Grand Prince and Boyars on the Basis of losif Volotskii's Prosvetitel', in: Cahiers du monde russe 46 (2005), 1-2, S. 265-276. Vgl. auch GOLDFRANK (wie Anm. 19) und die Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland 29 adeligen Elite und hier besonders bei den unmittelbaren Ratgebern des Zaren ein gewisses Verantwortungsbewusstsein für das Wohlergehen des Staates gab, das seine Wurzel in der zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit hatte. Gerade weil die Elite vom Herrscher abhängig war, hatte sie ein vitales Interesse daran, dem Staatssystem nicht zu schaden, sondern in allen Taten die ökonomische und politische Prosperität der Moskoviter Rus' voranzutreiben. Und dies geschah tunlichst dadurch, dass das Zartum als Quelle dieser Prosperität nicht gefährdet, sondern gestärkt wurde. Ein Ratgeber im frühneuzeitlichen Russland gab deshalb nur solche Ratschläge, die der Stabilität des Zartums und damit der ökonomischen und politischen Prosperität des Staatengebildes dienten, weil er selbst davon ökonomisch profitierte. Iosif Volockij ist ein klassisches Beispiel dafür, dass dies hervorragend funktionierte. Ein Ratgeber zog außerdem persönliches Prestige und Selbstbewusstsein aus seiner Situation, die gerade nicht einseitig abhängig war, da der Herrscher seinerseits auf den Konsens mit seinen Ratgebern angewiesen war, ohne den er nicht handlungsfähig sein konnte. Aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit von Herrscher und Ratgebern lassen sich einige Phänomene des Herrschaftssystems im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Russland erklären: 1. der Wille der Ratgeber, in der Korrespondenz mit Litauen auf eine Anrede Ivans IV. mit seinem Zarentitel zu verzichten, solange man sich einen Krieg nicht leisten konnte, und damit gegen das Interesse des frisch gekrönten Zaren zu handeln22; 2. die Tatsache, dass es kaum Adelsopposition im russischen System gab im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten zu dieser Zeit; 3. warum selbst nach der Smuta23 ein Zar ohne konstitutionelle Beschränkungen und einmütig eingesetzt wurde; 4. warum es keine nennenswerte Opposition gegen die Regentschaft Boris Godunovs für Fedor Ivanovic gab; 5. warum die adelige Elite zur Opricnina-Zeit bereit war, die Geschäfte in der Zemscina weiterzuführen24. dortigen Ausführungen über die Bedeutung des Gewohnheitsrechts für die Herrschaft des Zaren gerade im 16. Slovo. Choroskevic als topos hierbei. Vgl. auch CORNELIA SOLDAT: Herrschaft, Familie und Selbstverständnis in der Moskoviter Rus' des 16. Jahrhunderts und das Skazanie o knjazjach Vladimirskich, in: Russian History/Histoire Russe 28 (2001), 1-4, S. 341358. Als „Smuta" oder „Zeit der Wirren" wird die Zeit zwischen dem Ende der RurikidenDynastie mit dem Tod Fedors I. Ivanovic im Jahr 1598 und dem Beginn der RomanovDynastie durch die Wahl Michail Fedorovics im Jahr 1613 bezeichnet. „Opricnina" ist eigentlich die Bezeichnung für das Teilfürstentum Ivans, auf das er sich nach seiner Abdankung zurückzog, um dort einen eigenen Verwaltungsapparat und ein eigenes Heer in Opposition zum restlichen Land, der .JZemscina", aufzustellen. Der Ausdruck steht auch für die Zeit des Terrors. 1565-1572, in der das Heer der Opricni- 30 Cornelia Soldat In Wirklichkeit war die Elite mit dem Zaren darin geeint, sich in einem Territorialstaat, der nach der Tradition durch Einmütigkeit gelenkt wurde, möglichst umfassend zu bereichern. Die Freiheit des Einzelnen in diesem System bestand darin, dass er, wenn er zum Vorteil des Staates handelte, gleichzeitig zu seinem eigenen Vorteil handelte, eine relativ banale Erkenntnis. Als Ratgeber hatte der Einzelne das Gemeinwohl im Blick wie sein eigenes, was ihm in seiner Argumentation half. So konnte Iosif Volockij als Ratgeber/Autor des „Prosvetitel"' den Großfürsten dazu bringen, in seinem Sinne zu handeln. Dies gelang ihm dadurch, dass er den Herrscher in ein hierarchisches Weltbild hineinschrieb, in dem dieser, dessen Macht Gott gleich sein sollte, zum Erhalt dieses Weltbildes durch bestimmte Handlungen, konkret die Verfolgung der Novgoroder Häretiker, gezwungen wurde. Im Falle einer Zuwiderhandlung drohte dem Herrscher somit die moralische Konsequenz, ein schlechter Herrscher zu sein. Der zum Ratgeben gezwungene Ratgeber konnte in Iosifs Weltbild dadurch gewinnen, dass sein Rat angenommen wurde, der Herrscher sich also entschloss, gut zu sein und dem Vorbild entsprechend zu handeln. Oder der Ratgeber konnte Seelenheil durch das Märtyrertum unter einem schlechten Herrscher gewinnen. In beiden Fällen war er der moralische Sieger; seine Freiheit bestand darin, dass er in jedem Falle moralisch und religiös gerechtfertigt seinen Rat zum Staatserhalt geben konnte. Der von Iosif Volockij beschriebene konservative Weg, sich für Widerworte töten zu lassen und so gerechtfertigt dazustehen, beschreibt eine uns heute eher unverständliche Freiheit. Man muss jedoch die frühe Neuzeit aus ihren eigenen Paradigmen, Traditionen und Denkweisen heraus verstehen und nicht aus unseren heutigen, um ein zutreffendes Verständnis historischer Ereignisse zu gewinnen. Die von Iosif Volockij benutzte Strategie, die moralisierenden Belehrungen mit den Methoden eines Fürstenspiegels darzulegen, führte zur Schaffung einer vom Herrschaftssystem relativ unabhängigen neuen Ratgebergruppe von kirchlichen Hierarchen, die mit dieser Strategie wiederum Einfluss auf das Herrschaftssystem nehmen konnten. Im Folgenden sollen die Strategien erläutert werden, die diese Ratgeber in Iosifs Nachfolge anwenden konnten. Durch seine Funktion als Autor und Ratgeber wies Iosif nämlich eine neue, indirekte Möglichkeit der Ratgeberschaft auf. Indem er den konservativen Weg wählte, die Herrschaft innerhalb eines der Tradition verhafteten Weltbildes zu beschreiben, gab er gleichzeitig dem Herrscher moralische Handlungsanweisung. Dieser wiederum wurde in ein Dilemma gebracht, weil er die Handlungsanweisung nicht gut ablehnen konnte, ohne als schlechter Herrscher zu erscheinen, als einer, der seine Untertanen zu Märtyrern macht. Iosifs Konservatismus diente hier auch dem Erhalt der Ratgeberposition. na, die Opricniki, in die Zemscina einfiel, um deren Bewohner zu bestrafen. Der Ausdruck „Opricnina" wird sowohl für das Territorium als auch für die Zeit des Terrors gebraucht. Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland 31 Ulrike Graßnick hat in ihrer Untersuchung spätmittelalterlicher englischer Fürstenspiegel aufgezeigt, dass es sich beim Genre des Fürstenspiegels um ein Erziehungsinstrument handelte.25 Im Fürstenspiegel wird ein ideales Bild vom Fürsten entworfen: Dieser soll seine Besitztümer nicht missbrauchen und nicht gierig sein, da dies zu tyrannischer Herrschaft führen könne.26 Er soll vielmehr nicht über mehr Macht, Einfluss und Reichtum verfügen wollen als im Kampf gegen böse Menschen und unrechte Taten und zur Herrschaftssicherung nötig sind.27 Er soll Korruption, Verschwörung und Verrat bekämpfen und im Dienste Gottes seine Macht gnädig und mitleidig ausüben.28 Mehrfach und eindringlich warnen die Fürstenspiegel hierbei vor der Tyrannei. Um den Fürsten allumfassend zu erziehen, greifen die Fürstenspiegel auf Aristoteles' drei Teilmodelle herrscherlichen Handelns zurück und schildern den Fürsten als Person, als pater familias und erst abschließend als politischen Funktionsträger.29 Der Fürst wird also umfassend in seiner Umgebung dargestellt. Alles Handeln, auch das Private in der Familie, wird allein an seiner herrscherlichen Funktion gemessen. Ist dieses umfassende Bild vom Fürsten im Spiegel entworfen, so stellt sich das Problem, wie er dazu gebracht werden kann, diesem Bilde nachzueifern. Hier kommt nun der Ratgeber ins Spiel. In den englischen Fürstenspiegeln nimmt der Ratgeber viel Platz ein. Der Fürst wird gemahnt, eingedenk seiner eigenen Unvollkommenheit und aus Achtung vor seinem Amt, Ratgeber zu berufen.30 Wie er diese auszuwählen, zu erproben und anzuhören hat, wird ihm nahe gelegt. Das Besondere dabei besteht darin, dass der Autor des Fürstenspiegels natürlich gleichzeitig auch immer Ratgeber des Fürsten ist, also mit seiner Autorschaft gleichsam „Lobbyarbeit" für sein Amt betreibt. Indem er ein ideales Bild des Fürsten in einem Buch entwirft, das er diesem wiederum direkt widmet, schmeichelt er dem Fürsten und bringt den Geschmeichelten außerdem dazu, sein Benehmen dem schmeichelhaften Bilde anzupassen und im Idealfall den Fürstenspiegel auch noch bei der Erziehung seines Erben einzusetzen. Dass der Autor selbst auf diese Weise Karriere am Hof in seiner Position als Ratgeber machen kann, ist offensichtlich. Abgesehen davon, dass er die gleichen auktorialen Strategien benutzte, war Iosif Volockijs Ratgeberposition jedoch grundlegend verschieden von derjenigen der Schreiber der westlichen Fürstenspiegel. Iosif war als Abt des KlosULRIKE GRASSNICK: Ratgeber des Königs. Fürstenspiegel und Herrscherideal im spätmittelalterlichen England, Köln u.a. 2004 (Europäische Kulturstudien. Literatur - Musik - Kunst im historischen Kontext, 15), S. 15. Ebenda, S. 157-162. Ebenda, S. 161 f. Ebenda, S. 162 f. Ebenda. S. 15 f.: De regimine principum. Ebenda. S. 166. 32 Cornelia Soldat ters gerade kein courtier, kein Hofbeamter und damit eben nicht abhängig von einem Posten, den ihm der Herrscher übertragen hatte. Er schrieb auch kein Buch, das direkt an den Herrscher gerichtet oder ihm gewidmet war, sondern zunächst allgemeine Sendschreiben und schließlich ein Buch über die Häresie der Novgoroder Judaisierenden, in dem er Schritt für Schritt nachwies, welche von der allgemein gültigen Ordnung der Welt abweichenden Vorstellungen diese verfolgten und wie sie zurückgewiesen werden könnten. Dieses Buch wurde oft kopiert und weit verbreitet31, war also nicht nur zur Lektüre des Herrschers gedacht. Vielmehr wurde über die Verbreitung in kirchlichen Institutionen sichergestellt, dass für moralische Beratung zuständige Hierarchen mit ihm Argumentation und Strategie gleichermaßen in die Hand bekamen. Der „Prosvetitel"' wurde zu einem Ratgeberwerk für Ratgeber. Dies gelang losif Volockij dadurch, dass er ganz ähnliche Strategien wie die Autoren der Fürstenspiegel benutzte: Durch die Beschreibung des moralisch gut handelnden Herrschers wurde dieser unter den moralischen Zwang gesetzt, in dem Sinne zu handeln, den der Autor - losif - für das Beste für seinen Herrschaftsbereich hielt. Wer immer im Weiteren in diesem Sinne argumentierte, konnte sicher sein, dass sein Wort entsprechendes Gewicht hatte. Die Verbreitung des „Prosvetitel"' in der kirchlichen Hierarchie des 16. Jahrhunderts suggeriert, dass Iosifs Argumentationsweise rezipiert wurde. Die von ihm neu eingeführte Ratgeberstellung von Kirchenhierarchen, die über moralische Belehrungen Einfluss auf die Staatslenkung nahmen und gerade nicht in die Hofhierarchie eingebunden waren, zeigt sich in der Geschichte gerade dieser Ratgeber und ihres Einflusses im Laufe des 16. Jahrhunderts. Iosifs Nachfolger und die von ihm beeinflussten Klosterhierarchen erhielten nicht etwa abhängige Hofämter, sondern nahmen Stellungen in den Moskauer Dependancen der Klöster, die in der Nähe zum Zarenhof lagen, ein. Sie wurden somit zu einer sich außerhalb des Beziehungsgeflechts von Herrscher und Bojaren befindenden einflussreichen moralischen Beratungsinstanz, die ein eigenes Gewicht hatte.32 Dies zeigt sich z.B. darin, dass die im „Prosvetitel"' enthaltenen Gedanken über die Herrschaft in Moskovien im 17. Jahrhundert von den Tobolsker Kosaken in ihrer Korrespondenz mit dem Zaren benutzt wurden. Vgl. den Aufsatz von CHRISTOPH WITZENRÄTH: ,Sofiia - Divine Wisdom' and Due Process in Seventeenth-Century Siberia, in: Cahiers du Monde Russe (im Druck). Die Bedeutung der Kirchenhierarchie in der Nachfolge von losif Volockij und eigentlich auch schon von Sergij von Radonez als Berater des Herrschers ist jüngst von David Goldfrank in einem Vortrag auf dem Jahreskongress der American Association for the Advancement ofSlavic Studies im November 2007 in New Orleans, USA. eindrucksvoll nachgezeichnet worden. Von der Freiheit eines Ratgebers im frühneuzeitlichen Russland 33 Summary The Freedom of a Counsellor in Early Modern Russia Recent studies in the System of power in Early Modern Muscovy suggest that a boyar or counsellor defined his position in regard to his place within the hierarchy of the sovereign and his counsellors. This contradicts the often repeated myth of the autocratic Tsar, which derives mainly from reports by Early Modern voyagers into Muscovy and relies on proud Russians who tended to exaggerate their ruler's powers. Various sources as well as pictural representations, such as the murals of the Golden Hall in the Kremlin, speak of a balanced system of power within which the Tsar and his counsellors are more powerful together than alone, as Daniel Rowland points out. Within the God-given system of power a counsellor was supposed to give counsel not in respect of the Tsar's will, but in respect of how God's will on earth should be enacted by the Tsar. This is suggested by losif Volockij's magnum opus, the "Prosvetitel"' or "Enlightener", which may be regarded as a councellor's book like Western "Princes' Mirrors". A Princes' Mirror depicts an ideal Prince and compels the real Prince to model himself after this ideal image. An integral part of this is of course the counsel of his advisers, i.e. the very authors of the books in question. As authors of a Princes' Mirror, counsellors promote themselves within the system of power as well as their ideal model of a Prince. In losif Volockij's case the position of counsellor is not bound to a position as courtier, but may as well be tied to a monastic rank and effects his purpose through moral Instruction. The success of losif s successors suggests that the "Prosvetitel"' with his description of an ideal ruler in Muscovy became a counsel book for counsellors not only within the system of the sovereign and his counsellors, but also for moral advisers who positioned themselves at the periphery of that system to become a counselling instance of their own.