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Ver/Kvir(t)e Opazität. Migration und Un_Sichtbarkeit in Masha Godovannayas Film „Countryless and Queer“ Katharina Wiedlack (katharina.wiedlack@univie.ac.at) Abstract: Der Artikel beschäftigt sich mit queeren Sichtbarkeitspolitiken und solidarischen Repräsentationen queerer Lebensweisen im postsowjetischen Kontext. Im Anschluss an eine theoretische Problematisierung nordwestlicher queerer, feministischer und antirassistischer Sichtbarkeitspolitiken wird am Beispiel von Masha Godovannayas Film „Countryless and Queer“ (2020) gezeigt, welche Alternativen Darstellungsformen queere Solidarität haben könnte. Godovannayas Film beschäftigt sich zentral mit Problemen der queeren Repräsentation in Gesprächen mit Migrant_innen aus verschiedensten Kontexten in Wien. Anhand ihrer filmischen und narrativen Darstellungsformen wird die Strategie der Opazität oder Un_Sichtbarkeit, die es den Zuschauer_innen verweigert Opfer zu identifizieren als Möglichkeit solidarischer queerer Praxis mit marginalisierten Menschen erläutert. Darüber hinaus wird gezeigt, wie diese und weitere Strategien in Godovannayas Film queer-feministischen solidarischen Praxis des Community-Building erlauben. Schlagwörter: Film, Migration, Opazität, Queer Theory, Russland, Sichtbarkeit Eingereicht: 27. Juni 2021 Angenommen: 14. Februar 2022 Veröffentlicht: 22. März 2022 Zitationsempfehlung: Wiedlack, Katharina (2022): Ver/Kvir(t)e Opazität. Migration und Un_Sichtbarkeit in Masha Godovannayas Film „Countryless and Queer“. In: Open Gender Journal 6. doi: 10.17169/ogj.2022.181 DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2022.181 Unter redaktioneller Bearbeitung von Kathrin Ganz und Dirk Schulz https://opengenderjournal.de Creative Commons Attribution 4.0 International ISSN 2512-5192 Katharina Wiedlack Ver/Kvir(t)e Opazität. Migration und Un_Sichtbarkeit in Masha Godovannayas Film „Countryless and Queer“1 Queer-feministische visuelle Diskurse und künstlerische Produktionen sind heute und vor allem im globalen Nordwesten von Politiken der Repräsentation und Sichtbarmachung dominiert. Sichtbarkeit wird als notwendig erachtet, um gesellschaftlich anerkannt zu werden und gleichberechtigt zu sein. Sichtbarkeit in Form des ‚Out-Seins‘ wird als Bedingung für ein freies und glückliches Dasein verstanden. Ein Leben in Un_Sichtbarkeit, dem gay closet oder auch dem trans closet, wird als unfrei, unehrlich, nicht lebbar angesehen. Auch die queere Theorie versteht seit Eve Kosofsky Sedgwicks „Epistemology of the Closet“ (1990) Un_Sichtbarkeit und das closet als repressive Daseinsweise. Die Strategie des Outings und der Sichtbarmachung vielfältiger und fluider Identitäten mit vielfältigen Geschlechtern und sexuellen Praxen hat sich als ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Unterdrückung nicht-normativer Minderheiten durchgesetzt. Doch melden sich seit geraumer Zeit auch aktivistische (Lang 2020) und akademische Stimmen (Schaffer 2008; Uehlinger 2013; Koch-Rein/Haschemi-Yekani/Verlinden 2020; Brodersen/Jäntschi 2021), die Sichtbarkeit als universelle Strategie für Anerkennung und Gleichberechtigung kritisieren. Besonders im nordamerikanischen Kontext üben Aktivist*innen scharfe Kritik an queer-feministischen Sichtbarkeitspolitiken mit Blick auf die Situation von Trans*personen, besonders Women of Color (Truitt 2014; Chu 2016). Trans*frauen of Color sind die vulnerabelsten Mitglieder der queeren Community weltweit. Ihre starke Sichtbarkeit ist ihre größte Verletzlichkeit: Sie sind stärker von Armut betroffen, fallen oft aus dem sozialen Netz und sind weltweit, aber besonders in den USA, Kanada und Nordwesteuropa von tätlicher Gewalt betroffen. Seit einigen Jahren sind Trans*frauen auch besonders zur Zielscheibe rechter Aktivismen geworden (Chu 2016). Schwarze Menschen und People of Color sind in weiß-dominierten Kontexten generell von Hypervisibilität betroffen. Geschlechtertransgressive Aspekte erhöhen diese extreme Form der Sichtbarkeit von Trans*personen of 1 Dieser Beitrag wurde im Zuge des FWF-Projekts „The Magic Closet and the Dream Machine: Post-Sovjet Queerness, the Archive and the Queer Art of Resistance“ (AR 567 Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste, PEEK) entwickelt. Das Projekt wird von Ruthie Jenrbekova, Tatiana Zabolotnaya und Masha Godovannaya unter der Leitung von Katharina Wiedlack durchgeführt. OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 2 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Color und damit ihre Prekarität noch mehr. In diesem Licht ist auch der derzeit zu beobachtende rasante Anstieg an Repräsentationen Schwarzer Menschen innerhalb deutschsprachiger queer-feministischer Medien, aber auch in kommerziellen Bereichen wie der Werbung, als Reaktion auf die Solidarität mit der internationalen Black Lives Matter Movement und anderer Bewegungen kritisch zu sehen. Obwohl die Diversifikation repräsentierter Körper grundsätzlich zu begrüßen ist, besteht die Gefahr, Repräsentation als gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu missinterpretierten. Schwarze, muslimische und People-of-Color-Feminist*innen zeigen hingegen die Produktion rassifizierter Hypervisibilitäten in weiß-dominierten Gesellschaften, etwa für die Zwecke des policings und anderer Kontroll- und Ausschlussmechanismen bis hin zum Mord (Thompson 2021; Randjelovič 2016). Sie legen nahe, dass queer-feministische Kämpfe jenseits weißer westlicher Subjekte und Kontexte auch Formen für den Kampf um Anerkennung jenseits von Repräsentations- und Sichtbarkeitspolitiken brauchen. Neben ethnischen und rassifizierten Minderheiten innerhalb Nordwesteuropas und den USA kritisieren besonders Bewohner*innen Osteuropas und des Balkans Sichtbarkeitspolitiken in Form eines Coming-outs scharf (Lang 2020; Horsey 2015). Sie weisen nordwestliche LGBTIQ+-Sichtbarkeitspolitiken, die persönliche oder kollektive Coming-outs als Befreiungsschlag vorschlagen, nicht nur als für ihre Situationen und Lebensrealitäten unbrauchbar zurück, sondern machen auch deutlich, dass die Vorherrschaft ebendieser Politiken innerhalb sogenannter progressiver Diskurse koloniale Aspekte aufweist. Anschließend an solche Kritiken möchte ich Sichtbarmachung als queerpolitische Strategie generell und besonders in Hinblick auf die spezifischen Lebenswelten von Menschen aus dem und im postsowjetischen Raum hinterfragen. Es geht nicht darum Sichtbarkeits- und Repräsentationspolitiken gänzlich zu verwerfen. Es geht vielmehr darum Sichtbarkeitspolitiken als politische Formen zu begreifen, die inhärent nordwestlich geprägt sind, oder anders gesagt ein Produkt des sogenannten enlightenments. Ich verstehe Sichtbarkeitspolitiken im internationalen Kontext von queer-feministischen Solidaritäten mit Hilfe des afro-karibischen, anti-imperialistischen und dekolonialen Philosophen und Dichters Édouard Glissant (1997) und der queer-feministischen Künstler*in und Forscher*in Anna T. als koloniale Gewaltform und dekonstruiere dadurch die Annahme, dass Un_Sichtbarkeit und das gay closet notwendigerweise repressiv und unfrei sind. Anhand des Films „Countryless and Queer“ der Experimentalfilmemacherin Masha Godovannaya aus dem Jahr 2020 werde ich alternative Repräsentationsformen aufzeigen, die jenseits von Sichtbarkeitspolitiken für queere Anerkennung eingesetzt werden können. Besonders interessiert mich, OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 3 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität wie Godovannaya das Thema geschlechtlicher und sexueller beziehungsweise sexualisierter Repräsentation bearbeitet. Welche filmischen und narrativen Strategien verwendet sie? Inwiefern können diese als Strategien der Un_Sichtbarkeit identifiziert werden und welches Potential gesellschaftlicher Veränderung stellen sie dar? Neben den visuellen Darstellungen und der Inszenierung der individuellen Körper durch die filmische Perspektive werde ich hierbei auch die Wahl der Lichtverhältnisse, die Kameraeinstellungen, den Filmschnitt, die Montage, sowie die tontechnische Unterlegung untersuchen. Darüber hinaus interessiert mich auch, ob und wie die narrativen Elemente, die vom üblichen Storytelling abweichen, die Herstellung von Un_Sichtbarkeit und Un_Eindeutigkeit befördern. Die Ergebnisse meiner filmimmanenten Analyse werde ich in Hinblick auf die sozialpolitischen Kontexte, die der Film teils implizit, teils explizit adressiert, untersuchen. Durch die Verortung des Films innerhalb seines sozialpolitischen Entstehungskontextes gehe ich der Frage nach, inwieweit er feministische und queere Solidarität behandelt, beziehungsweise ob sein Entstehungsprozess bereits als solidarischer Akt bezeichnet werden kann. Dabei untersuche ich weiter, wie Godovonnaya sich selbst und den Produktionsprozess des Filmemachens in ihre Filme einbringt. Die Problematik nordwestlicher Sichtbarkeitspolitiken Kritiken von Trans*aktivist*innen (Truitt 2014; Chu 2016), Schwarzen feministischen Wissenschaftler*innen, wie etwa von Vanessa Thompson (2021) oder auch der Roma-Aktivistin, Sozialarbeiterin und Politologin Isidora Randjelovič (2016), machen deutlich, dass Sichtbarkeitspolitiken auch im sogenannten progressiven Nordwesten für viele Menschen problematisch sind, und sich nicht nur negativ auf Menschen im postsowjetischen Raum auswirken. Queer-Studies-Forscher*innen wie Jasbir Puar (2007), Jin Haritaworn, Adi Kunstman und Silvia Posocco (2014), Francesca Stella (2012) und Joseph Massad (2009) haben darüber hinaus anhand zahlreicher Beispiele gezeigt, dass nordwestliche Staaten und supranationale Institutionen LGBTIQ+-Sichtbarkeitspolitiken als Bestätigung nordwestlicher kultureller und politischer Hegemonie instrumentalisieren und für neokoloniale Zwecke einsetzen. Queere Theorie hat eine Fülle an Konzepten entwickelt, die die simplifizierenden Diskurse dekonstruieren, die schwul-lesbische und trans* Sichtbarkeit als Zeichen für die moralische und kulturelle Überlegenheit des progressiven Nordwestens präsentieren. Richtungsweisend für die Kritik an queeren, feministischen und rassismuskritischen Sichtbarkeitspolitiken, besonders im deutschsprachigen Raum, OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 4 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität ist Johanna Schaffers 2008 erschienenes Buch „Ambivalenzen der Sichtbarkeit.“ Darin kritisiert Schaffer, dass nordwesteuropäische feministische, queere und rassismuskritische Politiken und Aktivismen oft davon ausgehen, dass mehr Sichtbarkeit auch mehr politische Präsenz, mehr Durchsetzungsvermögen und mehr Zugang zu Privilegien bedeuten. Solche Politiken übersehen die komplexen Prozesse auf dem Feld der Visualität. Sie kritisiert, dass zu wenig „darüber nachgedacht [wird], wer zu sehen gibt, in welchem Kontext – und vor allem: wie, d.h. in welcher Form und Struktur zu sehen gegeben wird.“ (Schaffer 2008, 12) Anhand zahlreicher Beispiele zeichnet Schaffer nach, wie ‚sichtbar machen’ zwar mit der Forderung nach Anerkennung, nach Rechten, politischer und gesellschaftlicher Macht gleichgesetzt wird, dass die Sichtbarmachung an sich aber keineswegs dazu führt, dass politische Macht erlangt wird. Vielmehr haben feministische, queere und rassismuskritische progressive politische Zusammenhänge durch ihre Affirmation der Sichtbarkeit diese erst als politische Kategorie erzeugt (Schaffer 2008, 12). Obwohl ihre Monografie und die darin behandelten Fallbeispiele bereits mehr als eine Dekade alt sind, ist die darin geäußerte Kritik an Sichtbarkeitspolitiken heute aktueller denn je. Neben Schaffers Kritik bilden Schwarze, People of Color und dekoloniale Analysen von Hypervisibilität und daran anschließende alternative Konzeptualisierungen von queer-feministischen Kämpfen um Anerkennung einen wichtigen Hintergrund für meine Analyse von Sichtbarkeitspolitiken im postsowjetischen Raum. Nicht, weil die sehr verschiedenen Kontexte gleichzusetzen sind, sondern weil diese Kritiken die weißen Strukturen der hegemonialen nordwestlichen Diskurse zu Sichtbarkeit dekonstruieren. Diese Perspektive ist ebenso für den postsowjetischen Kontext wichtig, auch wenn die Subjekte im Zentrum dieser Kontexte nicht in gleicher rassifizierter Weise von Hypervisibilität betroffen sind. Queere Sichtbarkeitspolitiken im postsowjetischen Raum Im Sommer 2013 wurde in Russland ein Gesetz zum Verbot von „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ verabschiedet. Dieses Gesetz gegen sogenannte homosexuelle Propaganda verbietet ausdrücklich die positive Darstellung von Homosexualität gegenüber Minderjährigen. Die Debatten zur Einführung des Gesetzes waren von homophoben öffentlichen Diskursen und einer Welle tätlicher Gewalt gegen Schwule, Lesben und Trans*personen begleitet. Diese russischsprachigen Diskurse verbreiteten Homophobie und Transphobie weit über die russischen OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 5 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Staatsgrenzen hinaus. In Folge wurden homo- und transphobe Diskurse in vielen postsowjetischen Staaten aufgegriffen; staatliche Regulierungen von LGBTIQ+-Sichtbarkeit blieben allerdings zum großen Teil aus. Viele Medien im deutsch- sowie englischsprachigen Raum erklärten sich mit den Opfern homophober Gewalt solidarisch. Ein häufiges Mittel zur Solidaritätsbekundung war die Sichtbarmachung der Opfer jener Gewalt in Zeitungsartikeln oder Onlinemedien (Wiedlack 2017; Neufeld/Wiedlack 2018). Viele Medien stellten verwundete junge Männer strategisch in den Vordergrund, um Russland zur Zurücknahme des Gesetzes und zur öffentlichen Ablehnung von Homophobie zu bewegen. Diese Darstellungen führten einerseits zur Konstruktion einzelner Märtyrer, andererseits dienten sie der Bestätigung des Westens als progressiv und überlegen. Solche pro-westlichen Diskurse wurden innerhalb Russlands als Beweis für die feindliche Einstellung des Westens gegenüber der Nation instrumentalisiert (Riabov/Riabova 2014). Schwule, Lesben und Trans*personen wurden als westliche Agent*innen, als unrussisch, markiert und damit als gesellschaftliche Andere sichtbar gemacht (ebd.). Besonders bemerkenswert ist, dass viele Medien jene Opfer tätlicher Gewalt sichtbar machten, die beim Versuch selbst schwul-lesbische Sichtbarkeit innerhalb Russlands in Form von Straßenprotesten oder Pride-Events herzustellen, angegriffen wurden (Wiedlack 2017; Stella 2013). Dies erzeugte einerseits den falschen Eindruck, dass russische schwul-lesbische und trans* Communities Formen der öffentlichen Sichtbarkeit, wie Coming-outs oder Pride-Paraden als Ausdrucks- und Protestform befürworten (Stella 2013). Andererseits legen solche Repräsentationen implizit oder explizit nahe, dass Formen der Sichtbarkeit, die in nordwestlichen Nationen weit verbreitet und akzeptiert sind und in Russland verboten oder angegriffen werden, ein Zeichen des Fortschritts sind. Anders gesagt wird eine Kluft zwischen Russland und ‚dem Westen’ erzeugt, die einerseits homophobe Gewalt im Westen unsichtbar gemacht und andererseits Homophobie in Russland auf tätliche Gewalt reduziert. Ich möchte betonen, dass homophobe Gewalt in jedem Fall zu verurteilen ist. Jedoch übersieht die Stilisierung blutender junger Männer als Paradeopfer homophober Gewalt in Russland die psychische und strukturelle Repression einer großen Vielfalt nicht-normativ lebender Menschen. Um es noch deutlicher zu sagen: Opfer homophober Gewalt werden nicht als Opfer wahrgenommen, solange sie keine sichtbaren Effekte dieser Gewalt in Form physischer Verletzungen, die im öffentlichen Raum verursacht wurden, oder von Verhaftungen als Beweis aufzeigen können. Die Soziologin Francesca Stella hat in ihrer Monografie „Lesbian Lives in Soviet and Post-So- OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 6 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität viet Russia: Post/Socialism and Gendered Sexualities“ beispielsweise dargelegt, dass lesbisch lebende Frauen bis 2010 kaum mit tätlicher, jedoch mit psychischer und struktureller Gewalt, vor allem in der eigenen Familie, zu kämpfen hatten (Stella 2013). Forschende wie Stella haben darauf hingewiesen, dass es die starke Sichtbarmachung schwuler Märtyrer durch westliche Medien Lesben, Trans*personen und anderen nicht-normativen Minderheiten erschwert hat, die Gewaltformen, die ihnen begegnen, aufzuzeigen oder beispielsweise in Asylprozessen geltend zu machen. Paradoxerweise hat die westliche Solidarität, obwohl sie sich vordergründig auf einen kleinen Teil der russischen LGBTIQ+Community konzentriert hat, innerhalb Russlands ein breites Bewusstsein für die Existenz vielfältiger nicht-normativer Lebensweisen gelenkt. Dies bewirkte, dass Identitäten und Lebensformen, die zuvor nicht im Zentrum anti-liberaler und gewaltbereiter Politiken standen, durch diese Bewusstseinsschärfung jedoch in deren Blickfeld rückten. „Countryless and Queer“ Die negativen Aspekte nordwestlicher Sichtbarkeitspolitiken für vulnerable Menschen in und aus dem postsowjetischen Raum und darüber hinaus sind Thema Godovannayas Film „Countryless and Queer“. Godovannaya ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Experimentalfilmemacher*innen. Ihre Werke reflektieren höchst aktuelle politische und soziale Phänomene aus queer-feministischer Perspektive. Bereits seit Beginn ihres Schaffens hinterfragen ihre Filme Repräsentation im Kontext postsowjetischer russischer Realitäten an der Schnittstelle von Geschlecht, Queerness, Migration, Zugehörigkeit und Mutterschaft. In ihrem im Jahr 2020 veröffentlichten Film „Countryless and Queer“ fragt Godovannaya ganz explizit nach den Möglichkeiten, der Sinnhaftigkeit und den Schattenseiten queerer Repräsentationspolitik, besonders im Zusammenhang mit Migration und Mobilität. In 77 Minuten Film montiert Godovannaya Gesprächsfragmente mit fünf Personen, die, wie sie selbst, nach Wien migriert sind. Sie sprechen über deren Gründe für den Umzug nach und ihre Erfahrungen in Wien. Vier ihrer fünf Kollaborateur*innen sind vor homophober und sexistischer Gewalt in ihren Herkunftsländern geflohen. Zwei verlassen Wien unter anderem aufgrund rassistischer und anti-migrantischer Strukturen und Übergriffe während der Film entsteht. Obwohl der Titel bereits feststellt, dass es sich um einen Film zum Thema Queerness und Migration handelt, wird bis zum Schluss offengelassen, was genau diese Queerness bedeutet. Verfolgung und Flucht aufgrund von Homosexualität, Rassismus und anti-migrantischen Ressentiments werden im Voiceover OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 7 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität nur ganz selten direkt angesprochen, doch implizit sind sie während des gesamten Films präsent. Das Voiceover, in dem Godovannaya in poetischer Form über die Möglichkeiten eines solidarischen Miteinanders und filmisch-künstlerischer Repräsentation als solidarischen Akt nachdenkt, rahmt die aneinandergereihten Gesprächspassagen. Neben dem Voiceover wird der Film durch ein weiteres, visuelles Element zusammengehalten: die Stadt Wien. Obwohl die Orte eindeutig Wien erkennen lassen, weichen sie doch drastisch von den gängigen repräsentativen Bildern ab. Es werden keine neoklassizistischen Schlösser oder Palais, kein Stephansdom, keine Ringstraße oder Schloss Schönbrunn, kein Hundertwasserhaus gezeigt. Godovannaya spielt mit den Erwartungen der Zuseher*innen: Sie zeigt die Großstadt von ihrer unspektakulären Peripherie aus, im Gras einer der Wiener Parks sitzend, am Ufer der Donau oder zwischen den Weinreben des Kahlenbergs. Interessanterweise durchstreifen den Film an vielen Punkten Symbole der Mobilität: fließende Gewässer – die Donau und der Donaukanal – und Fern-, S- und U-Bahnzüge. Godovannaya lässt ihre Kollaborateur*innen jene Orte für die Gespräche selbst wählen und geht in den Gesprächen auf deren jeweilige individuelle Bedeutung ein. Dadurch wird deutlich, wie sich die Protagonist*innen in Wien ihren Raum selbst schaffen. Der Film fokussiert auf die Handlungsmacht jener Menschen, die in benevolenten, sogenannten progressiven Diskursen oftmals als machtlose Opfer viktimisiert werden. Die angeeigneten Räume queeren Lebens werden zwar einerseits als konkrete Orte identifiziert, doch gleichzeitig durch die filmische Technik sowie die Auswahl der Orte opak gehalten. Anders als nordwestliche queere Orte wie Szenelokale, Bars, Theater, Vereinslokale, Buchläden etc. können die öffentlichen Orte in Godovannayas Film nicht einfach überwacht oder attackiert werden. Ihre Kollaborateur*innen können in diesen Landschaften voller Bäume und Sträucher, U-Bahnbrücken, Unter- und Überführungen nicht einfach gefunden werden. Durch den Einsatz von 16-Millimeterfilm und Filmnegativen, werden die Landschaften zu abstrakten Bildern, in denen die Kollaborateur*innen gänzlich verschwinden: Solidarität als Un_Sichtbarmachen. In ihrem Nachdenken darüber, wie sie konkret solidarische Beziehungen mit ihren Kollaborateur*innen bilden kann, arbeitet Godovannaya sich implizit auch an den Paradigmen queerer Solidaritätspolitiken generell ab. Schon der Titel „Countryless and Queer“ spielt auf Prozesse der Identifizierung und Sichtbarmachung an. Er suggeriert einerseits, dass es hier um Solidarität mit prekären queeren Lebensweisen geht und bietet das Label ‚queer’ als Identitätspolitik für solidarische Empathie an. Diese Anspielung läuft allerdings ins Leere, denn keine der gefilmten Personen liefert den erwarteten eindeutigen Sprechakt des OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 8 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Coming-outs als queer oder als durch Homo- oder Transphobie Verfolgte*r. Das Wort ‚queer’ ist ein loser positiver Referenzpunkt für die Kollaborateur*innen, die sich identitären Zuordnungen verweigern. Durch die Einführung des Wortes „countryless“ im Titel und im Zusammenhang mit „queer“ wird auch die spielerische Aneignung der nordwestlich, und besonders englischsprachig geprägten Codes queerer Subkulturen durch die marginalisierten migrantischen Subjekte als eine Art Witz angesprochen: Das Wort „countryless“ existiert im Englischen nicht. In einem der Interviewteile des Films wird „countryless“ im Sinne von staatenlos verwendet. In seiner Verbindung mit queer kann „countryless“ aber als Disidentifikation nach dem Queer-Theoretiker José Muñoz (1999) mit dem als hegemonial empfundenen nordwestlichen Sprachgebrauch gelesen werden. Disidentifikation ist eine Form der Subjektbildung, bei der marginalisierte Subjekte sich mit Aspekten der hegemonialen, hier queeren westlichen oder österreichischen, Subkultur identifizieren. Da die Identifikation aber fehlerhaft oder unvollständig ist, wird sie nie in den normativen Identitätskonstruktionen schwul-lesbischer Identitäten oder auch gängigen lokalen Vorstellungen dessen, was es heißt queer zu sein aufgehen. Die unvollständige oder fehlerhafte und deshalb uneindeutige oder unverständliche Identifikation mit queer und nordwestlichen queeren Konzepten wird von Godovannaya programmatisch sowohl visuell als auch narrativ umgesetzt. Zusätzlich verweigert Godovannaya eine eindeutige geographische Zuordnung ihrer Kollaborateur*innen ebenso wie konkrete Leidensnarrative. Herkunftsorte, wie die Türkei, Frankreich oder der Balkan, und Sprachen (Russisch, Türkisch etc.), werden beiläufig erwähnt. Dadurch macht Godovannaya deutlich, dass es nicht um die Herkunft, sondern um die Präsenz im Hier und Jetzt, um das Miteinander genießen, die Träume und das gemeinsame Arbeiten am Film geht. Sichtbarkeitsparadigma und nordwestliche queere Bewegungsgeschichte Diese Verweigerung eindeutiger identitärer Zuordnungen, Gruppenzugehörigkeit und der Zurschaustellung queeren Leidens kritisiert Grundannahmen queer-feministischer Solidarität. Queere Solidaritätsbewegungen folgen, ebenso wie und schon länger als queere Forschung, mindestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts einem Sichtbarkeitsparadigma, das gesellschaftliche Akzeptanz und Inklusion von non-normativen Sexualitäten und Geschlechtern eng an Politiken der Repräsentation, also der öffentlichen sozialen und politischen Sichtbarkeit, bindet. Anders formuliert hat t sich eine Doktrin schwul- OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 9 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität lesbischer und trans*gender Politiken etabliert, wonach es ohne sichtbare Repräsentation auch keine Anerkennung oder Inklusion und kein erfülltes Leben geben kann. Als Prototyp des Sichtbarwerdens und des politischen Widerstandes gegen die Repression von Homosexuellen und Transgender-Personen gelten die New Yorker Stonewall Riots, bzw. die politische Parade, die am ersten Jahrestag des Aufstands in den Straßen von New York stattfand. Die Parade, die gay pride, die ein stolzes Sichtbarwerden gegen Scham und Unterdrückungpropagierte, wurde im Laufe der Zeit zur universellen Politik und Gay-Pride-Paraden zur dazugehörigen Aktionsform (Huber 2013). Internationale NGOs und westliche Staaten unterstützen bevorzugt lokale Initiativen, die durch Paraden und andere Sichtbarkeitsformen Widerstand gegen homo- und transphobe Unterdrückung leisten wollen. Im Gegenzug wird öffentliche Sichtbarkeit, gesellschaftliche und rechtliche Repräsentation, und nicht zuletzt das erfolgreiche Abhalten von Paraden als Bedingung und Zeichen für gesellschaftlichen Wandel verstanden (Pražić 2012). Und auch auf der individuellen Ebene gelten Selbstrepräsentation, Out- und Sichtbarsein als Maßstab und Ziel für ein gutes freies und progressives Leben. Unsichtbarkeit und das gay closet gelten als bemitleidenswert, unzeitgemäß und unterdrückt. Auch Wiener Gruppen setzten auf Sichtbarmachung und Gay-Pride-Demonstrationen, besonders auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Unterdrückung non-normativer Sexualitäten und Geschlechter in Russland (Neufeld/ Wiedlack 2018, 166). Gruppen wie „To Russia with Love, Austria“ veranstalteten in den letzten Jahren mehrere Demonstrationen, um auf die Schicksale russischer Queers aufmerksam zu machen und gegen das Gesetz gegen sogenannte homosexuelle Propaganda zu demonstrieren (ebd.). Godovannayas Film verweigert sich dieser Sichtbarkeitslogik gleich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits sprechen die fragmentarischen Erzählungen ihrer Kollaborateur*innen von der Unmöglichkeit und den Gefahren der Sichtbarkeit in deren jeweiligem Herkunfts- und derzeitigen Lebenskontext. Sichtbarwerden als non-normativ wird als Grund zur Migration und Flucht angerissen, wobei diese Sichtbarkeit vielfältig und unterschiedlich für die Individuen ist. Im Kontext Österreichs wird das Sichtbarsein als rassifizierte Person und die damit einhergehende rassistische Gewalt angesprochen. Andererseits reflektiert Godovannaya die Schattenseiten von Sichtbarkeit und öffentlicher Exponiertheit vulnerabler Individuen auch auf einer Metaebene. Dadurch verweist sie auf die lange geäußerte Kritik von Aktivist*innen und Forscher*innen aus dem soge- OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 10 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität nannten globalen Süden (Rodriguez 2019; Currier 2012) und Osten (Stella 2012; 2013), die auf die Problematiken weißer nordwestlicher und sichtbarkeitsorientierter Solidaritätsbewegungen hinweisen. Allerdings verlagert oder verschiebt sie die Diskussion von jenen ‚fremden’ Orten, die in „homonationalistischen“ (Puar 2007) Diskursen als ‚barbarische’ Gebiete, in denen Homophobie und Sexismus dominieren, gelten, ins ‚progressive’ Wien. Indem sie westliche anti-migrantische und rassistische Strukturen der ‚fremden’ Homophobie gleichsetzt, dekonstruiert sie das westliche und angeblich (homo)tolerante Wien. Zusätzlich zur Dekonstruktion dieser binären Konstruktion des ‚zivilisierten’ Westens und ‚barbarischen’ Ostens/Südens stellt Godovannaya auch gesellschaftliche und staatliche bzw. nationale Grenzen in Frage, indem sie zeigt, dass Communities mobil sind. Un_Sichtbarkeit als Überlebensstrategie Am deutlichsten zeigt Godovannaya die Problematik der Sichtbarkeit in der letzten Sequenz ihres Films. In den letzten fünfzehn Minuten erzählt eine Person teils auf Russisch, teils auf English, teils selbst, teils in Godovannayas Übersetzung, ihre Geschichte der Flucht nach Wien. Das Wort Flucht wird allerdings ebenso wenig verwendet wie Homosexualität als Fluchtgrund. Nur einmal fällt das Wort „Dykes“, und nur aus Godovannayas Mund. Godovannaya bietet ihrer Protagonist*in und ihren Rezipient*innen ein Wort der Zugehörigkeit an. Dieses wird von der Protagonist*in weder aufgenommen noch zurückgewiesen. „Dykes“ ist ein un_klarer Referenzpunkt, der eine Geschichte erahnen lässt, in der eine junge Frau aus den sozialen Zwängen ihrer Familie oder ihres Klans flieht, um in Wien ihr queeres Leben zu leben. Woher die junge russischsprachige Frau kommt, ist unklar. Die Erwähnung zweier Kriege in Kombination mit der Betonung des Drucks der Familie, sowie des engmaschigen Netzwerks der ethnischen Gruppe auch in der Diaspora in Westeuropa, lassen darauf schließen, dass es sich um den Nordkaukasus handelt. Das Gebiet im Südwesten Russlands hat in den letzten Jahren viel internationale Aufmerksamkeit aufgrund des starken Aufkommens staatlich sanktionierter homophober Gewaltakte bekommen (Smirnova 2020). Die dortige Verfolgung als schwul und lesbisch vermuteter Menschen ist keineswegs repräsentativ für ganz Russland. Durch die soziale Klanstruktur und die spezifische Interpretation des Islams zum Zwecke gesellschaftlicher und politischer Kontrolle unterscheidet sich das Gebiet stark vom Rest des Landes. Es gibt kein russisches Gesetz, das homosexuelle Akte an sich verbietet, und auch die Anpassung des legalen und körperlichen Geschlechts ist erlaubt. OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 11 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Trotzdem ist Sichtbarkeit für queere Lebensweisen in ganz Russland zunehmend gefährlich. Godovannayas Lebensumstände werden in ihrem Film nicht angesprochen. Aus ihrer öffentlich zugänglichen Biografie geht allerdings hervor, dass sie stark in queer-feministische Aktivismen in St. Petersburg involviert ist. Diese Hintergrundinformationen legen es nahe, ihren Film als ein Nachdenken über die Möglichkeiten von Solidarität in Zeiten eines homophoben und misogynen gesamtrussischen politischen Backlashs zu interpretieren. Eine solche Analyse darf selbstverständlich nicht zu jenen Verallgemeinerungen der Situation in Russland beitragen, die ‚Homotoleranz’ instrumentalisieren, um die russische Regierung unter Druck zu setzen, oder antirussische gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren. Stattdessen soll die Analyse die schrecklichen Ausmaße der Gewalt als eine Konsequenz der strukturellen und politischen Homophobie und Xenophobie allgemein deutlich machen. Letztere Analyse kann auch helfen, die strukturellen Äquivalenten in Westeuropa und Nordamerika zu sehen, ohne westlich hegemonialer Nivellierung beizusteuern. Westliche Politiken in ein Nachdenken über die Gesamtsituation Russlands einzubeziehen ist insofern besonders interessant, als dass westliche schwul-lesbische und transgender Solidaraktionen die Lage für non-normative Lebensweisen in diesem Raum stark negativ beeinflusst haben. Während Homosexualität davor kein großes Thema in der russischen Öffentlichkeit war, wurde das Thema durch die Organisation einer Pride-Parade in Moskau im Jahr 2006 über Nacht zu einem politischen, das sich für die Mobilisierung rechter Kräfte anbot. Die Parade wurde von einem russischen Menschenrechtsanwalt organisiert, unterstützt von der europäischen NGO ILGA, jedoch von der lokalen queeren Community abgelehnt (Stella 2013, 469ff.; Neufeld/Wiedlack 2016, 178ff.). Die Politisierung von Homosexualität kam zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Russlands Staatsmacht hatte langsam begonnen sich vom Westen abzuwenden und einen weißen Nationalismus basierend auf der Angstmache vor fremden Einflüssen zu betreiben. Die Teilnahme westeuropäischer Politiker*innen und NGOs an der Pride-Parade wurde von anti-imperialistischen und nationalistischen Stimmen als Beweis für westlichen Einfluss präsentiert. Europa wurde zu „Gayropa“ (Riabov/Riabova 2014) und so zum weit verbreiteten Feindbild. Kirche und Staat zogen darüber hinaus eine Verbindung zwischen Homosexualität und demographischer Krise. Es wurde behauptet, dass die russische Bevölkerung durch die Verbreitung der aus dem Westen importierten Homosexualität aussterbe. Zudem wurden non-normative Menschen als Bedrohung für Kinder und Jugendliche dargestellt (ebd.). OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 12 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Anti-westliche Diskurse stießen im Westen auf neue anti-russische Diskurse. Schwul-lesbische und transgender Sichtbarkeit wurde so auf beiden Seiten instrumentalisiert. Westliche Medien und Politiker*innen betrieben ein ‚RusslandShaming‘, indem sie auf die Opfer homophober Übergriffe und deren Leidensnarrative fokussierten (Wiedlack 2017). Indem westliche queere Sichtbarkeit diesem Leid gegenübergestellt wurde, wurde ein homophobes und gänzlich rückschrittliches russisches Anderes konstruiert, das durch Sanktionen diszipliniert werden sollte. Das stolze schwule Subjekt signalisiert in diesen homonationalistischen westlichen Diskursen westlichen Fortschritt und spielt damit in die Hände jener russischen Kräfte, die das sichtbare schwule Subjekt als Zeichen für westliche Einflussnahme präsentieren. Zu den negativen Folgen des Sichtbarwerdens eines politischen schwul-lesbischen und trans* Subjekts in Russland gehörte der Anstieg tätlicher Gewalt im öffentlichen Raum (Human Rights Watch 2014), die Verabschiedung des erwähnten Anti-‚homosexuelle-Propaganda‘-Gesetzes sowie weitere Gesetze, die die Arbeit von international vernetzten NGOs erheblich einschränken. Die öffentliche Aufmerksamkeit hatte nicht nur Konsequenzen für geoutete Schwule, Lesben und Transgender-Personen. Sie führte zu einer gesellschaftlichen Polarisierung und exponierte non-normative Lebensweisen, die bis dahin durch die weitverbreitete und nun beendete Unsichtbarkeit in relativer gesellschaftlicher Inklusion leben konnten (Stella 2012). Neudefinierung von Un_Sichtbarkeit Maskierung als Stärke In der erwähnten letzten Sequenz des Films erzählt Godovannayas‘ Gesprächspartnerin von der Wichtigkeit von Un_Sichtbarkeit. Sie spricht von einer Maske, die sie nicht nur im Herkunftsland, sondern auch in Wien, in das die gesellschaftlichen Bande reichen, trägt, um ihrer Familie Heteronormativität zu präsentieren. Bemerkenswert ist, dass die Maske, von der die junge Frau spricht, an keiner Stelle als unterdrückerisch per se benannt wird. Sie ist vielmehr ein Mittel, um angemessen auf die jeweilige gesellschaftliche Herausforderung zu reagieren, denn auch gegenüber der anscheinend so progressiven, jedoch von ihr nicht näher erklärten, Wiener Community trägt sie eine Maske. Diese Maske hilft ihr sich stark zu präsentieren, den Opferstatus und vermutlich auch die anti-migrantische Gewalt abzuwehren. OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 13 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Abbildung 1: Die Maske des braven Mädchens Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Godovannaya spricht mit der jungen Frau über die Problematik der Sichtbarkeit, der Masken und des Schweigens, ohne individuelle persönliche Informationen preiszugeben. Diese Strategie wird auch visuell umgesetzt. Godovannaya produziert Bilder und Szenen, die die verbal angesprochenen Themen unterstreichen und die Kommunikation mit ihren Kollaborateur*innen zeigen, ohne, dass letztere ihre Anonymität aufgeben müssen. Mit dieser Strategie bezieht sie sich auf Glissants Forderung nach dem Recht auf Opazität (Glissant 1990). Glissant warnte bereits in den 1980er und 1990er Jahren vor der gesellschaftlichen Anforderung völliger Transparenz und dem Streben nach totaler Kontrolle. Er entwickelte seine Forderung nach dem Recht auf Opazität aus einer anti-imperialistischen und rassismuskritischen Perspektive und der Erfahrung, dass hegemoniale Macht die Sichtbarkeit marginalisierter Personen nicht nur zum Zweck der Unterdrückung nutzt, sondern auch, dass die Anforderung transparent und verfügbar zu sein bereits die Ausübung der Gewalt darstellt. Die Wahl un_sichtbar oder auch undurchsichtig zu bleiben obliegt der Macht, nicht aber den Unterdrückten. Glissants Opazität ist eine poetische Strategie um der Gewalt des westlichen ‚objektiven Wissens’, der Normierung, Klassifikation und Hierarchisierung Widerstand zu leisten. Anna T. hat in ihrer 2020 veröffentlichten Publikation „Opacity – Minority – Improvisation: An Exploration of the Closet Through Queer Slangs and Postcolonial Theory“ Strategien queerer Subversion und das gay closet in Hinblick auf Glissants Forderung nach einem Recht auf Opazität untersucht. Ihre teils autoethnographische Analyse kommt zu dem OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 14 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Schluss, dass auch und besonders im 21. Jahrhundert angesichts neuer Möglichkeiten digitaler Überwachung, Anonymität und Unsichtbarkeit wertvolle und wertgeschätzte Aspekte queeren Daseins sind. Für viele queere Minderheiten werden westlich dominierte queere Solidarpolitiken, die am Glauben an die positive Wirkung öffentlicher individualisierter Sichtbarkeit festhalten, eher als Zwang nach Transparenz, denn als Mittel zur Befreiung angesehen. Angesichts homophober, transphober und xenophober Gewalt, kann individuelle und kollektive Unsichtbarkeit im Gegenteil überlebensnotwendig sein. In solchen Situationen sind Repräsentationspolitiken weder im Feld der Öffentlichkeit noch in jenem der Politik eine Möglichkeit. Glissant und T. bewegen sich im Bereich des Sprachlichen, um Repräsentations- und Transparenz- oder Sichtbarkeitslogiken durch Opazität oder Un_Sichtbarkeit zu subvertieren. Godovannaya experimentiert in ihrem Film mit verschiedenen Formen der Herstellung von Opazität, auch auf visueller Ebene. Sie verwendet Frames, die Personen im Gespräch, aber keine Gesichter oder eindeutig zu zuordnende Körperteile, zeigen. Abbildung 2: Zwei Menschen auf einer Wiener Parkbank Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Zusätzlich lässt sie ihre Kollaborateur*innen selbst filmen und zeigt diesen Prozess im Endergebnis, in dem selbige hinter ihrer alten sowjetischen 16-Millimeter Filmkamera halbverborgen agieren. OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 15 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Abbildung 3: Akteur 1 hinter der Kamera Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Abbildung 4: Akteurin 2 hinter der Kamera Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 16 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Abbildung 5: Akteurin 3 hinter der Kamera Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Durch die spätere Montage von 16-Millimeter-Filmsequenzen und digital gefilmten Sequenzen stellt Godovannaya Wirklichkeit und Wahrnehmung visuell und filmisch infrage. Der körnige, schwarz-weiße 16-Millimenter-Film macht die abgebildeten Subjekte opak und verzerrt die Wirklichkeit, die dokumentarische Filme angeblich ablichten. Abbildung 6: 16 mm Aufnahme Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Diese Künstlichkeit der Herstellung – anstelle der Abbildung – von Wirklichkeit und Körpern, Sichtbarkeit und Transparenz wird noch zusätzlich unterstrichen, indem Godovannaya den materiellen und chemischen Prozess der Filmentwick- OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 17 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität lung in die Story einbaut. Daneben durchbrechen Filmnegative und fehlerhafte Bilder die Wirklichkeitsillusion noch weiter. Im Negativ erscheinen die Drehorte, eine Parklandschaft mit Bäumen beispielsweise, als abstrakte Bilder. Abbildung 7: Negativ Gras und Baumlandschaft Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) In der erwähnten letzten Sequenz verwendet Godovannaya das Filmnegativ des Drehorts und kreiert eine Opazität, die für die relative Sicherheit, die die Kollaborateurin als Maske bezeichnet, steht. Diese Maske ist keine Tarnkappe, die völlig unsichtbar macht. Sie verschleiert lediglich etwas und bietet dadurch Sicherheit, die wiederum gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Was genau die Maske ist, ist ebenfalls unklar oder schleierhaft. Sie ist einerseits vorgespielte Stärke gegenüber der neuen Umgebung, ein Präsentieren der Erfahrung zweier Kriege und Verfolgung, die keinen Opferstatus zulässt. Andererseits und gleichzeitig ist die Maske eine Art Verschleierung, ein Verschweigen eines homosexuellen oder queeren Begehrens und damit verbundenen Begegnungen und Beziehungen; sie ist eine Art gay closet, eine Strategie, die Opazität erzeugt und ihr so erlaubt den Kontakt zur Schwester und zur Familie zu halten und sicher zu bleiben. Nach der Erzählung über die Maske spricht die junge Frau auch das Thema der Sichtbarwerdung an. Interessanterweise nennt sie dabei nicht etwa das Coming-out als Akt der Sichtbarwerdung. Stattdessen geht es um eine andere Art des Normbruchs, der paradoxerweise vielerorts als Rettung versanden wird, nämlich das Brechen mit der Herkunft, der Familie, dem sozialen Umfeld. Würde sie diesen Kontakt abbrechen, so die junge Frau, würde sie sich selbst implizit outen und damit als queer sichtbar werden, worauf mit Sicherheit mit Gewalt reagiert würde. OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 18 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität An dieser Stelle der Erzählung reiht Godovannaya den Negativaufnahmen der Landschaft eine digitale, farbige positive Version einer ähnlichen Einstellung, eine Baumlandschaft im Herzen Wiens, an. Dadurch dekonstruiert sie Wien als sicheren Ort visuell und spiegelt die Erzählung des gewaltvoll als queer Sichtbarwerdens. Die Erkennbar- oder Transparentwerdung der Umgebung steht metaphorisch für das Outing. Abbildung 8: Warum ich den Kontakt halten muss Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Abbildung 9: Sorge für die Zurückgebliebenen Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) Zusätzlich zu diesen visuellen Strategien der Herstellung von Un_Sichtbarkeit übersetzt Godovannaya in Teilen die in den Interviews wiedergegebenen Geschichten in Erzählprosa und Poesie, und transformiert und anonymisiert die OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 19 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität persönlichen Lebenserfahrungen dadurch. Sie alterniert die Erzählperspektive, indem abwechselnd die Kollaborateur*innen selbst sprechen und Godovannaya die Geschichten wiedergibt, wobei sie immer deutlich macht, dass es die Geschichten in ihrer Version, so wie sie sie gehört hat, sind. Jede Lebensgeschichte sowie jedes Bild gehen somit durch Prozesse der Übersetzung, des Filterns, des Arrangierens und der Inversion und werden so fragmentiert. Sie vermitteln konkrete Informationen über queere Erfahrungen, Lebensweisen, politische Statements und Widerstände, die allerdings keine Preisgabe der Identitäten der Personen ermöglichen. Wie bereits mehrfach angedeutet spielt Godovannaya auch durch die Verwendung des Begriffes queer mit der Verschleierung oder „Veruneindeutigung“ (Engel 2002) von Identität. Der Rekurs auf das Wort queer im russischen oder russischsprachigen Kontext lässt sich ebenfalls im Sinne Glissants und Anna T.s als Strategie der Opazität verstehen. Schwul-lesbisch und transgender orientierte Gruppen importierten den Begriff queer und verwenden ihn in seiner englischsprachigen Form oder in der slawisierten Version kvir, ohne damit auf eine konkrete lokale Identität zu gründen oder eine neue kollektive Identität zu begründen. Für die russischsprachige Öffentlichkeit ist queer/kvir völlig unverständlich und auch innerhalb der Forschung relativ unbekannt. Der Begriff wird für Politiken zu geschlechtlicher und sexueller Non-Normativität verwendet, ohne sofort von struktureller und gesellschaftlicher Gewalt betroffen zu sein. Godovannaya schreibt sich und ihre Kunst in diese Tradition der queeren Veruneindeutigung ein. Ihre Entscheidung für das Medium des Experimentalfilms an sich kann ebenfalls als Veruneindeutigung verstanden werden, nämlich als Herstellung der Opazität und Un_Sichtbarkeit des Politischen. Während eindeutig als politisch erkennbare oppositionelle Aktionen und Gruppen in Russland nahezu sofort verunmöglicht werden, bietet die Sphäre von Kunst, Kultur und Lifestyle einen Raum, der Austausch und die Distribution widerständigen Wissens erlaubt. Multiperspektive, Un_Sichtbarkeit und epistemische Hegemonie Godovannayas Strategien der Herstellung von Opazität und Veruneindeutigung gehen mit der Sichtbarmachung von epistemischer Gewalt und Wissenshegemonien in Bezug auf ihre Rolle als Filmemacherin einher. Bereits zu Beginn ihres Films macht sie sich selbst als Filmemacherin sichtbar und reflektiert in einem Voiceover die Verantwortung gegenüber ihren Kollaborateur*innen. Sie artikuliert ihren Wunsch nach einem solidarischen Miteinander und die Problematik un- OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 20 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität terschiedlicher Machtverteilung zwischen den agierenden Personen. Indem sie ihre Mach über die Darstellung nicht nur als Person hinter der Kamera, sondern auch als diejenige, die später das Material arrangiert und mit (neuen) Bedeutungen versieht, teilt, wendet sie die Strategie feministischer Wissenskritik an. Sie macht deutlich, dass ihr Film, oder Kunst generell, Wissen vermittelt, das produziert ist und macht sich selbst als (Mit-)Produzentin dieses Wissens angreifbar und vulnerabel. Dabei geht es ihr aber nicht um ein Zurückweisen der Verantwortung, sondern im Gegenteil um eine Reflexion darüber, wie diese Verantwortung wahrgenommen und getragen werden kann. In ihrem Nachdenken über solidarische Kunst und den Schaffensprozess als solidarisches Miteinander verbindet Godovannaya Sandra Hardings „standpoint epistemology“ (2004) mit T.s und Glissants Strategie der Opazität, also der Forderung nach dem Recht nicht durch Wissenschaft klassifiziert, kategorisiert und transparent gemacht zu werden. Dabei geht Godovannaya noch über Harding hinaus, indem sie ihre Autor*innenposition nicht nur sichtbar und angreifbar macht, sondern gleichzeitig dekonstruiert, indem sie ihre Kamera an ihre Kollaborateur*innen abgibt und so eine visuelle Multiperspektive ermöglicht. Bereits das Konzept, das Filmen selbst und auch der Filmschnitt werden von Godovannaya in enger Zusammenarbeit mit ihren Kollaborateur*innen erarbeitet. Dieser Prozess zielt nicht auf ein fertiges Produkt ab, sondern wird als Herstellen queerer Bündnisse und Solidarität wertgeschätzt. Dazu gehört auch, dass Godovannaya den materiellen, technischen Prozess sichtbar macht und teilweise ihre Kollaborateur*innen in die Techniken einführt. Das Einlegen des Films, das chemische Entwickeln, Trocknen und Belichten werden so Thema des Prozesses und visueller Teil des Kunstwerks. Abbildung 10: Godovannaya Quelle: „Countryless and Queer“ (Masha Godovannaya 2020) OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 21 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Daneben stehen das Material und technische Abläufe auch metaphorisch für ihren Schaffensprozess, der aus Kommunikation, aber auch der Übersetzung, der Invasion, der Un_Sichtbarmachung und Herstellung von Opazität für die queeren Leben ihrer Kollaborateur*innen besteht. Ich lese diesen Schaffensprozess als queere Solidarität, ein miteinander Arbeiten im Sinne marxistischer materialistischer Theorie (Hennessy 2006, Binnie/Klesse 2012) und als Teil einer Pädagogik der Opazität. Nicht nur die Zuschauer*innen lernen über die Wichtigkeit un_sichbar zu sein, sondern die Kollaborateur*innen lernen, wie sie technisch Opazität herstellen können. Godovannaya gibt ihren Kollaborateur*innen so viele Informationen über Ziel und Prozess des Filmes, sodass sie sich bewusst auf diesen Prozess einlassen und einen informierten Konsens geben und ihre Handlungsmacht ausbauen können. Ausblick(e) In „Countryless and Queer“ hinterfragt Godovannaya queere Repräsentationspolitiken an der Schnittstelle von Marginalisierung, Mobilität, Geschlecht und Rassifizierung. Durch diverse filmisch-visuelle Strategien der Un_Sichtbarkeit thematisiert „Countryless and Queer“ (2020) Repräsentation und Sichtbarkeit selbst aus einem subjektivierten und positionierten Blick. Es geht nicht um eine Darstellung oder Repräsentation queerer Leidensgeschichten, sondern um Anerkennung und Wahrnehmung individueller und kollektiv queerer Lebensweisen, sowie Widerstand gegen die Repressionen homophober, transphober und sexistischer Gewalt. Durch ihre umsichtige Herangehensweise, die die Schattenseiten der Sichtbarkeit und Transparenz für marginalisierte Personen und Gruppen wahrnimmt, hinterfragt Godovannaya Politiken queerer Solidarität und Repräsentationspolitiken generell. Sie erzeugt dadurch Aufmerksamkeit für den Umstand, dass Sichtbarkeit und gay pride für viele marginalisierte Personen keine nützliche Strategie sind. Ihre eigene Position und jene Teile des Films, in denen sie mit einer russischsprachigen Person kollaboriert, lassen ein Nachdenken über den spezifisch russischsprachigen Kontext zu, ohne dass der Film sich darauf einschränken ließe. Wird „Countryless and Queer“ in ein kritisches Verhältnis zu Theorien Glissants sowie den queeren Ausführungen von Anna T. gesetzt, lässt sich der Film als Statement für das Recht auf Opazität und Un_Sichtbarkeit lesen. Godovannaya macht deutlich, dass eine Analyse mit Fokus auf Sichtbarkeit die vielfältigen Widerstands- und Lebensformen ihrer Kollaborateur*innen nur in negativen Aspekten darstellen kann. Der Fokus auf Opazität, Verschleierung und Maskierung ermöglicht es dagegen agency und Widerstand abzubilden und den OPEN GENDER JOURNAL (2022) | DOI: 10.17169/ogj.2022.181 22 Wiedlack: Ver/Kvir(t)e Opazität Handlungsspielraum der Agierenden durch die Vermittlung von Wissen noch weiter auszubauen. Dadurch eröffnet der Film, als Prozess und als Ergebnis, eine Form des solidarischen Miteinanders, in dem die Stimmen und Geschichten Anerkennung finden, jedoch nicht auf Leidensnarrative reduziert werden. Darüber hinaus zeugt der Film durch seine Qualität als avantgardistisches Kunstwerk vom gemeinsamen Genießen des Lebens und ermöglicht den Genuss des Dargestellten. Durch verschiedenste visuelle und narrative Techniken macht er die Anliegen und Geschichten seiner Protagonist*innen sichtbar und erweitert deren Handlungsspielraum ohne sie zu exponieren. Dadurch wird das Produzieren avantgardistischer Filme selbst zur queer-feministischen solidarischen Praxis des Community-Building. Der Raum, den Godovannayas Film eröffnet – sowohl zwischen den Kollaborateur*innen selbst als auch zwischen dem Film und dem Publikum – verlangt nach einem neuen theoretischen Konzept. Godovannaya, Ruthia Jenrbekova, Tania Zabolotnaya und ich verwenden den Begriff des magic closet um die Un_ Sichtbarkeit schwuler, lesbischer oder queerer Identifizierungen zu bezeichnen. Dieses magic closet ist weder ein Raum der Scham oder Schande noch einfach nur Sicherheit. Das magic closet ist der lichtundurchlässige Ort, an dem queere Zuschauer*innen von Godovannaya und ihren fünf Kollaborateur*innen und deren Geschichten ‚bezaubert‘ werden und eine solidarische Haltung zu diesen herausbilden können. Literatur Binnie, Jon/Klesse, Christian (2012): Solidarities and Tensions. Feminism and Transnational LGBTQ Politics in Poland. In: European Journal of Women’s Studies 19 (4), 444–459. doi: 10.1177/1350506812466610 Brodersen, Folke/Jäntschi, Katharina (2021): Über queere Jugendliche forschen. Ansätze für Reflexion und Qualitätskriterien. In: Open Gender Journal 5. doi: 10.17169/ogj.2021.157 Chu, Arthur (2016): The dark side of ‚visibility.’ How we slept on trans people becoming the new scapegoats of the right. https://www.salon.com/2016/03/30/ the_dark_side_of_visibility_how_we_slept_on_trans_people_becoming_the_ new_scapegoats_of_the_right/ (20.06.2021). Currier, Ashley (2012): Out in Africa. LGBT Organizing in Namibia and South Africa. 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