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1636 – Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg

2020

Rezension zu: 1636 – Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung. Herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologischem Landesmuseum durch Sabine Eickhoff und Franz Schopper. Theiss-Verlag, Stuttgart 2012. 205 S. ISBN 978-3-8062-2632-4

1636 – Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung. Herausgegeben vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologischem Landesmuseum durch Sabine Eickhoff und Franz Schopper. Theiss-Verlag, Stuttgart 2012. 205 S. ISBN 978-3-8062-2632-4. Euro 18,00. Das Buch widmet sich der Auffindung und Dechiffrierung eines Massengrabes aus dem Dreißigjährigen Krieg, dass im Frühjahr 2007 von Bauarbeitern in einem Gewerbegebiet bei Wittstock a.d. Dosse bei Schachtarbeiten entdeckt wurde. Aus diesem Fund entwickelte sich ein archäologisches Projekt, das weit über die Landesgrenzen von Brandenburg hinaus Furore machte. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Massengrab und Details zu den darin bestatteten Soldaten und ihrer Zeit werden in einer attraktiv gestalteten Wanderausstellung gezeigt, die von Brandenburg über München nach Dresden führte. Das Buch entstand parallel zur Erarbeitung der Ausstellung, für deren Inhalt und Konzeption die Autorinnen ebenfalls hauptverantwortlich waren. Es erschien im Jahr 2012. In zehn sehr übersichtlich gegliederten Kapiteln werden die archäologischen Funde und Befunde im Einzelnen vorgestellt. Die Sachinformationen sind eingebettet in eine professionelle grafische Gestaltung und angereichert mit einer opulenten Bildausstattung. Zu Beginn der Publikation werden die Umstände der Auffindung des Massengrabs, dessen Bergung und die nachfolgende Erforschung sowie seine historische Bedeutung geschildert. Danach wird die Bedeutung des Massengrabs und der peripheralen landschaftlichen Gegebenheiten für die Rekonstruktion der Schlacht bei Wittstock detailliert erläutert. Darüber hinaus werden sowohl der historische Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges insgesamt als auch das Zustandekommen dieses speziellen Gefechts und die Zusammensetzung der an der blutigen Schlacht beteiligten Truppen erklärt. Dem Leser wird ein lebhafter Einblick in den Berufsalltag der Söldner und in ihre Bewaffnung und Versorgung gewährt, wobei auch die unappetitlichen Details des soldatischen Lagerlebens, inklusive Ungezieferbefall und provisorischer Toilettengang, nicht ausgelassen werden. Im mittleren Teil des Buches werden die durchgeführten anthropologischen Forschungen anhand der gefundenen Skelette erläutert und ausschnitthaft erkennbare Krankheiten und Verletzungen einzelner Skelettpartien dargestellt. Es werden typische Kampfverletzungen beschrieben und dazu die Waffen, die diese grauenhaften Blessuren verursachten. Dazu werden sogar die Situationen graphisch skizziert, als die Waffen auf die jeweilige Person einwirkten. Im Fall eines schottischen Soldaten wurde sein Gesicht über dem im Grab gefundenen Schädel rekonstruiert. Im Anschluss an die anthropologischen Darlegungen erläutern die Autorinnen die Stratigrafie des Massengrabes und zeigen auch das mit der genauen Dokumentation der Auffindungssituation verbundene Potenzial der Rekonstruktion des Bestattungsablaufes auf. Danach wird die Kleidung der toten Soldaten beschrieben, die sich in einigen Fällen aus den metallenen Bestandteilen der persönlichen Ausrüstung erkennen ließ. Dazu wird auch die Bedeutung und die Zweckmäßigkeit der unterschiedlichen Soldatenbekleidungen erklärt. Im Kapitel „Freund und Feind in einem Grab“ wird auf die Ermittlung der Herkunft der internationalen Kombattanten mit Hilfe der Untersuchung des Verhältnisses der Sauerstoff- und Strontiumisotopen im Zahnschmelz der Verstorbenen eingegangen, und am Schluss des Buches werden das Ausstellungskonzept und die Ausstellungsgrafik ausführlich dargestellt und es wird die Frage aufgenommen, ob das Massengrab überhaupt ins Museum gehört. Aus dem Anhang geht eindrucksvoll hervor, wie viele Fachleute, Sponsoren und andere Unterstützer nötig und auch bereit waren, dieses Großprojekt in der vorliegenden Qualität zu ermöglichen. Sehr aufschlussreich sind die auf die Liste der Beteiligten folgenden Hinweise auf andere deutsche und europäische Ausstellungen und Projekte zu Themen des Dreißigjährigen Krieges, zu Schlachtfeldern und zu historischen Waffensammlungen sowie der Verweis auf entsprechende Materialsammlungen im Internet. Das Buch wird durch ein Verzeichnis ausgewählter Literatur ergänzt, dessen Beschränkung dem Leser den Einstieg in das umfangreiche, dargelegte Themenspektrum erleichtert. Die Autorinnen sind ausgewiesene archäologische beziehungsweise anthropologische Fachwissenschaftlerinnen mit einer langen Ausgrabungserfahrung. Diese umfangreiche Erfahrung und auch der qualitative Anspruch an die Publikation geht aus jeder Zeile hervor. Die selbstreflektierende Frage der Autorinnen, ob das Massengrab ins Museum gehört oder nicht, muss in diesem Fall ganz klar mit „ja“ beantwortet werden, weil der Öffentlichkeit ansonsten 325 Acta Praehistorica et Archaeologica 45, 2013 einer der spektakulärsten archäologischen Befunde der letzten Jahrzehnte entgangen wäre und vor allem ein hervorragendes Buch zu einem äußerst komplexen und schwierigen Themenbereich. Durch den spezifischen Charakter des Schlachtmassengrabes, das über hundert internationale Tote aus dem Jahr 1636 in einer katastrophalen historischen Notsituation vereinigt, ist dieser Befund wie kein zweiter geeignet, an die europäische Komponente dieses historischen Krieges auf deutschem Boden zu erinnern. Was für unsere unmittelbaren Vorfahren die unauslöschlichen emotionalen Prägungen durch die Ereignisse und Folgen des Zweiten Weltkriegs waren, stellten für die Menschen des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts die Traumata aus dem Dreißigjährigen Krieg dar. Insofern geht das Buch nicht fehl in der Intention, die Darstellung der gefundenen Skelette systematisch zu personalisieren und zu individualisieren, um sich in aller Ausführlichkeit dem historischen Kontext des Dreißigjährigen Krieges widmen zu können. Die Buchstruktur entwickelt sich insgesamt logisch und zwanglos von der Auffindung des Massengrabes über dessen Bergung zur Einbindung von Spezialdisziplinen und zu labortechnischen Fachuntersuchungen und mündet in der vollumfänglichen Dechiffrierung dieses einzigartigen Befundes. Geradezu vorbildlich ist der über die reine Versammlung der archäologischen und anthropologischen Ergebnisse hinausgehende mentalitätsgeschichtliche und militärhistorische Annäherungsversuch an das Gesamtthema. Dadurch wird das Massengrab – vom Gruselfaktor befreit – zum selbstverständlichen Anlass, nachgerade zur Aufforderung, an diesen grausamen, langen Krieg auf brandenburgischem Boden zu erinnern. Durch den Dreißigjährigen Krieg wurde dieses schon immer arme Land komplett verwüstet. Dabei wurde nach Aussage des Dendrochronologen Karl-Uwe Heußner der komplette brandenburgische Eichenbestand vernichtet. Der Wiederaufbau Brandenburgs nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges unter der Ägide des Großen Kurfürsten hat ihm ewigen historischen Ruhm eingebracht. Allzu oft verkommen dabei die Lebensleistungen seiner Untertanen zur historischen Randnotiz. Dieses Buch Claudia Maria Melisch M.A. 326 aber widmet sich bewusst den Namenlosen und zeigt dabei die Faszination und die Leistungsfähigkeit der modernen Neuzeitarchäologie auf. Wer sich also nach dieser Lektüre immer noch fragen sollte, ob Neuzeitarchäologie überhaupt sinnvoll ist, weil es in der Neuzeit doch zahlreiche Schriftquellen gibt, der wird hier fast beiläufig eines Besseren belehrt. Der Leser dürfte durch die Lektüre erkennen, dass einerseits häufig erst durch archäologische Untersuchungen die Struktur von historischen Informationen erkennbar wird und dass anderseits erst die Verschränkung von archäologischen und historischen Quellen eine kontextuelle Dechiffrierung der Befunde ermöglicht. Was in dem vorliegenden Buch aus dem Wittstocker Grab herausgearbeitet wurde, ist eine exzeptionelle Gesamtleistung, die zeigt, was in der modernen Archäologie möglich ist. Real kann es in Ausnahmefällen – wie dem vorliegenden – mit überdurchschnittlichem privatem Engagement geleistet werden, weil der Einsatz modernster Methoden und Techniken an der mangelhaften finanziellen und personellen Ausstattung vieler Projekte scheitert. Das ist sehr schade, denn man wünschte sich doch nach Abschluss der vorliegenden Lektüre, noch viel öfter so profunde und spannende archäologische Darlegungen in einer derart ansprechenden Form zeitnah in den Händen zu halten. Letztlich wird hier auch wieder das Fehlen eines Überblickswerks zum aktuellen Stand der Archäologie in Berlin/Brandenburg deutlich, weil hier durch neue technische Errungenschaften und vor allem auch durch die zahlreichen Neugrabungen der letzten Jahrzehnte enorme Wissensfortschritte gemacht wurden. Von diesen Wissensfortschritten profitieren deutschlandweit bislang vor allem die populärwissenschaftlichen Medienverwerter und die Museen, jedoch nicht die archäologische Forschung selbst. Wenn sich dann Archäologen von Medienprofis dabei helfen lassen, ihr Detailwissen umfangreich und ausführlich einer grundsätzlich immer interessierten regionalen und überregionalen Öffentlichkeit zu präsentieren, dann führt das zu den allerschönsten Ergebnissen, wie man an dem besprochenen Projekt sehen kann.