— Cornelia Soldat —
Wie Nikolaj Karamzin an das
Testament Ivans des Schrecklichen kam
Ein historischer Krimi
Als Nikolaj Karamzin das Testaments Ivans IV. in den Anmerkungen zum
9. Band der Istorija gosudarstva rossijskago („Geschichte des russischen
Staates“; im folgenden Istorija) veröffentlichte (Karamzin 1824, 178), kam
dies einer kleinen, unbeachteten Sensation gleich. Von der Existenz eines
Testaments dieses wohl bekanntesten russischen Zaren hatten bis dahin
nämlich weder die Welt noch der kleine Kreis der Liebhaber des russischen Altertums etwas geahnt oder gar gewusst.
Wie Nikolaj Karamzin zum Testament Ivans des Schrecklichen kam,
geht aus den Briefen hervor, die er an Aleksej Fedorovič Malinovskij geschrieben hat. Diese Briefe wurden von Malinovskij gesammelt, während
Karamzin mit seinen Antworten weniger sorgsam umging und diese wegwarf. Die Briefe Karamzins an Malinovskij stellen deshalb nur den einen
Teil des Briefwechsels dar, haben aber den Vorteil, dass sie nach dem Tode
Malinovskijs im Jahr 1840 von dessen Frau, Anna Petrovna (neé Islen’eva),
zur Veröffentlichung freigegeben wurden (Pis’ma Karamzina 1860).
Nach einer Schriftstellerkarriere, in der er grundlegende Werke des
russischen Sentimentalismus schuf, wurde Nikolaj Karamzin im Jahr 1803
von Zar Alexander I. zum Hofhistoriographen ernannt. 1804 trat er diese
Stelle an, die mit 2000 Rubeln jährlich dotiert war. In der Denkschrift Zapiska o novoj i staroj Rossii („Memorandum über das alte und das neue
Russland“) legte Karamzin 1811 die grundlegende Linie seiner Historiographie dar. Ihm ging es darum zu zeigen, dass die Selbstherrschaft des
Zaren die einzige vernünftige Herrschaftsform für Russland sei (Karamzin 1984, 203 f.). Im Jahr 1816 bereitete Karamzin den 1. Band der Istorija
für den Druck vor und korrigierte Druckfahnen (Pis’ma Karamzina 1860,
6–15). 1817–1818 wurde der Band gedruckt und erschien im Februar 1818
in einer Auflage von 3000 Stück, die innerhalb eines Monats vergriffen
war (25).
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Karamzin hatte die Istorija nach Regierungszeiten der Großfürsten
chronologisch konzipiert (Brinkjost 2000, 178). Nachdem die ersten
sieben Großfürsten abgehandelt waren, machte er sich daran, die Regierungszeit Ivans IV. Vasil’evič zu beschreiben.
Die Briefe, die Karamzin in dieser Zeit an Malinovskij schrieb,
sind geprägt von der zunehmenden Verzweiflung Karamzins an den Taten Ivans IV. Die Quellen, die Malinovskij nach Petersburg schickte,
zeichneten ein zunehmend dunkles Bild von der Herrschaft Ivans: „Моя
Катерина Андр. должна родить в июне. […] Брожу всякое утро
пешком; а там читаю корректуры, описываю злодейства Ивашки,
иногда часа на два выезжаю, и пью чай дома с семейством или с
приятелями.“1 (Pis’ma Karamzina 1860, 36)
Die „zlodejstvija Ivaški“, die „Missetaten Ivanchens“, brachten Karamzin dazu, in den folgenden Briefen ständig nach Neuem
und Interessantem zu fragen und dies selbst noch im P.S. der Briefe
anzubringen. Seine Bitten werden zunehmend dringender. „Надеюсь и впередъ на вашу дружбу: что найдете любопытнаго, доставьте мне.“2 (13) „Сердечно благодарю васъ и за дружеское
письмо и за выписку изъ книги местничества; это все для меня
любопытно. Я ненасытымъ: прислайте какъ можно более.“3
(27 f.) „Между темъ не найдете ли еще чего нибудь о Царе Иване Вас.? Здесь удалось мне отыскать нечто любопытныя объ учреждении Опричнины, русское, современное, официальное.“4
(27) „В летописи, отысканной Г. Строевымъ въ Воскр. Монастыре нетъ ли чего особеннаго о царе Иване Васильевиче? буде
есть, то сделайте милость, прикажите списать и доставьте мне.“5
1
2
3
4
5
Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 28.11.1818: „Meine Katerina Andr.
wird im Juni gebären. […] Ich wandere den ganzen Morgen zu Fuß herum; dann lese ich
Korrekturen, beschreibe die Missetaten Ivanchens, gehe ab und zu für 2 Stunden aus, und
trinke Tee zu Hause mit der Familie oder mit Freunden.“ (Sofern nicht anders angegeben,
stammen die Übersetzungen von der Verfasserin, C. S.)
Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg 06.11.1816: „Ich hoffe ihm Voraus auf Ihre
Freundschaft: was Sie an Interessantem finden, besorgen Sie mir.“
Brief Karamzins an Malinovskij, Carskoe selo, 13.01.1818: „Ich danke Ihnen auch herzlich
für den freundschaftlichen Brief und für den Auszug aus dem Mestničestvo-Buch; das ist
alles für mich sehr interessant. Ich bin unersättlich: schicken Sie, wenn möglich, mehr.“
Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 25.03.1818: „Finden Sie nicht unterdessen
etwas über den Zaren Ivan Vas.? Hier ist es mir gelungen etwas Interessantes über die
Gründung der Opričnina herauszufinden, etwas Russisches, Zeitgenössisches, Offizielles.“
Brief Karamzins an Malinovskij, Carskoe selo, 11.09.1818: „Gibt es nicht in der Chronik,
die von G. Stroev im Voskresenskij-Kloster entdeckt wurde, etwas Besonderes über den
Zaren Ivan Vasil‘evič? Sollte es so sein, so tun Sie mir den Gefallen, befehlen Sie es
abzuschreiben und besorgen Sie es mir.“
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Wie Nikolaj Karamzin an das Testament Ivans des Schrecklichen kam
(34) „Не имею нужды повторять вамъ, любезнейший Алексей Федорович, что вы крайне одолжите меня, если найдете еще что нибудь о временахъ Царя Ив. Вас.“6 ( 38) „Вы крайне одолжите меня
сообщениямъ грамотъ Царя Ив. Вас., какия найдутся въ государ.
Московскомъ Архиве, если оне могутъ быть чемъ либо интересны.“7 (40)
Am 10.12.1820 erfährt Malinovskij von Karamzin, dass der
9. Band der Istorija bald in Druck gehe. Karamzin fragt nun auch an,
ob bei den angeforderten Akten zur Herrschaft Fedor Ivanovičs etwas
Interessantes dabei sei:
Последняя глава IX тома мною дописана; на сихъ дняхъ отдамъ въ печать, а на следующей почте отправляю къ вамъ
ящикъ съ статейными списками, прося васъ, любезнейший,
доставить мне скорее все материалы для описания ≠еодорова
царствования: кроме делъ не найдете ли и другихъ бумагъ
любопытныхъ?8 (49)
Die folgenden beiden Briefe beschreiben u. a. den Fortgang der Druckvorbereitungen über den 9. Band der Istorija: „9-й том печатаютъ,
огромный съ нотами. Доставлю его вамъ въ листахъ, но не прежде апреля. [… P.S.] Не найдете ли по вашей дружбе и еще что-нибудь?“9 (50 f.) „13 листовъ IX т. отпечатаны: къ маю выйдет.“10 (51)
Am 29.1.1822 berichtet Karamzin, dass er die Arbeit am 10. Band
beendet habe und fast alle benutzten Materialien zurückschicke. Nun
brauche er unbedingt alles über Boris Godunov und den Lžedmitrij. Au6
Brief Karamzins an Malinovskij, Carskoe selo, 10.12.1819: „Ich muss Ihnen nicht
wiederholen, liebster Aleksej Fedorovič, dass Sie mir alles borgen, wenn Sie noch
irgendetwas über die Zeiten des Zaren Iv. Vas. finden.“
7 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 01.05.1819: „Tun Sie mir bitte den Gefallen und berichten Sie über Urkunden des Zaren Iv. Vas., welche sich im staatlichen
Moskauer Archiv finden, wenn sie in irgendeiner Weise interessant sein könnten.“
8 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 10.12.1820: „Das letzte Kapitel des
neunten Bandes ist von mir fertig geschrieben; ich gebe es dieser Tage in Druck, und
schicke Ihnen mit der nächsten Post die Kiste mit den dienstlichen Stellungnahmen, ich
bitte Sie, Liebster, mir schnell alle Materialien zur Beschreibung der Herrschaft Fedors zu
besorgen: finden Sie außer Akten nicht auch noch andere interessante Schriften?“
9 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 20.01.1821: „Den neunten Band druckt
man, einen großen, mit Fußnoten. Ich besorge ihn Ihnen in Druckbögen, aber nicht vor
April. [… P.S.] Finden Sie nicht in aller Freundschaft noch irgendetwas?“
10 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 03.05.1821: „13 Bögen des neunten
Bandes sind gedruckt: er kommt im Mai heraus.“
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ßerdem fordert er das Testament Ivans IV. an: „Прошу еще прислать
мне духовную Иоанна Грознаго и поisхвальное слово Годунову,
Доктора Фридека (или какъ его зовутъ?).“11 (59)
In diesem Brief wird das Testament Ivans IV. zum ersten Mal in
einem Brief des 19. Jahrhunderts erwähnt.12 Der vorhergegangene Brief
Malinovskijs wird Karamzin auf diesen Text aufmerksam gemacht haben. In der Publikation der großfürstlichen Testamente des 18. Jahrhunderts durch Novikov ist das Testament nicht enthalten (Novikov 1788–
91). Ebenso fehlt es in den Beschreibungen des zarischen Archivs, die
nach dem Archivbrand 1613 erstellt worden sind (Opisi carskogo archiva 1960; Vyderžki 1950).
Karamzin erhält ein sehr ungewöhnliches Testament. Die erhaltenen Testamente der Moskoviter Großfürsten enthalten – ebenso wie die
Testamente anderer Verstorbener bis zum Ende des 17. Jahrhunderts –
im Wesentlichen eine Aufzählung von Schulden, die beglichen werden
sollten, sowie eine Aufteilung von Ländereien. Letztere wurden ggf. mit
den einzufordernden Steuern und Wegezöllen vererbt. Waren mehrere
Söhne da, die erbten, wurde das Land bis zum 15. Jahrhundert zu gleichen Teilen aufgeteilt. Dies entspricht der üblichen Erbteilung südlich
der Hajnal-Mitterauer-Linie, die von gleichwertigem Männererbe ausgeht (Kaser 2000). Im 15./16. Jahrhundert ging man dazu über, einen
Sohn mit der Domäne Moskau und mehr Ländereien zu bevorzugen.
Dies setzte sich jedoch nicht wirklich durch (Soldat 2007).
Das Testament Ivans des Schrecklichen enthält zunächst einen
literarischen Teil, in dem der Verfasser seine schlechte seelische und
körperliche Verfassung beklagt, dann seine Söhne belehrt und dann in
einem großen Abschnitt Gleichnisse aus dem neuen Testament in kanonischer Reihenfolge zitiert, deren Sinn im Testament nicht klar wird.
Schließlich folgen die Vererbung von Reichsregalien und ein Fürbittengebet für verstorbene Familienangehörige. Erst diesem Teil folgt eine
sogenannte Dispositio, in der den beiden Söhnen Ivan Ivanovič und Fedor Ivanovič jeweils Teile des Reiches vermacht werden.
11 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 29.01.1822: „Ich bitte Sie, mir noch das
Testament Ivan Groznyjs und die Lobrede auf Godunov des Doktors Friedeck (oder wie er
heißt?) zu schicken.“
12 Die Erwähnung des Testaments in unveröffentlichten Texten Tatiščevs halte ich aus an
anderem Ort dargelegten Gründen für nicht stichhaltig. Selbst wenn man Tatiščevs Erwähnungen für echt hält, fehlt eine Erwähnung des Testaments in allen anderen Akten
vor dem 18. Jahrhundert, insbesondere in den nach dem Archivbrand von 1613 angelegten
Verzeichnissen (vgl. Soldat 2013, 180–206).
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Wie Nikolaj Karamzin an das Testament Ivans des Schrecklichen kam
Diese wiederum beruht zu einem großen Teil auf dem Testament
Ivans III., das auf der mikrostrukturellen Ebene Stück für Stück umgestellt und zu einem neuen Text zusammengestellt wurde. Der Text bricht
am Ende ab, ohne dass die üblichen Zeugen genannt werden.13
Kurioserweise ist das Testament nur in einer kommentierten Form
erhalten. Der Kommentator ist nicht bekannt und wird auch in der dem
Testament von einem unbekannten Abschreiber vorangestellten Vorschrift nicht namentlich genannt. Diese paratextuelle Rahmung soll im
Folgenden näher erläutert werden.
Die Vorschrift
Karamzin gelang es, das Testament in einer verkürzten Form noch in
die Anmerkungen zu seinem Band über Ivan IV. einzufügen. Er überschrieb es mit „Рукопись из библиотеки А. Курбатова, списанная в
С. Петербурге въ Апр. 1739 года с копия подлинника, и доставленная
мне изъ архива Кол. Иностр. Делъуже по издании IX Тома сей
Истории.“14 (Karamzin 1824, 178)
Aus dem Briefwechsel mit Malinovskij ist nachvollziehbar, dass
Karamzin das Testament „aus dem Archiv des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten“, nämlich von Malinovskij, erhielt. Allerdings
gibt es kein Anzeichen dafür, dass dieses Testament im Archiv aufbewahrt wurde. Das einzige erhaltene Manuskript gelangte im Nachlass
Malinovskij in das Archiv.15 Die Information, dass das Testament aus der
„Bibliothek A. Kurbatovs“ stammt, findet sich im Manuskript selbst, in
der Vorschrift zum eigentlichen Text:
Списку духовной грамоты предшествует следующий заголовок, помещенный на стр. 1:
Духовная государя, царя и великаго князя Иоанна Васильевича, всея России самодержца, и прочая, и прочая, и прочая,
сочинена самим около 7080-го от сотворения мира, а от рождества христова 1572 году и содержит завещание и наставление духовная, нравоучительная и политическая, зело благо13
Eine genaue Beschreibung und Analyse der einzelnen Teile des Testaments findet sich bei
Soldat 2013.
14 „Manuskript aus der Bibliothek des A. Kurbatov, geschrieben in St. Petersburg im April
des Jahres 1739 von einer Kopie des Originals, und mir zugegangen aus dem Archiv des
Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten während der Herausgabe des neunten Bandes
dieser Geschichte.“
15 RGADA Fond 197 enthält den Nachlass Malinovskijs.
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разумныя и мудрыя, тут же и раздел государям, царевичам,
сыновьям его, царевичу Иоанну Иоанновичу и царевичу
Федору Иоанновичу.
Списана с копии, которая была списана с оригинальной сей
духовной человеком искусным и любопытным, как примечания показует.
А. Курбатова.
Списана въ Санктпетербурге в апреле месяце 1739.16 (DDG
1950, 444)
Diese Vorschrift ist insofern interessant, als dass sie nicht nur die Vorgabe für die Datierung des Testaments auf 1572 enthält, sondern auch
dadurch, dass sie auf die Überlieferungsgeschichte des Manuskriptes
eingeht. Der Text sei geschrieben „von einer Kopie“, die vom Original
stamme, und zwar irgendwann vor dem April 1739. Dies weist darauf
hin, dass im 18. Jahrhundert bereits eine Kopie und ein Original existierten, die im 19. Jahrhundert nun verschwunden sind. Kompliziert
wird diese Überlieferung, wenn man das Wasserzeichen des Papiers,
auf dem das Testament geschrieben ist, mithinzuzieht. Es stammt aus
dem Jahre 1805 (Howes 1967, 306; Klepikov 1978, 121).
Dies grenzt die Entstehungszeit des einzigen erhaltenen Textes
auf die Zeit zwischen 1805 und 1822 ein, als Karamzin das Testament
erhielt. Laut Vorschrift müssten aber zumindest eine Kopie, wenn nicht
auch das Original aus dem 18., bzw. 16. Jahrhundert erhalten sein, von
denen der existierende Text angeblich abgeschrieben wurde. Von diesen
fehlt aber jede Spur.
Forscht man nach dem Verfasser der Vorschrift, so wird die Sache
noch komplizierter. Der von Karamzin und anderen Historikern als Autor der Vorschrift identifizierte Aleksej Kurbatov starb bereits 1721, und
davon, dass er eine Bibliothek hinterließ, als er verarmt in St. Petersburg
16
„Der Abschrift des Testaments geht folgende Überschrift voraus, die auf der ersten Seite
untergebracht ist: / Das Testament des Herrschers, Zaren und Großfürsten Ioann Vasilʼevič,
des Selbstherrschers von ganz Russland, usw., usw., usw., von ihm selbst um 7080 von
der Schaffung der Welt erstellt, und von der Geburt Christi im Jahr 1572 und es enthält
sein Testament und sein geistiges Vermächtnis, moralisch belehrend und politisch, sehr
vernünftig und weise, hier auch die Aufteilung für die Herrscher, die Careviči, seine Söhne,
Carevič Ioann Ioannovič und Carevič Fedor Ioannovič. / Geschrieben von einer Kopie, die
vom Original dieses Testaments von einem sachkundigen und interessierten Menschen
geschrieben worden ist, wie die Anmerkungen zeigen. / A. Kurbatova / Geschrieben in St.
Petersburg im Monat April 1739.“ (Übersetzung nach Stökl 1972)
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Wie Nikolaj Karamzin an das Testament Ivans des Schrecklichen kam
starb, ist nichts bekannt.17 Schwierigkeiten macht auch, dass die Unterschrift Kurbatovs im Genitiv steht – oder gar auf die Autorschaft einer
nicht als historische Persönlichkeit überlieferten Frau Kurbatova schließen ließe. Wenn jedoch Kurbatov bereits 1721 starb, wer hat dann 1739
die Abschrift erstellt? Und würde nicht diese Abschrift zu der bereits
oben erwähnten Kopie und dem Original noch eine weitere Abschrift
hinzufügen? Auch von dieser Abschrift gibt es jedoch keine Spur.18
Das Spiel mit Grammatik, historischen oder nicht historischen Personen, Abschriften und Originalen sowie den Jahreszahlen lässt darauf
schließen, dass die Vorschrift die Überlieferungsgeschichte eher verschleiern soll. Sie trägt damit die Anzeichen einer Herausgeberfiktion.
Dies deckt sich mit neuesten Forschungen über Autorschaft und Herausgeberschaft in der Literaturwissenschaft. Texte ohne die romantische
Autorfunktion werden durch Rahmung durch Paratext zu Texten mit Autorfunktion. Sie erhalten Vorworte, Überschriften, Fußnoten und andere
paratextuelle Kennzeichen, die sie zu fiktionalen Texten rahmen. In den
zu fiktionalen Texten gewordenen Texten wird die Funktion Autor vom
Herausgeber ausgeführt, der fiktiv oder real sein kann (Wirth 2008, 38).
Der Herausgeber des Testaments Ivans IV. zeigt seine anonyme
Autorschaft an, wenn er den Text des Testaments durch eine Vorschrift
und einen Kommentar rahmt. Er gibt seinem Text gerade durch die Herausgeberfiktion Autorität. Karamzin benutzte Herausgeberfiktionen
selbst bei seinen Texten, um seine Autorschaft anzuzeigen. Deshalb ist
es nicht verwunderlich, dass er Kurbatov für den Abschreiber des vorliegenden Textes hielt. Die Verbindung zwischen Herausgeber und Autor war ihm bewusst. Allerdings glaubte Karamzin der Herausgeberfiktion, wie seine Aufnahme des Testaments in die Istorija deutlich macht.
Es ist jedoch auffällig, wie bereits Günter Stöckl bemerkte, dass
das Testament in allen weiteren, von Karamzin autorisierten Ausgaben,
fehlt.19 Dies lässt darauf schließen, dass Karamzin sich bei näherer Beschäftigung mit dem Testament der Funktion der Herausgeberfiktion
bewusst wurde und den Text stillschweigend entfernte. Wahrscheinlich
war es weder in Malinovskijs noch in Karamzin Sinne, dass das Testament über den Nachlass Malinovskijs, den seine Frau ins Archiv gab, in
die Archivbestände geriet.
17 Über Kurbatov und das Testament Ivans IV. vgl. Soldat 2013, 168–180; 2010a; 2010b.
18 Zur Diskussion der Vorschrift siehe Soldat 2013, 115 ff.
19 Stökl 1972, 14, FN 18. Ich habe die jeweiligen Ausgaben eingesehen und kann Stökls
Angaben bestätigen, C. S.
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Forschungen zum Testament setzen erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit weiteren akademischen Ausgaben ein,20 die bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts sämtliche Paratexte nicht mit abdrucken. Erst die sowjetische Ausgabe von 1950 druckte sowohl die Vorschrift, wenn auch erst
am Ende des Textes, als auch die Kommentare des unbekannten Kommentators ab.
Der Kommentar und der Kommentator
Auf den Kommentar und den Kommentator wird bereits in der Vorschrift
verwiesen, er wird als sachkundig und interessiert beschrieben. Durch
die Vorschrift werden die Rezipienten also darauf aufmerksam gemacht,
den Kommentar als Teil des Textes zu sehen und dem Kommentator zu
glauben, wie es der Autor der Vorschrift ebenfalls tut.
Die Kommentare sind ungleich gewichtet und lassen sich in drei
Anmerkungen zum ersten Teil und viele Sachanmerkungen zum zweiten
Teil aufteilen. Die Anmerkungen im zweiten Teil sind fast durchgehend
Anmerkungen zur Geographie der im Testament erwähnten Ortschaften,
oder Anmerkungen darüber, dass der Kommentator diese Ortschaften
nicht kennt.
Die interpretierenden Anmerkungen im 1. Teil führen den Kommentator als Historiker und einfühlsamen Menschen ein, der den Text
des Testaments, wo er etwas unklar erscheint, anhand der Biografie des
Zaren interpretiert. Hier findet sich als dritter Kommentar eine Aufzählung der Ehefrauen Ivans IV., in welcher sich der Kommentator als
skrupulöser Historiker zu erkennen gibt, weil er auch noch eine widersprüchliche Quelle aufführt. „Зде упоминает он трех жон умерших, а именно: Анастасия Романовых, Мария Черкаских, Марфа
Сабaкиных, да живая Анна, по ней была Марфа Нагих, итого 5. А
Курпский в ‚Истории‘ показует: прежде сея Анны бысть 5 жен.“21
(DDG 1950, 433)
Der Kommentator verweist auf Andrej Kurbskijs Istorija o velikom knjaze Moskovskom („Geschichte vom Großfürsten von Moskau“,
Kurbskij 1913) als Quelle dafür, dass Ivan vor der Ehe mit Anna fünf
20 No. 222 in: Dopolnenija k Aktam istoričeskim, sobrannyja i izdannyja Archeografičeskoju
kommissieju. Tom 1,2. Sanktpeterburg 1846, S. 371–389; Bachrušin 1909, 44–64; Howes
1967, 304–360.
21 „Hier erinnert er an drei verstorbene Ehefrauen, und zwar: Anastasija Romanova, Marija
Čerkasskaja, Marfa Sobakina, und die noch lebende Anna, nach ihr kam Marfa Nogaja,
insgesamt fünf. A. Kurbskij gibt in der ‚Geschichte‘ an: vor dieser Anna waren fünf Ehefrauen.“
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Wie Nikolaj Karamzin an das Testament Ivans des Schrecklichen kam
andere Ehefrauen gehabt habe. In den Briefen an Malinovskij erwähnt
Karamzin die Ehefrauen Ivans IV. zweimal. Zum einen in einem Brief,
in dem er um Akten des großen Historikers aus dem 18. Jahrhundert,
Gerhard Friedrich Müller (1705–1783), Professor für Geschichte an der
Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften, bittet.
Вотъ и запрось: не возвратить ли вамъ часть статейныхъ списковъ, уже мне не нужную, т.е. до 1573 года? или уже все вместе? И вотъ просьба: пришлите мне изъ портъ-фели Миллера
его пиесы о бракахъ Царя Ивана Васильевича, а изъ Архивскихъ книгъ Кояловича историю Литвы,22 и из моихъ книгъ
два или три тома in-folio польскихъ историковъ: чемъ меня
одолжите. Жду также отъ васъ, за деньги, 2 тома грамотъ.23
(Pis’ma Karamzina 1860, 38 f.)
Unter „Gramoty“ fasst Karamzin die von Malinovskij mit vorbereiteten
und teilweise von ihm herausgegebenen Sammelbände mit Staatsakten
und -verträgen zusammen. Diese erschienen bis 1828, die ersten drei
Bände noch zu Karamzins Lebzeiten.24 Sie enthalten einen großen Teil
der Vorlagen für den zweiten Teil des Testaments, in dem es um das
Weitervererben von Staatseigentum geht.
Einen Monat später fragt Karamzin noch einmal nach den Akten
von Müller und präzisiert, welche Informationen über die Eheschließungen Ivans IV. er genau braucht: „Нетъ ли у васъ особенной Миллеровой пиесы о бракахъ Царя Ив. Вас.? Кажется, что я где-то читалъ ее;
искалъ въ ежемесячн. сочиненияхъ и не нашелъ.“25 (40)
22
Es ist hier nicht klar, von welchem Buch Karamzin schreibt. Evtl. ist der litauische Historiker Vojcech (Albert) Kojalovič (1609–1677) gemeint.
23 Brief Karamzins an Malinovskij, Carskoe selo, 07.03.1819.: „Hier eine Anfrage: Sollte
ich Ihnen nicht den Teil der Artikel, die ich schon nicht mehr brauche, also bis 1573, zurückschicken? Oder nur alle zusammen? Und hier eine Bitte: Schicken Sie mir aus der
Mappe Müller sein Stück über die Eheschließungen des Zaren Ivan Vasil‘evič, und aus den
Archivbüchern die Geschichte Litauens von Kojalovič, und von meinen eigenen Büchern
zwei oder drei Bände in-folio von polnischen Historikern: womit ich in Ihrer Schuld stehe.
Ich erwarte von Ihnen auch noch, für Geld, zwei Bände Gramoty.“
24 Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov chranjaščichsja v Gosudarstvennoj kollegii
inostrannych del, Bd. 1–4. Bd. 1. Hg. von Nikolaj Petrovič Rumjanskij. Moskva 1813, Bd.
2, Hg. von Aleksej Malinovskij. Moskva 1819, Bd. 3. Hg. von Aleksej Malinovskij. Moskva
1822, Bd. 4. Hg. von Aleksej Malinovskij. Moskva 1828. Zur Diskussion der Vorlagen für
das Testament s. Soldat 2013, 371–394.
25 Brief Karamzins an Malinovskij, St. Petersburg, 04.04.1819: „Haben Sie nicht ein bestimmtes
Stück von Müller über die Ehen des Zaren Iv. Vas.? Es scheint, dass ich es irgendwo gelesen
habe; ich habe es in den Monatsschriften gesucht und nicht gefunden.“ Karamzin bezieht sich
287
Cornelia Soldat
Sollte Karamzin also noch Informationen über die Ehefrauen Ivans IV.
brauchen, so hält der Kommentator sie für ihn bereit, und zwar nicht nur
aus den Papieren Müllers, sondern auch aus einer eher als zeitgenössisch
anzusehenden Quelle, der „Geschichte“ Kurbskijs.26
Eine Mystifikation
Mit Vorschrift und Kommentar erhält das Testament Ivans des Schrecklichen alle Kennzeichen einer Mystifikation, einer Fälschung eines ganzen
Textes (Lann 1930). Es erscheint in der gleichen Form, in welcher das Testament Vladimir Monomachs von Graf Musin-Puškin 1793 herausgegeben worden war. Das „Testament“ Vladimir Monomachs, das man auch
als eine „Belehrung“ bezeichnet hat, ist ursprünglich ein Teil der altrussischen Chronik, der Suzdal’er Chronik (Suzdalʼskaja letopisʼ). MusinPuškin veröffentlichte es unter dem zweideutigen Titel „Testament-Belehrung“ mit einer Einführung und einem Kommentar (Musin-Puškin 1793).
Aleksej Malinovskij war Teil des Kreises um Graf Musin-Puškin und wird
die Veröffentlichung des Grafen ebenso wie Karamzin gekannt haben.27
Das Testament Ivans des Schrecklichen ist eher nach dem Beispiel
dieser, nachträglich als Testament bezeichneten Belehrung literarisch
geformt, als nach den ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert zugänglichen
anderen Testamenten der russischen Großfürsten, die bis 1504 alle fast
durchgehend im Original erhalten geblieben sind und die von Novikov
im Ganzen veröffentlicht worden sind.
Die Einführung eines Kommentators in die Mystifikation ist ein
Schritt, den ansonsten recht zwiespältig zu lesenden Text zu beglaubigen.
Seit der Antike wird der Kommentar benutzt, um einen kanonischen Text
fortzuschreiben und wieder lesbar zu machen (Assmann 1995). Umgekehrt
adelt jedoch auch der Kommentar den Text und kanonisiert ihn. Wird ein
Text gleich mit Kommentar veröffentlicht, so kann dies zu einer sofortigen
Kanonisierung dieses Textes führen. Der Kommentar weist dem Text einen außerordentlichen Stellenwert im Kanon zu und dient deshalb dazu,
sowohl sein Alter als auch ihn selbst zu beglaubigen (Raible 1995).
Durch das Einfügen des Kommentars tritt der Scripture-Effect
(Ithamar Gruenwald) ein, ein soziologisches und psychologisches Phänomen, das Texten Autorität verleiht (Gruenwald 1995). Im Fall des Testaments Ivans IV. tritt es für beide Texte ein. Der Kommentar kanonisiert
hier eventuell auf einen Text in RGADA, f. 199, portfelʼ G. F. Millera, No. 184, č. II, d. 11.
26 Eine genaue Analyse sämtlicher Kommentare befindet sich bei Soldat 2013, 151–159.
27 Zum Kreis Musin-Puškins vgl. Kozlov 1988, 187 ff.
288
Wie Nikolaj Karamzin an das Testament Ivans des Schrecklichen kam
den Text, der Text autorisiert den Kommentar, beiden Texten wird umstandslos geglaubt (Soldat 2013, 163 ff.).
Die Aufbewahrung des Manuskripts nach seiner Rücksendung im
Privatarchiv Malinovskijs lässt auf Skrupel schließen, das seit Jahrhunderten Originale verwahrende Moskauer Archiv des Außenamtes mit
einer Mystifikation, und seien in ihr auch Hinweise auf die Unechtheit
versteckt, zu ‚kontaminieren‘ und den Wert des Archivs zu schmälern.
Zusammenfassung
Das Testament Ivans des Schrecklichen von 1572 ist eng mit dem Briefwechsel verbunden, den Karamzin als Hofhistoriograph mit dem Leiter des Archivs des Außenamtes Aleksej Malinovskij führte. Die Briefe
Karamzins zeigen, dass dieser während seiner Arbeit an der Biografie
Ivans IV. nicht nur an den Taten des Zaren verzweifelte, sondern auch
immer dringendere Bitten zu Malinovskij nach Moskau sandte, ihm interessantes Material über Ivan zu schicken. Das Testament, in dem der Zar
in einem ersten Teil seine Untaten bereute, war durchaus dazu angetan,
Karamzin etwas Interessantes zu bieten, und ihm gleichzeitig auch die
Möglichkeit zu geben, seine Geschichte des russischen Staates zielgerecht zu Ende zu schreiben.
Karamzins Ziel beim Schreiben der Istorija war es zu zeigen, dass
die Selbstherrschaft der russischen Zaren die beste Staatsform für Russland sei. Die von ihm in den Quellen gefundenen Taten Ivans waren geeignet, dieses Ziel zu zerstören. Wenn der Zar aber am Ende seine Taten
bereute, so konnte Karamzins Geschichtsbild auf diese Weise wiederhergestellt werden.
Der Text des Testaments, wie Karamzin ihn schließlich 1822, als
der Haupttext der Istorija bereits im Druck war, bekam, war paratextuell so gerahmt, dass er der intratextuellen Reue des angeblichen Autors
Ivan IV. Glaubwürdigkeit verlieh. Das Einfügen eines fiktionalen Herausgebers war die eine Möglichkeit, diesem durch die Vorschrift des
Textes Glaubwürdigkeit zu geben. Dies funktionierte bis ins 20. Jahrhundert, in dem Historiker versuchten zu erklären, warum der Zar ausgerechnet 1572 ein Testament schrieb, wenn Testamente im alten Russland
ansonsten normalerweise erst auf dem Totenbett geschrieben wurden.28
Des Weiteren trug die paratextuelle Rahmung des Textes durch einen
Kommentar dazu bei, ihm weitere Glaubwürdigkeit zu verleihen und ihn
28 Vgl. zum Beispiel die Datierung von Veselovskij 1947, 505–520. Zum Schreiben des Testaments auf dem Totenbett vgl. Soldat 2007.
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Cornelia Soldat
gleichzeitig zu kanonisieren. Der Scripture-Effekt konnte so eintreten,
und der Text im Prinzip bis zu Edward Keenans Rezension im Jahr 1974
von Historikern nicht infrage gestellt werden (Keenan 1974). Literaturwissenschaftler haben im Gegenteil bereits früh erkannt, dass es sich
um eine fiktionale Rahmung eines fiktionalen Textes handelte, dem auf
diese Weise Autorität zugesprochen werden sollte. Sie beschäftigen sich
deshalb, im Gegensatz zu Historikern, nicht mit diesem Text.
Die paratextuelle Rahmung verweist ebenfalls in Teilen des Kommentars auf den Briefwechsel Malinovskijs mit Karamzin. Karamzin
gab Malinovskij teilweise genaue Anweisungen, welche Papiere er genau
brauchte, um welche Inhalte belegen zu können. So fragte er nach den
Papieren Müllers und den Ehen Ivans IV. Der Kommentator beantwortete diese Fragen zum einen aus den Papieren Müllers, zum anderen jedoch
auch noch mit einer weiteren Quelle.
Es zeigt sich also, dass sowohl der Text des Testaments an sich, als
auch der Paratext mit den Briefen Karamzins an Malinovskij verbunden
sind. Diese Verschränkung weist in hohem Maße darauf hin, dass es sich
bei dem Testament um eine Mystifikation handelt. Die Beglaubigungsstrategien, die angewendet wurden, entfalten bis heute ihre Wirkung.
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