Wider den Reduktionismus : Ausgewählte Beiträge zum Kurt Gödel Preis 2019 / Passon, Oliver; Benzmüller, Christoph
(Hrsg.). - Berlin : Springer Spektrum, 2021. - S. 93-99. - ISBN 978-3-662-63186-7
https://dx.doi.org/10.1007/978-3-662-63187-4_7
Physik ohne Reduktion
Rico Gutschmidt
Nach dem vorherrschenden reduktionistischen Selbstverständnis der Physik sind
höherstufige physikalische Theorien als Grenzfall in grundlegenderen Theorien enthalten und daher im Prinzip überflüssig. Höherstufige Theorien werden laut dieser Sichtweise nur aus dem pragmatischen Grund verwendet, für ihren jeweiligen
Bereich besser anwendbar zu sein. Es gibt zwar verschiedene Modelle der Reduktion
physikalischer Theorien, dieses Selbstverständnis lässt sich aber am besten mit dem
Modell der eliminativen Reduktion auf den Begriff bringen, nach dem eine Theorie
auf eine andere reduziert wird, wenn sie im Prinzip nicht mehr benötigt wird, da alle
von ihr erklärten Phänomene auch von der reduzierenden Theorie erklärt werden.
Laut diesem Reduktionskonzept darf die reduzierende Theorie bei ihren Erklärungen
nicht auf die Begriffe, Konzepte und Modelle der reduzierten Theorie zurückgreifen, da diese sonst immer noch gebraucht würde und nicht überflüssig wäre. Obwohl
das reduktionistische Selbstverständnis der Physik auf diesen eliminativen Reduktionsbegriff hinausläuft, ist es sich über diesen naheliegenden Punkt offenbar nicht
im Klaren, da er zu einer Frage führt, die die reduktionistische Position beantworten
müsste, aus prinzipiellen Gründen aber nicht beantworten kann. Diese Frage wird im
Folgenden entwickelt. Der besondere Witz dieser Frage wird darin bestehen, dass sie
keine Phänomene oder Theorien ins Spiel bringt, die in der Fachwelt umstritten oder
nicht al!gemein anerkannt sind, sondern auf einer ganz basalen Reflexion beruht, die
das Modell der eliminativen Reduktion auf den etablierten Stand der Physik bezieht.
Der erste Schritt auf dem Weg zu dieser Frage besteht in einem genaueren Blick
auf die Redeweise, eine Theorie sei in einer anderen als Grenzfall enthalten. Diese
Redeweise suggeriert, eine solche Grenzfalltheorie sei in obigem Sinne überflüssig,
da eine Erklärung mit dieser Theorie im Prinzip auf eine Erklärung mit der grundlegenderen Theorie hinausläuft. Dagegen spricht aber der einfache Punkt, dass sich
die Vorhersagen der beteiligten Theorien in allen interessanten Fällen widersprechen,
R. Gutschmidt (181)
Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland
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Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-11dpc4aw5cmto3
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weshalb es sich bei einem solchen Grenzfall nicht um eine logi sche Ableitung der
einen Theorie aus der anderen Theorie handeln kann, sondern eher um eine näherungsweise Herleitung. So fallen etwa nach dem Galileischen Fallgesetz Körper
mit konstanter Beschleunigung auf die Erde, während diese Beschleunigung nach
dem Newtonschen Gravitationsgesetz mit kleinerem Abstand zur Erde zunimmt.
Nach Newton ist die Beschleunigung erst konstant, wenn der Körper bereits auf
der Erde liegt, während das Galileische Gesetz der konstanten Beschleunigung für
fallende Körper gilt. Dies ist ein klarer Widerspruch in den Vorhersagen der beiden Theorien, die daher nicht logisch ineinander enthalten sein können, sondern
in einer Näherungsrelation stehen, nach der für kleine Abstände zur Erdoberfläche
aus der Newtonschen Perspektive näherungsweise das Galileische Fallgesetz gilt.
Der entscheidende Punkt an dieser Überlegung besteht nun darin, dass es sich bei
einer solchen näherungsweisen Herleitung ohne logische Ableitung um eine Näherungsrelation zwischen zwei unabhängigen und eigenständigen Theorien handelt.
Über die besagten Widersprüche hinaus habe n physikalische Theorien ihre jeweiligen Grundannahmen und Modelle, von denen man zwar zeigen kann, dass sie in
bestimmten Bereichen ähnliche Vorhersagen machen, was aber, trotz der üblichen
Redeweise, nicht bedeutet, dass eine Theorie in der anderen enthalten ist. Wenn
eine Theorie tatsächlich in einer anderen Theorie enthalten wäre, würden sich die
Theorien nicht nur nicht widersprechen, sondern auch dieselben Grundannahmen
und Modelle verwenden, da sich nur so eine logische Relation etablieren lässt. Das
ist aber in allen interessanten Beispielen nicht der Fall. So beruht das Newtonsche
Gravitationsgesetz auf dem Konzept der Kraft, das es im Galileischen Ansatz nicht
gibt. Trotz der näherungsweisen Herleitung ist daher das Galileische Fallgesetz nicht
in der Newtonschen Theorie enthalten, sondern bleibt ein eigenständiges Gesetz, das
für Körper in der Nähe der Erdoberfläche eine ähnliche Vorhersage macht wie das
Newtonsche Gravitationsgesetz. Das ist eine geradezu triviale Feststellung, die auch
kein Reduktionist bestreiten würde. Dennoch hat sie weitreichende Konsequenzen
für eine reduktionistische Position, wie sich im Folgenden zeigen wird.
So besteht der zweite Schritt auf dem Weg zu der unbeantwortbaren Frage in
der Folgerung, dass höherstufige Theorien nicht deshalb überflüssig sind, weil sie
in grundlegenderen Theorien logisch enthalten wären, was sie, wie gezeigt, nicht
sind, sondern weil die grundlegenderen Theorien die Phänomene erklären können ,
die von den höherstufigen Theorien erklärt werden. Dabei sind die Erklärungen der
grundlegenderen Theorien üblicherweise auch besser als die der höherstufigen, was
sich nicht zuletzt darin zeigt, dass der Grad der Abweichung zu den Erklärungen der
höherstufigen Theorie angegeben werden kann. Wenn die reduktionistische Position
also über das Bestehen einer näherungsweisen Herleitung hinaus behauptet, dass
höherstufige Theorien durch grundlegendere Theorien überflüssig geworden sind,
kann sie nach dem ersten Schritt der Argumentation nicht darauf verweisen, dass
diese in letzteren enthalten seien, sondern muss im Sinne des Modells der eliminativen Reduktion die Frage beantworten, wie die grundlegenderen Theorien alle
Phänomene erklären können, die von der jeweiligen höherstufigen Theorie erklärt
werden, und zwar ohne dabei Konzepte der höherstufigen Theorie zu verwenden, da
diese sonst nicht überflüssig wäre. Auch dies ist eine geradezu triviale Forderung,
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die aber im Kern bereits die gesuchte unbeantwortbare Frage enthält: Solange eine
Theorie zur Erklärung von physikalischen Phänomenen noch benötigt wird, ist sie
trotz näherungsweiser Herleitung aus einer anderen Theorie nicht überflüssig.
Im dritten Schritt der Argumentation wird nun e ntsprechend gezeigt, dass diese
trivial erscheinende Forderung nicht in jedem Fal l erfüllt werden kann, da zahlreiche
physikalische Phänomene nach wie vor von den jeweils zuständigen höherstufigen
Theorien erklärt werden, ohne dass eine Erklärung allein durch eine grundlegendere
Theorie vorliegt. Im Kontext der Gravitationsphysik erklärt zwar das Newtonsche
Gravitationsgesetz das Phänomen fallender Körper, und zwar sogar besser als das
Galileische Fallgesetz, womit dieses tatsächlich überflüssig ist. Für das Verhältnis
zwischen dem Newtonschen Gravitationsgesetz und der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Sache aber nicht so einfach. Zunächst können zwar Näherungsbeziehungen zwischen den Gesetzen dieser Theorien entwickelt werden, bei denen es sich
aber nicht um logische Ableitungen handelt. Neben den Widersprüchen in den Vorhersagen sind die Unterschiede in den Grundannahmen und Modellen der T heorien
so fundamental, dass sie nicht im Sinne der Logik überbrückt werden können. Im
Rahmen solcher Näherungsbeziehungen werden etwa aus den Gesetzen der Allgemeinen Relativitätstheorie Konzepte entwickelt, die unter bestimmten Bedingungen
denen der Newtonschen Theorie ähneln, aber nie ganz entsprechen. Es wird zum
Beispiel argumentiert, dass im GrenzfaJI einer leeren Raumzeit ohne Massen die
Bedingungen des Newtonschen Modells gelten, wobei letzteres aber Interaktionen
zwischen echten Massen beschreibt, die es in einer leeren Raumzeit gerade nicht
gibt. Wie im Verhältnis zwischen Galileis Fallgesetz und der Newtonschen Gravitation gibt es zwar Näherungsbeziehungen, aber keine logische Ableitung; es handelt
sic h um zwei eigenständige und unabhängige Theorien, die nicht logisch ineinander enthalten sind. Während aber die Newtonsche Theorie ebenfalls fallende Körper
beschreibt und damit das Galileische Fallgesetz tatsächlich überflüssig macht, gibt
es zahlreiche Gravitationsphänomene, die von der Newtonschen Theorie erklärt werden, aber nicht von der Allgemeinen Relativitätstheorie.
So wird die Interaktion zwischen den Planeten im Sonnensystem trotz Allgemeiner Relativitätstheorie mit dem Newtonschen Gravitationsgesetz beschrieben,
da die Feldgleichungen für eine derart komplexe Konstellation nicht ohne Weiteres
gelöst werden können. Mit der Schwarzschi ldlösung wird zwar eine kleine Anomal ie
in der Bahn des Merkur erklärt. Die für die Planentenbahnen viel maßgeblicheren
Interaktionen zwischen den Planeten lassen sich aber mit der Schwarzschild-Lösung
aus prinzipiellen Gründen nicht beschreiben, da sie von einem Universum mit einer
einzigen, zentralen Masse ausgeht und die Planeten als masselose Probeteilchen
ansieht. Die Interaktionen zwischen den tatsächlichen Massen der Planeten kann so
prinzipiell nicht erfasst werden, und sie werden auch nach wie vor mit der Newtonschen Physik beschrieben. Dabei kann man nun aber nicht sagen, es würde sich
wegen der Grenzfallrelation letztlich um eine Erklärung der Allgemeinen Relativitätstheorie handeln, da diese Relation, wie gezeigt, bei näherem Hinsehen eine
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Näherungsbeziehung zwischen zwei eigenständigen und unabhängigen Theorien
darstellt. Die Newtonsche Theorie ist also tro tz dieser Näherungsbeziehung ganz
offensichtlich nicht überflüssig. Dies wäre erst der Fall, wenn die Interaktionen zwischen den Planeten allein mit den Konzepten der Allgemeinen Relativitätstheorie
beschrieben werden könnten, ohne dabei die Konzepte der Newtonschen Theorie zu
verwenden. So müssten die Feldgleichungen für das gesamte Sonnensystem mit allen
einzelnen Massen aufgestellt und gelöst werde n. Ähnliches gilt fü r Doppelsternsysteme, Sternhaufen, oder Galaxien bzw. Galaxie ncluster. All dies sind Phänomene, die
von der Newtonschen Theorie beschrieben werden, nicht aber von der Allgemeinen
Relativitätstheorie. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Feldgleichungen für diese
komplexen Konstellationen nicht gültig wären; die Allgemeine Relativitätstheorie
ist ohne Frage die bessere Gravitationstheorie . Es kann aber sogenannte emergente
Phänomene geben, die zwar den Feldgleichungen genügen, aufgrund ihrer Komplexität aber nicht ohne Zuhil fenahme geeignete r höherstufiger Theorien beschrieben
werden können. Wenn man also behauptet, die Newtonsche Gravitationstheorie sei
im Prinzip überflü ssig, müsste man solche emergenten Phänomene ausschließen,
indem man zeigt, wie sich alle die genannten komplexen Konstellationen allein in
Begriffen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschreiben lassen. Für die Physik
sind solche Beschreibungen nicht notwendig, d a alle diese Phänomene mit der Newtonschen Physik beschrieben werden, was aufgrund der besagten Näherungsbeziehungen auch gut gerechtfertigt ist. Es geht hier lediglich um die prinzipielle Frage,
ob die Newtonsche Gravitationstheorie nicht mehr gebraucht wird.
In dieser Frage ist es nun naheliegend zu argumentieren, dass sich die Feldgleichungen im Prinzip für alle die genannten komplexen Konstellationen aufstellen und
numerisch lösen lassen. Selbst wenn solche Computersimulationen die gegenwärtigen Rechnerkapazitäten deutlich übersteigen, scheint man doch sagen zu können,
dass die genannten, anscheinend emergenten Phänomene prinzipiell numerisch mit
den Feldgleichungen beschrieben werden können. Demnach würde man die Newtonsche Gravitationstheorie nur aus pragmatischen Gründen verwenden, im Prinzip
wäre sie überflüssig. Gegen diese Auffass ung lassen sich aber durchaus Argumente
ins Spiel bringen. So muss j ede numerische Simulation Startwerte voraussetzen,
die man nicht ohne Zirkelschluss aus der Simulation selbst gewinnen kann. Bei
den Computermodellen verschmelzender Schwarzer Löcher zum Beispi el beginnt
die Simulation in einer Entfernung, die sich (post-)newtonsch beschreiben lässt. Da
sich entsprechende Startwerte aufgrund der Komplexität nicht aus den Feldgleichungen ableiten lassen, wird die Newtonsche Theorie also auch bei einer numerischen
Lösung der Feldgleichungen in einem emi nenten Sinne nach wie vor benöti gt. Außerdem müssen die Zahlenwerte einer numerischen Simulation physikalisch interpretiert werden, wozu im Falle der Simulation verschmelzender Schwarzer Löcher wiederum Konzepte der Newtonschen Theorie herangezogen werden. Dies gilt übrigens
bereits für die exakte Schwarzschild-Lösung, bei der sich eine Integrationskonstante
nur durch den Vergleich mit dem Newtonsche n Grenzfall als zentrale Masse interpretieren lässt. Die Probleme der Startwerte und der Interpretation sprechen damit
gegen die Behauptung, die Newtonsche Theorie sei im Prinzip überflüssig. Allerdings
lässt sich die Möglichkeit, die besagten komplexen Konstellationen dennoch allein
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mit den Mitteln der Allgemeinen Relativitätstheorie zu beschreiben, nicht absolut
ausschließen. Auch wenn die aufgeführten Argumente dagegen sprechen und es derzeit nicht danach aussieht, kann der Reduktionist auf zukünftige Rechnerkapazitäten
und numerische Methoden verweisen, die vielleicht doch eine Erklärung sämtlicher
von der Newtonschen Physik beschriebener Gravitationsphänomene in Begri ffen der
Allgemeinen Relati vitätstheorie ermöglichen und damit die Newtonsche Gravitati onstheorie im hier beschriebenen Sinne überflüssig machen würden.
Im vierten und letzten Schritt der Argumentation wird daher nun gezeigt, dass
die entsprechende Frage im Fall des Verhältnisses zwischen Newtonscher Mechanik
und Quantenmechanik auch im Prinzip nicht beantwortet werden kann: Wie lässt
sich die makroskopische Welt in Begriffe n der Quantenmechanik beschreiben, ohne
dabei Newtonsche Konzepte zu verwenden? Dabei handelt sich um eine physikalisch
nicht motivierte Frage, da solche Beschreibungen nicht notwendig sind, schließlich
gibt es j a für den makroskopi schen Bereich die Newtonsche Theorie. Eine redukti oni stische Position aber, die dem Selbstverständnis der Physik entspricht, nach dem
höherstufige physikalische Theorien als Grenzfall in grundlegenderen Theorien enthalten und daher im Prinzip überflüssig sind, muss diese Frage beantworten können.
Mit dem Verweis auf die Grenzfallrelation lässt sie sich nicht beantworten, da es
sich auch bei dem Verhältnis zwischen diesen Theorien um Näherungsbeziehungen
handelt und ni cht um eine logische Ableitung. Wenn etwa im Rahmen des EhrenfestTheorems bestimmte strukturelle Analogien zwischen Newtonscher Mechanik und
Quantenmechanik herausgestellt werden, handelt es sich nur um Analogien zwischen
ansonsten eigenständigen und unabhängigen Theorien mit fu ndamental verschiedenen Grundannahmen und Modellen. Außerdem sind die Widersprüche zwischen
den Vorhersagen dieser Theorien so grundlegend, dass trotz Analogien und Näherungsbeziehungen von einer logischen Ableitung nicht die Rede sein kann. Wenn
die Newtonsche Physik also aufgrund der Quantenmechanik überfl üssig sein soll,
müssen die makroskopischen Phänomene der klassischen Mechanik quantenmechanisch erkl ärt werden können, ohne dabei die Newtonsche Theorie zu verwenden. In
solchen Erklärungen müsste die Schrödinger-Gleichung für alle beteiligten Teilchen
aufgestellt und gelöst werden, was zwar aufgru nd der schieren Komplexität auch mit
zukünftigen Rechnerkapazitäten unmöglich zu sein scheint, im Prinzip aber denkbar
ist. Die Schrödinger-Gl eichung lässt sich allerdings nur in einfachen Fällen wie dem
Wasserstoffatom exakt lösen, bereits bei größeren Atomen und bei Molekülen ist man
auf numerische Lösungen angewiesen, von wirklich makroskopischen Phänomenen
ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite gibt es makroskopische Phänomene, wie
etwa turbulente Strömungen, die selbst aus der Perspektive der klassischen Mechanik zu komplex sind, um vollständig verstande n zu werden. Aus der Perspektive der
Quantenmechanik ist die Komplexität solcher Phänomene ungleich größer, weshalb
sie kaum etwas zu ihrem Verständnis beitragen dürfte. Dennoch lässt sich natürlich
argumentieren, die komplexen und anscheinend emergenten Phänomene der makroskopischen Welt könnten im Prinzip ohne Zuhilfenahme der Newtonschen Physik
mit numerischen Simulationen auf Grundlage der Quantenmechanik beschrieben
werden. Dagegen spricht auch hier wieder das Problem der Startwerte und der Interpretation numerischer Zahlenwerte. So werden bereits im mikroskopischen Bereich
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einzelner Atome und kleiner Moleküle nicht nur halbkJassische Methoden eingesetzt, sondern sogar klassische Zustände zugrunde gelegt. In der Quantenchemie wird
schließlich höherstufiges Wissen über die Struktur von Molekülen verwendet, um
die Zahlenwerte numerischer Lösungen der Sclhrödinger-Gleichung interpretieren zu
können, womit man bereits weit vor wirklich makroskopischen Phänomenen auf eine
höherstufige Theorie angewiesen ist. Wie im Fall der Feldgleichungen lässt sich aber
trotz des systematischen Problems der Interpretation nicht ausschließen, dass eines
Tages vielleicht doch größere Rechnerkapazitäten und entsprechende numerische
Methoden entwickelt werden, die eine Beschreibung auch komplexer makroskopischer Phänomene mit der Schrödinger-Gleichung ermöglichen.
Es gibt im Fall der Quantenmechanik allerdings ein weiteres Problem, das der
Reduktionist auch nicht mit Verweis auf die Zukunft beheben kann. Wenn man
nämlich tatsächlich ein makroskopisches Phänomen quantenmechanisch mit der
Schrödinger-Gleichung beschreiben könnte, müsste es sich gemäß dieser Theorie wie
Schrödingers Katze in einem Superpositionszustand befinden. Abgesehen von sehr
speziellen Fällen, wie etwa der Verschränkung zwischen räumlich getrennten atomaren Gasen oder der angestrebten Überlagerungszustände in Quantencomputern, gibt
es aber in der makroskopischen Welt keine solchen Superpositionszustände, weshalb
die Quantenmechanik jenseits der besagten numerischen Probleme aus prinzipiellen
Gründen für Erklärungen im allgemeinen makroskopischen Phänomenbereich nicht
geeignet ist. Mit dem Konzept der Dekohärenz wird zwar argumentiert, dass sich
makroskopische Phänomene nur scheinbar in klassischen Zuständen befinden und in
Wirklichkeit den Gesetzen der Quantenmechanik genügen. Dies zeigt aber lediglich,
dass die Quantenmechanik in gewisser Weise auch für makroskopische Phänomene
gültig ist, was noch nicht bedeutet, dass sie diese Phänomene eigenständig, also
ohne Newtonsche Physik, beschreiben kann. Hierzu müsste man, wie gezeigt, die
Schrödinger-Gleichung für alle beteiligten Teilchen aufstellen, was durch den Erklärungsansatz der Dekohärenz im Gegenteil noch komplizierter wird. Das Phänomen
der Dekohärenz beruht näml ich auf Wechselwirkungen mit der Umgebung, wobei
aber nicht klar ist, wo die Umgebung aufhört, weshalb man für die quantenmechanische Beschreibung eines makroskopischen Phänomens die Schrödinger-Gleichung
nicht nur für das fragliche Phänomen und seine Umgebung, sondern letztlich für das
gesamte Universum aufstellen müsste. Dies ist nicht nur numerisch unmöglich, sondern nach dem Dekohärenzansatz auch physikalisch fragwürdig, da es für das ganze
Universum keine Umgebung mehr gibt und es sich also insgesamt in einem quantenmechanischen Zustand befinden müsste. Das Konzept der Dekohärenz kann damit
den hi er vorgebrachten prinzipiellen Einwand gegen die Möglichkeit der Erklärung
makroskopischer Phänomene allein mit Begriffen der Quantenmechanik nicht entkräften. Eine Erklärung allein mit Begriffen der Quantenmechanik impliziert, dass
sich die jeweiligen Phänomene in quantenmechanischen Zuständen befinden, die
zwar makroskopisch relevant sein können, wie etwa bei Supraleitung, Lasern oder
Neutronensternen, die es aber, von wenigen Spezialfällen abgesehen, in der makroskopischen Welt nicht gibt; und was es schließl ich bedeuten würde, dass sich das
ganze Universum in einem quantenmechanischen Zustand befände, ist physikalisch
nicht klar. Die Frage, wie sich die makroskopische Welt in Begriffen der Quan-
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tenmechanik erklären lässt, ohne dabei Newtonsche Konzepte zu verwenden , lässt
sich daher prinzipiell nicht beantworten, auch nicht mit Verweis auf die Zukunft.
Auch wenn nicht ganz klar ist, wie der Übergang zwischen der mikroskopischen
und der makroskopischen Ebene verstanden werden kann, ist die Quantenmechanik
keine geeignete Theorie fü r den makroskopischen Bereich und macht insbesondere
die Newtonsche Theorie, trotz der bestehenden Näherungsbeziehungen, nicht überfl üssig, auch nicht im Prinzip. Dies gilt analog für jede zukünftige „Theorie von
Allem", die die Kluft zwischen quantenmechanischer mikroskopischer und klassischer makroskopischer Welt nicht überbrücken dürfte.
Die hiermit vorgelegte unbeantwortbare Frage widerlegt das vorherrschende
reduktionistische Selbstverständnis der Physik. Gegen dieses Selbstverständnis zeigen die vier Schritte der vorgetragenen Argumentation, dass die Physik pluralistisch
mit verschiedenen, eigenständigen Theorien auf verschiedenen Beschreibungsebenen arbeitet, die zwar fruchtbar miteinander kooperieren können, aber nicht im Sinne
einer eli minativen Reduktion in grundlegenderen Theorien enthalten sind. Die Möglichkeit einer solchen Reduktion wurde im Fall der Newtonschen bzw. relativistischen Gravitationsphysik mit schwerwiegenden Argumenten infrage gestellt und für
das Verhältnis zwischen klassischer Mechanik und Quantenmechanik ausgeschlossen. Insgesamt wurde damit gezeigt, dass das reduktionistische Selbstverständnis der
Physik nicht zu ihrer pluralistischen Praxis passt, für die es sicher förderlich wäre,
wenn sich die Physik in diesem Sinne selbst besser verstünde. 1
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Ausführliche wissenschaftl iche Ausarbeitungen der hier nur essayistisch vorgestellten Thesen
finden sich in Gutschmidt (2009) Einheit ohne Fundament. Eine Studie zum Reduktionsproblem in
der Physik. De Gruyter, Berlin. Vgl. auch Gutschmidt (2014) Reduction and the Neighbourhood
of Theories: A New Approach to the lntertheoretic Relations in Physics. J Gen Philos Sei 45(1 ):
49-70.