Danka Radjenović
Vollzug des Lebens zusammenfällt und nicht nur im Rahmen der
Theorie erfolgen kann. 52
Ich tendiere derzeit dazu, mich dieser Ansicht von Hosseini anzuschließen. Nichtsdestotrotz denke ich, dass es für die Beantwortung der Frage nach der angemessenen philosophischen Einordnung
von Wittgensteins Gedanken zum Sinn des Lebens der weiteren Erschließung seiner Philosophie und eines fortgesetzten Engagements,
die Ergebnisse dieser Forschung in die aktuellen Diskussionen zur
Thematik einzubringen, bedarf.
DANKSAGUNG:
Beim Verfassen dieses Beitrags habe ich von der Teilnahme an der
Tagung Philosophy and Meaning of Life, University of Birmingham
und Waseda University (21.–23. 07. 2020) zusätzlichen Ansporn für
die Fertigstellung erhalten. Auf diesem Weg möchte ich den Veranstaltern Prof. Yujin Nagasawa et al. für die Möglichkeit danken,
an der Tagung als Besucherin teilzunehmen.
Darüber hinaus bin ich Prof. Alois Pichler (Wittgenstein Archives Bergen) für seine Hilfe bei der Recherche im Wittgenstein-Nachlass zu Dank verpflichtet. Nicht zuletzt gilt mein Dank dem Kollegen
Herrn Christian Hauck für ein Gespräch über die Thematik dieses
Aufsatzes und Frau Sophia Trippe für das Lektorat.
Grundlinien einer Phänomenologie der
Versunkenheit
Saulius Geniusas
Abstract: Dieser Artikel entwickelt eine phänomenologische Analyse der
Versunkenheit (engl. absorption), die als Vertieftsein des Ichs in seine eigenen Vergegenwärtigungen (d. h. Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien, Träume) verstanden werden soll. Dabei wird Versunkenheit als eine
spezifische Form der Selbstverschiebung konzipiert, die als eine Übertragung des Ichs über den Horizont der Gegenwart hinaus zu verstehen ist.
In meiner Analyse konzentriere ich mich auf den Zusammenhang zwischen
Versunkenheit und Affektion, Selbsttäuschung und Gefesseltsein. Dabei
werde ich zeigen, dass das psychische Leben zu sehr vereinfacht wird, wenn
man sich auf die gängige Ansicht festlegt, dass das Gegenwartsfeld den erschöpfenden Horizont aller möglichen Erfahrung darstellt. Entgegen diesem Standpunkt wird eine phänomenologische Perspektive entwickelt, die
zeigt, dass sich das psychische Leben über ein Spektrum von Erfahrungen
entfaltet und das Ich sich an verschiedenen Stellen dieses Spektrums befinden kann. Denn das Ich kann in das Feld des Hier und Jetzt eintauchen, in
das Feld des Dort und Dann versinken oder aber seine Erfahrungen liegen
im Dazwischen: zwischen dem Hier und Dort und dem Jetzt und Dann.
The paper develops a phenomenological analysis of absorption, conceived of
as the ego’s immersion in its own presentifications (memories, anticipations, phantasies, dreams). I interpret absorption as a specific type of selfdisplacement, which is to be understood as the ego’s transference beyond
the horizon of presence. Conceptualizing the relationship between absorption and affectivity, self-deceit, and captivity, the paper shows that psychic
life is oversimplified when one commits to the common view that the field
of presence constitutes the exhaustive horizon of all possible experience.
Resisting this generally accepted standpoint, the paper develops a phenomenological perspective which shows that psychic life unfolds over a spectrum of experience and the ego can find itself at different locations across
this spectrum: it can immerse itself in the here and now, absorb itself in the
there and then, or live in between: between here and there, between now
and then.
Vgl. Hosseini, Wittgenstein and Meaning in Life. In Search of the Human Voice,
Chapter 2.
52
368
369
Saulius Geniusas
Jedes Erlebnis entfaltet sich in der Gegenwart: So lautet eine etablierte Ansicht innerhalb der Phänomenologie sowie innerhalb anderer
philosophischer Traditionen. Es ist nicht schwierig, die zentralen
Gründe hinter dieser scheinbar selbstverständlichen Auffassung zu
rekonstruieren. Beachten wir die unterschiedlichen Formen der Anschauung: Wahrnehmung, Erinnerung, Antizipation, Phantasie. Nach
dieser üblichen Auffassung bietet uns nur die Wahrnehmung den
Zugang zu der gegenwärtigen Welt, während das Bewusstsein Erinnerung mit der Vergangenheit, Antizipation mit der Zukunft, und
Phantasie mit Unwirklichkeit (Fiktion) verbindet. Allerdings bedeutet das nicht, dass Erinnerung, Antizipation und Phantasie eine
Bewusstseinsflucht vor dem Hier und Jetzt ermöglichen: Denn nur
jetzt kann ich meine Erinnerungen, Antizipationen oder Phantasien
durchleben. Um Vergegenwärtigungen zu erleben, muss ich besondere intentionale Akte durchführen, was ich nur innerhalb des Gegenwartshorizonts schaffen kann. Betrachten wir auch die verschiedenen
Gefühle und Emotionen wie Freude und Schmerz, Glück und Verzweiflung, Vitalität und Erschöpfung etc. Wie bei allen Anschauungsformen, so kann ich auch bei allen Gefühlen und Emotionen
diese nur hier und jetzt erleben. Zwar kann ich mich an bestimmte
Gefühle und Emotionen erinnern, sie antizipieren oder sie phantasieren, aber in diesem Fall würde ich mich jetzt an sie erinnern, sie jetzt
antizipieren, sie jetzt phantasieren. Lassen Sie uns auch die verschiedenen Formen des Denkens betrachten. Natürlich sind meine gegenwärtigen Gedanken nicht die einzigen cogitationes, die ich gehabt
habe oder haben werde. Aber die vergangenen, zukünftigen oder
phantasierten Gedanken können nur im Hier und Jetzt gegeben sein.
Nach Überlegungen dieser Art werden wir immer wieder zur gleichen Erkenntnis geführt: Alle Erfahrung kann sich nur im Hier und
Jetzt entfalten. Jeder Versuch, eine Ausnahme dieser Regel zu finden,
führt zum Scheitern. Die gegenwärtig gegebene Erfahrung bildet die
Erfahrungsgrundlage von allem, was erfahren werden kann. Um diese gängige Auffassung zusammenzufassen: Das Hier und Jetzt bildet
den erschöpfenden Horizont aller möglichen Erfahrung.
Trotz der scheinbaren Selbstverständlichkeit dieser These gibt es
gute Gründe, sie kritisch zu hinterfragen und sich von ihr zu distanzieren. Denn das psychische Leben wird zu stark vereinfacht und seine Mehrdimensionalität übersehen, wenn man diesen Standpunkt
einnimmt. Mein Ziel ist es daher, im Folgenden zu zeigen, dass die
Topographie des Erlebens zu reichhaltig ist, um es auf eine Dimen370
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
sion, nämlich das Hier und Jetzt, zu reduzieren. Das psychische Leben
entfaltet sich vielmehr über ein Erfahrungsspektrum und das Ich, das
als Subjekt der Erfahrung aufgefasst wird, kann sich an verschiedenen Stellen dieses Spektrums wiederfinden. So finden wir an dem
einen Ende dieses Spektrums ein vollständiges Eintauchen in das Hier
und Jetzt. An dem anderen Ende hingegen finden wir die vollständige
Versunkenheit im Dort und Dann. In der Mitte zwischen diesen beiden Extrempunkten finden wir den Bereich des Dazwischen: zwischen hier und dort, zwischen jetzt und dann.
Ich spreche hier nicht von drei voneinander getrennten Arten
von Erlebnissen. Ein volles Eintauchen und eine völlige Versunkenheit befinden sich auf der Grenze von dem, was erlebbar ist, da die
meisten unserer Erfahrungen sich irgendwo zwischen diesen Extremen entfalten. Das Leben wäre nicht vollständig menschlich, wenn es
auf eine einzige dieser Dimensionen beschränkt wäre. Denn ein Leben, das nur im Hier und Jetzt eingeschlossen ist, ist ein Leben, das
künstlich von der Vergangenheit, der Zukunft und dem fiktiven Bereich abgetrennt ist. Zu sagen, dass ein solches Leben mit dem Bereich
des Nicht-menschlichen zusammenfällt, wäre ein Fehler, denn wie
wir wissen, spielen Erinnerung, Antizipation und Phantasie auch im
Leben verschiedener Tiere eine wichtige Rolle. Ein völlig im Dort und
Dann versunkenes Leben ist hingegen pathologisch: Es hat seine
Gegenwart verloren und ist in das Abwesende vertieft. Ein Leben,
das sich nicht gleichzeitig im Hier und Dort und im Jetzt und Dann
entfaltet, hat weder die Schönheit der Versunkenheit kennengelernt,
noch hat es gelernt, was es bedeutet, ›loszulassen‹ und sich an der
Gegenwart mit all ihren befreienden Kräften zu erfreuen. Das menschliche Leben ist ein Leben, welches sich darauf versteht, sich innerhalb
des Spektrums von einer zeitlichen Lage zu einer anderen zu bewegen, vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann und wieder zurück.
In der phänomenologischen Literatur finden wir eine umfangreiche Liste von Studien über das Hier und Jetzt sowie über das Dazwischen; das Gleiche gilt für andere philosophische Traditionen.
Doch über das Dort und Dann, also über die Versunkenheit, ist bisher
nicht viel geschrieben worden. Meine folgenden Überlegungen werden sich mit dieser weitgehend unberücksichtigten Dimension von
Erlebnissen konzentrieren 1.
Versunkenheit ist ein wenig untersuchtes Thema in der Phänomenologie und anderen philosophischen Traditionen. Dennoch muss man anmerken, dass Edmund Hus-
1
371
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
Saulius Geniusas
1.
Versunkenheit: Eine phänomenologische Beschreibung
Wenden wir uns nun einer phänomenologischen Beschreibung des zu
untersuchenden Phänomens zu. Häufig muss ich interkontinentale
Flugreisen unternehmen. Diese sind sehr lang und man muss irgendwie darauf vorbereitet sein, sowohl körperlich als auch geistig. Eine
der Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten, ist das ›Loslassen‹ –
nicht von der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern im Gegenteil,
von der Gegenwart. Man erlaubt den Gedanken, die Oberhand zu
gewinnen. Zu Beginn der Reise, wenn alle Passagiere bereits ihre
Sitzplätze eingenommen haben, das Flugzeug aber noch nicht abgehoben hat, bin ich in der Regel mit meinen Gedanken in den letzten
Erlebnissen versunken. Ich durchlebe nochmals meine jüngste Vergangenheit, sei es ein Spaziergang mit meiner Tochter, ein Bad im
Meer, ein Abendessen im Restaurant, ein Drink beim Warten auf
das Taxi; anschließend kommt die schnelle Fahrt im Taxi, die mir
Übelkeit bereitete, das Gespräch mit dem Fahrer, die chinesische
Oper, die im Radio lief, und das seltsame Gefühl, das man mit den
Worten »Was nun?« ausdrücken könnte, welches mich überkam, als
ich durch die Passkontrolle ging und merkte, dass ich noch Zeit bis
zum Boarding hatte. Während ich im Flugzeug sitze, durchlebe ich
diese Erfahrungen noch einmal – nicht alle, sondern nur die Wichtigsten. Unter diesen Umständen vergesse ich, wo ich bin: Ich versinke voll und ganz in meinen vergangenen Erfahrungen. Meine Lippen
bewegen sich, wenn ich dieselben Sätze nachspreche, die ich erst vor
Kurzem geäußert habe; und mein ›inneres Ohr‹ hört die Worte, die
Andere soeben zu mir gesagt haben, noch einmal. Ich bin mir der
Gegenwart nicht mehr bewusst; ich vergesse, dass ich im Flugzeug
serl (besonders in Edmund Husserl, Grenzprobleme der Phänomenologie: Analysen
des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik [Texte aus dem
Nachlass 1908–1937], in: Husserliana (im Folgenden Hua), Bd. 42, hrsg. von Rochus
Sowa und Thomas Vongehr, Dordrecht, Springer, 2014, Text Nr. 2) und Eugen Fink
(Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild, in: Edmund Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1966) faszinierende Analysen dieses Phänomens durchgeführt haben. Diese klassischen Studien von Versunkenheit
sowie Theodor Conrads (Theodor Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens
und Erlebens, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1968) genauso faszinierende Untersuchungen von »Erlebnissen im Versetztseinszustand« bilden meinen Ausgangspunkt in diesem Beitrag. Allerdings verfolge ich hier nicht das Ziel, eine historisch
orientierte Analyse anzubieten, sondern ich versuche demgegenüber eine Untersuchung in einer rein deskriptiven Weise durchzuführen.
372
sitze und dass ein langer Flug vor mir liegt. Aber früher oder später
erwache ich wieder, entweder weil ich die Worte der Flugbegleiterin
»Was möchten Sie trinken?« höre, oder noch früher, weil das Flugzeug abhebt, oder weil der Kapitän zu sprechen beginnt, oder einfach,
weil es mich langweilt, die vergangene Erfahrung wieder zu erleben.
Diese Art von Erlebnissen als Wiedererleben der Vergangenheit bezeichnen wir im Folgenden, und zusammen mit Theodor Conrad, als
Nacherleben. 2 Solche Erlebnisse lassen sich dabei aber gerade nicht
als die gegenwärtige Erfahrung von vergangenen Gehalten begreifen.
Vielmehr werde ich wieder zu dem vergangenen Ich, das diese Erfahrungen bereits in der Vergangenheit durchlebt hat. Was ich jetzt
durchlebe, ist mir aus der Perspektive des vergangenen Ichs gegeben.
Je näher das Flugzeug der Landung kommt, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass ich noch einmal in meine innere Welt versinke: und zwar in Erlebnisse, die sich über die Gegenwart hinaus
erstrecken. Ich versinke also diesmal nicht in die Ereignisse der Vergangenheit, sondern in die der Zukunft. Ich erlebe die Ereignisse, die
sich nach meiner Landung entfalten werden, vorweg: das Treffen mit
meinen Freunden, die Freude über das Wiedersehen, die angenehmen
und entspannenden Gespräche, usw. Es ist wichtig zu betonen, dass
die Erfahrung, von der ich hier spreche, keine mir selbst bewusste
Antizipation ist, (weshalb ich früher im Text auch nicht von einer
mir bewussten Erinnerung gesprochen habe). Wenn ich diese Erfahrungen durchlebe, verliere ich das Bewusstsein des Hier und Jetzt,
und in diesem Sinne vergesse ich mich selbst: Ich bin ganz dort, in
der Gesellschaft meiner Freunde, vertieft in ein fröhliches Gespräch,
lache über die Witze, die andere mir erzählen, usw. Wir können solche Erlebnisse unter dem Begriff Vorerleben festhalten.
Lassen Sie uns das Flugzeug noch nicht so schnell verlassen, die
Reise ist schließlich lang. Denken wir an den Moment, als mich die
Flugbegleiterin fragte, was ich gerne trinken möchte und mich damit
aus meiner Versunkenheit weckte. Ich bestelle das Getränk meiner
Wahl, schaue mir die Filmkanäle an, nur um festzustellen, dass mich
nichts interessiert, lese das Buch, das immer noch auf meinem Schoß
liegt, und langsam gleite ich in die Welt der Phantasie über. Ich stelle
mir vor, dass ich nach Afrika reise, wo ich schon immer einmal hinDen Begriff Nacherleben, sowie Vorerleben, finden wir in Theodor Conrads Zur
Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, wo die beiden als besondere Typen
von Erinnerungen und Erwartungen konzipiert wurden.
2
373
Saulius Geniusas
reisen wollte; ich stelle mir vor, dass ich im Serengeti-Nationalpark
bin, umgeben von exotischsten Tieren: Zebras und Krokodilen, Leoparden und Geparden, Elefanten und Impalas, usw. Ich bin völlig in
meiner Phantasie versunken, was bedeutet, dass ich sie nicht als
Phantasie erlebe. Ich bin ganz dort: Die gegenwärtige Welt wurde
›zerstört‹, d. h. das Bewusstsein hat sich ihr entzogen. Natürlich ist
es nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder aufwache und feststelle, dass
ich mich noch im Flugzeug befinde. Sobald ich mir meiner Umgebung
wieder bewusst werde, verschwindet die exotische Reise nach Tansania aus meinem Bewusstsein. Diese Art der Phantasie stellt daher
eine weitere Form der Versunkenheit dar.
Da meine Reise lang ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich
einschlafe. Sobald ich in die Traumwelt eintrete, bin ich in einer anderen Form des Dort und Dann versunken, die mich noch stärker als
die zuvor genannten Formen der Versunkenheit – Nacherleben, Vorerleben und Phantasie – von meinem Bewusstsein darüber, im Flugzeug zu sein, befreit. Um jede mögliche Verwirrung zu vermeiden,
sollte ich hinzufügen, dass ich hier nur von nicht-luziden Träumen
spreche, d. h. von solchen Träumen, die der Träumende nicht als Träume erkennt. Es scheint, dass wir es hier mit einem Fall von vollständiger Versunkenheit zu tun haben, die das Bewusstsein von jeglicher
Art von Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Welt befreit. Genauer
gesagt, alles und jedes, was noch das Bewusstsein berührt, wird zum
Traumgehalt transformiert.
Wie ist es mit dem traumlosen Schlaf? Sollten wir ihn als eine
andere Form der Versunkenheit bezeichnen? Hier stoßen wir auf
einen Erlebnistypus, der sich deutlich von den anderen oben dargestellten Typen unterscheidet. Im traumlosen Schlaf bin ich nicht
mehr in einer anderen Welt versunken, sei es die vergangene, künftige oder die Phantasiewelt, sondern ich bin im Nichts versunken, das
alles wegwischt, was zur Gegenwart gehört. Auf diese Frage werden
wir an späterer Stelle noch zurückkommen.
Es gibt noch andere Formen der Versunkenheit, die ich hin und
wieder während meiner Reise erlebe. Bei den seltenen Gelegenheiten,
bei denen ich einen Film nach meinem Geschmack finde, kann er
mich in seinen Bann ziehen und ich kann mich in ihm verlieren. So
kann ich auch beim Lesen eines Romans in der Geschichte versinken,
alles vergessen und was in meiner Umgebung geschieht ausblenden.
Obwohl ich dieses Thema in diesem Zusammenhang nicht weiter behandeln werde, möchte ich am Rande erwähnen, dass die Versunken374
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
heit wohl eine notwendige Dimension der ästhetischen Erfahrung im
Allgemeinen darstellt.
Was ist aber mit dem Denken, sagen wir, dem Nachdenken über
ein spezifisches philosophisches Thema, wie etwa Platons dreigliedrige Konzeption der Seele? Stellt dies auch eine Form der Versunkenheit dar? Sicher scheint es so zu sein: Während ich in meine Gedanken vertieft bin, kann ich das Bewusstsein über die Dinge, die um
mich herum geschehen, verlieren. Die Welt ›versinkt‹ und ich bin
mir ihrer unbewusst geworden. Nicht zuletzt können wir auch im
Anderen versinken. Wenn die Liebe zum Anderen sich in der Form
von Hingabe und Fürsorge äußert, führt sie zu Selbstvergessenheit
und Versunkenheit in den Anderen. Man kann sich sehr wohl fragen,
ob diese Form der Hingabe nicht in Wahrheit eine Hingabe an ein
bestimmtes, von sich selbst projiziertes Bild des Anderen ist, das das
Ich nicht von seiner Innerlichkeit befreit, sondern ganz im Gegenteil
seine versteckten Wünsche und Sehnsüchte zum Ausdruck bringt. Im
vorliegenden Zusammenhang müssen wir die Frage nach der Andersartigkeit des Anderen, den wir lieben, offen lassen.
Alle genannten Versunkenheitsformen erlauben dem Subjekt
der Erfahrung das, was Conrad »Erlebnisse im Versetztseinszustand« 3
genannt hat, durchzuführen. In allen Fällen geht es bei der Versunkenheit darum, die Gegenwart aufzugeben: Es geht um eine Selbstversetzung. In manchen Fällen wird man in die Vergangenheit versetzt, in anderen Fällen – in die Zukunft, wieder in anderen Fällen – in
den fiktiven Bereich. Dazu können wir noch hinzufügen, dass die für
die Versunkenheit charakteristische Selbstverschiebung nicht immer
im höchsten Grad vollzogen sein muss. Denn während wir in manchen Fällen ein schwaches Bewusstsein für das Hier und Jetzt behalten, scheint dieses Bewusstsein in anderen Fällen völlig zu fehlen.
Erfahrung, so habe ich bereits angedeutet, entfaltet sich in einem
Spektrum zwischen zwei Extremen: der vollständigen Versunkenheit
im Dort und Dann und dem vollständigen Eintauchen in das Hier und
Jetzt. Ich habe weiter angedeutet, dass sich die Erfahrung zum größten Teil irgendwo zwischen diesen beiden Extremen entfaltet. Die
verschiedenen Formen der Versunkenheit, die ich gerade beschrieben
habe, veranschaulichen diesen Punkt: Versunkenheit lässt Abstufungen zu, was wir so verstehen können, dass das Ich, welches diese Er-
3
Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, xiii.
375
Saulius Geniusas
fahrungen durchlebt, sich irgendwo zwischen diesen skizzierten Extrempunkten befindet. Wenn man in seinen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien oder Gedanken versunken ist, vergisst man die
gegenwärtige Welt, diese Vergessenheit muss jedoch nicht ganz vollzogen sein. Man kann einen schwachen Sinn für die gegenwärtige
Welt beibehalten, doch insofern man im Dort und Dann versunken
ist, hat man die gegenwärtige Welt bereits verlassen, diese Welt erscheint nun aus einem distanzierten Zustand.
2.
Versunkenheit als Selbstverschiebung
Aufbauend auf einer solchen phänomenologischen Beschreibung des
Versunkenheitsphänomens können wir Folgendes sagen: Versunken
zu sein bedeutet, Abstand von der gegenwärtigen Welt zu nehmen.
Hier ist in der Tat die Unterscheidung zwischen Gegenwart und
Nicht-Gegenwart entscheidend. Versunken zu sein bedeutet immer,
in der Nicht-Gegenwart, oder besser gesagt, im Dort und Dann versunken zu sein, und dieses Dort und Dann kann wiederum eine Vielzahl von Formen annehmen. Ich kann in meiner Vergangenheit, meiner Zukunft oder der imaginären Sphäre versinken; ebenso kann ich
in meinen Gedanken versinken; letztendlich kann ich sogar im Nichts
versinken (traumloser Schlaf).
Um es noch einmal zu wiederholen: Versunkenheit lässt verschiedene Abstufungen zu. Doch im Moment wollen wir uns auf die
reine Versunkenheit konzentrieren, d. h. auf jene Art von Versunkenheit, die nicht mit irgendwelchen verbleibenden Elementen des wachen Bewusstseins vermischt ist. Zugegeben, vieles von dem, was wir
über die reine Versunkenheit sagen werden, wird später einige Modifikationen erfordern. Aus methodologischer Sicht ist es aber passend,
die Analyse mit Überlegungen zur reinen Versunkenheit zu beginnen, bevor man sich mit ihren gemischten und freilich häufigeren
Formen beschäftigt.
Es soll jetzt auf eine Mehrdeutigkeit hingewiesen werden, die in
der phänomenologischen Literatur zur Versunkenheit weitgehend
ungelöst bleibt. Versunkenheit wird manchmal negativ, manchmal
positiv definiert. Negativ wird die Versunkenheit in Opposition zur
Wachheit konzipiert, sie wird dann als Abschwächung des Bewusstseins der aktuellen Welt begriffen. In dieser Hinsicht wird jeder Verlust oder sogar jede Verarmung des Bewusstseins der gegenwärtigen
376
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
Welt als eine Form der Versunkenheit aufgefasst. Positiv wird Versunkenheit als das Vertieftsein in eine andere Welt verstanden, sei es
die Welt der Erinnerung, der Antizipation, der Phantasie oder die
Welt des Denkens; anders ausgedrückt: Versunken zu sein bedeutet,
in die innere Welt vertieft zu sein. Dass diese beiden Auffassungen
nicht identisch sind, wird deutlich, wenn wir zu der Frage zurückkehren, die wir bisher unbeantwortet gelassen haben. Sollen wir den
traumlosen Schlaf als eine Art von Versunkenheit auffassen? Wenn
wir uns auf die negative Konzeption der Versunkenheit stützen, ist
die Konsequenz, dass wir den traumlosen Schlaf in die Familie der
Erlebnisse von Versunkenheit aufnehmen. Versteht man Versunkenheit hingegen im positiven Sinne, dann wird der traumlose Schlaf von
der Klasse der versunkenen Erlebnisse ausgeschlossen. In meinen folgenden Ausführungen werde ich die Versunkenheit im positiven Sinne auslegen und den traumlosen Schlaf außer Acht lassen.
Versunken zu sein bedeutet, zumindest bis zu einem gewissen
Grad unempfänglich für die Affektionen zu sein, die uns aus der umgebenden Welt erreichen. Es geht darum, Distanz von dem Gegenwartsfeld zu nehmen. Man verlässt die Welt, die man mit anderen
teilt, man ist bezaubert von der Abwesenheit, gefesselt von Erinnerungen und Antizipationen oder Phantasien und Gedanken, die uns
aus der inneren Welt erreichen. Versunken zu sein, bedeutet, in die
eigene innere Welt vertieft zu sein. In diese treten wir ein, indem wir
die Welt, die wir mit anderen teilen, d. h. unsere eigentliche Welt,
vergessen. Nur wenn wir uns vom Hier und Jetzt distanzieren, können wir die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit bereits durchlebt haben oder in der Zukunft vermeintlich durchleben werden,
nacherleben oder vorerleben.
In dem Maße, in dem ich in der Welt voll präsent bin, bin ich
nicht in der inneren Welt versunken und umgekehrt. In dieser Hinsicht können wir von einem Bruch sprechen, der die tatsächliche Welt
von der inneren Welt trennt. Der besagte Bruch ist die Distanz, die
das Hier und Jetzt vom Dort und Dann trennt. Insofern ich aber ganz
in meinen eigenen Erfahrungen versinke, erlebe ich keine Distanz zu
ihnen, sonst wäre ich ja nicht in ihnen versunken. Man sieht also,
dass die Struktur der Versunkenheit höchst paradox ist: In der eigenen inneren Welt versunken zu sein, bedeutet, Erfahrungen aus einer
Distanz zum Hier und Jetzt zu erleben. Im Falle der reinen Versunkenheit erlebt man vergangene Erfahrungen wieder, ohne sich einer
Distanz bewusst zu sein. Bei den gemischten Formen der Versunken377
Saulius Geniusas
heit bleibt das Bewusstsein einer solchen Distanz bestehen, wenn
auch in einer stark verringerten Form.
Aufgrund der vorstehenden Analyse ist es gerechtfertigt zu sagen, dass eine völlige Versunkenheit eine Art der Erfahrung im Versetztseinszustand ist, die durch die Abwesenheit irgendeines Bewusstseins über Selbstverschiebung oder Selbstdistanzierung
gekennzeichnet ist. Demgegenüber ist eine gemischte Versunkenheit
eine Art Erfahrung im Versetztseinszustand, welche noch mit einem
beschränkten Bewusstsein von Selbstverschiebung verbunden ist.
Durch die Versunkenheit wird man aus dem Hier und Jetzt verdrängt.
Doch man ist sich dieser Selbstverschiebung nicht immer bewusst.
Man könnte Versunkenheit als eine Art der Selbstverschiebung begreifen, welche als eine Nicht-Verschiebung verkleidet ist. Mit Hilfe
von Conrads Beschreibung von Traumerlebnissen könnte man weiterhin sagen, dass alle Erlebnisse der Versunkenheit als »Nicht-Versetztseinserlebnisse getarnte Versetztseins-Erlebnisse« 4 sind. Wenn
ich vollständig in meinen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien
oder Gedanken versunken bin, lebe ich dort und dann, als ob sie hier
und jetzt wären.
3.
Versunkenheit und Selbsttäuschung
Versunkenheit ist ein Versetztseinserlebnis maskiert als Nicht-Versetztseinserlebnis. Wie soll man eine solche Erlebnisform genauer
verstehen? Bedeutet das, dass ich, wenn ich versunken bin, meine
Vergegenwärtigungen (Erinnerungen, Antizipationen und Phantasien) so auffasse, als wären sie Wahrnehmungen? Ist die Versunkenheit eine Art der Verwirrung und der Selbsttäuschung? Ein solches
Szenario wäre nur im Falle der reinen Versunkenheit denkbar. Man
muss deshalb erneut betonen, dass die reine Versunkenheit ein
Grenzphänomen ist. Versunkenheit lässt verschiedene Stufen bzw.
verschiedene Grade zu. In die eigene innere Welt versunken zu sein,
heißt zumeist, mehr oder weniger in die eigenen Erfahrungen versunken zu sein. Wir können das so verstehen, dass der Übergang
vom Hier und Jetzt zum Dort und Dann kaum jemals rein vollzogen
wird; nach allem, was wir wissen, könnte es sich bei einer solchen
vollstufigen Versunkenheitsform sogar um ein Ideal handeln, von
4
Conrad, Zur Wesenslehre des psychischen Lebens und Erlebens, 71.
378
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
dem wir weit entfernt sind. In den meisten Fällen finden wir uns
irgendwo zwischen den Extremen der völligen Versunkenheit im
Dort und Dann und dem völligen Eintauchen ins Hier und Jetzt.
Wenn wir in unseren Erfahrungen versunken sind, behalten wir
meist ein schwaches Gefühl des Bewusstseins darüber, dass wir noch
in der gegenwärtigen Welt leben, ganz gleich wie schwach dieses Bewusstsein auch sein mag. Sollte ich während meines Tagtraums eine
Tasse Kaffee in der Hand halten, werde ich sie nicht einfach fallen
lassen; sollte ich während meines Spaziergangs in meinen Erinnerungen versinken, werde ich ein hinreichendes Bewusstsein für meine
Umgebung behalten und niemanden anrempeln.
Ist Versunkenheit also eine Form der Selbsttäuschung? Es
scheint nicht so zu sein. Mit Blick auf die vorangegangenen Bemerkungen könnte man Versunkenheit als eine distanzierte Erfahrung
bezeichnen, bei der das Bewusstsein dieser Distanz zwar stark geschwächt, aber nicht ausgelöscht ist. Während das Ich ein schwaches
Bewusstsein vom Hier und Jetzt aufrechterhält, behält es auch das
Bewusstsein davon, dass die präsentierte Welt nicht die gegenwärtige,
sondern die vergangene, zukünftige oder fiktive Welt ist.
Was ich soeben als distanzierte Erfahrung bezeichnet habe, unterscheidet sich von der sogenannten gegenwärtigen Erfahrung nicht
nur dahingehend, dass nur letztere sich im Horizont des Hier und
Jetzt entfaltet, während erstere darüber hinausreicht, entweder in
die Vergangenheit, die Zukunft oder in den fiktiven Bereich. Gerade
weil sie jenseits der Gegenwart liegt, bringt die distanzierte Erfahrung eine Dimension der Spontaneität mit sich, die bei der gegenwärtigen Erfahrung fehlt. Gegenwärtige Erfahrung ist weitgehend
passiv und rezeptiv: Nur innerhalb stark eingeschränkter Grenzen
kann ich wählen, was ich erleben möchte. Wenn man z. B. diesen Essay nicht mehr lesen möchte, kann man die eigene Aufmerksamkeit
auf etwas anderes richten: man kann anfangen, ein anderes Buch zu
lesen, Musik zu hören, oder man steht auf und verlässt den Raum.
Man kann jedoch die eigentliche Erfahrung nicht vor- oder zurückspulen. Jede Erfahrung ist singulär und raumzeitlich individualisiert.
Im Gegensatz dazu kann man bei der distanzierten Erfahrung von
einem zeitlichen Rahmen zu einem anderen springen; man kann die
Reihenfolge der zeitlichen Abfolge umkehren; man kann dieselben
Erfahrungen mehr als einmal wieder erleben; man kann vergangene
Erfahrungen modifizieren, indem man Elemente der Phantasie untermischt. In diesem Sinne bringt die distanzierte Erfahrung eine Di379
Saulius Geniusas
mension der Spontaneität mit sich und fällt damit in den Bereich der
Wahlfreiheit, die im Fall der gegenwärtigen Erfahrung völlig fehl am
Platz ist. Selbst wenn das Subjekt der Erfahrung sich mit dem vergangenen, zukünftigen oder imaginären Ich identifiziert (mehr dazu
später), behält es die merkwürdige Fähigkeit, sich von seiner eigenen
Identität zu befreien und ein anderes Ich zu werden, als es ist. Während wir in der gegenwärtigen Welt von unseren raumzeitlichen Horizonten gefangen genommen werden, sind wir in der inneren Welt
in Bezug auf die vergegenwärtigten Horizonte recht frei, selbst wenn
wir in ihnen aufgehen: Wir behalten die Freiheit, uns in eine noch
weiter entfernte Vergangenheit oder eine noch weiter entfernte Zukunft zu versetzen oder weiter in den fiktiven Bereich überzugehen.
4.
Versunkenheit und Vergegenwärtigungen
Was genau bedeutet es, Versunkenheit als distanzierte Erfahrung zu
bestimmen? Sollten wir Erinnerung, Antizipation und Phantasie als
Arten der distanzierten Erfahrung betrachten? Mit dieser Frage kehren wir zu den einleitenden Überlegungen zurück.
Ich bin von der in der Phänomenologie und anderen philosophischen Traditionen etablierten Auffassung ausgegangen, die besagt,
dass das Hier und Jetzt den erschöpfenden Horizont aller möglichen
Erfahrung darstellt. Es muss jedoch betont werden, dass die Begriffe
des Hier und Jetzt mehrdeutig sind. Einerseits ist nach dieser Ansicht
alles, was mir gegeben ist, aufgrund von intentionalen Handlungen
gegeben; und diese Handlungen können nur hier und jetzt durchgeführt werden. Andererseits kann ich aufgrund einiger dieser Handlungen, nämlich der Gegenwärtigungen, Phänomene als hier und
jetzt existierend intendieren. Im Gegensatz dazu kann ich aufgrund
anderer Arten von Handlungen auch Phänomene jenseits vom Hier
und Jetzt intendieren – entweder als in der Vergangenheit liegend
oder in der Zukunft oder im fiktionalen Bereich. Dies würde darauf
hindeuten, dass das Ich in einem Sinne das Gegenwartsfeld verlassen
kann, in einem anderen Sinne jedoch nicht. Es kann das Gegenwartsfeld insofern verlassen, als es Phänomene jenseits des Hier und Jetzt
konstituiert. Thematisch kann das Ich seine Aufmerksamkeit auf Objekte richten, die jenseits der Gegenwart liegen, und es kann dies anhand der Erinnerung, Antizipation und Phantasie tun. Es kann jedoch
das Gegenwartsfeld nie verlassen, insofern alle Erfahrungen, die es
380
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
macht, Erfahrungen sind, die im Hier und Jetzt gemacht werden.
Selbst jene Erfahrungen, die uns über die Gegenwart hinausführen,
sind im Hier und Jetzt gelebte Erfahrungen.
Diese gemeinsame Auffassung von Erinnerung, Antizipation
und Phantasie legt nahe, dass es sich dabei keineswegs um Formen
der distanzierten Erfahrung handelt. Das Ich, das Akte der Vergegenwärtigung intendiert, erlebt nichts aus einer Distanz, einfach weil es
weiterhin im Hier und Jetzt gestrandet ist, und deshalb hat es die
Vergangenheit, die Zukunft und das fiktive Feld aus der Perspektive
der Gegenwart vor Augen.
Doch ist dieses Argument stark genug, um uns davon zu überzeugen, dass das Ich immer und notwendigerweise in der Gegenwart
gestrandet ist, ohne jede Möglichkeit, diesen Griff zu lockern und aus
dieser Kontrolle auszubrechen? Um diese Frage zu beantworten, ist es
von entscheidender Bedeutung, zu erkennen, dass es verschiedene
Arten von Erinnerung, Antizipation und Phantasie gibt. Die Unterscheidung, die ich nun einführen möchte, wird in den Analysen von
verschiedenen Formen der Vergegenwärtigungen üblicherweise vernachlässigt. Was ich soeben skizziert habe, könnte man als charakteristische Merkmale selbstbewusster Vergegenwärtigungen bezeichnen: Das Ich befindet sich in der gegenwärtigen Welt, ist sich seines
In-der-Welt-Seins bewusst und intendiert zugleich jene Inhalte, die
außerhalb des Rahmens der gegenwärtigen Welt liegen. Man könnte
sagen, dass das Ich, das selbstbewusste Vergegenwärtigungen intendiert, sich im Dazwischen befindet, d. h. zwischen der Gegenwart
einerseits und der Vergangenheit, der Zukunft und der fiktiven
Sphäre andererseits. Im Gegensatz dazu sind die Erfahrungen der
Versunkenheit, die ich zuvor angesprochen habe, keine Fälle des Dazwischen-Seins, sondern des Dort-und-dann-Seins. Das versunkene
Ich intendiert nicht nur besondere Phänomene jenseits des Gegenwartsfelds, sondern durchlebt diese Erfahrungen aus einer Distanz
zur Gegenwart: Im Falle von versunkenen Erinnerungen durchlebt
es erneut seine vergangenen Erfahrungen; im Falle von versunkenen
Antizipationen erlebt es die zukünftigen Erfahrungen im Voraus; im
Falle von versunkenen Phantasien erlebt es die Phantasieerfahrungen. In all diesen Fällen geht es nicht darum, einen bestimmten Bewusstseinsinhalt auf der Basis von vergegenwärtigenden Akten zu
intendieren, sondern darum, eine Erfahrung zu machen, die sich jenseits des Hier und Jetzt entfaltet. Dieses Erlebnis kann nicht in das
Gegenwartsfeld gestellt werden, da den versunkenen Vergegenwärti381
Saulius Geniusas
gungen das Selbstbewusstsein fehlt: In den eigenen Vergegenwärtigungen versunken zu sein, bedeutet, sich in einer Distanz zur gegenwärtigen Welt zu befinden und seine Erfahrungen in einer solchen
Distanz zu durchleben. Wir können diese Distanz nun als ein Erfahrungsmerkmal verstehen, das durch die Selbstvergessenheit ermöglicht wird: Das Ich vergisst das Hier und Jetzt, es hebt das Hier und
Jetzt auf und erlangt dadurch die Freiheit, seine eigenen Vergegenwärtigungen in einer Distanz zur Gegenwart zu durchleben.
All dies bedeutet, dass wir neben den Vergegenwärtigungen, in
denen man sich seiner selbst bewusst ist, noch von einer anderen
Klasse, den ›nicht-selbstbewussten‹ Vergegenwärtigungen, sprechen
können. Man könnte diesen Unterschied auch als eine Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Vergegenwärtigungen
beschreiben. Diese Unterscheidung betrifft jedoch nicht den Erfahrungsinhalt. Wir können denselben Inhalt sowohl in einer versunkenen als auch in einer nicht-versunkenen Weise durchleben. Eher geht
es hier um einen Erlebnismodus, d. h. es geht darum, ob das Ich den
Inhalt seiner Vergegenwärtigungen in einer ›selbstbewussten‹ oder
›nicht-selbstbewussten‹ Weise erlebt. Letztlich hängt die Unterscheidung davon ab, ob das Ich den Inhalt von Vergegenwärtigungen auf
selbstbewusste Weise durchlebt oder nicht. ›Selbstbewusste‹ Vergegenwärtigungen sind diejenigen Vergegenwärtigungen, die das Ich
als Vergegenwärtigungen anerkennt. Der Grund dafür liegt darin,
dass das Ich sich darüber bewusst ist, dass es weiterhin im Hier und
Jetzt ist, auch wenn es Inhalte jenseits dieses Feldes intendiert. Im
Gegensatz dazu sind unbewusste Vergegenwärtigungen solche Vergegenwärtigungen, die das Ich nicht als Vergegenwärtigungen erkennt. Der Grund dafür liegt darin, dass das Ich sich nicht darüber
bewusst ist, dass es weiterhin im Hier und Jetzt ist, während es seine
vergangenen, zukünftigen oder imaginären Erfahrungen durchlebt.
Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass Versunkenheit verschiedene Grade zulässt und dass reine Versunkenheit ein
Grenzphänomen darstellt. Das bedeutet, dass der Mangel an Selbstbewusstsein, der für versunkene Erfahrungen charakteristisch ist, ein
Mangel ist, der ebenfalls verschiedene Stufen zulässt. Was die häufigeren Formen der Versunkenheit betrifft, so wird ihre Erfahrung
nicht durch völlige Selbstvergessenheit ermöglicht, sondern durch
das stark abgeschwächte Selbstbewusstsein, das die Erfahrungen an
die gegenwärtige Welt bindet.
382
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
5.
Versunkenheit und Ichspaltung
Alle Vergegenwärtigungen, sowohl bewusste als auch unbewusste,
haben ein gemeinsames strukturelles Merkmal. Sie sind alle möglich,
wenn, und nur wenn das Ich, als Subjekt der Erfahrung gedacht, zur
Selbstduplizierung fähig ist. In der phänomenologischen Literatur
wird dieses Strukturmerkmal als Ichspaltung bezeichnet 5. Meines
Wissens ist diese strukturelle Eigenschaft jedoch nie als ein notwendiges Moment aller Vergegenwärtigungen konzeptualisiert worden.
Wenn wir uns an etwas erinnern, erinnern wir uns gleichzeitig
auch daran, dass wir die Erfahrung gemacht haben, an die wir uns
jetzt erinnern. Um auf mein früheres Beispiel zurückzukommen:
Wenn ich mich daran erinnere, dass auf dem Weg zum Flughafen im
Taxi eine chinesische Oper gespielt wurde, erinnere ich mich daran,
dass ich sie gehört habe. Ich, genau dieses Subjekt, das jetzt im Flugzeug sitzt, ist dasselbe Ich, das vorher im Taxi saß. Modifizieren Sie
dieses Beispiel einer Erinnerung mit jedem anderen, das Ihnen in den
Sinn kommt, und Sie werden zu dem Schluss kommen, dass sich bei
jeder Art von Erinnerung das Subjekt der Erfahrung notwendigerweise in zwei Teile spaltet: in das erinnernde und das erinnerte Ich.
Natürlich muss mein vergangenes Ich nicht notwendigerweise in der
Erinnerung thematisch erscheinen. Ich kann mich an den Sonnenaufgang über dem südchinesischen Meer, welcher die Berge in der Ferne
beleuchtet hat, erinnern, ohne mich thematisch daran zu erinnern,
Siehe insbesondere Husserls klassische Analyse dieses Phänomens in Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Hua, Bd. 6, hrsg.
von Walter Biemel, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1954. Jan Broeckman hat dieses
Phänomen im Rahmen der Phänomenologie Husserls eingehend erläutert (Jan Broekman, Phänomenologie und Egologie: faktisches und transzendentales Ego bei Edmund Husserl, Den Haag, Martinus Nijhoff, 1963). Für neuere Untersuchungen der
Ichspaltung in Husserls Phänomenologie und innerhalb anderer theoretischer Rahmen siehe insbesondere Sebastian Luft, »Die Konkretion des Ich und das Problem der
Ichspaltung in Husserls phänomenologischer Reduktion«, in: Rolf Kühn/Michael
Staudigl (Hrsg.), Epoche und Reduktion: Formen und Praxis der Reduktion in der
Phänomenologie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2003, 31–49, Michele
Averchi, »The Disinterested Spectator: Geiger’s and Husserl’s Place in the Debate on
the Splitting of the Ego«, in: Studia Phaenomenologica, 15, 2015, 227–246, und
Marco Cavallaro, »The Phenomenon of Ego-Splitting in Husserl’s Phenomenology
of Pure Phantasy«, in: Journal of the British Society for Phenomenology, 48(2), 2016,
162–177.
5
383
Saulius Geniusas
dass ich mich an dem Panoramablick erfreute. Die Vergegenwärtigung der Berge und des Meeres ist alles, was in meiner Erinnerung
gegeben ist, und ich selbst bin nicht Thema dieser Erinnerung. Und
dennoch, insofern diese Erfahrung eine Erinnerung ist, beinhaltet sie
die Verdoppelung meines eigenen Ichs: Ich, eben dieses Ich, das jetzt
diese Erinnerung durchlebt, bin derjenige, der zuvor den fraglichen
Sonnenaufgang gesehen hat. Diese subjektive Dimension, die zuvor
als Aufspaltung des Ichs identifiziert wurde, kann nicht aus der Erinnerung wegreduziert werden.
Mutatis mutandis können wir das Gleiche über andere Formen
der Vergegenwärtigung sagen, nämlich über die Antizipationen und
die Phantasie. Wenn ich, noch im Flugzeug, ein angenehmes Gespräch mit meinen Freunden voraussehe, so sehe ich mich selbst als
einen Gesprächsteilnehmer. Ich, der jetzt im Flugzeug sitze, bin es,
der vermutlich nach der Landung ein Gespräch mit seinen Freunden
führen wird. Das gilt für alle intuitiven Antizipationen: Sie alle setzen eine Spaltung zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Ich voraus. Das Gleiche gilt für die Phantasie: Wenn ich mir den
Serengeti-Nationalpark mit all seinen Zebras und Krokodilen, Leoparden und Geparden, Elefanten und Impalas vorstelle, versetze ich
mich in diese Vorstellungswelt, zumindest als Betrachter derselben.
Auch wenn ich selbst nicht zum thematischen Inhalt meiner Phantasie gehöre, so erscheinen mir die wilden Tiere doch eher aus dieser als
aus jener Perspektive, links oder rechts von mir, sie nähern sich mir
oder entfernen sich von mir, usw. In all diesen Fällen spalte ich mich
in das phantasierende Ich und das Ich, das zur Phantasiewelt gehört.
Ich konstituiere einen phantasierten Nullpunkt der Orientierung,
von welchem ausgehend mir das phantasierte Schauspiel erscheint.
Eine solche Form der Selbstduplizierung oder Selbstspaltung ist ein
wesentliches Merkmal allen Phantasierens.
In den genannten Fällen spaltet sich das Ich, ohne seine numerische Identität zu verlieren. Wie ist das möglich? Um dies genauer zu
verstehen, müssen wir erkennen, dass der Begriff des Ichs mehrdeutig ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist es besonders wichtig,
zwei Bedeutungen dieses Begriffs zu erkennen. Zum einen bezieht
sich der Begriff des Ichs auf den Mittelpunkt aller Erfahrung. Alles
Leben, als egoisches Leben, hat ein Zentrum, das man mit Edmund
Husserl als einen Nullpunkt der Orientierung bezeichnen kann. Das
Ich ist das Zentrum aller Gefühle und Affekte, aller Gegenwärtigungen und Vergegenwärtigungen, allen Denkens und Handelns. Inso384
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
fern verweist der Begriff des Ichs auf ein notwendiges Strukturmerkmal aller Erfahrung: So, wie es keinen Blick aus dem Nirgendwo geben kann, so kann es auch keine Erfahrung ohne Zentrum geben.
Insofern wir uns auf diese Konzeption des Ichs beschränken, haben
wir das Recht, von einer Vielfalt des Ichs zu sprechen. Mit einer solchen Konzeption im Hinterkopf können wir daher sagen, dass jede
Erfahrung ein eigenes ausgeprägtes Ich hat, das als der Mittelpunkt
der Erfahrung konzipiert ist. Andererseits bezieht sich der Begriff des
Ichs auch auf unser eigenes persönliches Selbst. Als persönliches
Selbst ist das Ich eine Synthese: Es dehnt sich über die Zeit aus, verwandelt seine früheren Erfahrungen in einzigartige Wahrnehmungsmodi, die seine nachfolgenden Erfahrungen beeinflussen. Es hat eine
einzigartige Geschichte, die nicht nur in seiner Vergangenheit liegt,
sondern die auch seine Gegenwart und Zukunft formt. In dieser Hinsicht hat ein jeder von uns das volle Recht, von einem singulären Ich
zu sprechen, das unsere Existenz als Ganzes umfasst.
Mit diesen beiden Auffassungen des Ichs können wir verstehen,
wie es sich, ohne seine Identität zu verlieren, spalten kann. Insofern
wir von einer Vielzahl von Ichs sprechen, haben wir das erste hier
erwähnte Konzept des Ichs vor Augen, nämlich das Ich, das als der
Mittelpunkt der Erfahrung konzipiert ist. Im Falle einer Wiedererinnerung hat die vergangene Erfahrung eindeutig einen anderen Mittelpunkt als die gegenwärtige Erfahrung. Dasselbe können wir über
andere Formen der Vergegenwärtigung sagen. Diese Selbstaufspaltung findet jedoch innerhalb der Einheit des Ichs statt, insofern das
Ich im zweiten Sinne des Begriffs, nämlich als persönliches Ich, gedacht wird. Dadurch wird verständlich, wie aus ein und demselben Ich
eine Vielheit werden kann.
An diesem Punkt sind wir in der Lage, den zentralen Unterschied
zwischen selbstbewussten und versunkenen Vergegenwärtigungen
zu erkennen. Würde das Ich die Erinnerung an das Hören der Musik
im Taxi auf eine selbstbewusste Weise erleben, würde es sich mit dem
eigentlichen, erinnernden Ich identifizieren, also mit demjenigen, das
im Flugzeug und nicht im Taxi sitzt. Das Hören der Musik wäre dann
in einer Distanz zum eigentlichen Ich gegeben, obwohl sich das erinnernde Ich gleichzeitig als genau denjenigen wiedererkennen würde, der die Musik bereits gehört hat. Dasselbe lässt sich über selbstbewusste Antizipationen und selbstbewusste Phantasien sagen. Kurz
gesagt, eine selbstbewusste Vergegenwärtigung zu haben bedeutet,
eine Vergegenwärtigung als Vergegenwärtigung zu erkennen, d. h.
385
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
Saulius Geniusas
eine Erinnerung als Erinnerung, eine Antizipation als Antizipation,
eine Phantasie als Phantasie.
Im Gegensatz dazu bedeutet vollständig versunken in eigenen
Vergegenwärtigungen zu sein, die ehemaligen Erfahrungen nachzuerleben, die künftigen Erfahrungen vorzuerleben, und die Phantasien in einer Quasi-Form zu erleben, ohne sich darüber bewusst zu
werden, dass diese Erfahrungen Vergegenwärtigungen sind. Unser
anfängliches Beispiel diente als gute Veranschaulichung einer solchen
Erfahrung: Wenn das Flugzeug noch nicht abgehoben ist und ich meine jüngsten Erlebnisse noch einmal durchlebe, verliere ich jeden Sinn
für meine tatsächliche Umgebung, ich bin vollständig in meinen
Erinnerungen versunken. In einem solchen Szenario erkennt sich
das Ich, das eine solche Erinnerung hat, nicht als eigentliches Ich; es
identifiziert sich nicht mit dem erinnernden Ich, sondern mit dem
erinnerten Ich. Es ist genau diese Art von ›distanzierter Selbstidentifikation‹, die es dem Ich ermöglicht, eine Erfahrung der Selbstverdrängung und Selbst-Übertragung zu machen: Indem es das Hier und
Jetzt vergisst, identifiziert sich das Ich mit seinem eigenen Doppelgänger im Dort und Dann; kraft solcher Selbstvergessenheit und
Selbstidentifikation wird das Ich zu seinem eigenen Doppelgänger.
Mutatis mutandis können wir dasselbe über Antizipation und Phantasie sagen.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass das, was
ich gerade beschrieben habe, die reine Versunkenheit betrifft und dass
die gemischten Formen häufiger vorkommen. Weniger vollständig in
den eigenen Vergegenwärtigungen versunken zu sein, bedeutet, sie
mit einem stark geschwächten Bewusstsein darüber zu erleben, dass
die eigene Vergegenwärtigung eine Vergegenwärtigung ist. Unter
solchen Umständen identifiziert sich das Subjekt der Erfahrung
immer noch mit dem vergegenwärtigten Ich, obwohl es gleichzeitig
nicht das Bewusstsein seiner tatsächlichen Umgebung verliert. Paradoxerweise ist es die eigene tatsächliche Existenz in der aktuellen
Welt, die aus der Perspektive der versunkenen Erfahrung in Distanz
erscheint. Wenn man gemischte Formen der Versunkenheit in Betracht zieht, kann man mit Recht feststellen, dass eine trennscharfe
Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Vergegenwärtigungen nicht gerechtfertigt wäre. Ganz gleich, wo man die Unterscheidung zwischen ihnen ziehen würde, müsste man zugeben,
dass die Aufspaltung des Ichs ein wesentliches Merkmal sowohl der
versunkenen als auch der nicht-versunkenen Vergegenwärtigungen
386
ist. Man könnte den Unterschied folgendermaßen andeuten: Bei
selbstbewussten Vergegenwärtigungen steht das Ich mit einem Fuß
in der Gegenwart und mit dem anderen außerhalb dieses Bereichs,
wobei es mehr Gewicht auf den Fuß, der im Hier und Jetzt steht, legt.
Im Gegensatz dazu legt das Ich bei versunkenen Vergegenwärtigungen ein größeres Gewicht auf den anderen Fuß und befindet sich dann
sowohl in der Gegenwart als auch außerhalb dieser.
6.
Versunkenheit und Zuneigung
Zu einem großen Teil verstehen wir philosophische Begriffe aufgrund anderer, ihnen entgegengesetzter Begriffe. In dieser Hinsicht
muss man, um die Bedeutung der Versunkenheit besser zu verstehen, auch die Bedeutung des entgegengesetzten Begriffs verstehen, nämlich des Begriffs der Wachheit. Als phänomenologischer
Begriff drückt Wachheit das allgemeine Interesse des Ichs an der aktuellen Welt aus. Wachsein heißt, wach für die Welt zu sein, d. h. ein
Ohr für alles zu haben, was sich in der gegenwärtigen Welt entfaltet.
Wach zu sein heißt auch, Affektionen zu erleben, die uns aus der uns
umgebenden Welt erreichen. Sofern diese Affektionen nicht aus uns
selbst stammen, können wir sie Hetero-Affektionen nennen. Diese
Affektionen wecken unser Interesse, wir wenden uns ihnen zu und
reagieren auf sie.
Wachheit, Interesse, Affektionen: Wir sind wach für die Welt,
wenn unser Erleben von Interessen geleitet wird, die ihrerseits aus
bestimmten Affektionen (nämlich Hetero-Affektionen) entstehen.
Doch unser Interesse am Hier und Jetzt kann nachlassen, und wenn
das geschieht, finden wir uns in einer merkwürdigen Situation wieder: Die Affektionen (d. h. Hetero-Affektionen) sind noch da, wir erleben sie weiterhin. Diese Affektionen sind jedoch in dem Sinne ohne
Kraft, als dass sie unser Interesse nicht wecken. Die Versunkenheit
hebt die Kraft der Affektionen auf und trennt damit das natürliche
Band, das die Affektionen mit Interesse und Wachheit verbindet.
Wie sollen wir eine solche Wendung von der öffentlichen zur
inneren Welt verstehen? Es genügt nicht, auf die Aufhebung der affektiven Kraft hinzuweisen, die die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Welt hervorruft. Eine solche Annullierung
muss selbst-motiviert sein. Wir müssen also fragen: Was könnte das
Ich motivieren, sich von seiner Umgebung zu distanzieren? Offen387
Saulius Geniusas
sichtlich muss die Motivation in einer anderen Art von Affektionen
liegen, die ihrerseits die Hetero-Affektionen überwältigen. Wir
könnten diese andere Gruppe von Affektionen Auto-Affektionen
nennen. Während Hetero-Affektionen uns von außen erreichen, erreichen uns Auto-Affektionen von innen: Gedanken, Wünsche oder
Sehnsüchte können beharrlich und aufdringlich sein; ebenso können
Erinnerungen, Erwartungen oder Phantasien unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist hierbei wichtig zu betonen, dass sowohl
Hetero-Affektionen als auch Auto-Affektionen unterschiedliche
Grade zulassen; sie können dem Ich mehr oder weniger nahe kommen. Manchmal können Auto-Affektionen mit Hetero-Affektionen
in Konflikt geraten, wodurch das Ich ratlos zurückbleibt und gezwungen ist, zu wählen, welchen Affektionen es Beachtung schenken soll.
Andere Male, wenn Auto-Affektionen intensiver sind, können sie die
Hetero-Affektionen überwältigen, wenn auch nicht durch Beseitigung, sondern vielmehr durch Beraubung ihrer Motivationskraft,
das Interesse und die Aufmerksamkeit des Ichs zu wecken. In noch
anderen Fällen können Auto-Affektionen eine solche Intensität erreichen, dass sie die Interessen vollständig übernehmen; in diesen
Fällen bleibt das Ich von Hetero-Affektionen unberührt.
So wie wir gegenüber den Hetero-Affektionen passiv sind, so
sind wir paradoxerweise auch gegenüber den Auto-Affektionen passiv: Sie kommen, wann sie und nicht, wann wir wollen. Freilich kommen sie von innen, d. h. das Ich selbst ist die Quelle von Auto-Affektionen; dennoch entspringen sie aus eigener Kraft, sie missachten den
Willen des Ichs. Während die Hetero-Affektionen aus einem Jenseits
kommen, das außerhalb von uns liegt, kommen die Auto-Affektionen
aus einem Jenseits, das in uns liegt: Sie erreichen uns aus unserer
Vergangenheit oder Zukunft, sie drücken unsere Wünsche oder
Ängste, Hoffnungen oder Verzweiflungen, Begierden oder Abneigungen, Freuden oder Schmerzen, Gefühle oder Gedanken aus. Sie
kommen aus dem Ich selbst, aber gerade weil das Ich ihnen gegenüber
passiv ist, wirken sie wie eine fremde Kraft, die ihre seltsame Alterität
behält.
In Anlehnung an Husserl 6 können wir folgende Elemente unterscheiden, die die zeitliche Struktur des affektiven Bewusstseins ausmachen: a) »das Eindringen auf das Ich«, den Drang, den die AffekEdmund Husserl, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der
Logik, hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg, Meiner Verlag, 71999, § 17.
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
tionen auf das Ich ausüben; b) »vom Ich aus die Tendenz zur Hingabe,
das Gezogensein«; c) »die Zuwendung als Folgeleisten der Tendenz
[…] das Ich ist nun dem Objekt zugewendet.« 7 Erst bei der dritten
Stufe kann man nach Husserl vom Wach-Sein des Ichs sprechen.
Wir können das so verstehen, dass die ersten beiden Schritte den Prozess des Erwachens ausmachen. Diese zeitliche Struktur, die vom Erwachen zum Wachsein führt, charakterisiert das Verhältnis des Ichs
sowohl zu den Hetero-Affektionen als auch zu den Auto-Affektionen. Erinnern wir uns aber an die frühere Beobachtung, dass AutoAffektionen uns aus dem Jenseits erreichen, das dennoch in unserem
Inneren liegt. Das macht es notwendig, dass wir, wenn wir von AutoAffektionen sprechen, die erste These ergänzen und nicht nur von der
Aufdringlichkeit der Affektion sprechen, sondern auch davon, dass
die Auto-Affektion aus dem Subjekt der Erfahrung selbst entspringt.
Wie bereits erwähnt, ist der Begriff des Ichs bekanntermaßen
mehrdeutig. Das Ich ist der Mittelpunkt aller Erfahrung; dennoch ist
es auch ein persönliches Ich, mit einer persönlichen Geschichte. Diese
Zweideutigkeit erlaubt es uns, die Alterität im Inneren, die den Ursprung der Auto-Affektionen ausmacht, genauer zu verstehen. Insofern das Ich ein persönliches Ich ist, sind die fraglichen Affektionen in
der Tat Auto-Affektionen: Sie kommen von innen. Insofern jedoch
das Ich der Mittelpunkt der Erfahrung ist, kommen die Auto-Affektionen von jenseits: Ich bin von Erfahrungen betroffen, die nicht das
gegenwärtige aktuelle Ich als ihren Mittelpunkt haben.
Welchen Sinn sollen wir dann dieser Alterität im Innern geben,
die die Möglichkeitsbedingungen von Auto-Affekten konstituiert?
Sollten wir diese Alterität als das Anderssein des ›Alter Ego‹ qualifizieren, dem wir noch innerhalb der Grenzen unserer eigenen Erfahrung begegnen? Eine solche Schlussfolgerung wäre unberechtigt: Wir
haben einfach keine ausreichenden phänomenologischen Beweise,
um sie zu stützen. Vielmehr stolpern wir hier über eine merkwürdige
Distanz, die das gegenwärtige Ich von seinem Erfahrungsfluss trennt,
wenn man es in seiner Zeitlichkeit betrachtet. Erinnern wir uns an die
früher gemachte Unterscheidung zwischen dem Ich, das als zentrierender Punkt der Erfahrung gedacht ist, und dem Ich, das als persönliches Selbst gedacht ist. In diesem Zusammenhang könnte man sagen, dass viele unserer Erfahrungen in dem Sinne dezentriert sind,
dass sie uns zwar immer noch gegeben sind, aber in einer Distanz
6
388
7
Husserl, Erfahrung und Urteil, 82.
389
Grundlinien einer Phänomenologie der Versunkenheit
Saulius Geniusas
zum gegenwärtigen Ich, welches als der Mittelpunkt des Bewusstseins konzipiert ist, auftauchen. Wenn sich die Auto-Affektionen
dem Ich aufdrängen, wenn das Ich nachgibt und sich ihnen aktiv zuwendet, erhalten diese primären Affektionen mehr Bestimmtheit und
werden als vergangene, zukünftige oder imaginäre Erfahrungen erkannt. Doch per definitionem kann das gegenwärtige Ich nicht der
Mittelpunkt der vergangenen oder zukünftigen Erfahrung sein; so
kann es auch nicht der Mittelpunkt der Phantasieerfahrung sein.
Wie wir gesehen haben, haben alle vergegenwärtigten Erfahrungen
ein anderes Ich in ihrem Zentrum. Nur indem sich das aktuelle Ich
mit diesen verschiedenen Ichs (dem vergangenen, dem zukünftigen
oder dem imaginären Ich) identifiziert, kann es sich jene Erfahrungen
aneignen, die nicht zu ihm gehören, d. h. die entweder nicht mehr zu
ihm gehören (Erinnerung) oder noch nicht zu ihm gehören (Antizipation) oder prinzipiell nicht zu ihm gehören können (Phantasie).
7.
Versunkenheit und Gefangenschaft
In manchen Fällen kann es sehr schwierig sein, sich der Versunkenheit zu entziehen. Das heißt, man könnte zwar erkennen, dass man in
der inneren Welt versunken ist, und dennoch könnte man zur eigenen Bestürzung es als unmöglich empfinden, sich aus dem Griff dieser Versunkenheit zu befreien. Das ist die Erfahrung des Gefesseltseins. Man weiß, dass man nicht das vergegenwärtigte Ich ist, man
weiß, dass die vergegenwärtigte Erfahrung außerhalb des Gegenwartsfelds liegt, und doch sieht man sich innerlich gezwungen, solche
Erfahrungen immer wieder zu erleben. Man kann in seinen Erinnerungen, Antizipationen und Phantasien gefesselt sein; ebenso kann
man von seinen Ängsten, Sehnsüchten, Wünschen und Gedanken
gefesselt werden.
In Anbetracht dessen müssen wir die Ansicht zurückweisen, dass
man nur so lange im Dort und Dann versunken sein kann, wie dieses
Erleben durch einen Mangel des Bewusstseins seiner Selbst gekennzeichnet ist, also entweder so lange man seine Verwurzelung in der
Gegenwart nicht erkennt, oder so lange man weiterhin glaubt, dass
das Dort und Dann in Wirklichkeit das Hier und Jetzt sei. Man kann
sehr wohl wissen, dass man versunken ist, und trotzdem kann es
einem unmöglich sein, dieser Versunkenheit zu entkommen. Man
kann die Überflutung von Bildern und Gedanken, begleitet von einer
390
Vielfalt an Gefühlen, erleben, ganz gleich, wie stark der Wunsch wäre, vor ihnen zu fliehen, kann man trotzdem völlig unfähig sein, sich
ihnen zu entziehen.
Man könnte sich fragen: Wie genau sollen wir diese Eigenschaft
versunkener Erfahrungen mit meiner früheren Behauptung in Einklang bringen, dass die distanzierte Erfahrung eine Dimension der
Spontaneität mit sich bringt, die im Fall der aktuellen Erfahrung
fehlt? Haben wir es hier nicht mit zwei unvereinbaren Merkmalen
zu tun, und sollten wir nicht sagen, dass, insofern unsere Erfahrung
durch Spontaneität gekennzeichnet ist, sie nicht auch durch Gefesseltsein gekennzeichnet sein kann und umgekehrt? Doch das Gefesseltsein, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist höchst paradox: Wir
können von unseren eigenen Erinnerungen, Antizipationen, Phantasien oder Gedanken gefesselt werden. In manchen Fällen ist es uns
unmöglich, dem Griff unserer eigenen Spontaneität zu entkommen.
Das bedeutet, dass es, um aus der Versunkenheit zu erwachen,
nicht ausreicht, das Bewusstsein seiner Selbst wiederzuerlangen. Das
stillschweigende Bewusstsein darüber, dass man in der gegenwärtigen
Welt lebt, kann diese Art von Versunkenheitserfahrungen sehr wohl
begleiten. Man ist wach für die Welt, und dennoch überwiegt die
Anziehungskraft der Auto-Affektionen bei weitem die Anziehungskraft der Hetero-Affektionen. Auto-Affektionen beanspruchen weiterhin die eigene Aufmerksamkeit, trotz des Willens, sich von ihnen
abzuwenden. Das bedeutet, dass wir nur dann aus der Versunkenheit
erwachen können, wenn die Hetero-Affektionen die Auto-Affektionen in den Schatten stellen, indem sie das Ich dazu verleiten, seine
Interessen auf sie zu richten.
8.
Schlussbemerkungen
Die vorstehende Analyse der Versunkenheit ist nicht vollständig.
Man kann sie als eine Skizze betrachten, die einige grundlegende
Strukturen des versunkenen Erlebens aufzeigen soll. Insbesondere
vor dem Hintergrund, dass das Phänomen der Versunkenheit in der
Phänomenologie wie auch in anderen philosophischen Traditionen so
wenig erforscht ist, hat die hier vorliegende und durchgeführte Untersuchung ihren Wert.
In meinen abschließenden Bemerkungen möchte ich auf den
Standpunkt zurückkommen, den ich in den einführenden Bemerkun391
Saulius Geniusas
gen dargelegt habe. Wir behaupten oft, dass wir nur in der gegenwärtigen Welt existieren können, was bedeutet, dass alles, was wir
erleben, uns nur aus der Perspektive der gegenwärtigen Welt gegeben
sein kann. Ich hoffe, die vorangegangene Analyse hat gezeigt, wie
problematisch diese Sichtweise ist, auch wenn sie so häufig als selbstverständlich akzeptiert wird. Einige unserer Erfahrungen sind uns
aus anderen Perspektiven als der der gegenwärtigen Welt gegeben;
auf Gedeih und Verderb sind wir nicht so sehr in der Gegenwart eingeschlossen, wie wir oft glauben, dass wir es wären. Versunkenheit,
verstanden als eine Art Selbstverschiebung, bietet dem Subjekt der
Erfahrung die Möglichkeit, sein Erfahrungsfeld zu erweitern, indem
es das Hier und Jetzt zumindest teilweise und vorübergehend verlässt.
392
IV. WELT UND PRAXIS