[go: up one dir, main page]

Academia.eduAcademia.edu
STUDIEN Religiöse Autorität im schiitischen Islam zwischen Religion und Politik RAINER BRUNNER Als Papst Franziskus Anfang März 2021 den Irak besuchte und dabei mit Āyatollāh ʿAlī as-Sīstānī (geb. 1930) zusammentraf, stieß das in der internationalen Presse auf ein reges Echo, gilt as-Sīstānī doch, ungeachtet seines demonstrativen Meidens öffentlicher Auftritte, als der einflussreichste schiitische Gelehrte außerhalb des Iran mit seiner ganz eigenen Form der Staatsreligion. Dass dabei en passant auch das Verhältnis zwischen Katholizismus und Schia thematisiert wurde, ist keineswegs abwegig, da zwischen beiden Religionsformen durchaus Ähnlichkeiten zu beobachten sind, man denke nur an die Bedeutung des Passionsgedankens oder bestimmte Aspekte der Heiligenverehrung.1 Aber Ähnlichkeiten sind noch keine Verwandtschaften, und ein schiitischer Āyatollāh ist mit einem Papst nur bedingt vergleichbar. Im Folgenden soll es denn auch, nicht zuletzt aus Platzgründen, weniger darum gehen, strukturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen diesen beiden Ämtern en détail herauszuarbeiten, als vielmehr nachzuzeichnen, was religiöse Autorität innerhalb der Schia ist, wie sie sich von den Imamen der Frühzeit zu den Religionsgelehrten der Vormoderne verlagerte und welche inneren Widersprüche und Probleme sich dabei im 20. und 21. Jahrhundert ergeben.2 Von den Imamen zu den Gelehrten Man kann die Frühgeschichte der Schia lesen als eine zunehmende Verengung des Kreises derer, die einen rechtmäßigen Anspruch auf die Führung der Gemeinde hatten: die Überzeugung (die im sunnitischen Kalifat überlebte), dass der Anführer aus den Reihen der Qurayš zu kommen hatte, also dem Stamm des Propheten angehören musste, wurde zuerst eingeschränkt auf die Zugehörigkeit zur Sippe der Banū Hāšim (wodurch die Umayyaden ausgeschlossen wurden), sodann auf die Nachkommen Vgl. Bill, James A./Williams, John Alden: Roman Catholics and Shi’i Muslims. Prayer, Passion & Politics, Chapel Hill (u. a.) 2002, v. a. S. 47–74. 2 Die folgenden Ausführungen basieren auf früheren Publikationen: Brunner, Rainer: How the Shiʿite Clergy Entered Politics, in: Oasis 25 (2017), S. 22–35; ders.: Die Schia, in: ders. (Hg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, S. 310–337. 1 106 des ersten Imams, ʿAlī ibn Abī Ṭālib, ehe schließlich im achten Jahrhundert ausschließlich die ḥusaynidische Linie als herrschaftsberechtigt anerkannt wurde. Diese bestand aus den Nachfahren von ʿAlīs zweitem Sohn Ḥusayn, dem dritten Imam, der 680 bei Kerbela getötet wurde. Dadurch wurden nicht nur andere schiitische Prätendenten vom Imamat ferngehalten, sondern zugleich den Abbasiden die Legitimation abgesprochen, nachdem diese ihre vormaligen schiitischen Verbündeten nach der erfolgreichen Revolution gegen den gemeinsamen Feind der Umayyaden verdrängt hatten. Die klassische schiitische Imamatslehre ist somit eine Verlegenheitslösung, die entstand, nachdem die frühe Schia als revolutionäre politische Bewegung gescheitert war. Die Niederlagen auf dem Schlachtfeld wurden gewissermaßen sublimiert durch die Gewissheit, dem auserwählten Volk anzugehören, sowie durch die grenzenlose Überhöhung der Figur des Imams. Die Hauptmerkmale des von Gott bestimmten Anführers, so die unter dem sechsten Imam, Ǧaʿ far aṣ-Ṣādiq (gest. 765), entwickelte Imamatslehre, waren seine absolute Sündlosigkeit und Allwissenheit. Darüber hinaus betonte man, dass die Welt ohne einen Imam nicht existieren könne, wodurch das Imamat notwendigerweise in die Vergangenheit ausgedehnt wurde und die vorislamischen Propheten mit einschloss, die man für Propheten und Imame in Personalunion hielt. Dagegen musste der Imam andererseits nicht mehr notwendigerweise der tatsächliche politische Führer der Gemeinschaft sein. Das Imamat als die zentrale spirituelle und religiöse Institution wurde auf diese Weise de facto vom machtpolitischen Kalifat getrennt, und es war fortan ohne weiteres möglich, legitimer Imam zu sein, ohne Kalif zu werden. Zwar war in diesem Szenario das (sunnitische) Kalifat eine illegitime Herrschaftsform, aber solange der Imam als oberste rechtliche Autorität zugange war, konnte man sich als Gläubiger damit abfinden. Das Ganze war ein Pyrrhussieg, denn die ḥusaynidischen Imamiten, wie sie nun genannt wurden, waren dramatisch unterbesetzt. Mehrfach kam es angesichts einer unklaren Nachfolge zu Spaltungen, bei zwei Anlässen wusste man sich nur dadurch zu behelfen, dass man Minderjährige als Imame CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k Dr. Rainer Brunner ist Directeur de recherche am CNRS (Paris) und Herausgeber der Fachzeitschrift Die Welt des Islams. Seine Forschungsschwerpunkte sind der schiitische Islam in Geschichte und Gegenwart sowie der islamische Modernismus seit dem 19. Jahrhundert. anerkannte.3 Der entscheidende Schlag geschah schließlich, als der elfte Imam, al-Ḥasan al-ʿAskarī, 874 starb, ohne dass ein Nachfolger bekannt gewesen wäre. Es dauerte eine Weile, ehe man sich darauf verständigte, dass der Imam doch einen Sohn hatte, der jedoch von Gott in eine Verborgenheit (ġayba) entrückt worden sei. Es stellte sich alsbald heraus, dass die imamitische Schia zwar ohne Imam weiterexistieren konnte, die Gemeinschaft aber trotzdem rechtlicher Autorität und religiöser Führung bedurfte. Beides wurde auf lange Sicht in einem zweiteiligen Prozess sichergestellt. Die erste, relativ kurze Phase bestand darin, die eschatologisch überhitzte Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Parusie des Imams erheblich herunterzukühlen. Die Idee einer Verborgenheit des Imams war als solche nicht neu, mehrere schiitische Strömungen hatten sich ihrer bereits zuvor bedient. Im Unterschied zu diesen erwarteten die Imamiten die Wiederkunft des „rechtgeleiteten“ (mahdī) Imams allerdings nicht mehr für die absehbare Zukunft. Stattdessen wurde sie ans Ende der Zeiten verschoben, wenn er zurückkehren und das jüngste Gericht vorbereiten werde. Durch diese grundsätzliche Neuordnung, die zwischen 874 und 941 stattfand,4 wurde die Zahl der Imame endgültig auf zwölf beschränkt, und die bisherige imāmiyya zur Zwölferschia (šī ʿa iṯnā ʿašariyya) umgewandelt, die sich schließlich gegenüber anderen Strömungen wie der Zaydiyya und oder Ismāʿīliyya durchsetzte und zur heute vorherrschenden Version des schiitischen Islam wurde. Der zweite Abschnitt dauerte wesentlich länger – ungefähr ein Jahrtausend, wie noch zu sehen sein wird – und lässt sich beschreiben als ein fortlaufender Prozess der Rationalisierung und zunehmenden Selbstermächtigung derjenigen Klasse von Religions- und Rechtsgelehrten (ʿ ulamāʾ, fuqahāʾ ), die fortan für sich in Anspruch nahmen, als Stellvertreter des verborgenen Imams zu handeln.5 Dabei handelte es sich um den neunten Imam, Muḥammad al-Ǧawād, und den zehnten, ʿAlī al-Hādī. Die folgenschwerste Spaltung ereignete sich, nachdem Ismāʿīl, der erstgeborene Sohn des Imams Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq, vor seinem Vater starb; auf ihn beriefen sich (wenngleich erst mit einiger Verzögerung) die ismāʿīlitischen Schiiten. Zur Genese und Entwicklung der schiitischen Imamreihe im Allgemeinen vgl. Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt 1988, v. a. S. 10–40; Momen, Moojan: An Introduction to Shi’i Islam. The History and Doctrines of Twelver Shi’ism, New Haven (u. a.) 1985, S. 23–60. 4 Diesen Abschnitt nannte man später die „kleine Verborgenheit“ (al-ġayba aṣ-ṣuġrā), während derer vier „Bevollmächtigte“ (sufarāʾ ) im Namen des Imams die Verbindung zur Gemeinde aufrechterhielten. Danach brach auch dieser Kontakt ab, und der Imam verschwand in die „große Verborgenheit“ (al-ġayba al-kubrā). 5 Vgl. Amir-Moezzi, Mohammad Ali: Réflexions sur une évolution du shi’isme duodécimain: tradition et idéologisation, 3 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 Ins Werk gesetzt wurde diese Entwicklung innerhalb eines knappen Jahrhunderts von mehreren herausragenden Gelehrten wie Ibn Bābūya (gest. 991), aš-Šayḫ al-Mufīd (gest. 1022), aš-Šarīf al-Murtaḍā (gest. 1044) und dem „Šayḫ aṭ-Ṭāʾifa“ aṭ-Ṭūsī (gest. 1067), die man daher mit einigem Recht als die schiitischen „Kirchenväter“ bezeichnen kann. Ihr Werkzeug, mit dem sie der imamitischen Esoterik zu Leibe rückten, war die Ratio (ʿaql): indem sie rationalistische Kritik übten, verwarfen sie nicht nur die zahllosen Überlieferungen, in denen von den übernatürlichen Fähigkeiten der Imame die Rede war. Vor allem stellten sie sicher, dass die Schia nicht länger in einem zyklischen Geschichtsbild gefangen war, das aus verschwindenden und wiederkehrenden Anführern bestand, sondern einer linearen Entwicklung mit einem sinnstiftenden Ende folgte, nämlich der Wiederkehr des Erlösers am Ende der Zeiten. Eine notwendige Begleiterscheinung dieser Entwicklung war die Transformation der schiitischen Lehre vom früheren Chiliasmus, der sich auf die Figur des Imams konzentrierte, hin zu einem System von Recht und Jurisprudenz. Gleichwohl ist der strukturelle Unterschied kleiner, als es auf Anhieb scheinen mag, denn die letztgültige religiöse Autorität und Rechtleitung wurden lediglich übertragen von der einen Institution, die auf einer recht schmalen Abstammungslinie gründete (den Imamen), zu einer anderen, die über eine weitaus breitere Basis in Form einer Meritokratie verfügte (den Gelehrten). So wie die Imame beanspruchten, göttlich inspiriert und damit berechtigt zu letztgültigen und für ihre Anhänger verpflichtenden Urteilen zu sein, gründeten die ʿ ulamāʾ ihren Anspruch, im Namen des mahdī zu handeln, auf ihr individuelles Urteilsvermögen (iǧtihād). Und ebenso wie die Imame beschränkten sie diese Fähigkeit auf ihresgleichen und schlossen damit die Masse der gewöhnlichen Gläubigen aus. Diese hatten sich unabhängiger Entscheidungsfindung zu enthalten und stattdessen taqlīd zu üben, das heißt dem Urteil der Juristen zu folgen. Weder die mutmaßliche Inspiration der Imame noch die vorausgesetzte Qualifikation der Gelehrten zum iǧtihād konnten durch die Nichtinitiierten infrage gestellt werden, mit dem zwangsläufigen Ergebnis einer scharfen Zweiteilung der Gesellschaft in wenige muǧtahidūn (die zum iǧtihād Befähigten) und viele muqallidūn (die auf taqlīd Angewiesenen). Das mag man als Entsakralisierung der Herrschaft der Imame sehen – oder als den Beginn einer allmählichen Sakralisierung der Herrschaft der Religionsgelehrten. Die Ausarbeitung des juristischen iǧtihād war im Wesentlichen im 14. Jahrhundert abgeschlossen, als die sogenannte „Schule von Ḥilla“, vor allem deren berühmtester Vertreter al-Ḥasan ibn Yūsuf „al-ʿAllāma al-Ḥillī“ (gest. 1325), ein vollständiges und kohärentes Lehrgebäude vorlegte. Zwar hatten die beiden Hauptaspekte dieser Rechtslehre einen scheinbar vorläufigen Charakter, denn zum einen war jeder muǧtahid gleichermaßen zum Urteilen befähigt, da keiner als unfehlbar galt, zum anderen war der iǧtihād in: Patlagean, Évelyne/Boulluec, Alain le (Hg.): Les retours aux écritures. Fondamentalismes présents et passés, Louvain 1993, S. 63–81. 107 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k auf lebende Gelehrte beschränkt: „Tote haben nichts zu sagen“,6 stellte al-Ḥillī lakonisch klar. Aber es waren genau dieser innere Widerspruch und die Notwendigkeit beständiger Revision der Urteile, die die Grundlage für die fortdauernde geistige und soziale Bedeutung der Gelehrten legten. Ausgestattet mit dem Werkzeug des iǧtihād, unterstützt durch die Entmündigung der gewöhnlichen Gläubigen, begünstigt durch die politischen Umstände (als die Safaviden 1501 den Iran eroberten und die Zwölferschia zur Staatsreligion machten), vermochten es die ʿ ulamāʾ zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, sich vier wichtige frühere Vorrechte des verborgenen Imams anzueignen: die Einnahme und Verwaltung der religiösen Steuern und Abgaben, die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Körperstrafen (den im Koran erwähnten sogenannten ḥudūd), die Leitung des gemeinsamen Freitagsgebets sowie schließlich das Recht zum Ausrufen des ǧihād.7 Es war nur folgerichtig, dass dem libanesischen Gelehrten ʿAlī al-Karakī (gest. 1534), der entscheidenden Anteil an der Verbreitung der zwölferschiitischen Lehre im Iran hatte, so hochtrabende Ehrentitel wie „Stellvertreter des Imams“ (nāʾ ib al-imām) oder „Siegel der Gelehrten“ (ḫātam al-muǧtahidīn) zuerkannt wurden; die Überzeugung, dass die Juristen die Kollektivvertreter des verborgenen Imams waren, hatte Wurzeln geschlagen. Der Triumph der uṣūlīs und die Entstehung der marǧaʿiyya Der Machtzuwachs der muǧtahidūn war nicht unwidersprochen geblieben. Je mehr die rationalistischen Juristen die Rolle der Stellvertreter des mahdī übernahmen, desto lauter wurden die Stimmen derer, die darauf beharrten, dass die alten Überlieferungen (aḫbār) der Imame immer noch und ausnahmslos gültig waren und keiner weiteren Auslegung bedurften. Die Aḫbārīs, wie sie dementsprechend genannt wurden, wiesen den Anspruch der Juristen auf autoritatives Urteilen in allen Rechtsprinzipien (uṣūl, woraus sich ihr Name Uṣūlīs herleitet) zurück und verwarfen den iǧtihād. Ihnen zufolge waren alle Schiiten weiterhin muqallidūn der Imame, und man kann daraus den Schluss ziehen, dass es für sie keinen Unterschied gab zwischen der Zeit vor der ġayba, als der lebende Imam zugegen war, und der Zeit nach seinem Verschwinden in die Verborgenheit.8 Betrachtet man das Ganze jedoch wiederum aus einer nicht-theologischen strukturellen Perspektive, wonach es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der sozialen und geistigen Rolle der Imame und der der ʿ ulamāʾ im Sinne einer maßgeblichen religiösen Autorität für die Gläubigen gibt, kann man ebenso gut zum gegenteiHalm: Die Schia, S. 89. Vgl. Amir-Moezzi, Mohammad Ali: Islam in Iran – x: The Roots of Political Shi’ism, in: Encyclopaedia Iranica 14, 146–154. Online abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2330-4804_ EIRO_COM_3687 (letzter Abruf: 30. August 2021). 8 Vgl. Kohlberg, Etan: Aspects of Akhbārī Thought in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Levtzion, Nehemia/Voll, John O. (Hg.): Eighteenth-Century Renewal and Reform in Islam, Syracuse 1987, S. 133–160, v. a. S. 135. 6 7 108 ligen Ergebnis gelangen: Die Aḫbārīs sind dann diejenigen, für die zwischen den göttlich inspirierten Imamen und den gewöhnlichen Menschen eine dicke Wand besteht, die durch menschliche Versuche der Auslegung religiöser Vorschriften nicht durchdrungen werden kann und darf. Für die Uṣūlīs besteht folgerichtig eine solche Trennung nicht, da ihre Selbstermächtigung sie an die Stelle der Imame beförderte und die Trennlinie zwischen der Zeit vor und der nach der ġayba erfolgreich verwischte.9 Der Machtkampf zwischen den Aḫbārīs und den Uṣūlīs, der hauptsächlich an den irakischen Schreinen (ʿatabāt) von Nadschaf und Kerbela stattfand, wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert zugunsten der Letzteren entschieden.10 Die Vorherrschaft der Uṣūlīs wurde in erheblichem Maße von sozio-ökonomischen Aspekten begünstigt: Der Umstand, dass die ʿ ulamāʾ als die Empfänger und Verwalter der religiösen Abgaben und Spenden agierten, sicherte ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber den politischen Machthabern und verschaffte ihnen – vor allem in den höheren Rängen – enormen Reichtum.11 Gleichzeitig allerdings bescherte diese Entwicklung den gewöhnlichen Gläubigen bemerkenswerte Einflussmöglichkeiten, da sie zwar einerseits vom iǧtihād der Gelehrten geistig in den Schatten gestellt wurden, andererseits jedoch die wirtschaftliche Entscheidung behielten, wem sie ihre finanziellen Zuwendungen zukommen ließen. Je populärer ein Gelehrter wurde, desto mehr Spenden erhielt er, desto mehr Studenten konnte er unterstützen, die ihrerseits weitere Gläubige anzogen, die ihm die Abgaben entrichteten und damit zum Netzwerk des jeweiligen Gelehrten beitrugen – und so weiter. Es war dies ein Kreislauf von religiöser Autorität, wirtschaftlicher Macht und politischen Beziehungen, der zur allseitigen Zufriedenheit funktionierte, nicht zuletzt deshalb, weil die Qāǧāren, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts den Iran regierten, über keine eigene religiöse Legitimation verfügten und in dieser Hinsicht von den ʿ ulamāʾ abhängig waren.12 Dem Stand der Gelehrten anzugehören – den man mittlerweile durchaus einen Klerus nennen konnte –, wurde zu einem einträglichen Geschäft. Es ist denn auch bezeichnend, dass die ʿ ulamāʾ nicht das leiseste Interesse an einer vorzeitigen Rückkehr des verborgenen Imams zeigten, als in den 1840er-Jahren eine messianische Bewegung um Sayyid ʿAlī Muḥammad Šīrāzī auftrat, der zuerst behauptete, das Tor (bāb) zum Imam zu sein, und später gar als der mahdī höchstselbst auftrat. Ganz im Gegenteil sorgten die Juristen im Bündnis Vgl. Gleave, Robert: Scripturalist Islam. The History and Doctrines of the Akhbārī Shīʿī School, Leiden 2007, S. 79–88 und 101, hat überdies darauf hingewiesen, dass auch die Aḫbārīs, entgegen ihrem eigenen Anspruch, nicht ohne Interpretation der Aussagen der Imame zurechtkamen. 10 Zum sozialen Hintergrund siehe: Cole, Juan: Sacred Space and Holy War. The Politics, Culture and History of Shi’ite Islam, London 2002, S. 58–77. 11 Vgl. Amanat, Abbas: In Between the Madrasa and the Marketplace: The Designation of Clerical Leadership in Modern Shi’ism, in: ders.: Apocalyptic Islam and Iranian Shi’ism, London (u. a.) 2009, S. 149–178, 267–273. 12 Die Safaviden hatten sich demgegenüber noch eine Genealogie vom siebten schiitischen Imam, Mūsā al-Kāẓim, zugelegt. 9 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k mit der Regierung dafür, dass die Bābī-Bewegung exkommuniziert und verfolgt wurde. Zwar zeigte es sich dabei, dass die ʿ ulamāʾ ihre Autonomie ohne den Rückhalt der weltlichen Macht nicht zu bewahren vermochten, aber es trug zugleich zu einer inneren Konsolidierung des Klerus bei. Denn um 1850 kam die Vorstellung auf, dass jenseits der fortgesetzten Dichotomie zwischen muǧtahidūn und muqallidūn der gelehrteste unter den Gelehrten eine „Quelle der Nachahmung“ (marǧaʿ at-taqlīd) für die anderen, weniger gelehrten muǧtahidūn sein sollte. Notwendigerweise entstand damit eine Hierarchie, gegründet auf dem Prinzip der Gelehrsamkeit (aʿ lamiyya) und der Übereinkunft, dass es idealerweise jeweils nur einen einzigen marǧaʿ geben sollte, wenngleich die Möglichkeit mehrerer gleichzeitiger marāǧi ʿ nicht ausgeschlossen wurde.13 Es handelte sich, um es mit Max Weber zu sagen, um den Versuch, das Charisma der ʿ ulamāʾ zu veralltäglichen, indem man das „Amt“ der marǧaʿ iyya einrichtete.14 Die Klerikalisierung und Hierarchisierung der schiitischen Gelehrten waren einschneidende Wegmarken, führten aber noch nicht zu einer Politisierung der ʿ ulamāʾ, nicht zuletzt wegen der wechselseitigen Abhängigkeit von Klerus und qāǧārischem Staat, und auch weil die irakischen Schreine auf dem Gebiet des sunnitischen Osmanischen Reichs lagen.15 Der Gelehrte, dem üblicherweise als Erstem die marǧaʿ iyya zugeschrieben wird, war der gebürtige Perser Murtaḍā Anṣārī (gest. 1864), der in Nadschaf als Spezialist für Handelsrecht und ohne jegliche politische Ambitionen ansässig war. Das hätte auch auf seinen Nachfolger, Mīrzā Ḥasan Šīrāzī (gest. 1895) zugetroffen, der sogar aus Nadschaf wegging und 1874 in Samarra (Irak) einen neuen Studienkreis (ḥawza) gründete, um den Mühen und Zwängen der marǧaʿ iyya zu entfliehen.16 Die Umstände – und das Drängen des reformistischen Aktivisten Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī (gest. 1897) – schoben ihn jedoch auf die politische Bühne, als der Qāǧāren-Schah Nāṣir ad-Dīn einem belgischen Geschäftsmann das Monopol auf den persischen Tabakhandel gewährte. Šīrāzī reagierte im Dezember 1891, indem er ein Rechtsgutachten (fatwā) erließ, in dem er den Gläubigen den Tabakkonsum schlichtweg verbot, woraufhin der Schah den Handel rückgängig machen musste. Das war Šīrāzīs einziger Ausflug in die Politik, und er geschah mehr oder minder gegen seinen Willen, aber er zeigte die potenzielle Sprengkraft, die ein politisch aktiver schiitischer marǧaʿ entfalten konnte. Von zeitgenössischen Aktivisten wie al-Afġānī wurde das offensichtlich auch so wahrgenommen, aber die klerikale Einmischung in die Politik blieb vorläufig die Ausnahme. Während der Konstitutionellen Revolution im Iran (1906/07) war es die höchst unwahrscheinliche Koalition von westlich gesinnten konstitutionell denkenden Intellektuellen und der Mehrheit der ʿ ulamāʾ, die zur Einführung einer Verfassung führte, welche Letzteren die Möglichkeit einräumte, vermittels eines Komitees alle Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Scharia hin zu überprüfen. Diese Bestimmung blieb theoretischer Natur, da das Komitee niemals einberufen wurde, und die Haltung der Gelehrten in Sachen Konstitutionalismus war gespalten: Eine Minderheit unter ihnen verdammte die Idee als einen Import aus dem Westen, der im Gegensatz zur Scharia stehe. Ihr lautester Wortführer war Faḍlallāh Nūrī, der im Juli 1909 hingerichtet wurde.17 Demgegenüber billigte die Mehrheit der Gelehrten, einschließlich der persischen marāǧi ʿ , die an den irakischen Wallfahrtsschreinen residierten, die Idee einer Verfassung und erklärten sie für in Einklang mit dem islamischen Gesetz stehend; einer von ihnen, Mīrzā Ḥusayn Nāʾ īnī (gest. 1936), verfasste sogar eigens eine Abhandlung dazu.18 Aber kein einziger Jurist, weder unter den Unterstützern des Konstitutionalismus noch unter ihren Gegnern, beanspruchte jemals das Recht unmittelbarer politischer Machtausübung für den Klerus. Während des gesamten 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Iranischen Revolution blieb der schiitische Klerus nahezu einmütig quietistisch, sogar im Angesicht einer feindlichen Staatsmacht, wie das in den 1920er- und 30er-Jahren der Fall war, als Reżā Šāh Pahlavī eine deutlich anti-klerikale Politik betrieb.19 Ein berühmter einschlägiger Fall ist Ḥosayn Borūǧerdī, der ab etwa 1946 von der Mehrheit der Schiiten als marǧaʿ at-taqlīd anerkannt wurde: er ließ es nicht nur nicht zu, mit irgendwelchen Aktivitäten gegen das Pahlavi-Regime in Verbindung gebracht zu werden, sondern unterstützte sogar – eine Art déjà Vgl. Brunner, Rainer: Shi’ite Doctrine – ii: Hierarchy in the Imamiyya, in: Encyclopaedia Iranica Online. Online abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2330-4804_EIRO_COM_10671 (letzter Abruf: 30. August 2021). 14 Vgl. Walbridge, Linda S.: The Counterreformation. Becoming a Marja’ in the Modern World, in: Dies. (Hg.): The Most Learned of the Shiʿa. The Institution of the Marja‘ Taqlid, Oxford 2001, S. 230–246, v. a. S. 240–244. Allerdings ist damit kein formales Prozedere verbunden; anders als beim katholischen Konklave, das den Papst wählt, gibt es in der Schia kein Gremium, das darüber zu bestimmen hätte, wer als marǧaʿ anerkannt wird. 15 Vgl. Litvak, Meir: Shiʿi Scholars of Nineteenth-century Iraq. The ʿulamaʾ of Najaf and Karbalaʾ, Cambridge 1998. 16 Vgl. Ende, Werner: Der amtsmüde Ayatollah, in: Selz, Gebhard J. (Hg.): Festschrift für Burkhart Kienast zu seinem 70. Geburtstage dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen, Münster 2003, S. 51–63. Martin, Vanessa: Islam and Modernism. The Iranian Revolution of 1906, Syracuse 1989, S. 165–200. Zu den Hintergründen und Entwicklungen der Konstitutionellen Revolution im Allgemeinen siehe den Artikel Constitutional Revolution, Encyclopaedia Iranica 6, 163–216. Online abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2330-4804_EIRO_COM_7812 (letzter Abruf: 30. August 2021). 18 Tanbīh al-umma wa-tanzīh al-milla, Baghdad 1909, Tehran 1910; dazu ausführlich: Hajatpour, Reza: Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus. Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2002, S. 93–134; Hairi, Abdul-Hadi: Shīʿīsm and Constitutionalism in Iran. A Study of the Role Played by the Persian Residents of Iraq in Iranian Politics, Leiden 1977, S. 87–98, 109–151. 19 Cronin, Stephanie (Hg.): The Making of Modern Iran. State and Society under Riza Shah, 1921–1941, London (u. a.) 2003. Die marǧaʿiyya im 20. Jahrhundert zwischen zwei (oder mehr) Revolutionen 13 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 17 109 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k vu der Allianz von Klerus und Staat im 19. Jahrhundert gegen die Bābīs – die Verfolgung der Bahāʾ ī in den 1950erJahren.20 Davon abgesehen hielt er sich politisch bedeckt und widmete sich stattdessen der Führung der ḥawza in Qom (die in den 1920ern vom gleichfalls apolitischen ʿAbd al-Karīm al-Ḥāʾirī gegründet worden war) sowie diskreten, wenn auch größtenteils fruchtlosen Bemühungen um eine Annäherung an die Sunniten. Erst nach Borūǧerdīs Tod 1961 und angesichts der zunehmenden autokratischen Regierung des Schahs war ein neuer, deutlich politischerer Ton in Teilen der iranischen Schia zu vernehmen. Diese Richtung ist unweigerlich mit der Person von Āyatollāh Rūḥollāh Khomeinī verbunden.21 In einer Reihe von Vorlesungen, die er in Nadschaf hielt (wohin er exiliert wurde, nachdem er 1963 die Proteste gegen den Schah anführte) und die später gedruckt wurden, entwarf Khomeinī die Vorstellung vom „Mandat des Juristen“ (wilāyat al-faqīh, oft auch übersetzt als „Führungsbefugnis des Rechtsgelehrten“). Der Begriff war nicht neu; Mullā Aḥmad Narāqī (gest. 1829) war der erste schiitische Gelehrte gewesen, der diese Autorität für die Juristen in Anspruch nahm. Allerdings tat er das in einer vergleichsweise vagen Art und Weise und weitgehend folgenlos.22 Khomeinī dagegen hatte eine weitaus genauere Vorstellung davon, wie der zweideutige Terminus wilāya zu verstehen sei, der traditionellerweise einerseits die Loyalität und Bindung bezeichnete, die der Gläubige dem Imam schuldete, sowie andererseits die Vormundschaft, die der Jurist gegenüber Minderjährigen und geistig Behinderten ausübte. Khomeinī ging das nicht weit genug, und er machte geltend, dass diese Vormundschaft das Recht des schiitischen Klerus auf politische Machtausübung mit einschloss. Anfang 1970, als er seine Vorlesungen hielt, waren das weitgehend theoretische Erwägungen. Zwei Dinge spielten ihm jedoch in den folgenden Jahren in die Hände: die wachsende Opposition gegen die Tyrannei des Schahs sowie der Umstand, dass Teile der Opposition sich einer dezidiert religiös gefärbten Symbolik bedienten, was unweigerlich zu einer Radikalisierung bestimmter Aspekte der Schia führte. Am bedeutsamsten war dabei das Bild, das man sich vom Martyrium des Imams Ḥusayn in Kerbela machte: Sowohl linke Intellektuelle wie ʿAlī Šarīʿatī (gest. 1977) als auch einzelne Kleriker wie Niʿmatullāh Ṣāleḥī Naǧafābādī (gest. 2006) verwandelten es – gegen den Widerstand großer Teile des traditionellen Klerus und der marǧaʿ iyya – von einem quietistischen Trauerritual hin zu einem Akt des Heroismus. Ḥusayn erschien nicht länger als derjenige, der sich passiv leidend dem unergründlichen Ratschluss Gottes fügte, sondern als ein Revolutionär, der aktiv gegen die Tyrannei der Umayyaden aufstand. Die Parallelen zur gegenwärtigen Situation lagen auf der Hand, und der Slogan „jeder Tag Vgl. Akhavi, Shahrough: Religion and Politics in Contemporary Iran: Clergy – State Relations in the Pahlawi Period, Albany 1980, S. 76–90. 21 Über diese zentrale Figur der modernen Schia siehe nun: Amirpur, Katajun: Khomeini. Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie, München 2021. 22 Vgl. ebd., S. 95–110. 20 110 ist ʿāšūrāʾ, jedes Grab ist Kerbela“ wurde rasch zu einem wirkungsvollen Schlachtruf der Revolution.23 Als Khomeinīs Theorie der wilāyat al-faqīh in die nachrevolutionäre politische Ordnung Irans eingefügt wurde – keineswegs unmittelbar, da sogar Khomeinī selbst der Ausarbeitung einer Verfassung keine besondere Wichtigkeit beigemessen zu haben scheint24 –, zeigte sie rasch die enorme Machtfülle in den Händen des „Revolutionsführers“ (rahbar-e enqelāb), wie Khomeinīs offizieller Titel nun lautete. Nach Borūǧerdīs Tod war er lediglich als einer unter mehreren marāǧi ʿ in Erscheinung getreten, der mit seinesgleichen um die finanzielle Unterstützung seitens der muqallidūn wetteifern musste. Nun war, zum ersten Mal in der schiitischen Geschichte, ein marǧaʿ nicht mehr von den pekuniären Zuwendungen des gemeinen Volks abhängig, sondern hatte eine vollständig ausgestattete staatliche Bürokratie zu seiner Verfügung. Ebenfalls zum ersten Mal in der schiitischen Geschichte nach der ġayba des zwölften Imams beanspruchte ein muǧtahid die Führungsrolle nicht nur über seine eigenen Anhänger, sondern nicht minder kompromisslos auch über die anderen marāǧi ʿ . Während er sich gegen die irakische marǧaʿ iyya außerhalb der iranischen Einflusssphäre nicht durchsetzen konnte, gewann er die Oberhand über die iranischen Kleriker, die seiner Position potenziell gefährlich werden konnten: Āyatollāh Kāẓem Šarīʿatmadārī (gest. 1986), der ihm 1963 im Kampf gegen den Schah noch den Kopf gerettet hatte, wurde ein Schauprozess gemacht, nach dem er unter Hausarrest gestellt wurde.25 Den letzten Schritt tat Khomeinī dann 1988, als er für sich das „absolute Mandat des Rechtsgelehrten“ (wilāyat al-faqīh al-muṭlaqa) beanspruchte, dessen Befugnisse sogar über den religiösen Pflichten wie Fasten, Pilgerfahrt und Gebet standen.26 Obgleich er es niemals offen aussprach, brachte ihn das ziemlich nahe an eine Identifikation mit dem mahdī höchstselbst, und der Ehrentitel „Imam“, der für Khomeinī reserviert war, gab stillschweigend zu verstehen, dass er die Stellung eines „normalen“ marǧaʿ längst hinter sich gelassen hatte. Die grundsätzliche Frage, ob Khomeinīs Theorie einen radikalen Bruch mit der schiitischen Tradition darstellt, oder umgekehrt ihre folgerichtige Vollendung, lässt unterschiedliche Antworten zu. Auf der einen Seite hat kein schiitischer muǧtahid jemals zuvor ein solches Maß an Vgl. Kippenberg, Hans Georg: ‚Jeder Tag ʿAshura, jedes Grab Kerbela‘. Zur Ritualisierung der Straßenkämpfe in Iran, in: Greußing, Kurt (Hg.): Religion und Politik im Iran, Frankfurt a. M. 1981, S. 217–256; Aghaie, Kamran Scott: The Martyrs of Karbala. Shiʿi Symbols and Rituals in Modern Iran, Seattle 2004, S. 87–112. Der Begriff ʿāšūrāʾ bezeichnet den 10. Muḥarram, den Tag des Scharmützels von Kerbela. 24 Vgl. Arjomand, Said Amir: Shiʿite Conceptions of Authority and Constitutional Developments in the Islamic Republic of Iran, in: Brunner, Rainer/Ende, Werner (Hg.): The Twelver Shia in Modern Times: Religious Culture & Political History, Leiden 2001, S. 301–332, v. a. S. 303–304. 25 Vgl. Amirpur, Khomeini, S. 214–218. 26 Vgl. Arjomand, Shiʿite Conceptions of Authority, S. 310; Reißner, Johannes: Der Imam und die Verfassung. Zur politischen und staatsrechtlichen Bedeutung der Direktive Imam Khomeinis vom 7. Januar 1988, in: Orient 29 (1988), S. 213–236. 23 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k direkter politischer Macht für sich beansprucht. Khomeinī formte das traditionelle Juristenrecht in Staatsrecht um, und er setzte eine strikte und verpflichtende Hierarchie durch, in der der oberste Jurist über die anderen marāǧi ʿ dominierte. Auf der anderen Seite jedoch sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass die kollektive Stellung der ʿ ulamāʾ nach der Verborgenheit sich strukturell nur wenig von der der Imame unterscheidet. Von dieser Warte aus betrachtet, erscheint Khomeinī als derjenige, der die jahrtausendalte Selbstermächtigung der Religionsgelehrten ebenso wie die hierarchische Klerikalisierung der marǧaʿ iyya zu einem folgerichtigen, wenn auch radikalen Abschluss brachte. Es liegt im Auge des Betrachters, den Wandel von den Imamen hin zu den muǧtahidūn ab dem zehnten Jahrhundert als radikale Bruchstelle zwischen der göttlichen Inspiration der Imame und den Haarspaltereien ihrer menschlichen Epigonen zu sehen – oder als eine durchgehende und zutiefst menschliche Bewegung von einer Form religiöser Machtausübung zu einer anderen. Die marǧaʿiyya im 21. Jahrhundert Das Nachfolgeproblem war immer die Achillesferse schiitischer religiöser Autorität gewesen. In dieser Hinsicht unterschied sich das Dilemma, im neunten Jahrhundert einen neuen Imam zu finden, nicht allzu sehr von den Debatten nach dem Tod eines marǧaʿ in der Gegenwart. Anders als im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts, als jedermann geduldig genug war, einfach zu warten, bis ein neuer marǧaʿ hervortrat, der von muǧtahidūn und muqallidūn gleichermaßen anerkannt wurde, gab es nun eine zunehmende Tendenz hin zu einer Bürokratisierung des Amtes. Nach Borūǧerdīs Tod 1961 wurden mehrere Szenarien für die Fortführung der marǧaʿ iyya diskutiert, nicht nur mit Blick auf die individuellen Anforderungen, die nötig waren, ein marǧaʿ zu werden, sondern auch was die Modalitäten der Wahl eines neuen marǧaʿ anging. Einige der Diskussionsteilnehmer (wie etwa Maḥmūd Ṭāleqānī) schlugen die Einrichtung eines Gelehrtenrates vor, der kollektiv die Aufgaben des marǧaʿ übernehmen solle.27 Solche Debatten waren augenscheinlich dringlicher im Iran der 1960er-Jahre, wo die marǧaʿ iyya mit einer (zumindest nominell) schiitischen Regierung auskommen musste. An den irakischen Schreinen, wo die ʿ ulamāʾ unter dem wachsenden Druck eines feindlichen und zunehmend tyrannischen Regimes standen, behauptete sich die „traditionelle“ Form der marǧaʿ iyya, wenngleich es auch hier zu vereinzelten Ansätzen kam, die marǧaʿ iyya zu modernisieren. Am bemerkenswertesten war dabei Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadrs (gest. 1980) Vorschlag einer „objektiven“ Führung (marǧaʿ iyya mawḍūʿ iyya), der darauf abzielte, ein Amt zu schaffen mitsamt verschiedener Komitees, die die vielen administrativen und pädagogischen Aufgaben eines marǧaʿ übernehmen sollten. In Anbetracht von aṣ-Ṣadrs eigener Stellung in der ḥawza von Nadschaf, die von den marāǧi ʿ Muḥsin al-Ḥakīm al-Ḥakīm (gest. 1970) und Abū Vgl. Lambton, Ann K. S.: A Reconsideration of the Position of the Marja‘ Al-Taqlīd and the Religious Institution, in: Studia Islamica 20 (1964), S. 115–135, v. a. S. 125 f. 27 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021 al-Qāsim al-Ḫūʾ ī (gest. 1992) überragt wurde, kam dieser Plan über das theoretische Stadium nie hinaus. Auch die Idee des libanesischen Āyatollāhs Ḥusayn Faḍlallāh (gest. 2010) in den 1990er-Jahren, die marǧaʿ iyya ähnlich dem katholischen Papsttum zu reorganisieren, nahm keine feste Gestalt an.28 Khomeinīs starke und vereinheitlichte marǧaʿ iyya war daher kurzfristig das erfolgreichste Modell. Allerdings machte sein übergroßer Fußabdruck im nachrevolutionären Iran die Frage seiner Nachfolge extrem kompliziert. Allem Anschein nach sah er das Problem selbst voraus, denn er veranlasste kurz vor seinem Tod im Juni 1989 eine Verfassungsänderung, die die Anforderungen an den obersten Juristen buchstäblich auf den Kopf stellte. Die Qualifikation als marǧaʿ wurde fallengelassen, stattdessen genügte nun die Fähigkeit zum iǧtihād. Was noch ein Jahr zuvor ein Amt gewesen war, das über den grundlegenden religiösen Vorschriften thronte, wurde auf einmal verkleinert auf einen Posten von nicht einmal mittlerer Wichtigkeit in der schiitischen Hierarchie.29 Aber nur durch diesen Schritt ließ sich das Überleben der wilāyat al-faqīh überhaupt sicherstellen, denn nachdem Khomeinī seinen designierten Nachfolger, Āyatollāh Montaẓerī, im März 1989 selbst entmachtet hatte, war es offensichtlich, dass kein anderer Kandidat hinreichend qualifiziert sein würde. Der iranische Präsident ʿAlī Khāmeneʾ ī (geb. 1939), der einigermaßen überraschend zum „Revolutionsführer“ gewählt wurde, musste formell erst zum Rang eines Āyatollāh befördert werden; die beiden Funktionen der marǧaʿ iyya und der wilāyat al-faqīh waren fortan wieder offiziell getrennt. Diese Schwierigkeit lag größtenteils auch daran, dass sogar innerhalb des Iran die Unterstützung für Khomeinīs Theorie alles andere als einmütig war. Hatte es außerhalb des Landes von Anfang an offene Kritik daran gegeben,30 konnten die iranischen Gelehrten in Qom ihre Bedenken allenfalls unter der Hand äußern. Sie taten das, indem sie Khāmeneʾ ī die Gefolgschaft verweigerten, als dieser nach dem Tod der iranischen Āyatollāhs Golāyegānī (1993) und Arākī (1994) danach trachtete, als alleiniger marǧaʿ anerkannt zu werden. Während Khāmeneʾīs internationales Ansehen dadurch erheblichen Schaden erlitt, hinderte das einige eiserne Unterstützer des wilāya-Prinzips, wie etwa Āyatollāh Meṣbāḥ Yazdī, nicht daran, die Stellung des obersten Juristen als von Gott auserwählt und weit über menschlicher institutioneller Kontrolle stehend zu interpretieren. Seine Legitimation, so Yazdī, leite sich allein von Gott ab, der dafür sorge, dass Zu aṣ-Ṣadr’s Theorie siehe: Aziz, Talib: The Political Theory of Muhammad Baqir Sadr, in: Abdul-Jabar, Faleh (Hg.): Ayatollahs, Sufis and Ideologues. State, Religion and Social Movements in Iraq, London 2002, S. 231–244; zu Faḍlallāh siehe: Abisaab, Rula Jurdi: Lebanese Shiʿites and The Marjaʿiyya: Polemic in the Late Twentieth Century, in: British Journal of Middle Eastern Studies 36 (2009), S. 215–239, v. a. S. 233 f. 29 Vgl. Arjomand; Shiʿite Conceptions of Authority, S. 314 ff.; Tellenbach, Silvia: Zur Änderung der Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 28. Juli 1989, in: Orient 31 (1990), S. 45–66. 30 Vgl. Ourghi, Mariella: Shiite Criticism of the Welāyat-e faqīh, in: Asiatische Studien 59 (2005), S. 831–844. 28 111 B R U N N E R / / R E L I G I ö S E A U T O R I TÄT I m S C h I I T I S C h E N I S L A m Z w I S C h E N R E L I G I O N U N D P O L I T I k automatisch immer der am besten qualifizierte Jurist an die Macht komme, dem daher jedermann unbedingten und absoluten Gehorsam schulde.31 Eine derart extreme Überhöhung, die den obersten schiitischen Juristen auf eine Stufe mit dem Imam höchstselbst stellt, ist allerdings die Ausnahme und wird nur von einigen wenigen Ideologen geteilt; kein traditioneller marǧaʿ ginge soweit, diese Auslegung gutzuheißen. Gerade an den irakischen Schreinen hat sich die traditionelle marǧaʿ iyya ins 21. Jahrhundert herübergerettet, nachdem ʿAlī as-Sīstānī nach al-Ḫūʾ īs Tod 1992 als dessen Nachfolger anerkannt wurde und nachdem die ḥawza die blutigen Verfolgungen durch das Baʿ th-Regime in den 1990er-Jahren überstand.32 Wie seine Vorgänger war auch as-Sīstānī politisch quietistisch, ehe ihn der Umsturz 2003 ins öffentliche Rampenlicht stieß. Gleichwohl blieben sein vorsichtiger Kurs zwischen den Extremen und sein Wirken als Vermittler ohne direkte Einflussnahme auf die Politik (wobei er durchaus an der Durchsetzung der Verfassung nach 2003 beteiligt war) nicht ohne Widerspruch. Der vergleichsweise junge Muqtaḍā aṣ-Ṣadr (geb. 1973), der nicht zu den höchstrangigen Gelehrten zählt, forderte ihn offen heraus, indem er nach einer „sprechenden“ (nāṭiqa), d. h. politisch aktiven ḥawza rief und damit as-Sīstānīs Führung als „schweigende (ṣāmita) ḥawza“ verwarf, die ungeeignet sei, den Bedürfnissen der Gläubigen ausreichend Rechnung zu tragen. Ein kurzer, aber heftiger Bürgerkrieg innerhalb der irakischen Schia konnte 2004 beigelegt werden, aber nicht zuletzt aufgrund von aṣ-Ṣadrs Unnachgiebigkeit schwelte der Konflikt weiter.33 ʿAlī as-Sīstānī als die höchste (aber nicht einzige) Autorität für die meisten schiitischen Gläubigen ist verschiedentlich bereits als „der letzte marǧaʿ “ bezeichnet worden,34 und es kann in der Tat gut sein, dass nach seinem Tod das System der marǧaʿ iyya einen tiefgreifenden Wandel erfährt, zumal auch die Position des iranischen „Revolutionsfüh- Vgl. Amirpur, Katajun: A Doctrine in the Making? Velāyat-e faqīh in Post-Revolutionary Iran, in: Krämer, Gudrun/Schmidtke, Sabine (Hg.): Speaking for Islam. Religious Authorities in Muslim Societies, Leiden 2006, S. 218–240, v. a. S. 228–232. 32 Generell ist daran zu erinnern, dass es durchaus substanzielle ökonomische und strukturelle Unterschiede zwischen der Schia im Iran und Irak gibt; vgl. Nakash, Yitzhak: Iraqi and Iranian Shīʿism: How Similar Are They?, in Brunner, Rainer u. a. (Hg.): Islamstudien ohne Ende. Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 315–322. 33 Vgl. Baram, Amatzia: Sadr the Father, Sadr the Son, the ‘Revolution in Shi’ism,’ and the Struggle for Power in the Hawzah of Najaf, in: Ders u. a. (Hg.): Iraq Between Occupations. Perspectives from 1920 to the Present, New York 2010, S. 143–157. 34 Vgl. Khalaji, Mehdi: The Last Marja. Sistani and the End of Traditional Religious Authority in Shiism, Washington 2006. Zu as-Sīstānīs Hintergrund und Aufstieg zum marǧaʿ at-taqlīd siehe: Rizvi, Sajjad: The Making of a Marjaʿ: Sīstānī and Shiʿi Religious Authority in the Contemporary Age, in: Sociology of Islam 6 (2018), S. 165–189. rers“ aller Voraussicht nach in den nächsten Jahren neu zu besetzen sein wird. Die marǧaʿ iyya befindet sich in einer Übergangsphase und steht am Scheideweg zwischen einer amorphen und informellen vormodernen Institution, die ihrerseits das Ergebnis einer langen Entwicklung war, und den globalisierten Netzwerken, die die Gelehrten heute unterhalten.35 Bereits seit den marāǧi ʿ al-Ḥakīm und vor allem al-Ḫūʾī hatte sich eine wachsende professionalisierte Internationalisierung vollzogen, vor allem mit dem Ziel der Sicherung ihrer sozialen und ökonomischen Basis. Die Netzwerke und internationalen philanthropischen Organisationen hören aber mit dem Tod des jeweiligen Gelehrten nicht zu existieren auf, wie etwa am Beispiel der Imam al-Khoei Foundation mit ihrem Hauptquartier in New York zu sehen ist. Al-Ḫūʾ ī hatte die Gründung eines ersten Ablegers 1989 in London noch selbst in die Wege geleitet. Zwar mögen Tote, wie seinerzeit al-ʿAllāma al-Ḥillī erkannt hatte, im Sinne ihrer theologischen und juristischen Gelehrsamkeit nichts mehr zu sagen haben, aber der daneben wichtigste Aspekt ihrer marǧaʿ iyya, das soziale Engagement zugunsten ihrer Anhänger, lässt sich auf diese Weise verstetigen und gewissermaßen in eine „Marke“ umfunktionieren.36 Nur eines scheint bei alledem einigermaßen sicher: Die Verwaltung des schiitischen Islam durch die Religionsgelehrten über Jahrhunderte hinweg hat den mahdī komplett überflüssig gemacht, ungeachtet des Umstands, dass die iranische Verfassung in Artikel 5 besagt, dass das System der wilāyat al-faqīh nur bis zur Wiederkehr des verborgenen Imams in Kraft sei, und obgleich einzelne Gelehrte (unter ihnen auch Muqtaḍā aṣ-Ṣadr) regelrecht besessen sind von der Gestalt des verborgenen Imams. In Anbetracht ihrer sozialen und wirtschaftlichen Macht werden die Gelehrten wahrscheinlich auch in Zukunft jede Vorstellung einer vorzeitigen Parusie abzuwehren wissen. 31 112 Vgl. z. B. die Webseiten von ʿAlī as-Sīstānī (https://www. sistani.org/), Muḥammad Isḥāq al-Fayyāḍ (http://alfayadh.org/), Muḥammad Saʿīd al-Ḥakīm (http://www.alhakeem.com/) und Bašīr Ḥusayn an-Naǧafī (https://www.alnajafy.com/) (jeweils letzter Abruf: 30. August 2021). 36 Vgl. die Webseite der Organisation: https://www.al-khoei. org/; Corboz, Elvire: Guardians of Shiʿism. Sacred Authority and Transnational Family Networks, Edinburgh 2015, S. 48–72, 94–118, 165–188; neben den auf al-Ḫūʾī zurückgehenden Organisationen behandelt sie verschiedene Institutionen, die die Söhne von Muḥsin al-Ḥakīm (allerdings erst lange nach dessen Tod 1970) gründeten. Auch die vom libanesischen marjaʿ Muḥammad Ḥusayn Faḍlallāh gegründete Organisation al-Mabarrāt existiert nach seinem Tod 2010 ebenso weiter wie seine „persönliche“ Webseite: http://www.mabarrat.org.lb/; http://arabic.bayynat. org.lb/ (jeweils letzter Abruf: 30. August 2021). 35 CIBEDO-BEITRÄGE 3/2021