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Karl Freund

2019, Karl Freund: Der letzte Mann

kurze Einleitung zum Werk des Kameramannes Karl Freund

Karl Freund: Der letzte Mann Claus Tieber Einleitung Filmvorführung Der letzte Mann (D 1924, F.W. Murnau) Im Filmarchiv Austria, Metro Kino 27.4.2019 Der letzte Mann gilt gemeinsam mit dem etwas weniger bekannten und erst kürzlich restaurierten Film Varieté von Ewald André Dupont als DAS Beispiel für die berühmte „entfesselte Kamera“ und damit für den künstlerischen Höhepunkt des Stummfilms. Mit der entfesselten Kamera ist der Name Karl Freund engstens verbunden. Freund wurde in Böhmen geboren, ist in Berlin aufgewachsene und in Santa Monica/Los Angeles gestorben. Er arbeitete in den 1910er und 1920er Jahren mit den Regisseuren des deutschen Films der Weimarer Republik zusammen, auch, aber nicht nur denen des Expressionismus: Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Paul Wegener, Ewald André Dupont, Walter Ruttmann und natürlich Friedrich Wilhelm Murnau. Zudem arbeite er mit dem dänischen Regisseur Dreyer an Michael, in dem er auch mitspielte, ein Meilenstein des stummen, schwulen Kinos. Die Filme, bei denen Freund für die Kameraarbeit verantwortlich war, lesen sich wie ein Streifzug durch die Stummfilmgeschichte: Der Golem, Michael, Varieté, Tartüff, Metropolis Berlin – Sinfonie einer Großstadt und eben Der letzte Mann. Freund ging bereits 1929 nach Hollywood, wo er nicht nur als Kameramann, sondern auch als Regisseur arbeitete. Neben den Arbeiten für Horrorfilme wie Dracula und The Mummy wirkte er später etwa auch an Key Largo mit, und am Ende seiner Karriere bei I Love Lucy einer der ersten Sitcoms des neuen Mediums Fernsehen, wo er an der Entwicklung des 3-Kamera Systems beteiligt war. Doch zurück zur entfesselten Kamera und dem Karl Freund der 1920er Jahre. Diese „entfesselte Kamera“ wurde mit dem Tonfilm zumindest kurzfristig wieder angebunden was von vielen Zeitgenossen als ästhetischer Rückschritt betrachtet wurde. Die Filmkamera der 1920er Jahre war insofern „gefesselt“, als sie an ein Stativ gebunden war, immerhin wog eine Kamera dieser Zeit an die 8 kg und das Stativ sorgte für ruhige, nicht verwackelte Bilder. 1 Karl Freund nahm die Kamera vom Stativ und fand diverse kreative Möglichkeiten um sie beweglicher zu machen: er schnallte sich die Kamera einfach um den Körper, er stellte sie auf Kräne und Schaukeln. Er montierte sie auf ein Fahrrad. Er baute der Kamera eine Seilbahn, er baute frühe Versionen eines Kamerawagens, eines Dollys. Freund fand kreative Lösungen für Kamerafahrten und –bewegungen, die erst Jahrzehnte später durch neue, leichtere und beweglichere Kameras wie die etwa die Steadycam technisch möglich wurden. Bei all diesen Innovationen zeichnet die Kameraarbeit Freunds aber nicht nur ihre Kreativität und Innovation aus, sondern ihr Verhältnis zur Erzählung. Freunds entfesselte Kamera ist nämlich nie Selbstzweck, sondern stets im Dienste der Narration. Dies wird insbesondere in Der letzte Mann deutlich. Der letzte Mann „Von hier und heute beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Kinematographie!“(zitiert nach Brandlmeier, S. 58) schrieb Willy Haas, 1924 nachdem er den Film gesehen hatte. Haas war Filmkritiker und Drehbuchautor, musste 1924 emigrieren, ging nach Indien, schrieb auch dort Drehbücher. Seine euphorische Reaktion bezog sich in erster Linie auf die Kamera. Robert Herlth, Filmarchitekt des Films, beschreibt die Dreharbeiten: „Die Kamera wurde auf ein Fahrrad gestellt und fuhr – mit Blick auf die Hotelhalle – (im offenen Fahrstuhl, T.B.) hinunter und durch die Halle bis zum Portier zur Drehtür und (mit Zwischenschnitt) hinaus auf die Straße.“ (zitiert nach Brandlmeier, S. 58) Ganz sicher erscheint es nicht, ob hier tatsächlich ein Fahrrad verwendet wurde und nicht ein selbstgebasteltes Dolly, aber das ist letztlich auch egal. Freund schaffte es die Kamera ständig in Bewegung zu halten und sie zu einem Akteur des Films zu machen. Das war 1924 eine ästhetisch-technische Revolution. 2 Der Film besteht u.a. aus 24 Kamerafahrten und interessanterweise KEINEN Zwischentiteln. In der internationalen Filmgeschichte steht er damit zwar nicht allein, es gab zu dem Zeitpunkt auch andernorts Versuche auf Zwischentitel zu verzichten, dieses Experiment wurde aber bald wieder verworfen. Streng genommen gibt es in Der letzte Mann allerdings doch zwei Zwischentitel. Einer am Beginn des Films, diesem als Motto vorangestellt und einer am Beginn des 6. Akts. Dem letzten des Films, der diesem wider aller Wahrscheinlichkeit noch eine Wendung gibt, die man jedoch so selbstreflexiv und sozusagen unter Anführungszeichen interpretieren kann, dass sie dem ästhetischen Status des Films keinen Abbruch tut. Als Akte werden im Stummfilm übrigens zumeist die einzelnen Filmrollen bezeichnet, dramaturgische Einheiten sind damit eher nicht gemeint. Dieser 6. Akt lässt einige Fragen offen. Angeblich war Murnau damit nicht zufrieden, Emil Jannings hätte Regie geführt, lautet eine Theorie (Brandlmeier, 66), Komponist Giuseppe Becce hat für diesen Teil keine Musik geschrieben. Der letzte Mann ist aber wie die meisten Filme nicht ausschließlich das Werk einer Person, sondern eines kreativen Teams. Das Drehbuch stammt vom wohl berühmtesten und einflussreichsten Drehbuchautor Österreich, wenn nicht der Stummfilmära insgesamt. Der Grazer Carl Mayer hat zwar insgesamt nur wenige Drehbücher geschrieben, aber zum einen für enorm einflussreiche Filme und zum anderen unterscheiden sich seine Drehbücher so deutlich von allem was vorund nachher produziert wurde, dass sie einen Sonderstatus einnehmen. Zu Mayers Werken zählen die Drehbücher für Das Cabinet des Dr. Caligari, Berlin – Sinfonie einer Großstadt und Sunrise. Wenn heute Stummfilmliebhaber darüber diskutieren ob Caligari oder Sunrise der beste Stummfilm ist, so stammen beide aus der Feder Carl Mayers. Mayers Drehbücher lesen sich wie Literatur, wie Gedichte, sie haben mit heutigen Drehbüchern und deren einheitlicher Form kaum etwas zu tun. Mayers Drehbücher zeichnen sich durch Rhythmus, Poesie, Sprachspiele etc. aus. Sie sind nicht 1:1 umsetzbar und geben dennoch das Wesen und den Stil des jeweiligen Films vor. „VOR DEM NÄCHTLICHEN HOTEL Nah: Aus der Drehtüre sich heraustastend: Der Alte. Die Livree in Händen. 3 So zurücklauschend. Mit eines Diebes scheuem Rücken. Da! Unvermittelt! Ein Windstoß? Es flackert die Bogenlampe. Auf. Ab. Schwingend umher im erstehenden Sturm. Während der Alte da losrannte. Dumpf entsetzt. UndWährend der Apparat vor ihm herläuft: Rennt er Krampfend umklammernd die Livree. UndDa der Apparat schneller rennt als er: Wird bald mehr vom nächtlichen Hotel rückwärts sichtbar. Nach dem er im Laufen sich wendet. (Unter bösen Gewissens Macht?) Und da! O Schreck! Das Hotel?! Wächst es höher und höher??! Und- während er da keuchend rennt: Züngelt es nach ihm??!! Gar sich legen wollend über seinen Rücken???!!! Ihn zu zermalmen???!!!! Da wanken seine Knie. Zu fallen droht er Sekunden. So mit letzter Kraft: Sich haltend an einer Mauer. Die der Apparat eben erreichte. (zitiert nach Omasta et al. S. 30) 4 Giuseppe Becce Musik im Stummfilm ist ein umfangreiches Thema, im Fall von Der Letzte Mann gibt es jedenfalls eine Komposition von Giuseppe Becce, die allerdings nicht vollständig überliefert ist und erst unlängst rekonstruiert wurde. Becce ist eine für den deutschen Stummfilm wichtige Figur, da er gemeinsam mit Hans Erdmann und Ludwig Brav das „Allgemeine Handbuch der Filmmusik“, das Kinomusikern Themen und Motive zu allen denkbaren dramatischen Situationen nahelegt, publizierte. Emil Jannings, der in dem Film brilliert, ging früh nach Hollywood, aber auch wieder nach Deutschland zurück und spielte u.a. in Nazi-Propaganda-Filmen. Nach 1945 bekam er deshalb Auftrittsverbot und drehte keine Filme mehr. Jannings starb 1950. Der letzte Mann ist ein Meisterwerk des Stummfilms, der Film vereint die kreativsten Kräfte der Zeit und zeigt, welche ästhetischen Leistungen, die Kunstform Film zuwege bringen kann, wenn sie es schafft die unterschiedlichen Talente zu einer gemeinsamen Arbeit zu motivieren und so eine Geschichte filmisch, alle Sinne wie den Intellekt ansprechende Art und Weise zu erzählen. Bei der nun folgenden Vorführung jedoch, ist eine erhöhte Konzentration auf die Kameraarbeit von Karl Freund jedoch naheliegend und gerechtfertigt. Literatur Brandlmeier, Thomas: Kameraautoren: Technik und Ästhetik. Marburg: Schüren 2008 Omasta, Michael; Mayr, Brigitte; Cargnelli, Christian (Hg.): „Carl Mayer. Scenar[t]ist.“ Wien: Synema 2003. S. 30 5