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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld
Umschlaggestaltung: Sandro Isler, Basel, 2018
Umschlagabbildung: Sandro Isler, Basel, 2018, nougat.ch
Lektorat & Satz: Sandra Ryf, Bern, varianten.ch
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
Print-ISBN 978-3-8376-4145-5
PDF-ISBN 978-3-8394-4145-9
https://doi.org/10.14361/9783839441459
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Inhalt
Racial Profiling und antirassistischer Widerstand
Eine Einleitung
Mohamed Wa Baile, Serena O. Dankwa,
Tarek Naguib, Patricia Purtschert, Sarah Schilliger | 9
Dein Gesetz
Amina Abdulkadir | 39
Von der »Zigeunerkartei« zu den »Schweizermachern«
bis Racial Profiling
Ein Essay über einen helvetischen Staatsrassismus
Rohit Jain | 43
Hautverdächtig
Rassistische Polizeikontrollen auf der Anklagebank
Mohamed Wa Baile und Ellen Höhne | 67
Racial Profiling und die Tabuisierung von »Rasse«
Noémi Michel | 87
Neuanfänge
Edwin Ramirez | 107
Handwerksgeschichten
Schwarze Frauen im Gespräch
Rahel El-Maawi und Jovita dos Santos Pinto | 109
Die Kontrolle der »Anderen«
Intersektionalität rassistischer Polizeipraktiken
Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo | 139
Profiling und Rassismus im Kontext Sexarbeit
»Overpoliced and Underprotected«
Serena O. Dankwa, Christa Ammann und Jovita dos Santos Pinto | 155
Zugfahren
Fatima Moumouni | 173
Spatial Racial Profiling
Rassistische Kontrollpraxen der Polizei und ihre Legitimationen
Schohreh Golian | 177
»Zigeunerpolitik« reloaded
Racial Profiling von Jenischen, Sint*ezza und Rom*nja in der Schweiz
Angela Mattli | 195
Race matters
Macht, Wissensproduktion und Widerstand an der Schweizer Grenze
Jana Häberlein | 211
Helvetzid
Mohamed Wa Baile | 229
Ethnographischer Bericht zum Prozess gegen M.
7. November 2016, Zürich
Rohit Jain | 239
Mit Recht gegen Rassismus im Recht
Rechtsver fahren als Mittel des Widerstands
Tarek Naguib | 257
Autonome Schule Zürich
Ein Or t des Widerstands gegen Rassismus und Polizeigewalt
Aktivist*innen der ASZ | 275
Ich vermisse die Rassisten der Vergangenheit
Meloe Gennai | 289
Herzwerk
Queer und interracial leben in der Schweiz
Romeo Koyote Rosen und Jasmine Keller | 293
so ein gefühl
Amina Abdulkadir | 307
Alltagsrassismus, staatliche Gewalt und koloniale Tradition
Ein Gespräch über Racial Profiling
und intersektionale Widerstände in Europa
Fatima El-Tayeb und Vanessa Eileen Thompson | 311
Über die Autor*innen | 329
Die Kontrolle der »Anderen«
Intersektionalität rassistischer Polizeipraktiken
Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
»Wir haben kein ›Racial Profiling‹-Problem«, behauptet Max Hofmann
vom Verband Schweizerischer Polizeibeamter in einem Interview mit
dem öffentlich-rechtlichen Schweizer Radiosender SRF. Denn die Polizei
kontrolliere keinesfalls einzelne Personen oder Gruppen aufgrund deren
Hautfarbe. Solche und ähnliche Behauptungen äußern zahlreiche Vertreter*innen der Polizei, aber auch der Politik – nicht nur in der Schweiz.1
Problematisch daran ist nicht nur die Behauptung selbst, sondern auch,
dass solche Aussagen noch immer die öffentliche Auseinandersetzung um
Racial Profiling dominieren und damit sowohl eine längst überfällige Debatte als auch notwendige Sanktionen gegen rassistische Polizeipraktiken
weitgehend blockieren.2 Diese Form der Bagatellisierung aber hat System:
Mittels Abwehr und Verdrängung wird nicht nur jegliche Verantwortung
zurückgewiesen, sondern zudem die Benennung diskriminierender Praktiken verunmöglicht. Rassismus und Polizei werden als undenkbare Verbindung begriffen und damit wird verhindert, Praktiken der Polizeikorps
als strukturell rassistisch identifizieren zu können.
1 | Selbst Medien stimmen mit ein, wenn sie wie im vorliegenden Fall »Racial Profiling«
in modalisierende Anführungsstrichen setzten, um sich vom Begriff zu distanzieren
und die Behauptung des Polizeisprechers auch typographisch zu unterstreichen.
2 | Die Aussage selbst ist in Anbetracht der vielen in Medien und Gerichtsverfahren
dokumentierten Aussagen von Opfern diskriminierender Polizeikontrollen mehr als
absurd. Für die Schweiz siehe beispielsweise Y. Staat: Rassismus; Ch. Landolt:
Schwarz = verdächtig; Strupler/Michel: Einfach die falsche Hautfarbe; M. Sturzenegger:
Jung, schwarz, verdächtig; S. Caratti: Perquisiti perchè siamo neri; sowie die Berichte
von Fröhlicher-Stines/Mennel: Schwarze Menschen in der Schweiz; Amnesty International: Polizei, Justiz und Menschenrechte; Efionayi-Mäder/Ruedin: Anti-SchwarzenRassismus; Allianz gegen Racial Profiling: Alternative Report.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
Eine zentrale Einsicht gesellschaftskritischer Ansätze der Rassismusforschung
besteht aber darin, dass sich Rassismus sowohl durch intentional oder unbewusst
agierende Individuen artikuliert, als auch in vielfältiger Weise durch institutionelle Prozesse, in gesellschaftlichen Strukturen und in allgemeinen Werten
und Normen wirkt. Solche als institutionell, strukturell oder auch systemisch
bezeichnete Rassismen finden alltäglich statt, werden aber oft nicht direkt
sichtbar, weil sie nicht als hate speech, Beleidigungen oder Ausschlüsse daherkommen, sondern sich in den als normal geltenden Entscheidungen und Handlungen gesellschaftlicher Institutionen verstecken.3 In gewisser Weise liegt dem
Rassismus eine »Banalität« inne, schreibt Mark Terkessidis4 in Anlehnung an
Hannah Arendt, um die Verwobenheit von Rassismus in die alltäglichen Funktionsmodi von Gesellschaft zu bezeichnen. Racial Profiling stellt in diesem Sinne
eine Praxis dar, die sowohl bei der Polizei als auch in der Mehrheitsgesellschaft
überwiegend als »normale« Polizeikontrolle angesehen wird, während sie bei den
immer wieder Kontrollierten immens negative Wirkungen hervorruft.
INTERVIEWSTUDIE ZU ERFAHRUNGEN MIT RACIAL PROFILING
Um die Alltäglichkeit, die vermeintliche Normalität und die Wirkungen von
rassistischen Polizeikontrollen auf Betroffene5 sichtbar zu machen, führten wir als Mitglieder einer kollaborativen Forschungsgruppe6 30 qualitative leitfadengestützte Interviews mit Personen, die Racial Profiling erleben:
3 | Die Bedeutungsbereiche von institutionellem, strukturellem und systemischem Rassis-
mus sind nicht deckungsgleich, überschneiden sich aber in wesentlichen Aspekten. Für die
Untersuchung und Analyse von Racial Profiling sind alle drei Formen relevant. Für einen
Überblick siehe Ture/Hamilton: Black Power; J. R. Feagin: Systemic Racism; Hormel/Scherr:
Bildung für die Einwanderungsgesellschaft; M. Gomolla: Institutionelle Diskriminierung.
4 | M. Terkessidis: Die Banalität des Rassismus.
5 | Für eine Benennung derjenigen, die durch polizeiliche Maßnahmen negativ von
Rassismus »betroffen« sind, gibt es keinen umfassenden Begriff. Gebräuchlich sind
neben »Betroffene« auch Bezeichnungen wie »Opfer von rassistischen Kontrollen«, »Kontrollierte« u. a. So wie der Opferbegriff von manchen Schwarzen und People of Color
zurückgewiesen wird, gilt einigen auch der Begriff »Betroffene« als unangemessen – unter
anderem deshalb, weil die Gesellschaft als Gesamtheit von Racial Profiling betroffen ist.
Wieder andere verwenden den Begriff aber gezielt oder mit dem Zusatz »direkt«, um eine
Differenz zu markieren zwischen denen, die regelmäßig kontrolliert werden, und jenen,
die gar nicht oder selten ins polizeiliche Raster fallen. Im vorliegenden Text verwenden
wir den Begriff sparsam und synonym mit anderen Bezeichnungen.
6 | Die Mitglieder der Forschungsgruppe sind außerdem Daniel Egli, Ellen Höhne,
Rea Jurcevic, Tarek Naguib, Sarah Schilliger, Florian Vock und Mohamed Wa Baile, bei
Die Kontrolle der »Anderen«
mit Menschen, die sich selbst als Schwarze*r, Person of Color, Jenische*r,
Sinto*Sintezza, Rom*ni, Muslim*in und Migrant*in bezeichnen. Viele der
Interviewpartner*innen haben einen prekären Aufenthaltsstatus als Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene oder Sans-Papiers; einige verfügen über
einen Schweizer Pass oder einen gefestigten Aufenthaltsstatus. Das Spektrum
der von Racial Profiling betroffenen Personen spiegelt aus unserer Sicht zum
einen die Komplexität von Rassismus wieder, macht zum anderen aber auch
deutlich, dass Rassifizierungen in ihrem Zusammenwirken und den Interdependenzen mit anderen Kategorien zu betrachten sind.
Alle Interviews haben wir im Hinblick auf die berichteten Erfahrungen,
deren unmittelbare und langfristige Wirkungen, die Umgangsstrategien der
Kontrollierten, deren Forderungen sowie die Formen von Widerständigkeit
analysiert.7 Die Berichte der Interviewpartner*innen werden hier als Interventionen in die herrschenden Verhältnisse verstanden: Die Expertise der
rassistisch Diskriminierten wird im Sinne eines »counterstorytelling«8 beziehungsweise eines »Aufstands unterworfener Wissensarten«9 den eingangs
dargelegten Bagatellisierungen und Beschwichtigungen gegenübergestellt.
Counterstories zielen darauf, den hegemonialen Status quo herauszufordern
und die herrschenden Narrative zu verwerfen10. In diesem Sinne dienen die
Berichte dazu, sowohl rassistische Polizeipraktiken als auch Rassismen im Allgemeinen auf verschiedenen Ebenen zu bekämpfen.
Dieser Beitrag stellt zwei Fragen ins Zentrum: 1) Wen treffen die Kontrollen in welcher Weise? und 2) Wie wirken sich die Kontrollpraktiken auf die Betroffenen aus? Zur Klärung dieser Fragen analysieren wir die Interviewaussagen
hinsichtlich der bei den Kontrollen vorgenommenen Zuschreibungen,
Stigmatisierungen und Eingriffe in die körperliche Integrität. Das Ziel
dieser Analyse ist, Racial Profiling als institutionellen beziehungsweise
strukturellen Rassismus mit einer Vielzahl an Folgen sichtbar zu machen.
Hierfür greifen wir Ansätze der Intersektionalitätsforschung 11 auf, um die
jeweiligen Kontexte und die Überlagerungen verschiedener Ungleichheitsdenen wir uns herzlich für die die gemeinsame Arbeit und die Besprechung früherer
Textfassungen bedanken.
7 | Gesamtbericht publiziert in Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling (2019):
Racial Profiling: Erfahrung, Wirkung, Widerstand. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
8 | Delgado/Stefancic: Critical Race Theory, S. 42 ff.
9 | M. Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, S. 59.
10 | Vgl. R. Delgado: Storytelling for Oppositionists and Others, S. 2413.
11 | Zum Hintergrund der Intersektionalitätsanalyse und Interdependenz von Ungleichheitsdimensionen siehe etwa K. Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race
and Sex; N. Yuval-Davis: Intersectionality and Feminist Politics; K. Walgenbach et al.:
Gender als interdependente Kategorie; Klinger/Knapp: Über-Kreuzungen.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
formen in den Blick nehmen zu können. Außerdem möchten wir mit unserer Analyse die Unterschiedlichkeiten solcher Erfahrungen erfassen und
die spezifischen Wechselwirkungen und Verflechtungen verschiedener Ungleichheitsdimensionen, wie zum Beispiel Geschlecht, Herkunft, Klassenstatus, Alter, Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnisse und Sexualität erfassen.
Denn obwohl die Hautfarbe (sowie oft damit zusammenhängende Merkmale wie Haarfarbe, Haarstruktur etc.) bei rassistischen Polizeikontrollen das
vordringliche Auswahlkriterium ist, werden in den konkreten polizeilichen
Handlungen und in den Wirkungen von Racial Profiling weitere Ungleichheitsdimensionen relevant. Mit einem intersektionalen Ansatz lassen sich
somit sowohl die Erfahrungen der »anderen Anderen« als auch weitere für
den polizeilichen Blick (über die Hautfarbe hinaus) entscheidende Merkmale
berücksichtigen.
HAUTFARBE ALS MASTER-SIGNIFIER
»Jeden Tag, wenn ich aus dem Haus gehe, merke ich, dass ich eine andere Hautfarbe habe und dass diese Tatsache mein Leben hier nicht unbedingt vereinfacht.«
Akosua Casely-Hayford12, 21-jährige Schwarze Schweizerin, schildert
im Interview die Alltäglichkeit des von ihr erlebten othering, durch das sie
mit Blick auf ihre nichtweiße Hautfarbe »verbesondert« beziehungsweise
ausgesondert wird. Die Sichtbarkeit von Casely-Hayfords Hautfarbe wird
von ihr selbst als »Problem« beschrieben, aber als eines, das ihr erst in der
Öffentlichkeit deutlich »merkbar« wird. Zwar ist die Pigmentierung ihrer
Haut auch zu Hause für sie sichtbar, aber das »Merken« ihrer Haut, wie es
Casely-Hayford nennt, wird erst durch Interaktionen und Beschränkungen
erzeugt, die ihr von außen entgegentreten. Sie bringt das mit »Ich werde immer
auf meine Hautfarbe reduziert« auf den Punkt.
Nicht nur die vermeintliche Abweichung von jener der Mehrheitsbevölkerung, sondern darüber hinaus die damit verknüpften Zuordnungen
und Zuschreibungen vor allem in Form von Stigmatisierungen erzeugen das
von Casely-Hayford geschilderte »Problem«, das an rassifizierte Merkmale geknüpft scheint. Dabei wird ihre Hautfarbe erst durch ein rassistisches othering
unter Rückgriff auf die Kategorien »Herkunft« und »Nation« als mögliches
Problem erzeugt, durch das die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts infrage gestellt wird oder sie als prinzipiell verdächtig gilt.
Eine ähnliche Erfahrung mit Andersbehandlungen im Zusammenhang
mit ihrer Hautfarbe schildert die in der Schweiz geborene Schwarze Ebony
12 | Alle Namensangaben im Kontext der Interviews sind Pseudonyme. Darüber hinaus wurden alle Angaben, die auf die Person schließen lassen würden, anonymisiert.
Die Kontrolle der »Anderen«
Amer: »Oftmals ist es einfach in Alltagssituationen halt so, dass ich als Erstes als
Ausländerin gesehen werde.« Amer beschreibt, wie ihr immer wieder die
Zugehörigkeit abgesprochen und sie damit symbolisch aus jenem Ort ausgewiesen wird, den sie als ihren selbstverständlichen Lebensmittelpunkt
ansieht.
Die Problemwerdung des Selbst durch die Reduzierung der eigenen Person auf die Pigmentierung der Haut erörterte schon W.E.B. Du Bois zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen Ausführungen in The Souls of Black Folk.
Seine Frage »How does it feel to be a problem?« 13 stellt den Ausgangspunkt
einer Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft dar, die Menschen entlang
der color line teilt. Was die Interviewpartner*innen und Du Bois hier thematisieren, ist der Vorgang, wie eine dunklere Hautpigmentierung zu einem
folgenreichen »Stigma« gemacht wird, mit dem weitere Annahmen über Illegalität und Kriminalitätsbereitschaft einhergehen. Denn in den polizeilichen
Kontrollen werden die Kontrollierten mittels rassifizierten Zuordnungen zu
Anderen gemacht, die als nicht (beziehungsweise nicht originär) »von hier«
wahrgenommen werden.
Während Personen mit weißer Hautfarbe kaum durch willkürliche Kontrollen belästigt und beschränkt werden (mit Ausnahme von Obdachlosen,
Bettelnden, Drogenuser*innen etc.), müssen Angehörige von visible minorities
täglich mit wiederholten Polizeikontrollen, Durchsuchungen und Verletzungen der körperlichen Integrität rechnen. Phil Steward, ghanaischer
Student, der seit über zehn Jahren in der Schweiz lebt, bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »They checked me specifically because of my color. Because he [the police officer] didn’t check the other people, so that is for me racial.«
Und ebenso deutlich schildert der 34-jährige Somalier Cabaas Xasan, der seit
acht Jahren in der Schweiz lebt, seine Einschätzung zu den von ihm erlebten
Polizeikontrollen: »Wir bewegen uns wie normale Menschen auf der Straße und sie
kommen einfach zu uns und fragen nach unserem Ausweis. Der Grund ist unsere
Hautfarbe.«
Quasi als »Master-Signifier« wird die dunkle Hautfarbe der Kontrollierten zum entscheidenden Merkmal, hinter dem die polizeilich kontrollierte Person zu verschwinden scheint und deren Freiheit in der Rechtfertigungsordnung der Polizei ohne Weiteres eingeschränkt werden kann.
Die willkürliche Wahl der Hautfarbe als Merkmal geschieht dabei auf
Basis historisch sedimentierter Bilder und Vorstellungen über die vermeintlich Anderen und die eigene Nation, aufgrund derer die Bevölkerung
der Schweiz wie auch Europas als weitgehend homogen (sprich: »weiß«)
vorgestellt wird.
13 | W.E.B. Du Bois: Writings: The Souls of Black Folk, S. 1.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
DIVERSITÄT UND INTERSEKTIONALITÄT DER KONTROLLPRAKTIKEN
Alle von uns befragten Personen berichten von Erfahrungen mit diskriminierenden Polizeikontrollen. Doch es finden sich bedeutsame Unterschiede in den Berichten in Bezug auf die Häufigkeit und die konkreten
Handlungen in den Kontrollsituationen. Am deutlichsten treten zunächst
Prozesse der Vergeschlechtlichung hervor. So schätzen einige Frauen, dass
»mehr die Männer kontrolliert werden als die Frauen« (Chantal Büttikofer,
Schwarze Schweizerin, die seit fast 40 Jahren in Schweiz lebt), beziehungsweise dass Männer »eher kontrolliert [werden] als Frauen« (Ebony Amer, seit
ihrer Geburt in der Schweiz lebende Schwarze Frau). Diese Einschätzung
wird auch durch die Ausführungen von Männern gestützt, die von extrem
häufigen Kontrollen berichten. So erläutert etwa Mamadu Abdallah,
Schwarzer Schweizer, der seit 17 Jahren in der Schweiz lebt, zu den Kontrollen an seinem ersten Wohnort in einer mittelgroßen Stadt der Deutschschweiz: »Ich bin damals aus dem Zug gestiegen, sie warteten bereits auf mich,
täglich. Ich hielt den Ausweis sogar schon bereit.« Oder Walter Schmocker,
fahrender Jenischer, berichtet: »Manchmal wirst du drei Mal pro Tag kontrolliert. […] Weil einfach die Kantonspolizei einen Auftrag hat, wenn eine Patrouille mal vorbeifährt, einfach schnell nach dem Rechten zu schauen.« Und
der in Thailand aufgewachsene, seit dem Jahr 2000 in der Schweiz lebende
Tota Sino führt aus, dass er schon etwa fünfzig Mal kontrolliert wurde. Zudem ist ihm wichtig festzuhalten: »[E]s geht nicht nur um Schwarze Menschen
[…], es geht auch um asiatische Menschen, die hier leben, nicht nur um Schwarze,
die betroffen sind.«
»Du wirst als Sexarbeiterin gesehen«:
Sexualisierung vor allem Schwarzer Frauen
Von häufigen, nämlich täglich, manchmal dreimal pro Tag oder zigmal in wenigen Jahren stattfindenden Kontrollen berichten von unseren
Interviewpartner*innen ausschließlich Männer – mit einer spezifischen
Ausnahme, nämlich jener Frauen, die als Sexarbeiterinnen tätig sind. So
beobachtete die aus Somalia stammende Schweizerin Mara Samatar genderbezogene Unterschiede bei den Kontrollen: »Wenn du nicht gerade an
der Langstraße stehst, denke ich, ist es nicht gleich wie bei den Männern.« Der
Verweis auf die »Langstraße« bringt eine Differenz zum Ausdruck, die in
mehreren Interviews angesprochen wurde. Denn während Schwarze Männer und Männer of Color von der Polizei als kriminell oder gewalttätig
stigmatisiert werden, sind Schwarze Frauen vielfach – und nicht nur im
Zürcher Rotlicht- und Ausgehviertel der »Langstraße« – mit sexualisierten
Zuschreibungen konfrontiert.
Die Kontrolle der »Anderen«
Sexualisierte Zuschreibungen an Schwarze Frauen und Frauen of Color fußen
in kolonialrassistischen Bildern, in denen diese erotisiert, als Akteurinnen
einer »zügellosen Sexualität« 14 sowie »einfach als billige Frau, als importierte
Frau, als Sexobjekt« 15 imaginiert werden. Auch heute gilt, so erklären einige
Interviewpartner*innen, dass Schwarze Schweizerinnen oftmals dem Sexgewerbe zugeordnet werden, obwohl sie selbstverständlich in verschiedensten
Bereichen arbeiten.16 Die vielfältige Geschichte von Schwarzen und Frauen of
Color in der Schweiz wird aber kaum wahrgenommen, sondern hegemonial von
Exotisierungen und Projektionen abgespaltener Sexualphantasien überstrahlt.
Zur Ergründung solcher Projektionen spricht die Rassismustheoretikerin
Grada Kilomba von »Eroticization«: »The Black subject becomes the personification of the sexualized, with a violent sexual appetite: the prostitute, the
pimp, the rapist, the erotic and the exotic.« 17 Und die Geschlechterforscherin
Jovita dos Santos Pinto analysiert mithilfe des Begriffs »S/exotisierung«, wie
Schwarze Subjekte in Erinnerungsnarrationen der Schweiz sexualisiert und
insbesondere Schwarze Frauen unter einem männlichen begehrenden Blick
als ausschweifend sowie zügellos figuriert werden. Zudem zeigt sie auf, wie
durch dieses Bild die ausgeübte rassistische sexuelle Gewalt verdeckt wird.18
Diese rassifizierten Sexualitätsprojektionen werden gesellschaftlich nicht als
Konstruktionen erkannt, sondern in einem Prozess der Naturalisierung am
vermeintlichen »Fremdsein« fixiert und als Bedrohung imaginiert, der mit ordnungs- und sicherheitspolitischen Maßnahmen zu begegnen sei.19
Das Phantasma der übersexualisierten exotischen Schwarzen Frau lässt
bei Polizist*innen offenbar schnell Assoziationen zu Prostitution/Sexarbeit
aufkommen, wenn sie Schwarze Frauen oder Frauen of Color auf der Straße
erblicken. Wie dieses Stereotyp in konkreten Handlungen wirkt, schildert die
66-jährige Chantal Büttikofer im Interview, als sie einmal nachts noch
Briefe zum Postkasten brachte, der sich in der Nähe des Straßenstrichs befand: »Ich werfe die Briefe ein, gehe zurück zu meinem Auto, da kommt die Polizei
und fragt mich: ›Was machst du hier?‹ Ich sage: ›Ich werfe Briefe in den Briefkasten.‹ Darauf hin sagte der Polizist plötzlich zu mir: ›Allez, disparaissez d’ici!
Verschwinden Sie!‹« Büttikofer ist entsetzt über den »Mangel an Respekt«
und geht davon aus, dass sie von der Polizei als mutmaßliche Sexarbeiterin
angesprochen und weggewiesen wurde. Damit beschreibt sie eine typische
Wirkung dieser Verbindung von Rassifizierung und Sexualisierung, über die
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A. Dietrich: Konstruktionen weißer weiblicher Körper, S. 365.
Fröhlicher-Stines/Mennel: Schwarze Menschen in der Schweiz, S. 19 u. 48.
Vgl. J. dos Santos Pinto: Spuren.
G. Kilomba: Plantation Memories, S. 44.
J. dos Santos Pinto: Besitzen, s/exotisieren, vergessen.
Vgl. hierzu auch G. Dietze: Ethnosexismus.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
Schwarze Frauen und Frauen of Color berichten: Nämlich, dass sie nicht nur
häufig unter diesem Stereotyp kontrolliert werden, sondern, dass sie aufgrund
der Verknüpfung mit weiteren Zuschreibungen entlang von Geschlecht, race
und Sexarbeit zudem auch häufig respektlose und würdeverletzende Äußerungen und Handlungen der Polizei über sich ergehen lassen müssen.
Lucie Cluzet, Sexarbeiterin of Color, die mit französischem Pass seit einigen Jahren in der Schweiz lebt, berichtet ähnlich wie viele junge Schwarze Männer von häufigen Kontrollen, teils »zwei Kontrollen am Tag«, und kommentiert:
»Polizeikontrolle bei uns ist normal. […] bei uns ist das ganz normal.« Mit »bei uns«
meint sie sich als Sexarbeiterin sowie ihre Kolleg*innen, im weiteren Gespräch
aber vor allem sich und andere People of Color, mit denen sie die Erfahrung teilt,
im Zug, im Auto, auf der Straße oder in der Wohnung kontrolliert zu werden. So
berichtet sie, dass die Polizeikontrollen bei ihr intensiver als bei weißen Kolleginnen durchgeführt werden: »Aber bei meiner weißen Kollegin waren sie ganz anders,
bei ihr waren es zwei Minuten und fertig. Sie haben nur kontrolliert, ob sie angemeldet
(also registriert) war und fertig.« Bei ihr werden dagegen häufig alle Taschen durchsucht, einmal wurde sogar ihr gesamtes Bargeld abfotografiert und öfter ihr Kühlschrank sowie der Kleiderschrank inspiziert. Als ein Kunde von Cluzet einmal
ein Handy bei ihr vergaß, wurde sie von der Polizei nackt aus dem Bett geholt,
»auf den Boden gerissen« und – für sie sehr schmerzhaft – dort fixiert. Auf ihren
Protest hin wurde sie als Diebin hingestellt und ihr entgegnet: »Wenn du klaust,
dann hast du keine Schmerzen.« Cluzet vermutet, dass der Grund dieser Polizeiaktion nicht das »alte Telefon von 50 Franken« war, sondern die Tatsache, dass sie
Sexarbeiterin ist: »Das ist die Arbeit der Polizei. Sie müssen dich destabilisieren.«
»Sie haben mich als Drogendealer gesehen«:
Kriminalisierung vor allem Schwarzer Männer
Während Frauen häufig von sexualisierten Zuschreibungen berichten, deuten die
Aussagen einiger der interviewten Schwarzen Männer und Männer of Color darauf hin, dass sie verschiedene Formen krimineller Zuschreibungen erleiden. Der
marokkanische Asylsuchende Tahar Baznani, der zum Zeitpunkt des Interviews
seit einem Jahr in der Schweiz lebt,20 erläutert die Stereotype der Polizist*innen,
die Personen mit nordafrikanischer Herkunft bei einer Kontrolle erleben müssen:
»Just the name of Morocco gives the impression that he is a stealer.« Eine weitere typische Zuschreibung richtet sich auf den Verkauf von Drogen, wie etwa der 50-jährige Schwarze Schweizer Omar Zaman anhand einer Kontrolle schildert, die er
als symptomatisch beschreibt: »Sie haben mich als Drogendealer gesehen. […] Sie
haben einfach diesen Eindruck und wollen sich das bestätigen lassen.«
20 | Inzwischen ist B AZNANIS Asylgesuch abgelehnt und er ist gegen seinen Willen und
unter Gewaltanwendung nach Marokko abgeschoben worden.
Die Kontrolle der »Anderen«
Usair Jammeh, 30-jähriger Gambier mit Asylstatus, sieht hinter diesen Zuschreibungen eine klare Systematik, die er als rassistisch bezeichnet: »They
have this concept that all, every bad thing that is happening here, is because of
Black people. And this is racist, you know?« Was Jammeh hier darlegt, entspricht
dem Ergebnis zahlreicher Studien zu Stereotypen, denen Schwarze Menschen
vonseiten der Polizei oder der Allgemeinbevölkerung ausgesetzt sind. Seit der
europäischen Kolonialisierung der Welt fungiert der »Schwarze Mann« prototypisch als Sinnbild von Kriminalität und Gewalt. Immigration und Straftaten
werden immer wieder als miteinander verknüpft gedacht und Migrant*innen
kriminelle Charakteristiken angedichtet. Diese Verknüpfung analysiert beispielsweise die Rechtswissenschaftlerin Katheryn Russell-Brown anhand der
heutigen Verhältnisse in den USA, wo Kriminalität und junge Schwarze Männer zu einem mythologischen Bild eines »criminalblackman« verschmolzen
wurden21. Im deutschsprachigen Kontext drückt sich diese Zuweisung unter
anderem im Begriff »Nafris« aus, der im Polizeisprech als Abkürzung wahlweise für »Nordafrikaner« oder für »nordafrikanische Intensivstraftäter« steht,
in den konkreten Polizeihandlungen aber zu einem Begriff amalgamiert, mit
dem dunkelhäutige Personen pauschal unter Straftat verdacht gestellt und zu
Objekten massiver Eingriffe in Persönlichkeitsrechte werden.
Die Stereotype wirken aber nicht nur als Auslöser für die Kontrollen, sondern führen in den konkreten Interaktionen auch zu weiteren rassistischen
Handlungen. Als symptomatisch bezeichnet der Geflüchtete Tahar Baznani
den Kommentar eines Polizisten während einer von ihm erlebten Kontrolle:
»Did you come here to steal?« Da Baznani dies als beleidigend und die Kontrollen als unrechtmäßig empfand, beschwerte er sich, worauf er zur Antwort
bekam: »This is not your country. You […] are not welcome here.«
»Sie hat meinen Hals gepackt und gewürgt«:
Gewalterfahrungen bei Polizeikontrollen
Physische Auseinandersetzungen und verbale Demütigungen erleiden den Berichten zufolge überwiegend Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus, vor
allem Geflüchtete, Asylsuchende und Sans-Papiers. Sie erleben zudem häufiger
längere Befragungen, ihnen wird Illegalität unterstellt, ihre Taschen werden
kontrolliert oder sie müssen unrechtmäßige öffentliche Leibesvisitationen über
sich ergehen lassen. Solche Gewaltformen durch die Polizei finden sowohl in
Kontrollsituationen als auch bei der Mitnahme auf die Polizeiwache oder während der Ingewahrsamnahme beziehungsweise (vorläufigen) Festnahme statt.
21 | K. Russell-Brown: The Color of Crime, S. 3 u. 71; vgl. auch M. Mauer: Race to
Incarcerate.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
Welche rassistischen Zuschreibungen im Kontext polizeilicher Handlungen
auftreten, schildert beispielsweise Omar Zaman, der seit 2002 in der Schweiz
lebt und mittlerweile über einen Schweizer Pass verfügt. Zaman berichtet von
einer Gewaltsituation während einer Kontrolle im Zug durch drei uniformierte Polizist*innen – zwei Männer und eine Frau: »Ich bin im Abteil mit einem
Freund gesessen, rundherum waren sehr viele Leute. Sie [die Polizistin] sagte: ›Öffne
deinen Mund.‹ Und ich sagte: ›Was suchen Sie in meinem Mund?‹ Dann hat sie
sofort meinen Hals gepackt und gewürgt, bis ich meinen Mund öffnen musste.«
Danach sagte die Beamtin lediglich: »Ok, alles in Ordnung«, und ging weiter,
ohne sich zu erklären oder zu entschuldigen. Die anderen beiden Polizisten
beobachteten die Szene, reagierten aber in keiner Weise. Auch auf Zamans
protestierende Frage hin, ob sie gesehen hätten, was ihre Kollegin gemacht
habe, antworten diese nur: »Jaja, alles gut!«. Auf die Frage, wie er sich in dieser
Situation gefühlt habe, erklärt Zaman: »Ich habe mich extrem geschämt. Dass
mir das passiert und alle Leute es sehen und nicht reagieren. Es war wie eine Schuld.
Ich war wie schuld daran. Ich konnte nichts tun, ich konnte nicht mit den Polizisten
streiten, ich musste alles auf mich nehmen.«
Ähnliche Erfahrungen mit gewalttätigen Polizeibeamt*innen musste auch
Phil Steward, 36-jähriger Schwarzer Schweizer, bei einer Kontrolle machen.
Während er mit einem Freund telefonierte, wurde er von einem Polizisten
aufgefordert, das Telefonat zu beenden. Als er dies nicht umgehend tat – er
informierte seinen Freund noch über die Kontrolle –, trat ihm ein Beamter in
den Bauch, nahm ihm sein Handy ab und anschließend wurde er von weiteren
Beamten in Handschellen gelegt. Als sein Freund kurze Zeit später eintrifft
und das weitere Geschehen filmt, werden schließlich beide mit auf die Wache
genommen. Dort gehen die physischen Übergriffe durch die Polizei weiter,
und das, obwohl es sich offiziell nur um eine »Routinekontrolle« und um eine
»Identitätsfeststellung« handeln sollte. Auf der Wache wird Steward, nachdem er seinen Ausweis wiederbekommen hat, nochmals von einem Polizisten
attackiert: »He pushed me to the wall and held my neck.« Steward entgegnet
dem Polizisten daraufhin: »You treat me like a criminal, do I am a criminal? I
didn’t beat anybody, I didn’t steal anything. And you expect me to be just happy
with what you do?«
Wie massiv die Gewaltanwendungen sein können, berichten auch Tota
Sino und Thomas Bühler. Die beiden waren gerade zusammen im Altstadtquartier ihres Wohnortes unterwegs, als sich ihnen zwei Polizisten in Zivil in
den Weg stellen und nach ihren Ausweisen fragen. Der aus Thailand stammende Sino wird von dem Beamten in Dialekt angesprochen und geduzt: »Redsch
du überhaupt Dütsch?«, das Sino fließend spricht. Da die Ausweise der Beamten
unprofessionell wirken und kurz zuvor in der Presse vor Trickbetrüger*innen
gewarnt worden ist, die sich als Polizist*innen ausgeben, fragen die beiden
nach. Daraufhin reagiert einer der Polizisten sofort mit rassistischen Ausfällen:
Die Kontrolle der »Anderen«
»Wenn du unzufrieden bist, kannst du zurückgehen nach Thailand!« Schließlich
attackiert einer der Polizisten Sino physisch. Bühler versucht diesen Polizisten wegzudrängen und schildert im Interview, wie Sino aufgrund seiner Unsicherheit und des ausfallenden Verhaltens des Beamten um Hilfe ruft. »Und
plötzlich lagen wir einfach am Boden und bekamen Handschellen angelegt.« Sino
wird bei dieser Aktion am Hals verletzt. Der später aufgesuchte Arzt dokumentiert »Kratzwunden und Kontusionsmarken an Hals und Schultern«. Auf der
Wache gehen die Schikanen und Demütigungen noch weiter: Sino muss sich
nackt ausziehen und wird in eine Zelle gesperrt, während Bühler auf einem
Stuhl warten muss. Die Gewaltausübung und Ungleichbehandlung kommentiert Sino so: »Weil ich farbig bin, keine weiße Person bin, wurde total anders
reagiert.« Solche Gewalttaten der Polizei erklärt der 33-jährige Ali Belawa, der
seit einigen Jahren ohne anerkannten Aufenthaltsstatus in der Schweiz und anderen europäischen Ländern lebt, wie folgt: »Ich glaube, dass die Polizei denkt,
wenn du keine Papiere hast, hast du keine Rechte und sie können alles mit dir
machen. Die machen alles mit dir, was sie wollen, alles!«
»Ich ziehe bessere Hemden an«:
Die feinen Unterschiede
Eine weitere Ungleichheitsdimension, die in Polizeikontrollen sehr häufig eine
Rolle spielt, ist der (vermeintliche) Klassenstatus. Da dieser wie rassifizierte
Merkmale auch von der Polizei nicht als offizieller Grund für die Kontrolle angegeben wird, ist er vor allem in vermittelter Form erfahrbar. Kleidung, Frisur,
das Auftreten oder auch nur die Art und Weise, wie sich jemand bewegt, sind
in Verbindung mit Rassifizierungen weitere Kriterien, die aus Sicht der Interviewten die Wahrscheinlichkeit einer Polizeikontrolle erhöhen oder verringern
können. Diese Einschätzung wird auch durch Äußerungen der Polizei gestützt,
wenn etwa Franz Bättig, Chef der Regionalpolizei im Kanton Zürich, im Interview äußert, dass die Polizei den »Dieb an seinem Gang« erkennen würde.22
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang
von den »feinen Unterschieden«,23 die den jeweiligen Klassenhintergrund anhand von inkorporierten Dispositionen, auch in Form von »Kleinigkeiten« wie
dem Auftreten, der performierten Selbstsicherheit oder den inkorporierten
Gesten, ausdrücken. Mit einer um kulturelle Aspekte erweiterten Klassentheorie ist der Begriff mit Bourdieu auch als verkörpertes (das heißt in unsere
Körper eingeschriebenes) Verhältnis zu verstehen. Für die Fassung solcher
verkörperten »erworbenen Dispositionen«24 schlägt er den Begriff »Habitus«
22 | M. Sturzenegger: »Wir erkennen den Dieb an seinem Gang«.
23 | P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede.
24 | P. Bourdieu: Praktische Vernunft.
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Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo
vor, in dem er Klassenstatus und Lebensführung einer Person verknüpft. In
dieser Verknüpfung drückt der Habitus auch aus, wie selbstbewusst sich eine
Person in der Öffentlichkeit verhält.
Einige Aspekte, die mit dem Habituskonzept korrespondieren, bringen die
Interviewten indirekt zur Sprache: So wird zum Beispiel berichtet, dass die
Kontrollen seltener stattfinden, seit ein gesicherter Aufenthaltsstatus vorliegt.
Einiges deutet darauf hin, dass sich diese rechtliche Normalisierung auch
in der Art und Weise verkörpert, wie sich eine Person im öffentlichen Raum
bewegt – selbstsicher und souverän oder eher ängstlich zum Beispiel. Eine
solche Veränderung der Souveränität hat etwa Tahar Baznani an sich selbst
beobachtet: Ihm war aufgefallen, dass die Polizei reagiert, wenn sie an einer
Person of Color vorbeifährt und diese danach den Kopf wendet. »[I]t depends
even […] how he is looking and […] when they look behind themselves, this is
the chance for the police to see in the mirror if this man turns around.« Baznani versucht sich darauf einzustellen und wechselt inzwischen nicht mehr die
Straßenseite, wenn er Polizei sieht. Zudem vermeidet er direkten Blickkontakt,
der ihn verdächtig erscheinen lassen könnte.
Explizit wird die sichtbare Dimension des Klassenstatus aber vor allem
darin, wie sich die Befragten zu ihren Kleidungsstilen und dem Einfluss der
Kontrollen darauf äußern. Denis Kramer, der seit früher Kindheit in der
Schweiz lebt, hebt beispielsweise hervor, dass die Polizei auf die Kleidung
achte, wenn sie bei diskriminierenden Kontrollen jemanden ins Visier nehme:
»Wenn ich in einem Anzug rumlaufen würde, wäre das weniger der Fall, als
wenn ich Turnschuhe, Jeans und eine Mütze anziehe […]. Dann bist du mehr
im Muster, um kontrolliert zu werden.« Und Chisu Chilongo ergänzt: »If you
don’t want to get controlled you wear a shirt nicely. […] So that’s one strategy,
the dressing.« Chilongo spricht damit auch eine Taktik an, von der mehrere
Interviewte berichten; nämlich die widerständige Verwendung bestimmter
Kleidungsstile, die dazu beitragen kann, weniger in Kontrollen zu geraten.
In diesem Sinne stellt Tahar Baznani seine Kleidung als einen »Trick« dar:
»Actually I do it a lot. […] when I have an important meeting […] I wear a nice
classic suit with the hat, just to not be recognized by the police […]. This trick – I
used it many times.«
Trotz des widerständigen Potenzials bestimmter Outfits ist ein solcher
Passing25 -Versuch ambivalent, weil ein schicker Anzug oder ein Businesshemd
eine Verkleidung oder gegebenenfalls eine Überanpassung darstellen kann,
die den eigenen Vorlieben oder den Modekriterien der Peers zuwiderläuft.
Tota Sino drückt diese Ambivalenz in seinem Umgang mit dem Risiko ständiger Kontrollen so aus: »Ja, ich ziehe bessere Hemden an […]. Aber ich hab
25 | Passing beschreibt den Versuch, in hegemonialen gesellschaftlichen Kontexten
mit dem äußeren Erscheinungsbild als unauffällig durchzugehen.
Die Kontrolle der »Anderen«
keine Lust, jeden Tag einen Anzug zu tragen. Manchmal will ich einfach nur
zu Hause bleiben, weil ich einfach Angst davor habe, nach draußen zu gehen.«
Die Taktik der Camouflage scheint somit auch Ausdruck einer Hoffnung, den
negativen Interaktionen mit der Polizei durch eine bewusste Veränderung des
Äußeren zu entgehen. Sino erklärt seine Kleidungswahl zudem auch so: »Ich
trage jetzt einfach eine Sonnenbrille. […] Vielleicht denken die Polizisten: ›Ah
das ist wahrscheinlich ein Tourist‹ oder so, ich weiß nicht.«
Jamal Hussaini schließlich glaubt nicht, dass die Art der Kleidung einen
Einfluss hat: »Ich glaube, wie man sich anzieht, ist egal, wenn man wie ein Ausländer aussieht.« Damit lenkt Hussaini den Blick auf das, was Schwarze und
Europäer*innen of Color auch in der x-ten Generation unablässig erleben: dass
sie als »ewige Neuankömmlinge«26 von der Mehrheitsgesellschaft fortwährend
als »nicht von hier« wahrgenommen werden. Das vermeintlich »fremde« Aussehen übertrumpft dann offenbar doch oftmals die Versuche, als Bürger*in
und als Person mit Rechten und einer Würde wahrgenommen zu werden.
FAZIT
Racial Profiling ist eine polizeiliche Praxis, bei der Menschen in diskriminierender Weise einer Andersbehandlung ausgesetzt sind. Anhand rassifizierter und ethnisierter Merkmale werden sie dabei herausgepickt und in
besonderer Weise Maßnahmen der Überwachung, Kontrolle, Schikane und
Repression unterworfen. Als zentraler Marker der polizeilichen Auswahl fungiert vor allem die Hautfarbe, weshalb überwiegend Schwarze und People of
Color Racial Profiling erleben müssen. Aus diesem Grund fokussieren die
meisten Studien zu rassistischen Polizeipraktiken auf die color line.
Gegen eine Verengung der Analyseperspektive vor allem auf Schwarze
junge Männer als Hauptbetroffene plädiert dieser Beitrag dafür, Racial Profiling als weiterreichende Praxis in den Blick zu nehmen und damit auch
Gruppen zu erfassen, die aufgrund vermeintlich ethnischer Zugehörigkeit
oder lebensstilbezogener Aspekte vermehrt Kontrollen erleben müssen. In
unserer Untersuchung waren das Menschen, die sich als Schwarze*r, Person
of Color, Jenische*r, Sinto*Sintezza, Rom*ni, Asiat*in, Muslim*in und Migrant*in bezeichnen. Hinzu kommt, dass wir mit einer intersektionalen Perspektive auf die Praktiken fokussierten, die aus der Überschneidung mit weiteren Ungleichheitsdimensionen resultieren.
Statt also den Blick ausschließlich auf Zuschreibungen anhand rassifizierender Merkmale zu richten, ging es in der hier vorgenommenen intersektionalen Analyse darum, die Komplexität und Bandbreite an Erlebnissen mit
26 | F. El-Tayeb: Undeutsch, S. 36.
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Polizeikontrollen sichtbar zu machen. Die Berichte der Interviewpartner*innen
haben gezeigt, dass hinsichtlich der Häufigkeit von Kontrollen und der Qualität
der polizeilichen Handlungen sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Diese reichen von der Ausweiskontrolle über Durchsuchungen und Leibesvisitationen bis hin zur Mitnahme auf die Wache, der Anwendung verbaler und
physischer Gewalt sowie langen Ingewahrsamnahmen.
Die verschiedenen Erfahrungen weisen indes spezifische Muster auf, die
sich aus einem Zusammenwirken mit weiteren Ungleichheitsdimensionen erklären lassen. Ähnlich wie in der ersten, im Jahr 1989 von Kimberlé Crenshaw 27
vorgenommenen Intersektionalitätsanalyse, mit der Fälle von Diskriminierung Schwarzer Frauen durch den Autokonzern General Motors untersucht
wurden, macht erst eine Gesamtschau der intersectional experience28 der Kontrollierten die spezifische Diskriminierung differenter Personengruppen analytisch zugänglich.
Neben der Diversität an Erfahrungen wurden durch die intersektionale
Analyse spezifische Zuschreibungen sichtbar. Außerdem zeigte sich bei einigen Gruppen ein erhöhtes Risiko, kontrolliert und verletzenden Praktiken ausgesetzt zu werden. Bestimmte Merkmale machen es wahrscheinlich, von der
Polizei unverhältnismäßig behandelt, beleidigt, gedemütigt oder gar mit physischer Gewalt konfrontiert zu werden. Entsprechend unterschiedlich können
auch die langfristigen Wirkungen von Racial Profiling ausfallen. Das Beispiel
der vermehrten Gewalt gegenüber Geflüchteten zeigt, dass die Polizei auf brutale Weise in das Leben gerade derjenigen eingreift, die sich ohnehin in prekären Situationen befinden und entsprechend zuallererst des Schutzes und der
Unterstützung durch den Staat bedürften.
Aufenthaltsstatus, Geschlecht, Alter, Sexualität, Herkunft, Religion, Sprachkenntnisse, Klassenstatus beziehungsweise Habitus sowie Lebensstil bilden
Kategorien, die in vielen diskriminierenden Polizeikontrollen zumindest mitentscheidend sind. Zuweilen spielen sie auch eine entscheidende Rolle und
wirken in der konkreten Situation als gemeinsamer, miteinander verflochtener
Merkmalsverbund. Die Analyse zeigt, dass diskriminierende Handlungen vor
allem in der Verflechtung mehrerer Ungleichheitsdimensionen vermehrt und
in besonders drastischer Weise auftreten. Da es aber gerade die ständige Wiederholung der Kontrollen, das ständige Risiko, in aller Öffentlichkeit angehalten
und Stereotypisierungen unterzogen zu werden, und die besonders schikanierenden, würdeverletzenden Behandlungen sind, die nachhaltige Wirkungen zeitigen, ist es umso wichtiger, die Bandbreite an Erfahrungen und die jeweiligen
Positionierungen in den Fokus zu nehmen.
27 | K. Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex.
28 | Ebd., S. 140.
Die Kontrolle der »Anderen«
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