WELTMUSIK
PATRICK HOHLWECK
»›Je n’en sais rien‹, répondit Andrew Stuart, ›mais, après tout, la terre est assez
vaste.‹ — ›Elle l’était autrefois…‹ dit à mi-voix Phileas Fogg.«1
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte
beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg
Capellen, der 1905 für einen neuen exotischen Musikstil plädiert: Waren ›exotische‹
Motive bislang nur als »Kuriosum«2 in der europäischen Musik vertreten, erhofft
sich Capellen, »falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen«, die
Etablierung eines »exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch
auszudrücken) eine[r] ›Weltmusik‹«.3 Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass
in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade
die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben
müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung
mit anderen Formen der Rhythmik.4
Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des
Begriffs: »Seitdem Goethe […] den Begriff der Weltlitteratur geschaffen […] hat,
ist man naturgemäß zu der Erkenntnis gekommen, daß ihr Korrelat und Supplement in der Weltmusik existiert, welche […] ein Eigentum aller Völker geworden
ist, die an der Weltkultur teilzunehmen berechtigt sind.«5 Im 19. Jahrhundert war
von ›Weltmusik‹ bereits vereinzelt die Rede gewesen: Zum einen, etwa bei Wilhelm
Traugott Krug, dem akademischen Lehrer Richard Wagners, oder bei August Gladisch, im Zusammenhang einer »Harmonie der Sphären«,6 einer »Weltharmonie«7
oder von »Ordnung und […] Leben der Welt«,8 wahlweise des alten Griechenlands
oder des alten Chinas.9 Zum anderen, so beim kroatischen Volksmusikkundler
Franjo Kuhač, als Name für die Gesamtheit der verschiedenen »Nationalmusiken«10
von Weltrang, der Kuhač die südslavische Nationalmusik hinzuzufügen anstrebt.
Vermittelt ist die Spannung zwischen dem exotischen Universalismus Krugs oder
Gladischs sowie dem auf kulturellen Partikularismus setzenden Impetus Kuhač’
in der Verwendung Franz Brendels: Dieser war bereits in den 1850er Jahren ins
Nachdenken über eine »Weltmusik« geraten, die »die Style aller Nationen in sich
zu einem höhern […] organischen Ganzen«11 vereinigen würde, ohne dabei eine
»blos eklektische Zusammenstellung«12 zu bleiben. Hier schließt Spiro an, nur: Wo
ist diese Weltmusik zu finden? »Hat«, fragt wieder Spiro, beispielsweise »Wagner
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Weltmusik geschrieben? Die Zukunft wird urteilen, ob die Faustouvertüre und
die Tristantragödie in diese Kategorie gehören […].«13 Wie Spiro, der mit Brendel
›Weltmusik‹ als eine »Gesammtkunst der Zukunft«14 projektiert, sieht auch Capellen
im Feld der Weltmusik »[ü]berall Zukunftsmusik, die nur des Genies harrt, das
der Vermählung von Orient und Okzident die rechte Weihe und ein persönliches
Gepräge geben könnte.«15
»Zukunftsmusik« also,16 allerdings eine, die zugleich auf eine immer bereits
verlorene Vergangenheit verweist: Das gilt auch noch für Karlheinz Stockhausens
Modell einer Weltmusik von 1973, einen der zahlreichen Entwürfe musikalischer
Universalismen17 der frühen 1970er Jahre. Stockhausen begreift Weltmusik als das
Projekt einer »Uniformierung und Verflachung« individueller Musikkulturen zugunsten einer »einheitliche[n] ›Erdkultur‹«,18 aus der in einem zweiten Schritt dann
dereinst wieder ein Ensemble »originelle[r] eigene[r] Formen […] als Beitrag zum
Konzert aller Kulturgruppen«19 hervorgehen wird. Allerdings ist es Stockhausen
dabei weniger um die Erweiterung einer genuin musikalischen Formensprache
zu tun als um die Herstellung einer Art kosmischen Bewusstseins: Die Weltmusik der Zukunft erscheint als die Möglichkeit, ›uns‹ »in Verbindung mit dem
zu bringen, was wir nicht mit dem Verstand begreifen, was wir aber spüren; mit
dem Übernatürlichen also, mit dem, was das ganze Universum belebt – mit Gott,
dem Geist, der das Ganze zusammenhält, alle Galaxien, alle Sonnensysteme und
Planeten und auch jeden einzelnen unter uns auf diesem kleinen Planeten.«20 Hier
laufen zwei Traditionsstränge zusammen: Einerseits das Studium der welt-musikalischen Harmonik als Einübung in die Weltharmonie, andererseits deren futurische
Epistemologie, wie sie bei Capellen oder Spiro vorgesehen ist; auf Grundlage der
Annahme einer unverwüstlichen Identität einzelkultureller Ausdrucksformen, die
nach einem vorübergehenden »Vermischungs- und Integrationsprozeß«21 wiederherzustellen sein wird.
Eine weniger interimistische Geste der Glättung ist schließlich Programm, als
im Juli 1987 Verantwortliche von elf auf ›nicht-westliche‹ Musik spezialisierten
Plattenfirmen im Londoner Pub Empress of Russia übereinkommen, World Music
künftig als den Namen aller nicht-europäischen Musiken festzulegen. Als kommerzielle Kategorie ist world music problemlos übersetzbar; und was wenig später auch
›Weltmusik‹ heißen wird, wird zu einem – und bleibt fortan ein – Genre des Pop.
Unter diesen Bedingungen ist die futurische Logik von Zentrum und Peripherie,
die Alterität als Gegenstand einer je bevorstehenden europäischen Expansionsbewegung designiert, mit einer Logik des Marktes im »Supermarktpluralismus«22
des sog. Spätkapitalismus verschränkt. Der Bezirk der Authentizität oder Eigentlichkeit, der die gesamte Geschichte des Begriffs prägt, wird damit in der Sprache
des Marktes je differenziell bedeutsam: Weltmusik bezeichnet das, was westliche
Musiken immer bereits nicht-mehr und noch-nicht sind. In der Umstellung auf
ein anderes Format der homogenen Welteinheit, die sich nicht mehr primär in
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›kulturellen‹, sondern in symbolischen und ökonomischen Ausschlüssen differenziert, ist die Welt der Weltmusik zum Globus geworden, nämlich zu einer von
der Globalisierung produzierten Totalität;23 gegenüber dem musikalischen Material
bleibt der Begriff indes strukturell indifferent. Mit anderen Worten: Die begriffliche Logik von Differenz-in-der-Einheit wird kapitalisiert. Gerade aufgrund dieser
begriffsgeschichtlich zu belegenden Konsistenz westlicher Welt-(Musik-)Vorstellungen ist Skepsis angebracht, wenn in Weltmusik als unverfälschtem Ausdruck
kultureller Identität das Potential von Widerständigkeit gegenüber einer globalen
Markthegemonie ausgemacht wird24 – wie es ebenso zu kurz greift, die globalisierte
Weltmusik als wenig mehr als den nächsten Kreis in der »Hölle des Gleichen«25
des global operierenden Kapitalismus zu verstehen.
Reproduzieren diese beiden gängigen Haltungen nämlich einerseits implizit eine
Reihe der zur Disposition stehenden, ›kolonialen‹ Denkmuster, lassen sie andererseits einen entscheidenden Faktor popmusikalischer Produktionsbedingungen
außer Acht. Dieser wird aktenkundig im 1983 erschienenen Album Aka-Darbari-Java/Magic Realism des Stockhausenschülers Jon Hassell. Hier heißt es in den
Liner Notes: »A trumpet, branched into a chorus of trumpets by computer, traces
the motifs of the Indian raga ›Darbari‹ over Senegalese drumming recorded in Paris
and a background mosaic of frozen moments from an exotic Hollywood orchestration of the 1950s […].«26 Es sind, so heißt es weiter, nicht weniger als »entirely
new modes of structural organisation«, die Hassells Programm einer Fourth World
Music27 informieren, und zwar die technologischen Möglichkeiten eines manipulativen Umgangs mit musikalischem Material, der Anfang der 1980er Jahre aufkommt,
im Übrigen etabliert in einem anderen populären Eigentlichkeitsbezirk, nämlich
im Hip Hop. Bei Hassell, wie etwa auch jüngst auf dem Album Asiatisch der im
Senegal geborenen, kuwaitischen Künstlerin Fatima Al Qadiri,28 findet sich eine
nomadische, kosmopolitische Musik, die sich der Verrechnung mit »kultureller«
Identität oder Authentizität verweigert und das globale Dispositiv heranzieht, nur
um es in Richtung des Unmarkierten zu überschreiten.
Dies geschieht maßgeblich mithilfe technischer Möglichkeiten, die der »raumzeitlich entgrenzte[n] Kommunikation jenseits territorialer Grenzen« Rechnung
tragen und für die – wiederum aus europäischer Perspektive – der Name »Weltmusik 2.0« vorgeschlagen worden ist.29 Der ethnografische Zugriff, der in ihren
Aufzeichnungspraktiken die ›Weltmusik‹ immer auch geprägt hatte, wird in ihr
überwunden. So etwa auf der Kompilation Music from Saharan Cellphones,30 die
eine Praxis dokumentiert, die mit der Einführung kostengünstiger Mobiltelefone
in Westafrika Verbreitung gefunden hat: Häufig werden die Telefone mangels eines
Mobilfunknetzes in erster Linie zur Speicherung und Übertragung von Musikstücken verwendet. Stücke, deren Urheberschaft bisweilen ungeklärt bleiben muss,
aber auch »Tamashek guitar, Algerian Raï, […] Arabic ›Habibe‹ pop, French ballads,
Bollywood hits, and Dire Straits…«31 Anstelle einer Unmittelbarkeitserfahrung gibt
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uns diese Popmusik-als-Weltmusik Hilfsmittel an die Hand, um zu verstehen, wie
Fremdheit produziert wird – ›Weltmusik‹ bezeichnet dann nicht mehr das aus der
Fremde Übersetzte, sondern den Prozess der Übersetzung selbst. Wenn in dieser
Musik Differenz als organisatorisches Prinzip jeglicher Einheit erkennbar wird
als dasjenige, das dem Differenten vorgängig ist,32 dann erscheint Pop als Musik
der Welt.
Siehe auch: Welt, Welten, Weltanschauung, Weltschmerz
ANMERKUNGEN
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Jules Verne: Le tour du monde en quatre-vingts jours, Paris 1873, S. 13.
Georg Capellen: Ein neuer exotischer Musikstil an Notenbeispielen nachgewiesen, Stuttgart 1905, S. 2.
Georg Capellen: Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre. Mit vielen Notenbeispielen, Leipzig 1908, S. 185.
Vgl. Peter Revers: Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption,
Stuttgart 1997, S. 33.
Friedrich Spiro: »Die Meistersinger in Rom«, in: Zeitschrift der internationalen Musik-Gesellschaft, 3 (1901−1902), S. 226−231,
hier: S. 231.
Wilhelm Traugott Krug: »Harmonie«, in: ders.: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer
Literatur und Geschichte, Bd. 2: F–M, Leipzig 1827, S. 322.
August Gladisch: Das Mysterium der Aegyptischen Pyramiden und Obelisken, Halle 1846, S. 6.
August Gladisch: Die Religion und die Philosophie in ihrer weltgeschichtlichen Entwicklung und Stellung zu einander. Nach
den Urkunden dargelegt, Breslau 1852, S. 133.
Vgl. in diesem Sinn und mit Bezug auf Griechenland bereits Giovanni Battista Martini: Storia della Musica, Bologna 1770,
S. 29.
Franjo Ksaver Kuhač‑Koch: Sachliche Einleitung zu der Sammlung südslavischer Volkslieder, Agram 1873, S. 5. Den Hinweis
auf Kuhač verdanke ich Georg Toepfer.
Franz Brendel: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die
Gegenwart. Zweiundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig, Bd. 2, Leipzig 21855, S. 43.
Brendel: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich, S. 142.
Spiro: »Die Meistersinger in Rom«, S. 231.
Vgl. Franz Brendel: Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft, Leipzig 1854.
Georg Capellen: »Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung«, in: Die Musik
XXIII (1906/07), S. 216−227, hier: S. 227.
Vgl. Richard Wagner: »Zukunftsmusik.« Brief an einen französischen Freund als Vorwort zu einer Prosa-Uebersetzung seiner
Operndichtungen, Leipzig 1861.
Vgl. den Katalog zu einer anlässlich der Olympischen Spiele 1972 entstandenen Ausstellung: Weltkulturen und moderne
Kunst. Die Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro‑ und
Indo-Amerika, hg. v. Siegfried Wichmann, München 1972.
Karlheinz Stockhausen: »Weltmusik«, in: ders.: Texte zur Musik, Bd. IV: 1970−1977, Köln 1978, S. 468−476, hier: S. 469.
Stockhausen: »Weltmusik«, S. 475.
Karlheinz Stockhausen: »Interview I: Gespräch mit holländischem Kunstkreis«, Kürten, 2. Juni 1973, in: ders.: Texte zur Musik
IV, S. 478−549, hier: S. 509.
Stockhausen: »Weltmusik«, S. 475.
Veit Erlmann: »Ideologie der Differenz: Zur Ästhetik der World Music«, in: PopScriptum, 3 (1995), S. 6−29, hier: S. 10.
Vgl. Pheng Cheah: »What is a world? On world literature as world-making activity«, in: Daedalus, 3/137 (2008), S. 26−38,
hier: S. 30.
Vgl. etwa Iain Chambers: »Travelling sounds: whose centre, whose periphery?«, in: Popular Music Perspectives, 3 (1992),
S. 141−146, hier: S. 141.
Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 131.
Jon Hassell: Aka-Darbari-Java/Magic Realism, Editions EG (1983).
Vgl. die Alben Jon Hassell/Brian Eno: Fourth World Vol. 1: Possible Musics, Editions EG (1980); Jon Hassell: Fourth World
Vol. 2: Dream Theory in Malaya, Editions EG (1981).
Vgl. Fatima Al Qadiri: Asiatisch, Hyperdub (2014).
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29 Thomas Burkhalter: »Weltmusik 2.0: Musikalische Positionen zwischen Spass- und Protestkultur«, in: Out of the Absurdity
of Life: Globale Musik, hg. v. ders./Theresa Beyer, Solothurn 2012, S. 28−46, hier: S. 30.
30 Music from Saharan Cellphones. Vol. 1, Sahel Sounds (2011); Music from Saharan Cellphones. Vol. 2, Sahel Sounds (2012).
31 Christopher Kirkley: »Videos from Saharan Cellphones«, online unter: http://sahelsounds.com/2010/09/videos-from-saharan-cellphones/ (geprüft am 14. Juli 2017).
32 Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 275.
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