Fenster Europa | Bronzezeitliche Feste in Italien
Roca Vecchia – Tor zur Ägäis
Roca Vecchia an der Adriaküste Apuliens spielte bis in hellenistische Zeit eine
herausragende Rolle bei den vielfältigen Beziehungen zwischen südöstlichem Italien
und ostmediterranem Raum. In der mittleren Bronzezeit schützten monumentale
Befestigungen den Hafen. Außergewöhnliche Befunde dokumentieren Momentaufnahmen aus den kriegerischen Wirren dieser Zeit.
Von Teodoro Scarano; Übersetzung aus dem Englischen von Folkert Tiarks
R
oca Vecchia liegt ungefähr 23 km
südlich von Lecce und 18 km nördlich von Otranto. Die prähistorische Fundstelle von etwa 3 ha Fläche erstreckt sich wenige 100 m südlich des
heutigen Orts auf einer rundlichen Halbinsel aus Kalkfelsen. Im Süden trennt
eine schmale Bucht die Halbinsel vom
nächsten Küstenvorsprung mit den
Höhlen der »Grotta della Poesia«. Das
flache Gelände liegt ca. 10 m über dem
ta della Poesia«, die über Jahrhunderte ihre unverwechselbare Identität bewahrte.
Der Platz war ohne Unterbrechung
von der mittleren Bronzezeit (17. Jh.
v. Chr.) bis in hellenistische Zeit (2. Jh.
v. Chr.) besiedelt, dann noch einmal im
späten Mittelalter. Kulturelle Kontinuität zeigt sich insbesondere im 2. Jt. v. Chr.
sehr deutlich. Befestigungen und Höhlenheiligtum bildeten zentrale Elemente
einer klar umrissenen regionalen Identität. Man kann ihre Bedeutung und ihren symbolischen Wert für den sozialen
Zusammenhalt der hier siedelnden Menschen nicht hoch genug einschätzen.
Höhlenheiligtum mit Inschriften
und Gravuren
Zwei große Karsthöhlen befinden
sich 200 m südlich der Landzunge von
Roca Vecchia: »Grotta della Poesia Grande« und »Grotta della Poesia Piccola«.
Beide sind heute teils überflutet, teils eingestürzt, sodass das ehemalige Innere
unter freiem Himmel liegt. Die Höhlen-
Meeresspiegel und bricht seewärts in
steilen Klippen ab. Die Klippen ziehen
sich nahtlos bis zu einem alten Wasserlauf und der langen Bucht von Torre
dell’Orso bei Melendugno (Lecce).
Heute zählt Roca Vecchia zu den TopReisezielen des Badetourismus auf dem
Salento. Seine große Bedeutung in der
Vergangenheit verdankte dieser Platz vor
allem der Lage an der Meerenge von
Otranto – mit nur 70 km Breite die engste Stelle: Spätestens seit dem 2. Jt v. Chr.
befand sich hier ein für die Schifffahrt
zwischen Ägäis und zentralem Mittelmeer strategisch wichtiger und befestigter Hafen, darüber hinaus wahrscheinlich
eine bedeutsame Kultstätte in der »Grot56
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Stierkopf an der Höhlenwand der »Grotta
della Poesia« zwischen
vielen anderen Gravierungen.
Das Innere der Grotte
ist über eine Metalltreppe erreichbar und
kann besichtigt werden. Die Decke des
Höhlenheiligtums ist
in nachantiker Zeit
eingestürzt.
ruinen sind Teil eines größeren Komplexes aus Hohlräumen, Gängen und
teils unter Wasser stehenden Bereichen.
»Grotta della Poesia Grande« zählt
laut »National Geographic« zu den zehn
schönsten Naturpools der Welt. Die kleinere »Grotta della Poesia Piccola« dagegen gehört zu den außergewöhnlichsten
archäologischen Denkmälern, die je im
antiken Mittelmeerraum entdeckt wurden: Auf ihren Wänden sind etwa 600 m2
Fläche mit Tausenden von Inschriften
und Gravuren bedeckt, die intensive religiöse Aktivitäten vom Neolithikum bis
in die frühe Römische Republik hinein
belegen. Hunderte in lateinischer und
messapischer Sprache verfasste Inschriften sprechen von Verehrung einer einheimischen Gottheit namens Taotor Andirahas/ Tutor Andraios.
Diese Inschriften und unzählige bildliche Gravuren zeigen uns die herausragende Stellung dieses Kultplatzes seit vorgeschichtlicher Zeit. Dargestellt sind Hände, Tiere, Spiralen, Vulven, ja sogar eine
Kombination aus Bukranion und Doppelaxt, die minoischen Motiven ähnelt.
Diese Entdeckung veranlasste in den
frühen 1980er Jahren Cosimo Pagliara,
sowohl die Siedlung als auch die Kultstätte zu den vorrangigen Zielen seiner
Forschungen zu erklären. In Verbindung
mit Maßnahmen zur Restaurierung, Bewahrung und Dokumentation der Wände der »Grotta della Poesia« und ihrer
Inschriften wurden ab 1987 jährliche
Ausgrabungen durch die Abteilung für
Denkmalpflege der Universität Salento
durchgeführt.
Starke Befestigungen in der
Bronzezeit
Roca ist einer der wenigen archäologischen Fundplätze, die Gelegenheit bieten, einige Ereignisse so prägnant zu dokumentieren, dass sie zu kurzen Abschnitten der offiziellen Geschichte werden. Die ungewöhnlichen Erhaltungsbedingungen, die dies ermöglichen, sind
oft plötzlichen und verheerenden Ereignissen zu verdanken, die das Alltagsleben wie einen fotografischen Schnapp-
schuss festhalten. Roca Vecchia wurde in
der Bronzezeit mindestens dreimal
durch Feuer zerstört. Damals bestand eine mächtige Festung, geschützt durch
das Meer und einen von Quellen gespeisten Sumpf an der Küste. Eine Mauer verlief an der schmalsten Stelle von
Norden nach Süden und blockierte den
Zugang vom Festland zur Halbinsel. Sie
markierte gleichzeitig die Grenze des besiedelten Gebiets. Das leicht gekrümmt
verlaufende Bauwerk hatte eine Länge
Roca Vecchia liegt auf
einer Halbinsel von
etwa 3 ha Größe. Im
Süden (oberhalb) folgt
die Bucht von Torre
dell’Orso. Im Hintergrund das moderne
Melendugno.
Hinter dem mittelalterlichen Wachtturm auf
der Halbinsel sind die
Berge von Albanien zu
erkennen.
von etwa 200 m bei einer Höhe von bis
zu 4 m und einer maximalen Breite von
21 m am Haupttor.
Mehrere Zerstörungen lassen sich in
die Zeit zwischen dem 16. Jh. v. Chr.
(mittlere Bronzezeit) und dem 11. Jh.
v. Chr. (Endbronzezeit) datieren. Doch
wurde die Mauer in verschiedenen Techniken und Materialien immer wieder
aufgebaut bzw. repariert. Insbesondere
mittelbronzezeitliche Befunde aus der
ersten Hälfte des 14. Jh. v. Chr. sind au-
ßergewöhnlich gut erhalten. Ursache
war ein heftiges Feuer, das im Zuge einer Belagerung ausbrach. Der Brand
führte zum Einsturz der Mauern und zur
fast gänzlichen Zerstörung der Siedlung.
Die unter den eingestürzten Mauern
liegenden Befunde blieben außerordentlich gut erhalten. Ihre Ausgrabung
lieferte eine Vielzahl an Informationen
zur genauen chronologischen und kulturellen Bestimmung dieses Ereignisses. So zeigte die Analyse der architektonischen Überreste, dass die Befestigung nicht nur aus Trockenmauern bestand, sondern auch Korridore und
Kammern umfasste. Rahmenwerke aus
massivem Holz stützten die Dächer und
dienten in einigen Fällen als Unterbau
für ein Obergeschoss.
Die Befestigung hatte ein monumentales Haupttor und mindestens fünf kleinere Durchgänge, die man als Ausfalltore interpretieren kann. Davor war ein
Graben in den anstehenden Kalkstein
gehauen, über den an jedem Eingang eine durch Steine gestützte Brücke führte.
Hier gab es Strukturen verschiedener
Formen und Größen wie Türme, Pfeiler, gepflasterte Wege sowie überdachte
und offene Zweckbauten.
Das monumentale Haupttor steht
aufgrund seiner Dimensionen und Komplexität allein. Zum Zeitpunkt der Belagerung war es mindestens 25 m breit, die
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maximale Höhe betrug zwischen 8 m
und 10 m. Ein in die Festung führender,
durch einen halbrunden Turm geschützter monumentaler Korridor endete an dem durch zwei Wachhäuser
flankierten Tor aus Eiche. Dahinter stieß
der lange, überdachte Mittelkorridor auf
zwei sich gegenüberliegende halbrunde
Räume, die sich in zwei imposanten im
inneren Bereich der Toranlage errichteten Türmen befanden.
Momentaufnahmen unter Trümmern
Bei der Ausgrabung des Schutts in
den langen Gängen für die kleineren
Durchlässe sowie des Haupttores zeigte
sich, dass dort die Situation, wie sie kurz
vor der Zerstörung und dem Einsturz
bestand, versiegelt war. Roca Vecchia ist
einer der wenigen archäologischen Fundplätze, die so eine Gelegenheit bieten:
Die herabgestürzten Steine haben einen
historischen Augenblick wie bei einem
Schnappschuss festgehalten.
Mehrere Ausfallpforten boten wahrscheinlich kleinen Personengruppen
während einer Belagerung Zuflucht. Die
Menschen, die dort vielleicht länger ausharren mussten, waren offenbar mit allem Nötigen versehen wie Töpfen, Werkzeugen aus Knochen und Stein oder
Untersätzen für das Kochgeschirr.
Besonders eindrucksvoll präsentierte sich ein Befund in Ausfalltor C: An
verschiedenen Stellen waren Gefäße
gruppiert und am westlichen Ende des
Korridors lagen die vollständigen Skelette von sieben Menschen: zwei Erwachsene, ein Jugendlicher und vier
Kinder. Offensichtlich hatten sie sich in
diesen Gang geflüchtet und am Ende
versucht, sich hinter einem Stapel Gefäße zu verstecken. Alle waren erstickt,
verursacht durch das Feuer der in Brand
gesetzten Festung.
Auch am Haupttor konnten Kampfhandlungen nachgewiesen werden, und
zwar im südlich gelegenen halbrunden
Raum. Im unteren Abschnitt des Schutts
fand sich noch im anatomischen Zusammenhang das Skelett eines jungen
Mannes. Er starb im Alter von 18 bis
20 Jahren wahrscheinlich irgendwo an
einer über diesem Raum befindlichen
Stelle und wurde beim Einsturz der Decke mit nach unten gerissen. Diese Ver-
Frage: Wer war der Krieger, der im Besitz dieser exotischen Gegenstände war?
War er Angreifer oder Verteidiger? Möglicherweise bringt die derzeit noch laufende Isotopen-Analyse eine erste Antwort.
Intensive Beziehungen zur Ägäis
In der weiteren Umgebung steht der
vorgeschichtliche Fundplatz von Roca
Vecchia allein. Dies betrifft nicht nur den
Umfang der Ausgrabungen und die Monumentalität der freigelegten Gebäude,
sondern auch die ungewöhnliche Menge und den Erhaltungszustand der teils
importierten Funde. Darüber hinaus erbrachten die in den letzten zwei Jahrzehnten durchgeführten Ausgrabungen
eine beeindruckende Menge ägäischer
bzw. ägäisch beeinflusster Keramik.
Die Zahl der in Roca Vecchia gefundenen Stücke ist weitaus größer als von
Mittelmeerraum, und hier besonders
mit dem mykenischen Griechenland
und Kreta, sprechen noch weitere Befunde: Diese reichen von der möglichen
Übernahme fremder architektonischer
Vorbilder und Bautechniken, insbesondere was die Befestigungsmauer betrifft,
bis hin zur Adaption nicht lokaler sozialer Organisationsformen und religiöser Praktiken. Alles spricht für die Annahme, dass Roca Vecchia bei den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den einheimischen Gemeinden Südostitaliens und den Seefahrern der Ägäis eine zentrale Rolle
spielte. Von Anfang an scheint hier eine
gut nachweisbare Vermischung lokaler
Traditionen mit minoischen und mykenischen Elementen kennzeichnend zu
sein. Für die Spät- und Endbronzezeit
liegen Hinweise auf religiöse Riten vor,
wie sie in der Ägäis praktiziert wurden.
mutung bestätigte eine anthropologische Untersuchung.
Wie nicht verheilte Spuren an den
Knochen zeigen, wurde der Tod des
Kriegers durch Stiche in den Rücken verDas Gefäß hat die
Kämpfe um die bronze- ursacht. In der Nähe dieses Skelettes
zeitliche Befestigung
wurden in derselben Schicht ein für die
gut überstanden.
Ägäis typischer Bronzedolch sowie ein
aus dem Knochen eines Flusspferdes gearbeiteter Vogelkopf gefunden. Möglicherweise gehört Letzterer zu einer für
die Levante typischen Entenpyxis.
Diese Momentaufnahme aus der Belagerung der mittelbronzezeitlichen Befestigung von Roca erlaubt uns folgende
irgendeinem anderen Fundplatz in Italien und umfasst mehrere tausend Scherben – mattbemalt, minysch, unbemalt,
mykenische und minoische Keramik
und Grobkeramik. Die Keramik datiert
von etwa 1500 bis 1000 v. Chr., also in die
frühmykenische bis submykenische Zeit.
Den vorläufigen Berichten zu den chemischen und physikalischen Tonuntersuchungen zufolge liegen eindeutige
Hinweise auf einen hohen Anteil importierter Gefäße vor, die hauptsächlich
von der Peloponnes stammen.
Für den frühen Beginn und die Intensität dieser Kontakte zum östlichen
Das archäologische Projekt
Roca Vecchia
Seit dem Jahr 2016 laufen Anstrengungen zur Konservierung und Aufwertung des außergewöhnlichen Fundplatzes: In Zusammenarbeit mit dem
Ministerium für Kulturgüter, kulturelle
Aktivitäten und Tourismus gründete
die Region Apulien ein Projekt, das die
komplette Neugestaltung der archäologischen Zone zum Ziel hat. Dabei
sollen Zugänglichkeit und touristische
Nutzung der Fundstelle verbessert werden. Fragen, die sich mit dem Management und auch mit der Vermittlung an
Eine 24 m breite Mauer schützte die mittelbronzezeitliche Siedlung. Außer dem imposanten Haupttor
führten fünf kleinere
Pforten ins Innere.
Blick in die südliche
Kammer im Haupttor
der mittleren Bronzezeit: Unten lag ein gefallener Krieger
(rechts), in Reichweite
eine Bronzeklinge
(Mitte).
die Öffentlichkeit beschäftigen, sind zentrale Punkte des Projekts.
Was die archäologischen Untersuchungen betrifft, ist das wichtigste Ziel
die vollständige Freilegung des Monumentaltores der mittelbronzezeitlichen
Befestigung. Es soll der innere Teil des
Baus ausgegraben werden, d. h. die beiden beeindruckenden sich gegenüberliegenden Türme mit den Räumen darin. Diese Maßnahme könnte weitere
neue, unerwartete und außergewöhnliche Befunde zur Belagerung und den
Kämpfen liefern, die um die Mitte des
2. Jt. stattfanden. Wenn das Gebäude erst
einmal vollständig freigelegt ist, sind
Maßnahmen zur Konservierung und
Aufwertung, einschließlich einer virtuellen dreidimensionalen Rekonstruktion geplant. Eine App für Smartphones
und Tablets soll die Besucher in die Lage versetzen, dieses einzigartige Bauwerk
Offensichtlich suchten
die Bewohner Schutz
in den Kammern der
kleinen Ausfalltore
unter der Mauer. Einige fanden dort jedoch
den Tod.
virtuell zu erforschen, so an der spätbronzezeitlichen »Tempelhütte«, der
spätmittelalterlichen Zitadelle und dem
Höhlenheiligtum in der »Grotta della
Poesia«. Ziel ist es, die Freude am archäologischen Erbe zu wecken. Dem
Nutzer wird eine völlig neue interaktive
Erfahrung geboten, damit der Besuch einen bleibenden Eindruck hinterlässt und
zu besserem Verständnis führt.
Info
www.facebook.com/ RocaArchaeologi
calProject
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