Nummer 7
Handwerker,
Visionäre,
Weltgestalter?
Vorwort
Die Beiträge des vorliegenden Hefts blicken auf Ringvorlesung und Symposium
140 Jahre Handwerker und Visionäre. Kunstund Designausbildungen zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und Freiheit
von 2015 zurück. Studierende, Dozierende
und Gäste der Hochschule Luzern – Design
& Kunst fragten: Wie verhalten sich Handwerk und Visionäres im Spannungsfeld von
Individuum und Gesellschaft, von Theorie
und Praxis, von Utopie und Realität? Die
Fotografie auf dem Umschlag, von Urs Marty
um 1970 erstellt, lässt sich exemplarisch
und metaphorisch auf gängige Praktiken
und Ideale der Ausbildung beziehen: Sie
vollzieht sich oft zunächst abseits der
Öffentlichkeit im intimen Raum eines Austauschs, in dem das Wie und Warum,
das Woher und Wohin der künstlerischgestalterischen Praxis beleuchtet werden.
Darin kann man ein Risiko sehen oder
ein Privileg, das unabdingbar ist für die
Schulung handwerklicher Präzision, für
die Erkundung von Talenten in der Zusammenarbeit, für den Mut zum Neuanfang.
Die leere Mitte steht mithin auch für eine
Offenheit der Ausbildungssituation, in
der sich Visionen und Bilder entwickeln
können. Ständig verändert sich das gesellschaftliche Umfeld, und mit ihm muss
sich Hochschulausbildung verändern.
Bestehen bleibt bei alledem: Die Designund Kunsthochschule darf ihr Selbstverständnis als Versuchslabor nicht verlieren,
als ein Experimentierfeld, als Rahmen
für den Blick auf noch Ungestaltetes, für
das noch nicht Gegebene im gesellschaftlichen Raum.
Wolfgang Brückle
Silvia Henke
Marie-Louise Nigg
Inhalt
Seite 8
Seite 10
Seite 16
Seite 20
Seite 26
Seite 32
Seite 38
Seite 44
Seite 48
Handwerker, Visionäre,
Weltgestalter?
Einleitung
Wolfgang Brückle, Silvia Henke,
Marie-Louise Nigg
Die Visionen von damals
sind vielleicht gar nicht
so alt
Benno Zehnder
Unter einem Hut
Tobias Wyss
Hochschullandschaft
vor Alpenkranz
«Lucernness» im Feld des Wissens,
ein Zeitzeugenbericht
Beat Wyss
Seite 50
Seite 56
Seite 62
Seite 70
Marianne Eigenheer
Schülerin, Künstlerin, Professorin.
Damals und heute
Gespräch mit Silvia Henke
Visionäre? Spinner?
Mythologen?
Die bestimmte Lust auf ein Abseits
Silvia Henke
Seite 74
Sehen als Handlung
Zum Handwerk von Theorie
und Film
Johannes Binotto
Ausbildungsreisen
Berufung zwischen Lehrinstitution
und mobilem Atelier
Marie-Louise Nigg
Design-, Film- und
Kunsthochschule im
Jahr 2040
Bildbeitrag
Simon Beuret und Silvain Monney
Seite 78
Seite 84
Feindbild Handwerk,
Feindbild Akademie
Gegen Reinheitsgebote
in der Kunstausbildung
Wolfgang Brückle
Handwerk und
Denkwerk
Zwei komplementäre Seiten
des Designs
Dagmar Steffen
Kritische Vernetzung
Die verwobenen Diskurse von
Design und Kunst
Max Bruinsma
Öffentliches Terrain
zurückfordern
Eine Verortung der Ausbildung
Master of Arts in Fine Arts –
Art in Public Spheres
an der Hochschule Luzern –
Design & Kunst
Sabine Gebhardt Fink
Auf dem Weg zu
einer neuen
Gouvernementalität
Design- und Kunstausbildungen
zwischen Aufwertung und
Legitimationsanspruch
Gabriela Christen
Here/There/Now/Then
Georges Pfründer
Am Ende ist alles
eine Frage der
geistigen Haltung
Raimi Gbadamosi
Handwerker,
Visionäre,
Weltgestalter?
Einleitung
Wolfgang Brückle, Silvia Henke, Marie-Louise Nigg
Die Umstellung der schweizerischen Hochschulen
auf das Bologna-System ist vollzogen. Die Programme der Design- und Kunstausbildungen wurden umgebaut. Nun feiern die Design- und Kunsthochschulen Jubiläen, beziehen neue Standorte
und befragen ihre Geschichte.1 Als einer der grossen Gegensätze zeichnet sich in dieser historischen Selbstreflexion einerseits die Berufung auf
das Handwerk, andererseits auf die Konzeptarbeit
als Grundlage und Rechtfertigung von Ausbildungsangeboten ab. Angesichts des Stellenwerts
neuer Technologien in Kunst und Gestaltung und
ihrem Zusammenspiel mit dem traditionellen
Handwerk eröffnen sich neue Konflikte: Wie digital
sollen die Ausbildungen werden; welchen Stellenwert hat das Analoge oder wird es dereinst haben;
soll sich die Hochschule ebenso als Bewahrerin
von hergebrachtem implizitem Wissen verstehen
wie als Labor für Innovation? Und lassen sich Innovationen einerseits in der Kunst, andererseits
im Design noch so leicht unterscheiden, wie dies
die Aufteilung von Studienbereichen an der Hochschule bis in ihren Namen hinein vorauszusetzen
scheint? Dergleichen Fragen werden bildungspolitisch durch die Aufwertung der Ausbildungen einerseits, durch einen erhöhten gesellschaftlichen
Legitimationsdruck andererseits verschärft. Gabriela Christen legt das in ihrem Beitrag im Hinblick
auf die gegenwärtige Lage und Zukunft der Hochschule Luzern – Design & Kunst dar. Max Bruinsma
zeigt, dass Kunst und Design, Konzeptarbeit und
Produktentwicklung oft nur noch auf dem Papier
als getrennte Felder von Kreativität bestehen, und
plädiert dafür, Konsequenzen für die Ausbildung
zu ziehen.
Ohnehin müssen sich die Studierenden einiger
an der Hochschule Luzern Design & Kunst angebotener Studienrichtungen nicht vorab entscheiden, ob sie als Künstler oder Designer angesehen
werden wollen; das Transdisziplinäre ist Teil der
Ausbildung, die Entscheidung zwischen angewandtem und autorschaftlichem Profil findet in
der Ausbildung statt. Diese Verwobenheit von Design und Kunst, der Bezug der Kunst zum «Handwerk» bestimmte auch die Geschichte der Luzerner Design- und Kunstausbildung, insbesondere
vor dem Hintergrund einer langlebigen kulturellen
Verankerung im Katholischen. Daraus bezogen
die Ausbildungsprogramme an der Kunstgewerbeschule, aus der die heutige Hochschule hervorgehen sollte, ihre Rechtfertigung.2 Zugleich galt
für die Innerschweiz und damit für Luzern in erhöhtem Mass, was Harald Szeemann seit den
1960er Jahren als Produktionsbedingungen einer
eigenständigen künstlerischen Haltung proklamierte: die «individuellen Mythologien» und den
Rückzug ins Private, ins Subjektive, ins Spinnertum.3 Auch durch die Arbeit von Jean-Christophe
Ammann als Kurator des Kunstmuseums Luzern
in den 1970er Jahren war ein Terrain für das «Visionäre» und die «Individualmythologien» bereitet worden. Als «inbrünstig, heilig, erhaben» beschreibt Beat Wyss diese Strömung; tatsächlich
konnten Vertreter dieser Kunst und dieses Kunstdiskurses dem Hang zur Sakralisierung des Profanen nicht ganz widerstehen. Das Visionäre, das
Abseitige und die Travestie betrachtete man damals auch als Abwendung von der graphischen
und abstrakten Kunst. Es ging um einen Aufbruch,
der aus der ungeschulten Energie des Einzelnen
1
Vgl. zuletzt die Beiträge im
Kunstforum international
245 (2017), versammelt unter
dem Titel: «Kunst lernen?
Akademien und Kunsthochschulen heute»; für die
Schweiz ist zuvor zu nennen:
Den Künsten eine Zukunft.
Publikation zur Gründung der
Zürcher Hochschule der
Künste, hrsg. von Hans-Peter
Schwarz, Zürich 2007, sowie
jüngst Zürcher Hochschule
der Künste. Toni-Areal, hrsg.
von Janine Schiller und
Katharina Nill, Zürich 2016.
2 Siehe Joseph von Moos, Die
Kunstgewerbeschule Luzern.
Ihre Bestrebungen und Ziele,
in: Blätter für Wissenschaft
und Kunst 1 (1921/1922), Nr. 15,
S. 113–114, S. 113.
3 Siehe u. a. Harald Szeemann,
«Lohnender Rückzug ins
Private», in: Basler Nachrichten
vom 2. März 1974; ders.,
Individuelle Mythologien,
Berlin 1985; Visionäre Schweiz,
hrsg. von Harald Szeemann,
Ausst.-Kat. Zürich: Kunsthaus,
1991.
4 Vgl. Peter J. Schneemann
und Wolfgang Brückle,
Einleitung, in: Kunstausbildung.
Aneignung und Vermittlung
künstlerischer Kompetenz,
hrsg. von Wolfgang Brückle
und Peter J. Schneemann,
München 2008, S. 9–18, S. 15 f.
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kommen sollte – immer auf der Suche nach Experiment, Intensität und Individualität. Davon zeugen
die zurückschauenden Beiträge von Marianne
Eigenheer, Benno Zehnder und Tobias Wyss, obschon sich diese Protagonisten der Luzerner
Kunstszene der 1970er und 1980er Jahre auch mit
den geschlechtsspezifischen und anderen gesellschaftspolitischen Bedingungen von Ausbildung
auseinandersetzten.
Wer das «Visionäre» beschwört, droht einem
Klischee das Wort zu reden. Wird darin nicht allzu
sehr Genie als Voraussetzung, Verinnerlichung als
Prozess, Transzendenz als Richtwert vorausgesetzt? Könnte das «Visionäre» noch einmal neu
beurteilt werden – so wie die erneute Neigung zur
Handfertigkeit, die in den letzten Jahren die sogenannte freie Kunst, angelehnt an die ausserakademische Populärkultur, entwickelt hat? 4 Jedenfalls erweisen sich strenge Dichotomien immer
mehr als irreführend: Individueller Entwurf und
gesellschaftsbezogene Kunst, handwerkliche Fertigkeit und konzeptuelle Relevanz, utopischer Entwurf soziale Verantwortung sind vielmehr unhintergehbare Bedingungen von Ausbildung. In diesem Sinne geht Silvia Henke im Spannungsfeld
von Kunsttheorie, Religion und ästhetischer Bildung dem Nachleben des Visionären als einer «Innerlichkeit im erweiterten Sinn» nach; Johannes
Binotto beschreibt ein erweitertes Konzept von
theoriegesättigter Handwerklichkeit im Medium
Film; Marie-Louise Nigg untersucht die Rolle der
Mobilität für die Ausbildung von «sozialem Handwerk» und «sozialer Kunstfertigkeit» am Beispiel
eines weiblichen Künstlerkollektivs; Wolfgang
Brückle schliesst an Niggs Verweise auf die romantische Tradition mit einer Herleitung der Beziehung
von Anti-Akademismus und Konzeptorientierung
an; Dagmar Steffen behandelt konkrete Formen
des Zusammenspiels von Theorie und Reflexion
im gestalterischen Entwurfsprozess.
Künstlerische und andere gestalterische Entwürfe schaffen Visionen, deren Bewährung im gesellschaftlichen Raum eigentlicher Massstab für
eine zeitgemässe Ausbildung sein muss. Mit Rücksicht darauf überführt Sabine Gebhardt Fink, indem sie Leitgedanken des Luzerner Master-Studiengangs «Art in Public Spheres» erläutert, die
Gegenüberstellung von Handwerk und Visionärem
in die Möglichkeit von Kunst, «die Welt sich ereignen zu lassen». Wer Kunst oder Design schafft,
gestaltet – und das heisst: erschafft – die Welt.
Eine Schule, die Weltgestalter im vollen Wortsinn
hervorbringen will, muss soziale und politische
Haltungen und Perspektiven vermitteln – davon
sprechen im Angesicht der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche auch Raimi Gbadamosi
und Georges Pfründer. Wie können wir als Individuen, wie als Institutionen in Dialog mit den Anderen treten, das Fremde ebenso produktiv wie
die lokale Kultur befragen und bearbeiten? Gesellschaftliche Öffentlichkeiten sind die Adressaten
des gestalterischen Handwerks im erweiterten
Sinn, von dem hier die Rede ist. Die Hochschule
selbst aber, das zeigen alle Beiträge, stellt einen
unverzichtbaren Raum für die Entfaltung und Erprobung von zukunftsfähigen Entwürfen von Freiheit dar.
Nummern
Impressum
Unter dem Titel «Nummern» erscheinen jährlich
ein bis zwei Magazine, die aktuelle Themen
der Hochschule Luzern – Design & Kunst
beleuchten. Die Publikation vereint dabei Texte
und Bilder aus Forschung, Ausbildung und
Weiterbildung sowie von speziellen Ereignissen,
Symposien und Jubiläen.
Hochschule Luzern – Design & Kunst
Nummer 7 – Juni 2017
Handwerker, Visionäre, Weltgestalter?
Herausgeberinnen und Herausgeber
Wolfgang Brückle, Silvia Henke,
Marie-Louise Nigg
Bisher erschienen sind:
Nummer 1
urban.art.marks
Kunst erforscht den Raum der Stadt
Nummer 2
Destination Kultur
Die Kultur des Tourismus
Nummer 3
Postdigitale Materialität
Vom Dialog des Handwerks mit den Optionen
des Virtuellen
Nummer 4
Made by …
Textilien im Zentrum
Nummer 5
Ultrashort, Reframed
Nummer 6
Nordwärts
Beiträge
Johannes Binotto, Wolfgang Brückle,
Max Bruinsma, Gabriela Christen,
Marianne Eigenheer, Raimi Gbadamosi,
Sabine Gebhardt-Fink, Silvia Henke,
Marie-Louise Nigg, Georges Pfründer,
Dagmar Steffen, Tobias Wyss, Beat Wyss,
Benno Zehnder
Bildbeitrag
Simon Beuret, Silvain Monney
Lektorat
Wolfgang Brückle
Produktion
Christian Schnellmann
Markus Odermatt Mühlebach
Übersetzungen aus dem Englischen
(Bruinsma, Gbadamosi)
Rainer Donandt
Fotografie Titelseite
Urs Marty
Gestaltungskonzept und Satz
Velvet Creative Office, Luzern
Druck
Druckerei Odermatt, Dallenwil
Bindung
An der Reuss AG, Luzern
Das Werk ist einschliesslich all seiner Teile
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Herausgeberschaft unzulässig und strafbar. Das gilt
besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
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© 2017 Hochschule Luzern – Design & Kunst
und die Autoren
hslu.ch/design-kunst/
ISBN 978-3-033-06193-4
Wir bedanken uns bei der zeugindesign-Stiftung,
Luzern, für die grosszügige Unterstützung dieser
Publikation.
Bildnachweis
S. 2, 6/7, 15, 25, 43, 52, 55, 73, 77, 83, 95
Randy Tischler; S. 11 Urs Marty im Auftrag
des Direktors; S. 16/18 zVg; S. 22 Joël Hunn;
S. 25/29 Marianne Eigenheer; S. 32/34 zVg;
S. 38/41 © Hochschule Luzern – Design & Kunst;
S. 45 Jonas Burkhalter; S. 46/47 a&a; S. 51
Claus Friede; S. 53 links Victor Burgin; S. 53
rechts Lucy Klippan; S. 48 Silvain Monney und
Simon Beuret; S. 58 © Graubünden Ferien;
S. 59 © Nicole Benz; S. 62 Massoud Hassani;
S. 65 © 2017, ProLitteris, Zürich; S. 66 zVg;
S. 68/69, 91 Priska Ketterer; S. 71 oben Vera
Leisibach © Master Kunst und Madleina Zweidler;
S. 71 mitte Vera Leisibach © Master Kunst und
Marc Gerber; S. 71 unten Vera Leisibach ©
Master Kunst und Patrik Zumbühl; S. 78/ 81 ©
G. Pfründer; S. 84 zVg; S. 96 Urs Marty