Forthcoming in:
Luft, S. & Wehrle, M. (Eds.). Husserl-Handbuch. Stuttgart: Metzler.
11. Kulturphilosophie
Einleitung
Husserls Wirkung auf die Kulturphilosophie ist vielfältig und keineswegs geradlinig. In
diesem Artikel kann deshalb kein umfassender Überblick angestrebt werden. Vielmehr soll
anhand weniger ausgewählter Rezeptionslinien und Diskussionspunkte die anhaltende
Relevanz des Husserlschen Denkens für die Kulturphilosophie aufgezeigt werden. Nach einer
einführenden Begriffserläuterung wird die Stellung Husserls im Entwicklungszusammenhang
der Kulturphilosophie gekennzeichnet. Hierbei wird deutlich, wie sich Husserls eigener
Kulturbegriff im zeitgeschichtlichen und philosophischen Kontext verortet. Sodann werden
mit Ernst Cassirer und Theodor W. Adorno zwei für die Kulturphilosophie bedeutsame
Denker, die auf unterschiedliche Weise von Husserl beeinflusst waren, exemplarisch
herangezogen. Dabei kann nicht auf die Angemessenheit oder Unangemessenheit der HusserlInterpretationen eingegangen werden, die diese Autoren liefern. Schlaglichtartig soll vielmehr
die Aufnahme und Weiterführung Husserlscher Ideen sowie die kritische Auseinandersetzung
mit ihnen im Kontext kulturphilosophischer Fragestellungen exponiert werden. Abschließend
werden aktuelle Bereiche kulturphilosophisch relevanter Forschung benannt, in denen eine
fruchtbare Integration der Husserlschen Phänomenologie vollzogen wird oder möglich
erscheint.
In einem weiten Sinne kann als Kulturphilosophie zunächst jede philosophische
Auseinandersetzung gefasst werden, die den Menschen unter dem Aspekt seines Schaffens,
Handelns und gesellschaftlichen Lebens thematisiert. Derartige Thematisierungen gehören
natürlich schon seit der Antike zum Repertoire philosophischer Reflexion. Im prägnanten
Sinne meint Kulturphilosophie jedoch eine Denkströmung, die zu Beginn des 20. Jh. entsteht
und durchaus mit Universalanspruch auftritt, d.h. nicht bloß als philosophische Teildisziplin
verstanden werden will. Die Besinnung auf Kultur soll die Gesamtheit philosophischer
Fragestellungen verändern. In diesem spezielleren Sinne hat die Kulturphilosophie als
Grundlagenwissenschaft mindestens drei Hauptaufgaben oder Anwendungsbereiche: (1) als
formale Disziplin bildet sie eine Wissenschaftstheorie aus und befragt die methodologischen
und konzeptuellen Grundlagen der Kulturwissenschaften, (2) als materiale Disziplin widmet
sie sich der Analyse konkreter kultureller Prozesse, Strukturen und Äußerungsformen, (3) als
kritische Disziplin stellt sie ein zeitdiagnostisches Regulativ dar und befasst sich mit der
Kritik bestehender gesellschaftlicher, politischer und kultureller Verhältnisse und Tendenzen.
Husserl und die Entwicklung der Kulturphilosophie
Die Kulturphilosophie entsteht im Zusammenhang mit Entwicklungen des 19. Jh., die auf
unterschiedliche Weise die Philosophie herausforderten. Im wissenschaftlichen Bereich ist
hier erstens auf den Fortschritt der experimentellen Naturwissenschaften und ihre
zunehmende Vereinnahmung philosophischer Forschungsdomänen zu verweisen. Dies führte
bei vielen Denkern zu einer Suche nach einem Residuum für genuin philosophische
Fragestellungen. Im Neukantianismus, etwa bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert,
vollzog sich die Hinwendung zur Werthaftigkeit und Sinnhaftigkeit des Erscheinenden, zu
den „Weltanschauungen“, die sich nicht in den Erkenntnissen der empirischen
Wissenschaften erschöpfen. Bei Husserl waren es die subjektive Erfahrung und die Strukturen
der alltäglichen Lebenswelt, die er vor wissenschaftlicher Abstraktion und Idealisierung zu
bewahren und als transzendentale Grundlage philosophischer Reflexion zu etablieren suchte.
Zweitens war im Spezielleren auch die philosophische Situation für die Herausbildung der
Kulturphilosophie entscheidend. Die posthegelianische Kritik am Systemanspruch des
Deutschen Idealismus seit Ludwig Feuerbach sowie der Zweifel am Absolutheitsideal der
neuzeitlichen Rationalitätsphilosophie führte zu einer Hinwendung zu Formen der
alltäglichen Erfahrung ebenso wie zu Politik und Wirtschaft. Eine Intuition hierbei war, dass
die Gegenstände der philosophischen Betrachtung von Kultur sich immer nur als
Ausdrucksformen einer je spezifischen Kultur zeigen. Die Vielfalt der Kulturen und die
Unterschiede zwischen ihnen müssen – so die Aufforderung – dementsprechend
mitberücksichtigt werden, auch und gerade wenn man nach universalen Strukturen sucht. Als
gesellschaftlicher Faktor ist drittens auf die Lage um die Wende vom 19. zum 20. Jh. zu
verweisen. Die zunehmende Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung erschienen
nicht mehr nur als zukunftsweisende Ermöglichungen neuer Lebensweisen, sondern auch als
Formen der Weltbemächtigung, die Gefahren bergen, wenn sie sich verselbständigen. Der
Marxsche Gedanke der „Entfremdung“ sowie das Webersche Diktum von der „Entzauberung
der Welt“ drücken vor diesem Hintergrund destabilisierende Umbruchserfahrungen aus, die
mit der Angst vor dem Selbstverlust des Individuums und vor dem Niedergang der
hergebrachten Kultur als sinnstiftendem und -erhaltendem Traditionszusammenhang
verbunden sind.
Im Jahr 1910 wurde – im Angesicht dieser Entwicklungen und der geschilderten
philosophischen Verlegenheiten – der Logos, eine „Internationale Zeitschrift für Philosophie
der Kultur“ gegründet, zu deren Beirat intellektuelle Größen der Zeit wie Max Weber, Georg
Simmel, Rickert und Husserl gehörten. Diese Zeitschrift kann als das erste Organ einer
institutionell noch wenig verankerten, aber durch prominente Vertreter lose verbundenen
Interessensgemeinschaft der Kulturphilosophie betrachtet werden. Im Vorwort der ersten
Ausgabe heißt es: „Die Philosophie der Kultur muß überall die Vernunft in der Kultur suchen,
und deshalb hat diese Zeitschrift den Namen ‚Logos‘ erhalten.“ (Mehlis 1910/11, III) Diese
Verbindung des Kulturbegriffs mit dem Vernunftbegriff ist ein Motiv, das sich prominent
auch in Husserls Werk findet. Es erscheint daher folgerichtig, dass Husserl seine Streitschrift
Philosophie als strenge Wissenschaft in der ersten Ausgabe des Logos erscheinen ließ. Hier
kritisiert er zum einen die naturalistischen und historistischen Tendenzen der modernen
Wissenschaften und fordert eine antireduktionistische Theorie des Bewusstseins als
transzendentalem Boden objektivierender Leistungen. Zum anderen wendet er sich gegen die
Weltanschauungsphilosophie, die von vielen zeitgenössischen Denkern favorisiert wurde.
Nach dem Ersten Weltkrieg teilt Husserl den verbreiteten Eindruck einer
tiefgreifenden Krise der europäischen Kultur. In den Kaizo-Artikeln von 1923/24 ruft er zu
einer philosophischen „Erneuerung“ (Hua XXVII, 3) auf und sieht in der von ihm
entwickelten transzendentalen Phänomenologie den „Heilsquell“ (Hua XXVII, 93) für die
Restitution der geistigen Kultur nach reinen Vernunftprinzipien. Husserl versteht das
kulturelle „Geistesleben der Menschheit“ als das „zwecktätige, auf selbstgesetzte Zwecke
gerichtete Leben, dessen Leistungen sich immerfort in sinnlich verleiblichten Werkgestalten
objektivieren. Diese Objektivierungen bilden das Gegenstandsfeld der Kultur. Kulturobjekte
sind Gebilde des sozialen Geistes“ (Hua XXVII, 110). In dieser Bestimmung sind die soziale
und die werktätige Dimension von Kultur miteinander verschränkt. Kultur objektiviert sich in
werthaften Gebilden, und diese können nur als gemeinschaftlich erzeugte verstanden werden.
Als dritte Dimension bringt Husserl die Tradition als historische Dynamik und die ihr
zugrunde liegenden Prozesse der Symbolisierung, Übernahme und Konventionalisierung ins
Spiel. Das Zusammenwirken von gesellschaftlichen, hervorbringenden und geschichtlichen
Faktoren ist ein Sachverhalt, den – freilich in unterschiedlichen Gewichtungen – zahlreiche
Denker, die für die Kulturphilosophie wegweisend waren, ebenfalls thematisiert haben: von
Rousseau und Herder über Dilthey und Simmel bis hin zur Frankfurter Schule.
Rezeption und Kritik
Ernst Cassirer: Mit Cassirer als einem der wichtigsten Kulturphilosophen verbindet Husserl
hinsichtlich der hervorbringenden Dimension der Kultur das Motiv der Geistigkeit oder
Beseeltheit der durch den Menschen geformten Umwelt. In seinen Vorlesungen zur
„Phänomenologischen Psychologie“ von 1925 gibt Husserl zu bedenken, dass die
„allermeisten Dinge unserer Lebenswelt“, wie z.B. „Büchertische und sonstige Möbel,
Häuser, Felder, Gärten, Werkzeuge, Bilder usw. […] von uns ganz unmittelbar als geistig
bedeutsame Dinge erfahren [werden]; sie werden nicht als bloß physische gesehen“ (Hua IX,
111). Das bedeutet, dass der Mensch umgeben ist von Dingen, die er selbst hervorgebracht
hat und in denen diese Hervorbringung als geistige Leistung erfahrbar ist. In
anthropologischer Stoßrichtung stellt Cassirer, in seinem Werk An Essay on Man (1944), ganz
ähnlich fest, dass der Mensch nicht „in einem bloß physikalischen [Universum lebt], sondern
in einem symbolischen […]. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam mit sich
selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen
Symbolen oder religiösen Ritualen umgeben“ (Cassirer 2007, 50). Die Kulturerzeugnisse des
Menschen sind dabei nicht nur in ihrer instrumentellen Funktion zu verstehen, sondern
insbesondere auch in ihrer reflexiven. Über die Kulturgebilde als Objektivierungen des
Geistes bringt sich der Mensch selbst als Kulturwesen in den Blick. Geht es Husserl im
obigen Zitat vor allem um die Sinnhaftigkeit einfacher materieller Dinge, betont Cassirer die
symbolischen Dimension von Religion und Mythos.
Im zweiten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen, der sich umfassend dem
mythischen Denken widmet, bezeichnet es Cassirer dann als eines der „grundlegenden
Verdienste der Husserlschen Phänomenologie, dass sie für die Verschiedenheit der geistigen
‚Strukturformen‘ erst wieder den Blick geschärft und für ihre Betrachtung einen neuen, von
der psychologischen Fragestellung und Methodik abweichenden Weg gewiesen hat.“
(Cassirer 2002a, 14) Diese Bemerkung verweist auf die transzendentale Dimension von
Cassirers Kulturphilosophie, die er gegen psychologistische Erklärungsansätze entschieden
abgrenzt. Die von Husserl in den Logischen Untersuchungen (Hua XVIII, XIX) und den
Ideen (Hua III/1) entwickelte Differenzierung unterschiedlicher Arten von intentionalen
Akten sowie die methodische Ausklammerung von Seinssetzungen bezüglich der
intentionalen Gegenstände ist für Cassirer ein vielversprechender Ansatz, da hierdurch
„Wirklichkeit“ neu gefasst werden könne. Für sein Vorhaben einer philosophischen
Durchdringung des Mythischen sieht Cassirer in dem von ontologischen Vorannahmen
gereinigten phänomenologischen Blick ein fruchtbares Instrument, um nach der „Bedeutung“
kultureller
Erscheinungsformen
zu
fragen
(vgl.
zum
methodischen
Stellenwert
phänomenologischer Analysen aus erstpersonaler Perspektive bei Cassirer: Luft 2015, 207).
Indem die Phänomenologie nicht nach der bewusstseinsexternen Wirklichkeit, sondern nach
dem Sinn der erscheinenden Welt und ihrer Gegenstände für ein auffassendes Bewusstsein
fragt, kann sie sich ohne Verlust an erkenntnistheoretischer Dignität auch auf Phänomene
richten, deren „Wirklichkeit“ zweifelhaft ist, wie etwa Figuren und Gegenstände des Mythos.
„Eine derartige Untersuchung müßte auch die mythische ‚Welt‘ in ihren Kreis ziehen, um
ihren eigentümlichen ‚Bestand‘ nicht durch Induktion aus der Mannigfaltigkeit der
ethnologischen und völkerpsychologischen Erfahrung abzuleiten, sondern um ihn in rein
‚ideierender‘ Analyse zu erfassen.“ (Cassirer 2002a, 14) Gleich im Anschluss beklagt
Cassirer, dass eine solche Anwendung der Phänomenologie auf den Bereich der
interkulturellen Mythenforschung bis dato noch nicht geschehen und auch nicht in Sicht sei.
Hierin steckt ein bis heute unzureichend aufgegriffenes Potential der Phänomenologie für die
Methodologie auch der empirischen Kulturwissenschaften. In einem Brief an Cassirer vom
April 1925 bedankt sich Husserl für den Verweis und bestätigt das Desiderat: Die
Phänomenologie müsste zunächst in eidetischer, dann aber auch empirischer Absicht, aus den
„transzendentalen Strukturen […] die notwendigen Stufen der konkreten Entwicklungstypik
einer Menschheit überhaupt verständlich zu machen“ (Hua Dokumente III/5, 5).
Im dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen, den er mit dem Untertitel
„Phänomenologie der Erkenntnis“ versieht, entwickelt Cassirer in Auseinandersetzung mit
Kants Kritik der reinen Vernunft und Husserls Wahrnehmungstheorie den für die
Kulturphilosophie zentralen Begriff der „symbolischen Prägnanz“ (Cassirer 2002b, 218; vgl.
zur Wichtigkeit dieses Konzepts für Cassirers Projekt: Krois 1987, 52). Cassirer bemüht sich
hier um ein „tieferes erkenntniskritisches und phänomenologisches Verständnis der
Wahrnehmung“ (Cassirer 2002b, 220), das die Probleme des Sensualismus überwindet und
die Einheit der bewussten Erfahrung zum Ausdruck bringt. Mit Kant geht Cassirer von der
formgebenden Funktion des Verstandes für die Wahrnehmung aus, die er als synthetischen
Vorgang versteht, in dem keine isolierten Daten anschaulich gegeben werden, sondern
„Sinnkomplexe“ bzw. „Bedeutungsgefüge“. Mit Husserl geht Cassirer von der Intentionalität
des Bewusstseins als „Bedingung der Möglichkeit aller Gegenstandserkenntnis“ (225) aus und
lobt den Begründer der Phänomenologie ausdrücklich für die „völlige Klarheit“ (224), zu der
er – im Unterschied zu Brentano – den Intentionalitätsbegriff gebracht habe. Im weiteren
Gang der Argumentation übt Cassirer allerdings auch Kritik an Husserl und stellt dessen
wahrnehmungstheoretisches Schema von Inhalt und Auffassung, insbesondere die Annahme
einer „toten“ Empfindungsmaterie, die von Bewusstseinsakten „beseelt“ werde, in Frage –
eine Ansicht, die Husserl selbst bereits in Forschungsmanuskripten aus den Jahren 1907-09
revidierte (s. Hua X, 269-334). Cassirer sieht in diesem Modell einen „Rest jenes Dualismus,
der ‚Physisches‘ und ‚Psychisches‘ auseinanderreißt“ (Cassirer 2002b, 226). Gegen Husserls
Unterscheidung von sensueller hyle und intentionaler morphé (Hua III/1, §85) betont Cassirer,
dass wir im Bewusstsein immer nur in sich gegliederte „Gesamterlebnisse“ (Cassirer 2002b,
227) haben. Wenn Cassirer seinen eigenen Begriff der „symbolischen Prägnanz“ als
„Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein
charakteristisches Sinnganzes“ (231) einführt, könnte er durchaus auf Husserls Analysen der
Horizontstruktur der Wahrnehmung zurückgreifen. Ebenso könnte Cassirers Verständnis von
Prägnanz als lebendiger Gegenwart oder „zukunftgesättigtes Jetzt“ (231) in Einklang mit
Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Hua X) gebracht
werden, die Cassirer allerdings nicht mehr berücksichtigt hat (vgl. Cassirer 2002b, 196 Fn.).
Theodor W. Adorno: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frankfurter Schule der
Kritischen Theorie zur wichtigsten kulturphilosophischen und kulturkritischen Instanz in
Deutschland. Ihr Protagonist Adorno war von Husserls Denken durchaus geprägt, hatte er
doch 1924 eine Dissertation zum Thema „Die Transzendenz des Dinglichen und
Noematischen in Husserls Phänomenologie“ vorgelegt. Die Auseinandersetzung mit Husserl
setzte sich danach fort und schlug sich in seinem 1956 publizierten Werk Zur Metakritik der
Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien nieder.
Hier folgt Adorno Husserl insoweit, als er von der Möglichkeit einer objektiven Wahrheit
ausgeht, die in Beziehung zu den Denkprozessen gesehen werden muss. Andererseits kritisiert
Adorno Husserls Korrelationstheorie der Ideen, da sie aus einer „dualistische[n] Immanenz“
(Adorno 1997a, 31) nicht hinauskomme, sondern den traditionellen Gegensatz zweier
Substanzen erneuere. Insgesamt bewertet Adorno den phänomenologischen Rückgang auf die
„Sachen selbst“ durch die methodischen Operationen der Epoché und Reduktion als
unerfüllbaren Anspruch. Gegenüber einem unmittelbaren Bewusstseinszugang zu den
Phänomenen behauptet er im Anschluss an Hegel die Vermitteltheit alles Erscheinenden und
alles Wissens.
In seinem philosophischen Hauptwerk Negative Dialektik (1966) übt Adorno weitere
Kritik an der Phänomenologie. So wirft er Husserl vor, mit seiner Eidetik die idealistische
Metaphysik nicht überwinden zu können. Vielmehr verbleibe Husserls Denken „im Umkreis
subjektiver Immanenz“ (Adorno 1997b, 20), den man nur durch dialektisches Denken
verlassen könne. Deshalb sei Husserls Philosophie letztlich nur eine „Reprise der alten
Philosophien des Absoluten“ (70). Laut Adorno sehne sich Husserl nach einer Philosophie,
„die, rezeptiv zu den Gegenständen, sich verinhaltlicht“ (57), worin Adorno einen
identitätstheoretischen Grundzug der Phänomenologie vermutet, den er mit seiner „negativen“
Dialektik zu verabschieden sucht. Diese Form von Dialektik geht von der unhintergehbaren
Differenz von Begriff und Sache aus und betont die Nichtidentität und „Unversöhntheit“ von
Subjekt und Objekt.
Doch bei aller Kritik gibt es mit Blick auf die zeitdiagnostische und kulturkritische
Funktion der Philosophie auch eine gewisse Annäherung. In der Dialektik der Aufklärung
(1947), dem von Max Horkheimer und Adorno gemeinsam verfassten grundlegenden Werk
der Kritischen Theorie, findet sich ein interessanter Verweis auf Husserl, und zwar auf dessen
späte Lebensweltphilosophie, wie sie in der Krisis (Hua VI) entwickelt wird. In einer
zentralen Passage, die sich um die „Unterwerfung alles Seienden unter den logischen
Formalismus“ (Horkheimer/Adorno 1997, 43) dreht, wie sie sich im Zuge der modernen
Weltbeherrschung durch Naturwissenschaft und Technik abspielt, wird Husserls Diktum von
der „Mathematisierung der Natur“ herangezogen, die eine „Welt von Idealitäten“ erzeugt, die
dann für die eigentliche Welt gehalten wird (41f., vgl. Hua VI, 19f.). Für Husserl sind die seit
Galilei sich Bahn brechende Entfremdung der Wissenschaften von der Alltagserfahrung und
die Unterschiebung von Idealitäten unter die normale Wahrnehmungswelt entscheidende
Befunde, mit Blick auf welche er den Rückgang auf das Fundament der Lebenswelt fordert
(Hua VI, 49). In diesem Punkt herrscht also Einigkeit zwischen Phänomenologie und
Kritischer Theorie, wenngleich diese Einsicht zu unterschiedlichen Konsequenzen führt.
Während
Husserl
eine
Konstitutionsanalyse
der
lebensweltlichen
Erfahrung
in
transzendentaler Absicht durchführt, geht es bei Horkheimer und Adorno um die Aufdeckung
ökonomischer Machtansprüche, die zu einer Fetischisierung von Kulturobjekten und einer
allgemeinen Verflachung der Kultur führen.
Aktuelle Relevanz
Husserls Phänomenologie besitzt aufgrund ihres deskriptiven Reichtums und ihrer
methodischen
Ausrichtung
zahlreiche
Anknüpfungspunkte
für
unterschiedlichste
Diskussionen, die im Bereich der Kulturphilosophie und Kulturtheorie in den vergangenen
Jahrzehnten geführt wurden. Wie schon die Arbeiten von Clifford Geertz zeigen, kann die
Phänomenologie ein interessanter Gesprächspartner für die Ethnologie sein. Geertz’ in den
1970er Jahren entwickelter hermeneutisch-semiotischer Ansatz ist bis heute ein wichtiger
Bezugspunkt ethnologischer Theoriebildung. Neben unterschiedlichen von Geertz rezipierten
Theoremen der Sprachphilosophie kann auch die Phänomenologie als Inspirationsquelle
gelten, die er vor allem über die Rezeption von Alfred Schütz’ (1962) Sozialphänomenologie
kennenlernte. Husserl wird von Geertz – ebenso wie der späte Wittgenstein – als
Gewährsmann für eine Sichtweise herangezogen, in der die Sphäre der Bedeutung nicht als
privater Innenraum subjektiver Befindlichkeiten, sondern als intersubjektiv konstituierte und
öffentlich zugängliche Dimension des Zusammenlebens erscheint (Geertz 1987a, 19). In
einem vielbeachteten Aufsatz bestimmt Geertz ferner den Common Sense als kulturelles
System (Orig. 1975), wobei er den Husserlschen Gedanken der Lebenswelt aufgreift und die
Bedeutung subjektiver Erlebnisbeschreibungen für die Ethnologie hervorhebt (Geertz 1987b,
266). Andersherum sind auch Phänomenolog/innen auf die Ethnologie zugegangen und haben
im Ausgang von Husserl die unterschiedlichen Dimensionen der (kulturellen) Fremdheit und
das Konstitutionsverhältnis von „Heim-“ und „Fremdwelt“ analysiert (Därmann 2003,
Waldenfels 2006,). In der Sozial- und Kulturanthropologie werden Ansätze immer wichtiger,
die auf phänomenologischen Konzepten von Leiblichkeit und Lebenswelt aufbauen, so dass
sich inzwischen eine Reihe ethnologischer Theorien entwickelt hat, die sich als
phenomenological anthropology bezeichnen (Csordas 1994, Jackson 1996, Desjarlais/Throop
2011).
Im Bereich der Medientheorie greift Oswald Schwemmer im Anschluss an Cassirer
auf Husserls Wahrnehmungstheorie zurück, um im Rahmen seiner Grundlegung der
Kulturphilosophie das Verhältnis von Sinn und Verweisung zu bestimmen. Die
phänomenologische Beschreibung der Wahrnehmung als kontinuierlich-synthetischer
Bewusstseinsleistung sowie ihrer Horizontstruktur dient hier dem Aufweis, dass sich Sinn
und Bedeutung nicht erst im Bereich des Symbolischen herausbilden, sondern dass bereits die
Wahrnehmung eine sinnhafte Struktur besitzt. Jedes Wahrnehmungserlebnis ist demgemäß
eingebettet
in
vorausgehende
und
antizipierte
Erlebnisse;
außerdem
stehen
die
Wahrnehmungsgegenstände in einem Verweisungszusammenhang und erscheinen nicht als
isolierte Objekte. Insofern lassen sich laut Schwemmer Kulturleistungen „durch ihren Bezug
auf die vorreflexiv entstandenen Wahrnehmungsformen als eine besondere Sinnform
charakterisieren“ (Schwemmer 2005, 144). Zur näheren Klärung des medientheoretisch
bedeutsamen Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit wäre es im Ausgang
hiervon lohnenswert, Husserls Analysen der vorprädikativen und prädikativen Erfahrung
heranzuziehen, wie sie in Erfahrung und Urteil entfaltet werden. Zu verweisen ist außerdem
auf bereits bestehende Versuche einer phänomenologischen Begründung der Medientheorie,
insbesondere von Ferdinand Fellmann (2009).
Schließlich spielt der Begriff der Intentionalität eine wichtige Rolle in den von
Philosophen zunehmend beachteten Forschungsprogrammen der evolutionären Anthropologie
und der komparativen Kognitionspsychologie. Als wegweisender Autor der letzten beiden
Jahrzehnte ist hier Michael Tomasello (2002c) in Erscheinung getreten, der die Bestimmung
des Menschen und seiner Kulturentwicklung an seine spezifische Intentionalitätsstruktur
knüpft, die den Menschen von den Primaten unterscheiden soll. Zwar gibt es bei Tomasello
und ähnlich arbeitenden Anthropologen bislang keine explizite Auseinandersetzung mit der
Husserlschen Phänomenologie, doch wäre eine phänomenologische Ausdifferenzierung des
Intentionalitätsbegriffs lohnenswert, um genauer zu verstehen, welche Formen der
intentionalen Bezugnahme zur Welt und zu anderen bei der Bestimmung des genuin
Menschlichen besonders relevant sind (vgl. als phänomenologische Auseinandersetzung mit
der Evolutionsanthropologie Lohmar 2016).
Literatur
Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (GW 5). Frankfurt a.M. 1997
[1997a].
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Csordas, Thomas J.: Embodiment and Experience: The Existential Ground of Culture and
Self. Cambridge 1994.
Därmann, Iris: Fremde Monde der Vernunft: die ethnologische Provokation der Philosophie.
München 2003.
Desjarlais, Robert/Throop, Jason: Phenomenological Approaches in Anthropology. Annual
Review of Anthropology 40/1 (2011), 87-102.
Fellmann, Ferdinand: Phänomenologie zur Einführung. Hamburg 2009.
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur.
In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt
a.M. 1987 [1987a], 7-43.
Ders.: Common Sense als kulturelles System. In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum
Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1987 [1987b], 261-288.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung (GW 3). Frankfurt a.M.
1997.
Jackson, Michael: Things as They Are: New Directions in Phenomenological Anthropology.
Washington, DC 1996.
Konersmann, Ralf: Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart 2012.
Krois, John M.: Cassirer. Symbolic Forms and History. New Haven 1987.
Lohmar, Dieter: Denken ohne Sprache: Phänomenologie des nicht-sprachlichen Denkens bei
Mensch und Tier im Licht der Evolutionsforschung, Primatologie und Neurologie.
Dordrecht 2016.
Luft, Sebastian: The Space of Culture. Towards a Neo-Kantian Philosophy of Culture (Cohen,
Natorp, & Cassirer. Oxford 2015.
Mehlis, G. (Hg.): Logos – Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur (Bd. 1).
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Schütz, Alfred: The Problem of Social Reality. Den Haag 1962.
Schwemmer, Oswald: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung. München
2005.
Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt 2000.
Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.
2006.