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WarreN NeidicH TEXT: Nicole Büsing & Heiko Klaas 70 Book exchange, 2010 Mitterrand+Sanz/Contemporary Art Hat sie oder hat sie nicht? Eine der zentralen Kontroversen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 drehte sich um eine ominöse Liste verbotener Bücher. John McCains Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin soll sie in ihrer Eigenschaft als frühere Bürgermeisterin der in Alaska gelegenen Kleinstadt Wassila zusammengestellt haben. Ziel dieser Aufstellung war es angeblich, die aufgeführten Titel aus der dortigen Gemeindebibliothek zu entfernen. Palin hat diese Vorwürfe mehrfach energisch bestritten. Ihre Gegner hielten jedoch dagegen. Treffen die Vorwürfe zu, dann wäre das ein klarer Fall von Zensur. Treffen sie nicht zu, dann beweist aber zumindest die Existenz dieser in diversen Internet-Blogs kursierenden Abschussliste, dass es einen bestimmten Kanon von unliebsamen, aber populären Büchern gibt, den die konservative, oftmals bibeltreu-evangelikal ausgerichtete amerikanische Rechte am liebsten aus den Regalen öffentlicher Büchereien verbannen würde. Genau diese brisante Konstellation bildet den Ausgangspunkt für die prozessuale Installation Book Exchange, die der 1958 in New York geborene und heute in Berlin und Los Angeles lebende Künstler Warren Neidich im vergangenen Sommer in der Glenn Horowitz Gallery im Badeort East Hampton auf Long Island gezeigt hat. East Hampton ist nicht irgendein Auslugsziel für Erholung suchende New Yorker, sondern seit sich Jackson Pollock hier in den 1940er Jahren niedergelassen hatte, die Künstler- und Sammlerkolonie schlechthin auf Long Island. Kein schlechter Ort also, um Book Exchange unter Realbedingungen zu testen. Die elegant geformte Arbeit bestand aus einem rotierenden Quadratkörper aus Stahl, der auf der Spitze stehend und eingespannt in eine auf dem Boden stehende, galgenförmige Trägerkonstruktion, als Präsentations- und Aufbewahrungsort für eben jene 120 angeblich von Palin indizierten Bücher diente, die dem konservativen Amerika so verhasst sind. Darunter, neben sämtlichen Harry-Potter-Romanen: The Catcher in the Rye von J.D. Salinger, A Clockwork Orange von Anthony Burgess, oder Lord of the Flies von William Golding. Neidich hatte jedes dieser Bücher in bester Ready-Made-Tradition signiert und zur Mitnahme durch Galeriebesucher freigegeben. Eine Spielregel galt es jedoch zu beachten: Wer ein Buch mitnehmen wollte, der musste ein anderes Buch vorbeibringen. Titel und Autor waren egal: Nur rot musste es sein. Am Ende der Aktion war der komplette Buchbestand ausgetauscht. Das anfänglich bunte Durcheinander hatte sich zur rot durchmodulierten Einheitsläche transformiert. Diese ganz neue, ebenso sinnliche wie partizipatorische Arbeit ist repräsentativ für Warren Neidichs multidisziplinäre künstlerische Strategie. Denn sie zeigt, wie Neidich auf Versuche der Gleichschaltung- oder Bewusstseinssteuerung seitens der Inhaber politischer, wirtschaftlicher, technologischer, medialer oder sonstwie gearteter Macht mit ausgefeilten künstlerischen Gegenstrategien reagiert. Neidich wurde in den 1980er Jahren naturwissenschaftlich ausgebildet. Daneben studierte er auch Fotograie. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit war er bis Mitte der 90er Jahre auch auf den Feldern Neurologie und Augenheilkunde tätig. Seitdem ist er nicht nur als bildender Künstler sondern auch als Autor, Kurator, Theoretiker und Teilnehmer zahlreicher internationaler Panels vermehrt an die Öffentlichkeit getreten. 1998 gründete er die Website artbrain.org – Journal of Neuro-Aesthetic Theory, eine interdiszipli71 Oben extensivity intensivity, 2009 Foto: Dido Baxevanidis Unten Modernity and difference, 2009 Foto: Dido Baxevanidis näre Plattform mit Texten von Künstlern, Neurowissenschaftlern, Kommunikations- und Medientheoretikern. In diesem Jahr erhielt er für seinen Aufsatz From Noo-Power to Neuropower: How Mind Becomes Matter den Vilém Flusser Theory Award 2010 der Transmediale in Berlin. Warren Neidich, der sich sowohl in seinen Arbeiten als auch in seinen theoretischen Texten auf neueste Ergebnisse der Hirnforschung ebenso bezieht wie auf poststrukturalistische Philosophie und Ästhetik, versteht sich jedoch in erster Linie als Künstler und nicht etwa als unentschiedener Grenzgänger zwischen den Disziplinen. In die Schublade „Art + Science“ möchte er lieber nicht gesteckt werden. In einem Interview mit dem Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist hat er das bereits 2005 sehr deutlich gemacht: „Auch wenn es in meiner Kunst um das Gehirn geht, möchte ich keinesfalls neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Konzepte illustrieren. Das genau ist ja das Problem so vieler künstlerisch-wissenschaftlicher Gemeinschaftsinitiativen. Mir geht es darum, ein zusätzliches Vokabular zur Verfügung zu stellen, das in die künstlerische Praxis einließen und diese durch die Produktion von Hybridität und Differenz mit Energie auladen kann.“ Die Aktivierung des Publikums spielt bei vielen seiner Arbeiten eine entscheidende Rolle. So hielt er im Rahmen der im Herbst 2009 von der dänischen Künstlerin Kirstine Roepstorff in der Temporären Kunsthalle Berlin kuratierten Gruppenausstellung Scorpio´s Garden eine seiner Performative Lectures. Die Augen mit einem Tuch verbunden, ließ sich Warren Neidich von einer Assistentin durch die stark abgedunkelte Ausstellung führen. Neidich kommentierte die gezeigten Arbeiten anderer Künstler aus der eigenen Erinnerung heraus, stellte sie in Bezug zu Strategien der Minimal Art und Konzeptkunst und erläuterte – ganz offensichtlich gehandicapt durch die freiwillig herbeigeführte Blindheit – eigene, diagrammartige Zeichnungen mit neuronalen Modellen und durch Pfeilrelationen zueinander in Bezug gesetzten Fachtermini aus Kunst, Wissenschaft und Politik. Die waren mit dem Tageslichtprojektor an die Wand projiziert worden. Zeichnungen dieser Art stehen bei Neidich am Anfang jeder größeren Arbeit. Trotz ihrer auf den ersten Blick wissenschaftlichen Anmutung sind sie aber eher als künstlerische Mind Maps denn als naturwissenschaftliche Modelle zu verstehen. Fragen waren während der Performance erlaubt: Und so entstand nicht zuletzt durch den Dialog mit dem Publikum ein komplexer Abend zu den Mechanismen neuronaler Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Thematisiert wurde deren externe Steuerung durch letzlich schwer deinierbare „souveräne Mächte“ des globalisierten Neoliberalismus. Vor allem ging es aber auch um künstlerische Gegenmodelle und widerständige Strategien. 72 Erhebliche Teile unseres Bewusstseins werden absorbiert durch massenmediale Einlüsse und die durch neue Technologien vorgegebenen Wahrnehmungsmechanismen, denen wir uns kaum entziehen können: Internet, soziale Netzwerke, virtuelle Realitäten, 3D-Technologie (über-)formen und homogenisieren, so Neidich, unsere angeborenen oder durch natürliche Lernprozesse erworbenen Wahrnehmungsmuster. Die verteidigenswerte Marginalität des Individuums aber bleibt auf der Strecke. Im Verstehen gerade auch der neuronalen und biochemischen Prozesse, die dieser schleichenden Umformung des individuellen Denkens und Bewusstseins zu Grunde liegen, sieht Neidich aber auch die große Chance der Kunst, verlorene mentale Fähigkeiten zurückzuerobern – zumindest hat er diese Hoffnung noch nicht aufgegeben. Was aber bleibt, ist der Zweifel – auch bei Warren Neidich. Resistance is Futile und Resistance is Fertile – diese beiden widersprüchlichen Aussagen waren 2006 anlässlich der von Adam Budak und Christine Peters kuratierten Ausstellung Protections in Form riesiger Neonschriftzüge von Neidich auf dem Dach des Kunsthauses Graz montiert worden. Sie leuchteten abwechselnd in Rot oder Grün in den Grazer Nachthimmel hinein und konterkarierten das ansonsten von Werbe- und Dienstleistungsangeboten dominierte Feld innerstädtischer Aufmerksamkeitsökonomien mit einer zum kritischen Nachdenken stimulierenden Botschaft. Eine neuere Neonarbeit aus dem Jahre 2009 behauptet etwas scheinbar ganz Paradoxes: If It Looks Like Art It Probably Isn´t. Gute Kunst, so behauptet Neidich, sollte zumindest auf den ersten Blick nicht wie Kunst aussehen. Sonst läuft sie Gefahr, sofort als Phänomen der Massenkultur absorbiert zu werden und im allgemeinen Konsens ihr wie auch immer geartetes widerständiges Potenzial einzubüßen. Die sogenannten kreativen Industrien, Branding, Neuromarketing und nicht zuletzt auch der globale Kunstmarkt, der Kunst zu einer Prestige verheißenden Ware erklärt hat, haben zu einer weitgehenden Homogenisierung von Wahrnehmungsweisen geführt. Darüber, was „schön“ ist, herrscht heute weitgehende Einigkeit. Für Neidich aber wird Kunst erst dann interessant, wenn sie mit den gängigen Wahrnehmungsmustern eben nicht sofort als solche erkannt und „weggeordnet“ werden kann. Wenn also die Kriterien für ihre Einordnung und Bewertung im betrachtenden Subjekt erst noch entwickelt werden müssen. Seine Performance In The Minds I, die 2009 und 2010 in Brüssel, Athen und Los Angeles zu sehen war, setzte wiederum bei der Aktivierung passiver Bewusstseinsareale seines jeweiligen Gegenübers und des anwesenden Publikums an. Neidich entwi- 73 74 in the Minds, 2010 Video Stills cognitive architecture. From Bio-Politics To Noo-Politics Architecture & Mind in the Age of Communication & Information English 600 pp / 235 x 170 mm / paperback price € 39.50 ISBN 978 90 6450 725 0 to be published June 2010, forthcoming Published by 010 Publishers, Netherlands ckelte im intensiven Zwiegespräch mit jeweils einem Teilnehmer eine imaginäre Ausstellung, bestehend aus fünf Objekten in einem ebenfalls nur in der Imagination existierenden White Cube. Die Teilnehmer hatten dabei die Augen geschlossen. Durch gezielte Fragen und Anregungen brachte Neidich sie dazu, Kunstwerke zu entwickeln, ihre Dimensionen, Farben und Materialien exakt zu beschreiben. Er selbst fungierte als eine Art Katalysator, der im Gegenüber kreative Prozesse in Gang setzte. Das Resultat war tatsächlich eine Ausstellung – jedoch aus immateriellen Objekten, die lediglich in Form präziser sprachlicher Beschreibungen und kognitiver Vorstellungen existierten. Die Performance warf interessante Fragen auf: Was nimmt der Teilnehmer davon mit nach Hause? Wem gehört so ein rein imaginiertes Kunstwerk eigentlich? Wer hat das Recht, es unter Realbedingungen herzustellen? Was unterscheidet es eigentlich von einem ebenfalls in der Erinnerung existierenden, aber einst real gesehenen Objekt? Warren Neidich benutzt bei dieser Art von Performances Methoden und Gesprächstechniken, die durchaus denen vergleichbar sind, die auch in der neurologischen, augenmedizinischen oder psychotherapeutischen Praxis angewandt werden. Dieser Ansatz durchzieht sein Werk von Anfang an. So zeigte Neidich bereits in der 1997 entstandenen Videoarbeit Brainwash einen jungen männlichen Protagonisten, der mit einer sogenannten Nystagmus- oder Streifentrommel hantiert. Das ist ein augenärztliches Instrument, das Hinweise auf verschiedene Erkrankungen wie Schlaganfälle oder Hirntumore liefert. Was Neidich hier aber besonders interessiert, ist die formale Ähnlichkeit der Trommel mit optischen Apparaten aus der Vorgeschichte des Kinos. „Ähnlich wie Jean-Luc Godard“, betonte Warren Neidich im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist das partizipatorische Element als eines der Hauptanliegen seiner künstlerischen Strategie, „benutze ich verschiedene Instrumentarien. Ich interessiere mich dafür, wie Bilder produziert werden. Ich versuche, ihre Herstellung transparent zu machen. Ich bin nicht daran interessiert, den Betrachter vom Herstellungsprozess des Bildes auszuschließen. Vielmehr möchte ich ihn oder sie dazu bringen, sich als Teil dieses Prozesses zu begreifen.“ 75 76 resistance is Futile, 2010 Foto: Mira Mixner resistance is Fertile, 2010 Foto: Mira Mixner if it looks like art it probably isnt if you can, 2008 77