punktum.
SBAP.
Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie
Association Professionnelle Suisse de Psychologie Appliquée
Associazione Professionale Svizzera della Psicologia Applicata
Dezember 2009
Forensik
Zwischen Medizin, Psychologie und Justiz
Der Fall Daniel H.
Begutachtung und Nullfehlerprinzip
Endstation Verwahrung?
«Therapiert wird der Mensch, nicht sein Delikt»
2
Editorial
Wegsperren! Und dann?
Liebe Leserin, lieber Leser
Am 8. Februar 2004 stimmte das
Schweizervolk der Verwahrungsinitiative zu. Sie sah vor, nicht therapierbare
extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter lebenslang zu verwahren. Die Gegner hatten mit schlagkräftigen Argumenten aufgewartet,
etwa dass die Initiative nicht mit
den Menschenrechten vereinbar sei.
Trotzdem liess sich die Mehrheit der
Stimmbürger von der Gefährlichkeitshypothese der Befürworter leiten. Die
Emotionalität und die Betroffenheit
durch die Thematik waren im Vorfeld
der Abstimmung deutlich zu spüren.
Ähnliche Diskussionen erfolgen zurzeit über die zunehmende Gewaltbereitschaft Jugendlicher. Dabei werden
Stimmen laut, dass das Jungendstrafrecht zu lasch sei und die Behandlungsinstitutionen lediglich Kuscheltherapien anzubieten hätten.
Der Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch geht in seinem Beitrag auf diese Diskrepanz ein. Er stellt die Frage,
wozu es ein Strafrecht brauche, und
meint dazu, dass das schweizerische
Strafrecht als modernes Strafrecht
vom Grundsatz der Resozialisierung
beseelt sei. Ueli Graf, Direktor der
Strafanstalt Pöschwies, ist der Ansicht,
dass das Risiko einzig den verwahrten
Straftätern angelastet werde.
Resozialisierung hat zum Ziel, Straftäter wieder Teil der Gesellschaft werden zu lassen. Dass dies durchaus gut
gelingen kann, beschreibt die leitende
Ärztin des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Zürcher Justizvollzugs, Carole Kherfouche, anhand eines eindrücklichen Fallbeispiels. Dem
schwerkranken Mann gelang es mit
Hilfe der Therapie, wieder in ein befriedigendes Leben zu finden. Edith
Burri ist Psychotherapeutin und arbeitet in der Forensischen Klink des Psychiatriezentrums Rheinau ZH (PZR).
In ihrem Artikel befasst sie sich eindrücklich mit ihrer Tätigkeit mit psychisch kranken Straftätern. Sie schildert das Erleben psychotischer Menschen, indem sie uns Leser fragt, wie
es uns wohl ginge, angenommen, wir
erwachten aus einem Albtraum, in
dem wir verfolgt worden wären, und
stellten fest, dass wir unseren Verfolger tatsächlich umgebracht hätten.
Mit Abgrenzungsfragen zwischen
seelsorgerischer Tätigkeit und Psychotherapie setzt sich Samuel Buser, Pfarrer in verschiedenen Strafanstalten,
auseinander.
Die Überprüfung der Therapierbarkeit
und der Rückfallgefahr delegiert die
Gesellschaft an Gutachter, die bei
«Versagen» der Prognose sehr schnell
desavouiert und der Inkompetenz bezichtigt werden. Die Schwierigkeiten
der Prognostik und die Verantwortung eines psychiatrischen Gutachters
beschreibt Otto Horber, Chefarzt der
Forensischen Klinik am PZR, in seinem
Artikel. Er schreibt vom Versuch, den
betroffenen Straftäter möglichst objektiv zu erfassen, und zwar im Spannungsfeld zwischen ärztlich-medizinischen Grundsätzen und variablen gesellschaftspolitischen Vorstellungen.
Über die Erwartungen der juristischen
Seite an Gutachter zieht der Staatsanwalt Markus Oertle in seinem Beitrag
das Fazit: «Gutachter werden wegen
ihres besonderen Fachwissens, das
dem Gericht und auch der Untersuchungsbehörde fehlt, beigezogen.»
Nicht erstaunlich ist die zunehmende
Professionalisierung der forensischen
Psychiatrie. Von Gutachtern und Behandlern wird auch von fachlichen
Kreisen immer mehr Fachwissen gefordert, das von verschiedenen Institutionen überprüft wird.
Die forensische Psychiatrie ist ein Spezialgebiet mit Wachstumspotenzial.
Die Schweizerische Gesellschaft für
Forensische Psychiatrie (SGFP), gegründet 2006, erteilt seit zwei Jahren
Fachärzten ein Zertifikat in forensischer Psychiatrie. Dieses bezeugt das
wissenschaftliche Fachwissen und die
praktische Fachkompetenz der Inhaber und dient somit der Qualitätssicherung. Damit kommt die SGFP
dem berechtigten Bedürfnis der Gesellschaft nach zunehmender Professionalisierung entgegen. Ein Pendant
für Psychologieberufe gibt es zurzeit
noch nicht. Der SBAP. zieht jedoch die
Schaffung eines Fachtitels in forensischer Psychologie in Erwägung.
Im Psychiatriezentrum Rheinau wurde
in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Bern ein Studiengang in Forensischer Pflege auf Stufe Certificate of
Advanced Studies (CAS) erarbeitet.
Ian Needham und Fritz Frauenfelder
beschreiben in ihrem Artikel diesen
CAS-Studiengang. Sie erklären, dass
das Pflegepersonal oft Projektionsfläche für Unsicherheiten, Ängste und
Frustrationen der Patienten sei.
Natürlich ist es erschütternd zu lesen,
dass ein Gefängnisinsasse während
seines Hafturlaubs scheinbar grundlos
einen Taxifahrer umbringt oder ein
Streit um einen Parkplatz mit dem Tod
eines der Kontrahenten endet. Daher
sind auch das Bedürfnis und die Ängste, die der Verwahrungsinitiative zugrunde lagen, durchaus zu verstehen.
Am Ende bleibt jedoch die Frage offen, wie viel Verantwortung die Gesellschaft selbst für eine Risikominimierung zu übernehmen hat und wie
viel dieser Verantwortung an Fachleute delegiert werden kann.
Heinz Marty
Heinz Marty ist Fachpsychologe
SBAP. in Klinischer Psychologie und
Psychotherapie. Er arbeitet als Leitender Psychologe in der Forensischen
Klinik des Psychiatriezentrums Rheinau und als Psychotherapeut in eigener
Praxis.
Für die Lesetreue im vergangenen Jahr bedanken wir uns bei unseren Mitgliedern und LeserInnen ganz herzlich und wünschen frohe Weihnachten
und ein zufriedenes neues Jahr!
Vorstand SBAP.:
Heidi Aeschlimann, Präsidentin
Uwe Lehmann, Kl. Psychologie
Peter Gugger, Laufbahn- und
Rehabilitationspsychologie
Ernst Schieler, Ki/Ju-Psychologie
SBAP. Geschäftsstelle:
Stefan Schild, A+O-Psychologie
Heloisa Martino, Manuela Lisibach
2010
Thema
Strafrecht – wozu?
Der Fall Daniel H.
Am 4. März 2009 soll Daniel H. das
16-jährige Au-pair Lucie aus Freiburg
ohne Grund und auf brutale Art umgebracht haben. Auf solch schreckliche Taten antwortet die Gesellschaft
mit dem Strafrecht. Dieses wird in
jüngster Zeit als zu lasch kritisiert,
weshalb sich die Frage stellt, was das
aktuelle Strafrecht bringt.
Wenn Daniel H. – es gilt bis zu einer
Verurteilung die Unschuldsvermutung
– die Tat verübt hat, dann hat er gegen das vom Strafrecht geschützte
Rechtsgut des Lebens einer anderen
Person verstossen. Das Strafrecht
qualifiziert eine solche Tat als Tötungsdelikt und bestraft sie mit einer langjährigen Freiheitsstrafe; im
schlimmsten Fall, wenn die Tat als
Mord qualifiziert wird, maximal mit lebenslänglichem Freiheitsentzug. Da
der mutmassliche Täter, der im Jahr
2003 zum ersten Mal ein Gewaltdelikt
verübt hat, seit Jahren in therapeutischer Behandlung ist, wird sich die
Frage der Zurechnungsfähigkeit stellen. Je nach Ergebnis kann der Täter
milder oder, bei voller Zurechnungsunfähigkeit, gar nicht bestraft werden. Indes greift ergänzend zur Strafe
oder an deren Stelle das Massnahmenrecht. Der Täter kann stationär
und zeitlich unbegrenzt in eine entsprechende Institution eingewiesen
werden. Im Fall hoher Rückfallgefahr
kann der Täter unabhängig von seinem psychischen Zustand zeitlich unbeschränkt verwahrt werden.
Was bringt Strafrecht?
Das Strafrecht, als härteste Reaktion
der Gesellschaft gegenüber einem
Rechtsgüterverstoss, hat verschiedene Funktionen. Zunächst hat die Strafe ganz profan ausgleichenden Charakter: Wer gegen die Rechtsgüter anderer verstossen hat, soll bestraft werden, damit die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist. Das Strafrecht soll ausserdem gefährliche Täter isolieren und
sie dadurch mindestens während der
Dauer des Freiheitsentzugs davon abhalten, straffällig zu werden. Das
Strafrecht respektive der Strafvollzug
soll zudem auf den Täter positiv einwirken, dies mit dem Ziel, dass der Tä-
ter zukünftig nicht mehr gegen das
Recht verstösst. Die Strafe soll daneben auch eine Wirkung auf die Gesellschaft zeitigen. Einerseits soll sie potenzielle Straftäter davon abhalten,
ebenfalls straffällig zu werden, andererseits soll sie die Gesellschaft darin
bestärken, die Gesetze einzuhalten,
indem das Strafrecht demonstriert,
dass Verstösse Konsequenzen haben.
So weit die Theorie; die Praxis sieht
zuweilen anders aus. Das Strafrecht
vermag die dargestellten Ziele nur teilweise zu erreichen. Sei es, dass verurteilte Täter sich nicht resozialisieren
lassen und nach einer Entlassung
rückfällig werden. Sei es, dass das
Strafrecht seine generalpräventive
Wirkung auf die Gesellschaft nicht immer voll entfalten kann. Hierbei zeigt
sich der Interessenkonflikt, in dem sich
das moderne Strafrecht bewegt.
Zweite Chance …
Das schweizerische Strafrecht wird als
modernes Strafrecht vom Grundsatz
der Resozialisierung beseelt. Das bedeutet, dass sowohl die Strafen als
auch die Massnahmen darauf ausgerichtet sind, den Täter auf den sogenannten «rechten Weg» zurückzubringen. Das gilt zunächst für die endlichen Strafen, im Besonderen aber
auch für die Massnahmen. Selbst eine
lebenslängliche Freiheitsstrafe wird
nach 15 Jahren überprüft, und eine
Entlassung ist möglich, wenn bezüglich des Täters eine günstige Prognose vorliegt. Selbst verwahrte Täter erhalten regelmässig die Chance einer
Überprüfung; dies gilt in eingeschränkter Form sogar für die lebenslängliche Verwahrung.
Ob dies gelungen ist, lässt sich letztlich nicht mit Sicherheit feststellen. Forensische Psychiater sind zwar in der
Lage, Gefährlichkeits- und Rückfallprognosen zu stellen, es handelt sich
dabei indes immer nur um Prognosen,
denen es an der absoluten Sicherheit
fehlt. Das bringt zwangsläufig mit
sich, dass ein Täter nicht mit der absoluten Sicherheit entlassen werden
kann, dass er nicht rückfällig wird.
Vielmehr besteht bezüglich seiner zukünftigen Gefährlichkeit nur eine
mehr oder weniger günstige Progno-
Daniel Jositsch, Prof. Dr. iur., geboren 1965, ist seit 2004 Professor
für Strafrecht und Strafprozessrecht
sowie strafrechtliche Hilfswissenschaften an der Universität Zürich.
Zuvor war er selbständiger Rechtsanwalt mit ausschliesslicher Tätigkeit im Bereich des Strafrechts. Seit
2007 ist er für die SP Mitglied des
Nationalrats.
se. Es ist, zynisch gesagt, mithin eine
reine Frage der Wahrscheinlichkeit, ob
ein entlassener Straftäter erneut delinquiert oder nicht.
Im Fall von Daniel H. wurde die Gefährlichkeit des Täters bereits im Jahr
2003 erkannt. Der damals 19-Jährige
lockte eine Arbeitskollegin in eine
Waldhütte und fiel mit einem Schlagring über sie her und versuchte, sie zu
erdrosseln. Nur durch Glück überlebte die Frau die Tat. Spätestens von diesem Moment an war den Behörden
bekannt, dass es sich bei Daniel H. um
einen hochgefährlichen Gewalt- und
Sexualstraftäter handelte. Das Gericht
entschied entsprechend, dass Daniel
H. in eine Massnahmeanstalt eingewiesen werden soll. Daniel H. wurde
nach vier Jahren aus der Massnahme
entlassen. In diesem Moment wurde
entsprechend der Beurteilung des Täters die Entscheidung gefällt, dass eine
Entlassung zu verantworten sei. In
diesem Fall erwies sich die Prognose
der Fachleute als unzutreffend – ein
Umstand mit fatalen Folgen.
3
4
Thema
Strafrecht – wozu?
… versus totale Sicherheit
Rückfalltaten liessen sich fast vollständig verhindern, wenn verurteilte Gewalt- und Sexualstraftäter erst entlassen würden, wenn vollständige Sicherheit besteht, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Da diese hundertprozentige Prognose grundsätzlich nie
gestellt werden kann, würden gefährliche Täter grundsätzlich nie eine
zweite Chance erhalten. Daniel H.
wäre entsprechend nach der Ersttat im
Jahr 2003 in eine Anstalt verbracht
und nicht wieder entlassen worden.
Dieses Konzept hätte einerseits zur
Folge, dass einmal verurteilte Gewaltund Sexualstraftäter keine Gefahr
mehr für die Gesellschaft darstellen
würden, was freilich durchaus positiv
wäre. Daniel H. hätte die zweite Tat
entsprechend nicht verüben können,
und das Opfer Lucie wäre noch am
Leben. Gleichzeitig wäre die Konsequenz aber, dass einmal Verurteilte im
Strafvollzug verbleiben würden, obwohl von ihnen keine Gefahr mehr
ausgeht.
Heikler Balanceakt
Letztlich gibt es in einer modernen
Gesellschaft weder ein unbegrenztes
Recht auf die nächste Chance, noch
gibt es die totale Sicherheit. Es geht
entsprechend darum, die Balance zwischen beiden (berechtigten) Ansprüchen zu finden. Wie lässt sich dies
erreichen? Hierbei geht es um den
Anspruch, dass das Recht nach einer
verübten Straftat Gerechtigkeit herstellen soll. Das ist der Anspruch, den
die Gesellschaft an das Recht hat. Das
bedeutet, dass das Recht sowohl gegenüber dem verurteilten Täter als
auch gegenüber den Opfern (den aktuellen und den potenziellen) als auch
gegenüber der Gesellschaft gerecht
ist. Bis zur ersten Tat respektive bis zur
ersten Verurteilung gehen die Interessen des (zukünftigen) Täters den Sicherheitsansprüchen der Gesellschaft
vor.
Wenn in einem Fall wie demjenigen
von Daniel H. bereits vor der ersten
Tat Anzeichen erkennbar sind, dass
ein erhebliches Gewalt- und Gefährdungspotenzial besteht, können
höchstens zivilrechtliche Massnahmen
ergriffen werden; strafrechtliche Folgen sind dagegen nicht möglich. Dies
ist unbestritten und wird von der Öffentlichkeit weitestgehend anerkannt.
Wird der Täter verurteilt, wird die
günstige Prognose des Nichtvorbestraften abgelöst von einer neuen individuellen Beurteilung des Täters, bei
der es um die Einschätzung der Tätergefährlichkeit geht. Von diesem Moment an besteht seitens der Gesellschaft teilweise wenig Verständnis,
wenn es zu Rückfalltaten kommt.
Es besteht zwar nach wie vor die Einsicht, dass der Resozialisierungsgedanke des Strafrechts gewisse Risiken
mit sich bringt, die Gesellschaft ist
aber nur sehr bedingt bereit, diese zu
tragen. Verurteilte Täter sollen mithin
entlassen werden können, aber eben
nur, wenn die Rückfallwahrscheinlichkeit gänzlich ausgeschlossen werden
kann. Vom psychiatrischen Fachpersonal wird mithin Unmögliches verlangt. Dass so die Erwartungen der
Öffentlichkeit regelmässig enttäuscht
werden, ist die zwingende Folge. Dies
wiederum führt dazu, dass der Druck
auf den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden steigt und die Forderungen nach härteren Strafen und
konsequenterem Strafvollzug immer
drängender werden. Dass in dieser Situation die Politik reagiert und die Bedenken der Bevölkerung aufnimmt, ist
ebenfalls folgerichtig. Entsprechend
hat der Nationalrat am 3. Juni 2009 im
Rahmen einer grossen Strafrechtsdebatte zahlreiche parlamentarische
Vorstösse überwiesen, die eine Verschärfung des Strafrechts vorsehen.
Die Balance zwischen Resozialisierung
und Sicherheitsbedürfnis geht so allmählich verloren. Doch was ist zu tun?
Neue Balance
Es ist aus Sicht der Opfer und der Gesellschaft verständlich und richtig,
dass von der Justiz erwartet wird, dass
sie in angemessener Weise Schutz vor
identifizierten Gewalt- und Sexualstraftätern gewährt. Hundertprozentige Sicherheit kann dabei weder erwartet werden, noch ist sie zu erreichen. Die Risiken aber müssen entlang der Parabel zwischen Ausmass
der erwarteten Verletzung und Rück-
fallwahrscheinlichkeit verteilt werden.
Je grösser das Ausmass der erwarteten
Verletzung ist, umso grösser muss die
Wahrscheinlichkeit sein, dass der Täter nicht rückfällig wird, damit eine
Entlassung aus dem Sanktionenvollzug ins Auge gefasst werden kann.
Umgekehrt kann bei einer relativ geringfügigen befürchteten Rechtsgüterverletzung ein relativ hohes Rückfallrisiko in Kauf genommen werden.
Bei einem Täter wie Daniel H., der im
Jahr 2003 sein Opfer fast umgebracht
und damit eine hohe Gefährlichkeit
manifestiert hat, kann eine Entlassung
erst erwogen werden, wenn ein ausserordentlich günstiger Verlauf vorliegt, der sich im Lauf der langfristigen
Entwicklung des Täters konsolidiert
hat.
Damit diesem Anspruch entsprochen
werden kann, müssen entsprechende
Prognosen gemacht werden, und
zwar in qualitativ ausreichendem
Mass. Das bedeutet, dass sämtliche
Gewalt- und Sexualstraftäter obligatorisch auf ihre Gefährlichkeit hin beurteilt werden müssen, und dies von
geübtem Personal. Die entsprechenden Informationen, die im Strafvollzug gesammelt werden, müssen zusammenfliessen und an einem runden
Tisch regelmässig beurteilt werden.
Für einen Täter sollte eine einzige Person hauptverantwortlich sein, bei der
die entsprechenden Berichte zusammenfliessen.
Freilich besteht die Möglichkeit, das
Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Sicherheit als übertrieben abzutun. Die
Gesellschaft indes reagiert, wenn ihre
Bedürfnisse nicht ernst genommen
werden. Verschiedene Volksinitiativen
in diesem Bereich – Verwahrungsinitiative, Verjährungsinitiative – bringen
die diesbezügliche Befindlichkeit der
Bevölkerung zum Ausdruck. Entsprechend empfiehlt es sich, auf die diesbezüglichen Bedürfnisse einzugehen,
und zwar bevor in der aufgeheizten
Stimmung eines aktuellen Falls populistische PolitikerInnen diejenige Strafe wieder einführen wollen, bei der es
definitiv keine zweite Chance gibt.
Daniel Jositsch
Fachwissen
Forensisch psychiatrische Pflege und Betreuung
Ein Studiengang entsteht
Bisher fehlt eine Weiterbildung in forensisch psychiatrischer Pflege und
Betreuung. Ein neuer Studiengang auf
Stufe Certificate of Advanced Studies
(CAS) wird diese Lücke ab 2010
schliessen. Er ist eine Kooperation
von Berner Fachhochschule und der
Klinik für Forensische Psychiatrie
Rheinau und richtet sich an in der forensischen Psychiatrie tätige Pflegefachleute sowie Fachpersonen in vergleichbaren Vollzugseinrichtungen
wie etwa SozialpädagogInnen oder
FachtherapeutInnen.
Der zweite Advent ist schon vorüber,
und selbst auf der forensischen Station stellt sich allmählich eine leichte
vorweihnächtliche Stimmung unter
den PatientInnen ein. An der Stationsversammlung diskutieren PatientInnen und Pflegende, wie man wohl der
hochfunktionalen und auf Sicherheit
ausgerichteten Station einen Hauch
von Weihnachten verpassen könnte.
Ein Patient wünscht sich Kerzen, was
wegen der Brandgefahr ausgeschlagen wird. «Ein Festessen zusammen
kochen», schlägt ein anderer Patient
vor. Dies müsse, so die Stationsleiterin, sorgfältig abgeklärt werden, nur
schon wegen der vielen scharfen Gegenstände in der Küche. Ein nachdenklicher Patient berichtet betroffen,
dass er mit Weihnachten nichts mehr
am Hut habe, denn Weihnachten bedeutet seit seiner schweren Straftat
die Verlassenheit pur und eine Zeit des
Trauerns. «Ich feiere Weihnachten am
6. Januar für mich alleine», meldet ein
Patient gelassen. Ein anderer macht,
offenbar verärgert durch die vielen
Wenn und Aber, geltend, «dass man
schönere Weihnachten im Knast verbringen kann als hier in der Forensik,
wo doch das Pflegepersonal einem
das Leben schwer machen will».
Vielfältiges Aufgabengebiet
Die Aussagen der PatientInnen in der
Stationsversammlung lassen vermuten, welche Anforderungen forensische Arbeit an Pflegefachleute stellt.
Eine wichtige Aufgabe forensisch psychiatrisch Pflegender ist die Begleitung und Betreuung der PatientInnen
im Alltagsleben auf der Station.
Das Fallbeispiel zeigt ferner, wie
schwierig es sein kann, Geselligkeit
und Sicherheit in Einklang zu bringen.
Nicht selten verspüren forensische Patienten Gefühle der Verlassenheit und
Trauer oder ringen mit Fragen von
Schuld und Sühne. Solche durchaus
verständliche und im Grunde gesunde Regungen melden sich häufig
abends, jenseits der Therapiesprechstunde, und werden dann gegenüber
Pflegenden geäussert. Manchmal
dient das Pflegepersonal auch als Projektionsfläche für Unsicherheiten,
Ängsten und Frustration.
Psychisch krank zu sein und gleichzeitig Verantwortung für eine Straftat zu
tragen, ist ein schweres Los, das forensische PatientInnen bisweilen dazu
verleiten kann, sich der realen Welt zu
entziehen und sich in die Welt der
Krankheit und der Schutzmechanismen zu flüchten. Erschwerend kommt
hinzu, dass gerade therapeutische Interventionen, die solchen Tendenzen
entgegenwirken sollen, oft zu ausgeprägten Verunsicherungen führen
können. Zur Hauptaufgabe forensischer Pflegender gehört deshalb die
Begleitung und Betreuung der PatientInnen in deren alltäglicher Lebensbewältigung. Die Rollen der Pflegenden
auf den Stationen sind vielfältig. So
nehmen sie die Rolle des Gegenübers
ein, an dem erste Erfahrungen beim
Einüben neuer Verhaltensweisen erprobt werden können.
Die Pflege und Betreuung forensischer
PatientInnen ist also geprägt von verschiedenen Spannungsfeldern: zwischen den Anforderungen der Behandlung einerseits und jenen der Justiz andererseits, zwischen Care und
Custody, in der reflektierten Unterscheidung zwischen gesunden und
krankhaften Anteilen der PatientInnen.
Genau hier setzt der CAS-Studiengang an und ist bestrebt, die Teilnehmenden zu befähigen, komplexe Situationen in der forensischen Betreuung zu analysieren, situationsgerechte Interventionen zu planen und
durchzuführen. Grundlage dazu sind
eine vertiefte Auseinandersetzung mit
Inhalten aus Pflege, Kriminologie,
Psychologie und Psychopathologie
Ian Needham, PhD, MNSc, ist Psychiatriepflegefachmann und Pflegewissenschafter. Sein Hauptstudium schloss er 1999 ab und promovierte 2004 an der Universität
Maastricht in Holland. Seit 2008 arbeitet er als Pflegeexperte in der
Abteilung für Bildung, Beratung
und Entwicklung am Psychiatriezentrum Rheinau. Er ist Co-Leiter
des CAS-Studiengangs.
und die Aneignung entsprechender
Kompetenzen.
Aufbau und Inhalt des Studiengangs
Der Studiengang setzt sich zusammen
aus 210 Stunden angeleitetem Selbststudium (Lektüre, Praxisaufgaben,
schriftliche Aufgaben) sowie 210
Stunden Kontaktstudium, verteilt auf
25 Kurstage. Im Kontaktstudium erfolgen Rückfragen zum Stoff, und es
finden Vertiefung, Synthese und
Nachbearbeitung statt. Der Studiengang schliesst mit einer schriftlichen
Arbeit ab. Erfolgreiche AbsolventInnen erhalten das Certificate of Advanced Studies der Berner Fachhochschule in forensisch psychiatrischer Pflege
und Betreuung im Umfang von 15
ECTS-Punkten. Die Inhalte des Studiengangs, die in Hearings mit Fachleuten der forensischen Pflege und
Betreuung erarbeitet wurden, sind in
der Tabelle zusammengefasst (siehe
nächste Seite).
5
Fachwissen
Forensisch psychiatrische Pflege und Betreuung
Themen des Studienganges mit entsprechenden Kompetenzen
Alltag vorhandenen zwischenmenschlichen Nähe entstehen Fragen nach
dem Verständnis: Müssen professionelle BetreuerInnen PatientInnen verstehen? Was heisst überhaupt Verstehen? Was erschwert mir, forensische
PatientInnen zu verstehen? Welche
Grenzen des Verstehens gibt es für
mich? Wie unterscheidet sich mein
Umgang mit PatientInnen, die ich verstehe, und solchen, die ich nicht verstehe? Die Beantwortung solcher Fragen soll den Teilnehmenden dazu
verhelfen, ihr eigenes Verständnis von
Verstehen zu entwickeln.
Dass der Studiengang die PatientInnen nicht von ihren Spannungen,
Widrigkeiten und Kämpfen um Normalität und Reintegration befreien
kann, versteht sich von selbst. Doch
die im CAS erworbenen Kompetenzen
sollen Pflegende und Betreuende befähigen, PatientInnen fundiert beizustehen, sie zu begleiten und betreuen.
Und dies selbstverständlich nicht nur
zur Weihnachtszeit.
Ian Needham und Fritz Frauenfelder
Weitere Infos zum Studiengang:
www.gesundheit.bfh.ch
Thema
Zu erwerbende Kompetenzen
Milieugestaltung
• Die Milieus auf Stationen/Gruppen/Einheiten sinnvoll und gesundheitsfördernd gestalten.
Rechtliche Grundlagen
• Häufig vorkommende juristische Grundlagen verstehen, mögliche Spielräume erkennen und im Betreuungsalltag nutzen.
Psychologie,
Psychopathologie,
Therapieformen
• In der forensischen Psychiatrie häufig vorkommende psychische Störungen erkennen und beschreiben, ebenso die Indikationen und den Nutzen entsprechender Therapieformen.
• Psychologische Theorien in der forensischen Arbeit zum Erklären von Verhaltensweisen betroffener
Patienten nutzen.
Berechenbarkeit/
Unberechenbarkeit
• Allgemeine Prinzipien der Vorhersage verstehen und einzelne Instrumente zur Einschätzung von Aggression/Gewalt und Sexualdelikten verstehen beziehungsweise anwenden.
• Möglichkeiten und Grenzen wie auch ethische Aspekte der Gewährleistung von Sicherheit diskutieren und in den Arbeitsalltag integrieren.
Ausgewählte Konzepte
• In Absprache mit den StudienteilnehmerInnen werden wichtige pflegerische Konzepte (etwa Schuld
und Sühne, Privatheit, Zeiterleben forensischer PatientInnen, Vertrauen und Misstrauen) für den
praktischen Einsatz erarbeitet.
Wissenschaftliches
Arbeiten
• Erarbeitung der Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens (Recherchieren, Textbeschaffung, wissenschaftliches Schreiben) als Vorbereitung auf die Abschlussarbeit.
Angehörige, Familie,
Umfeld
• Belastete Familiensysteme erkennen und allen beteiligten Personen eine angemessene systemische
Unterstützung anbieten.
• Prinzipien und Praxis der Angehörigenarbeit.
Interkulturelle Pflege
und Betreuung
• Strategien entwickeln, um mit kulturellen Unterschieden sinnvoll umgehen zu können.
V E R S T E H E N
Fritz Frauenfelder, MNSc, ist Pflegeexperte und Pflegewissenschafter. Sein Hauptstudium schloss er
2005 ebenfalls in Maastricht ab. Er
arbeitet seit 2004 in der Abteilung
für Bildung, Beratung und Entwicklung am Psychiatriezentrum Rheinau.
Parallel zu den acht Sequenzen des
Studienganges werden während je
acht Halbtagen des Kontaktunterrichts die zwei «Längsschnittthemen»
Intervision und Verstehen angeboten:
Intervision: Kollegiale Unterstützung
in Form von Intervision ist eine der
günstigsten und am schnellsten verfügbaren Beratungsformen im Beruf.
Die Vermittlung verschiedener Formen der Gruppenmoderation ermöglichen den Studierenden eine vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Situation und den
entsprechenden Rollen. Dies soll zur
Sicherstellung und Steigerung der
Professionalität beitragen, aber auch
der eigenen Psychohygiene der in der
forensischen psychiatrischen Pflege
und Betreuung tätigen Personen dienen.
Verstehen: In der forensischen psychiatrischen Pflege begegnen wir PatientInnen, deren Taten weder nachvollziehbar noch verständlich sind. Trotzdem entstehen im Verlaufe einer
Massnahme Beziehungen und Verbindungen zu den Tätern. Im Spannungsfeld zwischen dem Unverständnis gegenüber den Tätern und der im
I N T E R V I S I O N
6
Fachwissen
Psychisch kranke Menschen in Haft
Als Ärztin Teil der Justiz
Die Mitarbeitenden des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes
(PPD) der Justizdirektion des Kantons
Zürich betreuen jährlich ungefähr
1300 KlientInnen mit psychischen
Problemen. Das psychiatrische Team,
zwei Ärztinnen und fünf Ärzte, ist für
die Betreuung in allen kantonalen
Gefängnissen verantwortlich. – Ein
Bericht aus dem Strafvollzug.
Die meisten Menschen, die erst seit
kurzem verhaftet sind, befinden sich
in einer Ausnahmesituation. Meist
sind sie zutiefst verunsichert und orientierungslos. Oft befinden sie sich in
einer akuten psychischen Krise. Mit
unserer Tätigkeit in der psychiatrischen Versorgung versuchen wir, diesen Menschen Orientierung und Kontrolle zurückzugeben. Dies gelingt
nicht immer. Ich möchte deshalb einen
Klienten, den ich zusammen mit einem Kollegen in Untersuchungshaft
begleitet habe, zu Wort kommen lassen. Der Patient machte damals eine
psychotische Phase durch, litt also wie
alle psychisch kranken Menschen besonders stark unter Inhaftierung und
Kontrollverlust. Heute kann er kritisch
auf die Zeit seiner Haft zurückblicken:
«Meine persönlichen Erfahrungen mit
der psychiatrischen Versorgung im
Justizvollzug habe ich während einer
halbjährigen Untersuchungshaft im
Kanton Zürich gemacht. Ich wurde
verhaftet und inhaftiert, weil ich ein
Delikt im Zustand einer akut floriden
paranoiden Schizophrenie im Verwandtenkreis beging. Meine Erlebnisse der psychiatrischen Versorgung
während der Verhaftung, der anschliessenden Polizeihaft sowie anfänglich während der Untersuchungshaft waren völlig von meinen Wahnvorstellungen geprägt.
Die erste Begegnung mit einer psychiatrischen Fachperson hatte ich noch
am Abend meiner Verhaftung, als ich
auf dem Polizeiposten einem Notarzt
zugeführt wurde. Da ich früher bereits einmal einen fürsorgerischen
Freiheitsentzug (FFE) wegen Selbstgefährdung, der in einer dreimonatigen Hospitalisisierung mündete, erlebt hatte, wollte ich eine erneute
Hospitalisierung vermeiden. Ich
nahm fälschlicherweise an, dass eine
Inhaftierung wohl lediglich eine Frage von Tagen oder Wochen sei und
ich zudem nicht – wie bei meinem
ersten Aufenthalt in der Psychiatrie –
stark medikamentös behandelt würde.
Also landete ich in Polizeihaft, wo ich
nach einem Tag nochmals einem Notfallpsychiater zugeführt wurde. Die
Polizeihaft – auch wenn Sie nur kurz
dauert – im Rahmen einer akuten
Schizophrenie zu erleben, ist in der
Tat nichts Angenehmes. So fand das
Gespräch mit dem Psychiater denn
auch umringt von drei Polizisten statt.
Er bejahte meine Hafterstehungsfähigkeit.
Ich kam in Untersuchungshaft, bis das
psychiatrische Gutachten fertig gestellt war. Dessen Erstellung sollte
schliesslich ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Während der Untersuchungshaft wurde ich vom PPD
psychiatrisch betreut. Daneben hatte
ich noch Sitzungen mit dem psychiatrischen Gutachter.
Anfänglich war die Betreuung durch
den PPD relativ intensiv (das heisst, es
kam zu fünf kurzen Gesprächen im
ersten Monat der Inhaftierung), danach erschöpfte er sich – weil ich die
Möglichkeit einer häufigeren psychiatrischen Konsultation nicht ausdrücklich wünschte – auf ein Gespräch von 15 Minuten ungefähr alle
drei Wochen.»
Als Grundversorger versuchen wir, alles daranzusetzen, unsere Klienten
möglichst rasch psychisch zu stabilisieren. Wir wollen ihnen ein Krankheitskonzept vermitteln und ihnen mögliche Vorgehensweisen – zum Beispiel
eine psychopharmakologische Therapie – aufzeigen. Auf diese Weise sollen sie möglichst bald wieder ein Gefühl von Kontrolle über die eigene
Befindlichkeit gewinnen.
Im Fall meines Klienten ist es gelungen, ihn von der Notwendigkeit einer
geeigneten medikamentösen Behandlung zu überzeugen. Zunächst
war es uns auch möglich, eine tragfähige therapeutische Beziehung zu ihm
herzustellen, obwohl der Patient nach
wie vor wahnhaft und vorsichtig war.
Im Verlauf der Betreuung kam es zu
Carole Kherfouche, Dr. med., ist
stellvertretende Chefärztin des Psychologisch-Psychiatrischen Dienstes (PPD) der Justizdirektion des
Kantons Zürich. Sie ist Fachärztin
für Psychiatrie und Psychotherapie
sowie Studiengangleiterin Gutachten/Prognostik im Masterlehrgang
Forensic Science an der Universität
Zürich.
einem Missverständnis, das den
Klienten sehr verunsicherte und misstrauisch machte. Da der Patient offensichtlich noch immer psychotisch
war, ergaben lange Kontakte wenig
Sinn. Zu gross ist in diesem Zustand
die Gefahr, dass ein Patient jegliche
Informationen – auch jene während
eines Arzt-Patienten-Gesprächs –
wahnhaft verarbeitet und dadurch
auch eine Zusammenarbeit zu einem
späteren Zeitpunkt belastet wird. Wir
versuchen in solchen Situationen daher primär, dem Klienten zu vermitteln, dass wir jederzeit für ihn da sind.
Zudem arbeiten wir eng mit den Betreuenden und den Pflegepersonen
vor Ort zusammen, die von den Klienten häufig als weniger bedrohlich erlebt werden.
«Ich muss zugeben, schlussendlich
hatte ich Glück: Die Inhaftierung und
eine drohende stationäre Massnahme
lösten in mir einen Reflexionsprozess
aus. Ich begann, meine Wahnvorstellungen minutiös und in ihrer chronologischen Entstehung schriftlich fest-
7
8
Fachwissen
Psychisch kranke Menschen in Haft
zuhalten. Dies führte schliesslich
dazu, dass nach etwa drei Monaten
Untersuchungshaft erste Anzeichen
einer Remission feststellbar waren.
Nun hatte es doch einen Vorteil, dass
die Erstellung des psychiatrischen
Gutachtens so lange dauerte: Der
Gutachter konnte, falls der anschliessende Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik zwecks Beobachtung
eine Stabilisierung bestätigen würde,
eine ambulante Massnahme empfehlen. Dies war glücklicherweise der
Fall, und nach einem dreimonatigen
Aufenthalt in einer geschlossenen forensischen Klinik konnte ich die ambulante Massnahme vorzeitig antreten.
Aus medizinischer Sicht ist festzuhalten, dass sich eine Remission erstaunlicherweise a) ohne massive medikamentöse Behandlung («bloss» 15 mg
Zyprexa täglich), b) ohne intensive
psychiatrisch-therapeutische Begleitung, c) durch äusseren Zwang, nämlich die drohende stationäre Massnahme, einstellte.»
Wir versuchen stets, unseren Patienten möglichst viel Selbstverantwortung zu übergeben und führen innerhalb des Justizvollzugs auch keine
Zwangsmedikationen durch. Wir weisen unsere Patienten nur dann in eine
akutpsychiatrische Einrichtung ein,
wenn sie trotz unserer Betreuung psychisch instabil bleiben oder gar selbstgefährdet sind. Unser ambulanter Ansatz erspart den ohnehin schon massiv verunsicherten Klienten einen
erneuten Einschnitt in ihrer Lebenssituation.
Die ambulante psychiatrische Behandlung innerhalb des Strafvollzugs
verlangt von den Mitarbeitenden des
Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes, dass sie im Einzelfall massgeschneidert vorgehen und dank ihrer
vernetzten Arbeitsweise und ihrer
Erfahrung in der Lage sind, Risiken
korrekt einzuschätzen. In den letzten
Jahren gelang es uns durch eine regelmässige Präsenz und intensive Vernetzung, die Zahl der notfallmässigen
Kriseninterventionen um zwei Drittel
zu reduzieren. Die Einweisungen in die
Akutpsychiatrie konnten wir halbieren.
«Zusammenfassend kann ich sagen,
dass sich im Setting der Untersuchungshaft die psychiatrische Arbeit
äusserst schwierig gestaltet – Vertrauen und Offenheit, wohl die Grundvoraussetzung für eine psychiatrische
Behandlung, sind kaum möglich. Sie
wären wohl nur durch eine von den
Justizorganen unabhängige Person
herzustellen. Aber deren Handlungsmöglichkeiten wären eingeschränkt,
da die Entscheidungsgewalt über die
existenziellen Lebensumstände bei
der Justiz liegt. Somit befindet sich
der Gefängnispsychiater in einem originären Konflikt: Einerseits ist er Arzt,
andererseits Teil der Justiz. Die Funktion einer unabhängigen Vertrauensund Ansprechperson hatte schlussendlich mein Anwalt. Es war mir eine
grosse Hilfe, dass er mich jede Woche
eine Stunde besuchen kam.»
Die Geschichte unseres Klienten widerspiegelt die traurige Realität, dass
Menschen mit einer Störung aus dem
schizophrenen Formenkreis in Gefängniseinrichtungen zehnfach überrepräsentiert sind: Der PPD betreut in
der psychiatrischen Grundversorgung
ungefähr 1300 KlientInnen mit psychischen Schwierigkeiten – von diesen leiden etwa 150 Menschen an einer Störung aus dem schizophrenen
Formenkreis. Der Grund für diese
Übervertretung liegt darin, dass ein
Patient mit einer wahnhaften Störung,
in der er sich akut bedroht fühlt, ein
erhöhtes Risiko in sich trägt, ein Gewaltdelikt zu begehen.
Als Vertreter des psychiatrischen
Dienstes innerhalb des Justizvollzugs
erachten wir es als ganz zentral, unseren Patienten eine möglichst optimale psychiatrische Versorgung nach allgemein anerkannten Qualitätsstandards zu bieten. Gleichzeitig richten
wir unser Augenmerk immer auch darauf, das Rückfallrisiko unserer Klienten zu senken. Gerade das Beispiel unseres Klienten zeigt, dass diese beiden
Ziele sich nicht widersprechen müssen. Natürlich lässt sich ein Gefängnis
nicht mit einer Akutabteilung in einer
psychiatrischen Klinik vergleichen.
Dennoch konnten wir mit unserem
ambulanten Ansatz zeigen, dass wir
viele kranke Patienten, die in der
Akutpsychiatrie durch alle Maschen
gefallen sind und schliesslich wegen
ihrer ungenügend behandelten psychischen Erkrankung nach einem Delikt in den Justizvollzug kommen, gut
erreichen können. Gerade weil der
Vollzugsrahmen stark strukturiert ist
und die Aufenthaltsdauer oft länger
ist als in der Akutpsychiatrie, können
wir die Behandlung unserer Patienten
in vielerlei Hinsicht sanfter und geduldiger gestalten. Insbesondere die Psychopharmakotherapie können wir
häufig schonender angehen, was die
Akzeptanz durch unsere Klienten und
deren Compliance erhöht.
Am Beispiel meines Klienten, der sich
– durchaus nachvollziehbar – kritisch
äussert, möchte ich noch einmal festhalten, dass eine Inhaftierung für alle
Betroffenen ein Ausnahmezustand ist,
insbesondere aber für psychisch kranke Menschen. Es gilt daher bereits im
Rahmen der Primärprävention alles
daranzusetzen, dass psychiatrische
PatientInnen gar nicht erst straffällig
werden. Unsere Forschungsresultate
belegen, dass 45 bis 50 Prozent der
Gewaltstraftäter vor ihrer Tat in ärztlicher Behandlung standen. Kommt es
zu einer Gewaltstraftat, ist es sehr
wichtig, den Klienten sowohl medizinisch wie auch bezüglich seines Rückfallrisikos gründlich abzuklären. Dies
braucht Zeit.
Im Falle unseres Klienten waren wir,
nachdem er uns von der Schweigepflicht entbunden hatte, auch mit
dem Gutachter im Kontakt. Diesem
konnten wir zeitnah über die Behandlungsfortschritte berichten. Der Gutachter empfahl schliesslich – gestützt
auf seine eigenen Beobachtungen
und den Behandlungsverlauf – eine
Behandlung in einer psychiatrischen
Klinik. Nach einem kurzen stationären
Aufenthalt konnte der Klient in die
Freiheit entlassen werden. Er befindet
sich heute bei mir in ambulanter Behandlung, hat ein Studium an einer
Hochschule begonnen und meistert
dieses mit grossem Erfolg.
Carole Kherfouche
Fachwissen
Begutachtung psychisch kranker Straftäter
Wenn die ärztliche Schweigepflicht entfällt
Strafrechtlichen Gutachten kommt in
Justiz und Strafvollzug eine hohe Bedeutung zu. Fachliche medizinische
Grundsätze sind dabei wesentlich,
immer einflussreicher werden aber
auch gesellschaftspolitische Strömungen. Die forensische Psychiatrie hat
sich in den letzten Jahren zu einer eigenständigen Sparte der Psychiatrie
entwickelt. – Der Autor, Otto Horber,
ist Chefarzt an der Klinik für Forensische Psychiatrie im Psychiatriezentrum Rheinau.
Der Begutachter bewegt sich bei seinem Versuch, den Exploranden insbesondere bezüglich seiner Schuldfähigkeit und seiner Rückfallgefahr objektiv zu beurteilen, immer im Spannungsfeld zwischen ärztlich-medizinischen Grundsätzen und variablen gesellschaftspolitischen Vorstellungen.
Medienträchtige Delikte von Rückfalltätern haben in der Gesellschaft die
Forderung nach einem Nullrisiko bei
der Einschätzung und Resozialisierung
von Straftätern laut werden lassen.
Zwar existieren Grundlagen, die eine
Aussage erlauben, ob im Einzelfall
eine zuverlässige Prognose möglich
ist. Eine zu 100 Prozent zutreffende
Einschätzung zukünftigen menschlichen Verhaltens gibt es jedoch nicht.
Da lange Zeit ein erheblicher Mangel
an erfahrenen Gutachtern bestand,
hat man in den letzten Jahren mit der
Bildung von Fachkommissionen und
der Einführung der Zertifizierung in
forensischer Psychiatrie begonnen,
diesem Missstand Abhilfe zu verschaffen. Nach wie vor besteht jedoch auch
heute die dringende Notwendigkeit,
zukünftig mehr forensische Psychiater auszubilden.
Die Berechtigung zur Gutachtertätigkeit im Kanton Zürich wird gemäss der
Verordnung über psychiatrische Gutachten im Strafverfahren, die 1999
vom Regierungsrat des Kantons Zürich verabschiedet wurde, geregelt.
Zur Erfüllung der Kernpunkte der Verordnung wurde eine Fachkommission
für psychiatrische Begutachtung im
Strafverfahren geschaffen. Sie besteht
aus zehn Mitgliedern, Juristen und
Psychiatern, und wird vom Kantonsarzt präsidiert. Diese Fachkommission
ist primär vorbereitendes und beratendes Organ im Bereich von Zulassung und Aufsicht über die Gutachter.
Die Gutachtertätigkeit in Rheinau
Die Forensik des Psychiatriezentrums
Rheinau erstellt im Jahr 20 bis 25
komplexe strafrechtliche Gutachten.
Es werden fast ausschliesslich Gewaltund Sexualstraftäter begutachtet. Dabei handelt es sich um Erst- und
Zweitgutachten und in Einzelfällen
auch um Obergutachten, in deren
Rahmen frühere Gutachten analysiert
und einer forensisch-psychiatrischen
Wertung unterzogen werden. Dies
stellt eine besonders delikate Aufgabe
dar, die grosse Erfahrung in der Gutachterpraxis voraussetzt.
Die Begutachtungen werden zum Teil
auf der Sicherheitsabteilung der Klinik
durchgeführt, dies vor allem bei schizophrenen Straftätern, die gleichzeitig
einer ganzheitlichen stationären psychiatrischen Behandlung bedürfen.
Mehrheitlich finden die Begutachtungen jedoch in den Gefängnissen statt,
die Exploranden befinden sich dann
jeweils in Untersuchungshaft oder im
Strafvollzug.
Zu unterscheiden sind einerseits Gutachten, in denen zur Diagnose, zur
Schuldfähigkeit, zur Prognose und
zum Erfolg einer legalprognostisch
ausgerichteten Behandlung der Täter
Stellung bezogen werden muss. Einen
immer breiteren Rahmen nehmen sogenannte Prognosegutachten ein, die
das zukünftige Verhalten gefährlicher
Straftaten voraussagen sollen. Gerade
diese Prognosegutachten bedingen
ein aufwendiges Aktenstudium, da
eine minutiöse differenzierte Kenntnis
der Legalanamnese und der bisherigen forensischen Therapien die
Grundlage für eine Einschätzung bildet. Mögliche, immer unter dem Aspekt der öffentlichen Sicherheit zu gewährende Vollzugslockerungen müssen differenziert abgewogen werden.
Bei diesen Exploranden bereitet es
häufig Schwierigkeiten, sich in der
Untersuchung ein objektives Bild zu
machen, da ihre Kooperation unterschiedlich ausfällt. Im Gegensatz zu
Tätern mit Erstdelikten sind Verwahrte haft- und therapieerfahren.
Otto Horber, Dr. med., ist Facharzt
FMH für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierter Forensischer Psychiater SGFP (Schweizerische Gesellschaft für Forensische
Psychiatrie). Seit 1996 leitet er als
Chefarzt die Klinik für Forensische
Psychiatrie im Psychiatriezentrum
Rheinau. Neben der ärztlichen Leitung der grössten Klinik für forensische Psychiatrie der Schweiz verfasst er regelmässig umfassende
forensisch-psychiatrische Gutachten. Er ist Mitglied der Fachkommission für psychiatrische Begutachtung des Kantons Zürich und
der Fachkommission Beurteilung
gemeingefährlicher Straftäter des
Ostschweizer Konkordates.
Die gesamte Gutachtertätigkeit in
Rheinau wird vom Chefarzt koordiniert und supervidiert. Er zeichnet für
das gesamte Gutachten fachlich verantwortlich. Die Exploranden werden
mehrmals untersucht, meist dauern
die Explorationen 10 bis 20 Stunden,
wobei Aktenstudium und Einholen
fremdanamnestischer Angaben weitere 10 bis 20 Stunden in Anspruch
nehmen können. Insbesondere bei
persönlichkeitsgestörten Straftätern
gehören mehrere Explorationstermine
zum Standard des Vorgehens, um die
gesamte Palette der charakterlichen
Auffälligkeiten zu erfassen.
Für den Arzt als Sachverständigen,
insbesondere wenn er zu Fragen der
Schuldfähigkeit Stellung nehmen
9
10
Fachwissen
Begutachtung psychisch kranker Straftäter
muss, stehen Behandlungsaspekte zunächst nicht im Vordergrund, man ist
als gerichtlicher Sachverständiger zu
Neutralität und Objektivität verpflichtet. Die Exploranden zeigen häufig zu
Beginn der Untersuchung eine misstrauische Grundhaltung gegenüber
der Ermittlungs- oder Vollzugsbehörde und eventuell auch gegenüber
dem untersuchenden Arzt. Dieser
kann man begegnen, indem man dem
Exploranden initial den Ablauf, den
Sinn und Zweck der Gutachtenerstellung offen darlegt.
Unabdingbar ist auch, dass man den
Exploranden darauf aufmerksam
macht, dass die ärztliche Schweigepflicht nicht besteht und alle seine
Angaben ins Gutachten einfliessen, er
aber durchaus auch das Recht besitzt,
auf Fragen nicht zu antworten. Wenn
der Explorand die Entbindung früherer behandelnder Kollegen von der
ärztlichen Schweigepflicht verweigert,
so stehen ausschliesslich die von der
auftraggebenden Behörde zugestellten Akten für das Gutachten zur Verfügung.
Viele der zu begutachtenden Straftäter werden zudem durch den psychologischen Dienst abgeklärt unter Anwendung von psychodiagnostischen
Methoden. Der gezielte Einsatz von
Tests und die auf einem fundierten
Fachwissen basierenden Auswertungen liefern wichtige Informationen
über die Persönlichkeit und das Störungsbild der Exploranden. Dabei wird
darauf geachtet, nur Tests anzuwenden, die normiert und bewährt sind.
Alle neuen Verfahren werden von uns
eingehend geprüft.
Schritte der Begutachtung
Die Abfassung der Gutachten erfolgt
gemäss einem klaren, durch die Fachkommission erarbeiteten Leitfaden.
Die Darstellung der Vorgeschichte ist
ein wesentlicher Bestandteil des Gutachtens. Sie soll vor allem das Erlebte
des Exploranden – Familienverhältnisse, Schule und Ausbildung, Berufstätigkeit – widerspiegeln sowie eine
Darstellung eines möglichen Konsums
psychotroper Substanzen, der psychosexuellen Entwicklung und frühe-
NEUE TITEL AUS IHREM INTERESSENGEBIET
Hesse, D. / H. Duncker:
Psychoanalyse und Forensik
Festschrift für Martin Schott
2009. kart., ca. CHF 27.50 (Dustri) 978-3-89967-529-0
Mit seiner festen Überzeugung, dass sich auch hinter den grössten
Straftaten ein zutiefst menschliches Schicksal auf Seiten der Täter verbirgt, förderte Martin Schott das Verständnis für die Straftäter und die
Bereitschaft der therapeutischen Teams, sich für diese einzusetzen.
Kornhuber, H. H./ L. Deecke:
Wille und Gehirn
2007. 149 S., 7 Abb., kart., ca. CHF 17.40 (Aisthesis) 978-3-89528-628-5
Es ist ein Buch, welches das Problem der Willensfreiheit multidisziplinär
angeht und beleuchtet, in dem Philosophie ebenso zu Wort kommt wie
Hirnforschung, Neurologie, Neurophysiologie, Verhaltensforschung, und
in dem auch Psychologie, Psychiatrie, Forensik und Jurisprudenz nicht zu
kurz kommen.
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rer psychischer Erkrankungen enthalten. Wichtig ist, dass man dabei jeweils die subjektive Wertung des Exploranden mit anführt. Der psychische
Befund muss Angaben zu allen psychopathologischen Bereichen enthalten. Alle für die Diagnose relevanten
psychopathologischen Auffälligkeiten
sind durch Beispiele zu belegen und
insbesondere auch für die Tatzeit zu
erfragen und darzustellen.
Die diagnostische Beurteilung erfolgt
unter Zugrundelegung moderner
Klassifikationssysteme. Eine psychiatrische Diagnose lässt jedoch keine
unmittelbare forensische Aussage zu.
Die Symptomatik muss qualitativ und
quantitativ bewertet werden. Insbesondere bei Persönlichkeitsgestörten
spielen dabei Defizite wie Abwehrverhalten und Verarbeitung innerer Konflikte sowie eine Einengung und Affektlabilisierung im Tatvorverhalten
eine wesentliche Rolle.
Als Nächstes erfolgt die Beurteilung
der Einsichtsfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Es handelt sich um die Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen, es muss dabei aufgezeigt werden, ob durch intellektuelle oder
kognitive Beeinträchtigungen oder
durch Wahnerleben oder andere Störungen der Realitätsbezug aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt gewesen ist. Bestand zum Tatzeitpunkt
eine eindeutige psychotische Störung,
eine schwere hirnorganische Funktionsbeeinträchtigung oder eine
schwere Intoxikation, so ist die Frage
möglicherweise relativ leicht zu beantworten.
In der Mehrzahl der zu begutachtenden Fälle handelt es sich jedoch nicht
um eine Geisteskrankheit in Form von
Psychosen oder schweren hirnorganischen Schädigungen, sondern um
mangelhafte geistige Entwicklungen
wie Persönlichkeitsstörungen, neurotische Entwicklungen oder Bewusstseinsstörungen unter dem Einfluss
psychotroper Substanzen. In allen Fällen bedarf es einer sorgfältigen forensisch-psychiatrischen Analyse des Verhaltens vor, während und nach der
Tat.
Bei der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit geht es um eine vergleichende
Fachwissen
Begutachtung psychisch kranker Straftäter
Beurteilung von Handlungsspielräumen. Im Einzelnen muss nachgewiesen werden, dass die psychische Störung eine deutliche Abweichung von
der Norm darstellt. Es muss auch der
innere Zusammenhang zwischen Störung und der Tat dargelegt werden.
Die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit stellt die schwierigste Aufgabe
dar. Dabei wird vom Gutachter eine
Differenzierung nach leichter, mittelgradiger oder schwerer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit und
schliesslich der Schuldfähigkeit gefordert.
Im Art. 19 Abs. 1 StGB wird von
Schuldunfähigkeit ausgegangen. Diese Voraussetzungen erfüllen in der Regel schizophrene Straftäter, die das zu
beurteilende Delikt aus eindeutig psychotischer Motivation (Wahn oder
Halluzination) begangen haben, oder
Täter, die im Rahmen einer schweren
Bewusstseinsstörung gehandelt haben. Nicht jede Normabweichung genügt für die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit gemäss Art. 19
Abs. 2 StGB.
Aussagen über die Prognose
Einen breiten Raum in der Begutachtung nimmt auch die Prognosestellung, das heisst die Einschätzung der
Rückfallgefahr des Täters, ein. Heute
existieren wissenschaftlich fundierte
Prognoseinstrumente, auf Grundlage
deren in einem aufwendigen Verfahren individuelle Prognosen erstellt
werden können. Diese Checklisten
dienen jedoch lediglich als «aide-mémoire». Viel wichtiger ist letztlich eine
umfassende individuelle Einschätzung
der Prognose in Kenntnis aller relevanten Fakten.
Bei der Beurteilung der Massnahmenindikation muss diskutiert werden, ob
aufgrund einer Behandlung der psychischen Störung eine Verbesserung
der Legalprognose zu erwarten ist,
das heisst eine Verminderung der
Rückfallgefahr. Voraussetzung dafür
ist die Kenntnis des Gutachters über
die verschiedenen Institutionen und
deren Konzepte. Eine Massnahmenempfehlung muss immer legalprognostisch begründet werden, was bedeutet, dass das Ziel einer Massnah-
me die deliktische Rückfallsfreiheit ist
und nicht primär die Heilung der
diagnostizierten psychischen Störung.
Die Massnahmenempfehlung impliziert einerseits, dass neuerliche Straftaten zu erwarten sind, aber gleichzeitig auch, dass der Rückfallgefahr
durch eine Therapie adäquat begegnet werden kann. Es müssen in jedem
Fall erreichbare und nicht erreichbare
Behandlungsziele benannt werden.
Der Gutachter hat sich auch unter
dem Aspekt einer vom Exploranden
ausgehenden mutmasslichen Gefährlichkeit zu überlegen, durch welche
Behandlungsformen das Massnahmenziel am besten erreichbar ist.
Die Gutachtertätigkeit stellt eine grosse Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber dem
betroffenen Straftäter dar. Liegt eine
psychische Erkrankung dem Delikt zugrunde, ist eine adäquate Behandlung
unabdingbar. Ein erfolgreich resozialisierter Straftäter kann dadurch wieder
Mitglied der Gesellschaft werden.
Otto Horber
IBP-Institut für Integrative Körperpsychotherapie:
Fortbildungsangebote
Sexualtherapie und Sexualberatung
NEU! Integrative Traumatherapie IBP
Zielgruppe: PsychotherapeutInnen und BeraterInnen, die mit den Themen Sexualität und sexuelle
Beziehungsfähigkeit arbeiten möchten.
Inhalt: Konzepte aus Sexual Grounding Therapy®,
IBP und anderen Methoden der Sexualtherapie.
Leitung: Dr. med. Robert Fischer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Surabhi N. Fischer,
Körperspsychotherapeutin mit Schwerpunkt Sexualund Paartherapie
Datum: Februar 2010 bis Mai 2011, 6 Module
Infoabend: 4. Dezember 2009 in Winterthur
Vortrag: 27. Januar 2010 in Bern
Zielgruppe: PsychotherapeutInnen und FachärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapie
Inhalt: Theoretische Grundlagen der Traumatherapie
sowie deren Anwendung in der Praxis.
Leitung: Dr. med. Markus Fischer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Datum: Mai 2010 bis September 2011, 5 Module
Infoabend: 10. Dezember 2009 und 27. Januar 2010
in Winterthur
Mehr Informationen unter www.ibp-institut.ch oder:
IBP-Institut, Wartstrasse 3, CH-8400 Winterthur, Tel. +41 (0)52 212 34 30, e-Mail info@ibp-institut.ch
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12
Fachwissen
Psychotherapie vs. Seelsorge im Strafvollzug
Der, welcher nicht nichts tut
In den letzten 15 Jahren geschah im
Strafvollzug eine markante Professionalisierung. Aufgaben, die früher der
Seelsorge zufielen, weil die Eingewiesenen in den Gefängnissen viel weniger betreut, psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt wurden,
werden heute von dafür speziell ausgebildetem Personal übernommen.
Welcher Aufgabenbereich bleibt der
Seelsorge?
In der Untersuchungs- und Ausschaffungshaft, wo die Eingewiesenen
noch nicht psychotherapeutisch, sondern erst notfallpsychiatrisch behandelt werden, entstehen kaum Überschneidungen zwischen Psychotherapie und Seelsorge.
Im Straf- und Massnahmenvollzug
dann, wo heute immer mehr Eingewiesene psychotherapeutisch begleitet werden, kommt es vor, dass die
Eingewiesenen neben der Psychotherapie auch die Seelsorge zu besuchen
wünschen. Da ist es besonders wichtig, dass sich die Seelsorgenden auf
ihr Proprium, auf ihre spezifische Aufgabe, berufen. Die Methoden der
Seelsorge können psychotherapeutisch, der Inhalt der Gespräche muss
seelsorgerlich sein.
Spezifisch seelsorgerliche Arbeit
Seelsorge ist einer der wenigen Bereiche im Strafvollzug, der freiwillig ist.
Es gibt keine obligatorischen Themen
in der Seelsorge, wie es sie in der
forensischen Psychotherapie gibt. Forensische Psychotherapien werden
vom Gericht angeordnet und sind daher unfreiwillig. Die seelsorgerliche
Schweigepflicht reicht weiter als die
psychotherapeutische. Das ist häufig
ein Grund, weshalb Eingewiesene in
der Seelsorge ihr Herz ausschütten
kommen.
Morgenthaler (2008, 334 f.) spricht
im Zusammenhang der Spitalseelsorge von der Instrumentenlosigkeit –
keine Skalpelle, Spritzen usw. – der
Seelsorgenden im Vergleich zu den
ÄrztInnen und dem Pflegepersonal.
Für den Strafvollzug gilt das Gleiche.
Die PsychiaterInnen und die PsychologInnen haben sogenannte Instrumente zur Verfügung: Diagnostik
(ICD-10 und DSM IV), Therapieberichte, Testverfahren, Therapieprogramme, Gutachten, Gerichtsurteile,
Einvernahmeprotokolle, Klinik- und
Arztberichte, Medikamente usw.
Spoerri (2004, 57) definiert den Seelsorger als: Der, welcher Zeit hat. Der,
welcher nichts tut. Der mit den leeren
Händen.
Als forensischer Psychotherapeut wie
als Seelsorger verstehe ich den Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit. In
der Seelsorge wird implizit, nicht missionierend der Schwerpunkt auf das
Geistige des Menschen gelegt. Dies
geschieht häufig über Alltagsthemen
(Sorgen und Nöte im Strafvollzug).
Seelsorge ist vor allem Zuhören und
Begleiten. Häufig ist es der Pastorand,
der selbst den Bezug zum Religiösen
herstellt.
In der Psychotherapie kann über die
Wirkung des Religiösen auf den Patienten gesprochen werden und darüber, wie er mit dem Religiösen im Alltag umgeht. Wie aber Gott wirken
könnte und wie die Eingewiesenen
mit ihm in Beziehung treten können –
zum Beispiel mit Beten –, ist vor allem
Thema der Seelsorge. Der Vollzug des
Religiösen ist Gegenstand der Seelsorge und geschieht im Gespräch,
durch das Lesen von biblischen Texten, in Gottesdiensten und in gemeinsamem Beten. Nachdenken über das
Religiöse kann in der Psychotherapie
und in der Seelsorge erfolgen (Buser
2007, 107).
Auch bei wenig religiös sozialisierten
Menschen stossen biblische Geschichten auf Interesse. Die Weihnachtszeit
ist im Gefängnis eine besonders emotionale Zeit. In den Weihnachtsgottesdiensten darf die Lesung der Weihnachtsgeschichte Lk 2 nicht fehlen.
Psalmen (etwa Ps 23; 139) trösten
auch moderne Menschen; Klagepsalmen (Ps 69; 142) zeigen den Eingewiesenen, wie Klagen in der Seelsorge zu Einsicht, Annahme, Trost, Gottesbezug und Hoffnung führen kann.
Manche Pastoranden wünschen, dass
ich am Ende des Seelsorgegesprächs
bete. Im Gebet fasse ich den Inhalt
des Gesprächs zusammen und bitte
vor allem für Kraft und Mut, die Realität angehen zu können, oder für
Samuel Buser, geboren 1959, Pfarrer, Psychotherapeut SPV, Gestalttherapeut IGW, DAS in Forensic
Science, ist seit 17 Jahren als Gefängnisseelsorger in den Anstalten
Witzwil und seit 6 Jahren als Psychotherapeut im Strafvollzug (Anstalten Thorberg, geschlossener
Männerstrafvollzug, und bis 2008
Anstalten Hindelbank, Frauenstrafvollzug) tätig. Vor seiner psychotherapeutischen Tätigkeit war er
Gemeindepfarrer in Oberthal BE.
In Spiez arbeitet er als delegierter
Psychotherapeut.
Menschen (nicht aber gegen Menschen). Konkrete Wünsche, wie den
Wunsch, eine kurze Strafe, einen Freispruch, Hafterleichterungen usw. zu
bekommen, nehme ich nicht in meine
Gebete auf.
Im heutigen deliktorientierten Strafvollzug kann die Gefahr bestehen,
dass der Patient auf seine Deliktgeschichte reduziert wird. Der politische
Druck, der vom Strafvollzug möglichst
ein Nullrisiko fordert, mag ein bedeutender Grund dafür sein. Im Spital geschieht Ähnliches, wenn PatientInnen
auf ihre Krankengeschichte reduziert
werden.
Die Seelsorge kann die Position des
Dazwischens einnehmen. Theologisch
ist diese Position vor allem mit dem jesuanischen Verhalten zu begründen,
das statt spaltend und ausgrenzend
gegensatzverbindend ist (zum Beispiel
Fachwissen
Psychotherapie vs. Seelsorge im Strafvollzug
Verhinderung der Steinigung der Ehebrecherin durch Jesus, Joh 8, 3–11). Es
ist wichtig, dass die Seelsorge die Position des Dazwischens behält. Sie darf
nicht vollzugsrelevante Aufgaben
übernehmen. Ich besuche bewusst
keine interdisziplinären Sitzungen, in
denen über den Vollzugsverlauf und
die Legalprognose der Eingewiesenen
diskutiert und befunden wird. Ich
nehme nur an denjenigen interdisziplinären Sitzungen teil, an denen vorher mit den Pastoranden und Mitarbeitenden besprochene Themen wie
Austrittsvorbereitung, Kontakte zu
den Angehörigen usw. besprochen
werden und ich eine konkrete Aufgabe im Einverständnis der Pastoranden
und des Gefängnisses übernehme.
Der Besuch oder Nichtbesuch der
Seelsorge sowie ihr Inhalt dürfen nicht
positiv oder negativ für die Legalprognose der Pastoranden gewertet werden.
Gefängnisseelsorge ist auch Seelsorge
für die Mitarbeitenden. Ich arbeite als
«Werkpfarrer» in den Anstalten Witzwil – dem grössten Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz – an verschiedenen Arbeitsplätzen mit. Zum Beispiel
während der Kartoffelernte oder im
Winter in der Halle beim Kartoffelsortieren erhalte ich Kontakt zu den Eingewiesenen wie zum Personal. Wenn
es dem Personal in dem hochanspruchsvollen und anstrengenden Arbeitsgebiet des Strafvollzugs gutgeht,
hat dies eine positive Auswirkung auf
die Eingewiesenen.
Zwischen der forensischen Psychotherapie und der Gefängnisseelsorge be-
steht bezüglich der Wahrheits- und
Schuldfrage ein Unterschied. Wahr ist
in der Seelsorge, was der Eingewiesene
in diesem Raum zu diesem Zeitpunkt
sagt. Er hat einen bewussten oder unbewussten Grund, weshalb er im Moment seine persönliche Wahrheit so
formuliert, dass sie möglicherweise
vom Gerichtsurteil abweicht. Seine
Wahrheit hat unter anderem mit seiner
psychischen Befindlichkeit und seinem
Vertrauen zum Seelsorger zu tun. Ich
betrachte die Berichte des Pastoranden
phänomenologisch. Dabei sage ich
dem Eingewiesenen nicht: «Ich glaube
Ihnen, dass Sie kein Vergewaltiger
sind», sondern ich höre nur zu und akzeptiere, dass er im Moment sein Delikt von seiner Wahrheitsperspektive
aus schildert (Buser 2007, 158). Wichtig ist, dass der Eingewiesene empfindet, dass ich ihn in seiner Person nicht
verurteile, sondern achte. Immer wieder erlebe ich, dass aus dem «harmlosen» Delikt später durch Einsicht das
schwere Delikt wurde, das es tatsächlich war. In der forensischen Psychotherapie hingegen steht von Beginn an
das Delikt anhand von Gutachten, Gerichtsakten usw. fest, was natürlich
nicht heisst, dass der Patient von Beginn an geständig und einsichtig ist.
Es stellt sich nun die Frage, ob die beschriebene seelsorgerliche Haltung
nicht das Verdrängen der juristischen
Schuld der Eingewiesenen, das zu Beginn des Strafvollzugs häufig vorkommt und sich in einer Täter-OpferUmkehr (der Täter fühlt sich als Opfer
zum Beispiel der Justiz, der Polizei,
gar des tatsächlichen Opfers) zeigen
kann, zementiert. In der Seelsorge
kann der Eingewiesene erleben, dass
er trotz seinem schweren Delikt in seiner Person akzeptiert wird. Dies stärkt
seinen Selbstwert und kann es ihm ermöglichen, in der Psychotherapie offen und ehrlich über das Delikt zu
sprechen. Seelsorge kann so letztlich
die Therapiefähigkeit erhöhen.
Weiter kommt der Gefängnisseelsorge dort Bedeutung zu, wo vermeintlich «nichts mehr zu machen» ist. Damit meine ich die Seelsorge mit den
verwahrten oder momentan nicht
therapeutisch erreichbaren Eingewiesenen.
Ausblick
Die Seelsorgenden können Eingewiesene zum Durchhalten in der Psychotherapie ermuntern, wenn diese über
die Therapie klagen, oder ihnen eine
freiwillige Therapie empfehlen. Die
PsychotherapeutInnen können Patienten mit religiösen Fragen, die über
den therapeutischen Inhalt hinaus reichen, an die Seelsorgenden weisen.
Deshalb ist es wichtig, dass die Seelsorgenden wie die Psychotherapeuten
einander kennen.
Samuel Buser
Literatur
Buser, S.: Psychotherapie und Seelsorge im Strafvollzug. Unterschiede und
Gemeinsamkeiten. Peter Lang, Bern
2007.
Morgenthaler, Ch.: Seelsorge, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009.
Spoerri, Th.: Spitalseelsorge als Anachronismus. Ein Bericht. Reinhardt
Verlag, Basel 2004.
13
14
Fachwissen
Gutachten in Strafuntersuchungen
Die gelegentlichen Irritationen des Staatsanwalts
Zweck einer Strafuntersuchung ist die
Abklärung eines Sachverhalts, eingeschränkt auf die rechtlich relevanten
Tatsachen. Im Strafverfahren obliegt
diese Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Neben Einvernahmeprotokollen und sachlichen Beweismitteln
nehmen dabei Gutachten einen breiten Raum ein, zum Beispiel die psychiatrische Begutachtung der Schuldfähigkeit von Angeklagten. Ist die
Praxis zu lasch?
Die zulässigen Beweismittel in Strafverfahren sind exakt definiert: Nur die
gesetzlich vorgesehenen Beweismittel, die auch in der gesetzlich festgelegten Art und Weise erhoben worden
sind, dürfen Verwendung finden und
entsprechend dem für die Entscheidung schliesslich zuständigen Gericht
zur Wahrheitsfindung unterbreitet
werden. Sie können wie folgt kategorisiert werden:
– Angaben von Personen über ihre
Wahrnehmungen: Angaben des Beschuldigten (Einvernahme des Angeschuldigten); Angaben des Geschädigten (Zeugeneinvernahme
des Geschädigten); Angaben von
Drittpersonen (Zeugeneinvernahme).
– Sachliche Beweismittel: Augenscheinbeweis; Beweisgegenstände;
Urkunden.
– Sachverständigenbeweis/Gutachten:
Sachverständige, auch Experten
oder Gutachter genannt, werden
wegen ihres besonderen Fachwissens, das dem Gericht und auch der
Untersuchungsbehörde fehlt, beigezogen. Dieses Fachwissen geben sie
in der Form eines Gutachtens, angepasst auf eine entsprechend unterbreitete individuell konkrete Fragestellung, weiter.
Gutachten nehmen in der Strafuntersuchung einen sehr breiten Raum ein.
Dabei lassen sich die Gutachten in
zwei Hauptkategorien unterteilen,
nämlich einerseits in solche «technisch-wissenschaftlicher» (wie Schusswaffengutachten, DNA-Analysen, Obduktionsgutachten usw.) sowie andererseits in solche «psychiatrisch-psychologischer» Art.
Hinsichtlich der letztgenannten Art
sind in der Praxis das eigentliche gerichtspsychiatrische sowie das Glaubhaftigkeits- oder Glaubwürdigkeitsgutachten von Bedeutung. Dementsprechend beschränken sich die folgenden Ausführungen auch auf in der
praktischen Tätigkeit eines Staatsanwalts diesbezüglich hauptsächlich
auftretende Probleme und damit in
Zusammenhang stehende Überlegungen, wobei angesichts des beschränkten Rahmens des vorliegenden Texts
nur eine Auswahl davon besprochen
werden kann.
Notwendigkeit der Erstellung eines
Gutachtens
Wie erwähnt sind Sachverständige
einzusetzen, um dem Staatsanwalt
und letztlich dem Richter dasjenige
besondere Fachwissen zu vermitteln,
das Letzteren fehlt. Diese im Grundsatz klare Anordnung birgt allerdings
erhebliche Schwierigkeiten. So wird es
im Allgemeinen entsprechend dem
Grundsatz «iura novit curia» etwa als
unzulässig bezeichnet, zur Beurteilung
einer Rechtsfrage einen Sachverständigen beizuziehen. Auch wird die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer
Person und der Glaubhaftigkeit ihrer
Aussage als Aufgabe des Gerichtes
qualifiziert, die es selber zu erfüllen
hat und nicht an eine aussenstehende
Person – ob Experte oder nicht – delegieren darf.
Eine allgemeine gesetzliche Regelung
fehlt diesbezüglich allerdings, und der
Gesetzgeber hat sich auf verschiedene Einzelfälle beschränkt. So legt beispielsweise Art. 56 Abs. 3 StGB fest,
dass sich das Gericht beim Entscheid
über die Anordnung einer Massnahme auf eine sachverständige Begutachtung zu stützen hat, und Art. 20
StGB verlangt bei ernsthaftem Anlass
zu Zweifeln an der Schuldfähigkeit des
Täters «die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen».
Notwendigkeit der Erstellung eines
psychiatrischen Gutachtens
Konkret stellt sich damit für den in der
Praxis tätigen Staatsanwalt die Frage,
unter welchen Umständen ein ernsthafter Anlass vorliegt, um an der
Markus Oertle, Dr. iur., RA, ist
Stellvertretender Leitender Staatsanwalt an der Staatsanwaltschaft
für Gewaltdelikte des Kantons
Zürich und betreut in dieser Funktion den Fachbereich Kinderschutz
der Erwachsenenstrafverfolgung
des Kantons Zürich. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Untersuchung
von Kapitalverbrechen (vorsätzliche Tötungsdelikte, schwere Körperverletzungen, qualifizierte Raubstraftaten usw.), von qualifizierten,
also besonders schweren Fällen
von Gewalt gegenüber Kindern sowie qualifizierten Fällen häuslicher
Gewalt.
Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln. Gemäss geltender Praxis und
Rechtsprechung müssen sich derartige Zweifel auf objektive Anhaltspunkte stützen. Sie können sich dabei aus
in der Tat liegenden Umständen wie
etwa auffällige Begleiterscheinungen
zur Tat oder aus vor der Tat bestehenden Umständen ergeben, wie etwa
wenn in der bisherigen Lebensführung des Täters besondere Auffälligkeiten, beispielsweise mehrere Selbstmordversuche, vorliegen (BGE 116 IV
274 f.). Dabei genügt nicht jeder
mögliche Mangel an der Schuldfähigkeit.
So hat das Bundesgericht in diesem
Zusammenhang festgehalten, dass
mindestens eine qualifizierte Erheblichkeit der Mängel an Schuldfähig-
Fachwissen
Gutachten in Strafuntersuchungen
keit vorliegen muss, deren Abweichung erst bedeutsam wird, wenn sie
in hohem Masse in den Bereich des
Abnormen fällt, wenn die Geistesverfassung des Täters «nach Art und
Grad stark vom Durchschnitt nicht
bloss der Rechts-, sondern auch der
Verbrechensgenossen abweicht» und
im Ergebnis psychologisch mindestens
die Erkenntnisfähigkeit oder/und die
Fähigkeit zu einsichtsgemässem Handeln zumindest teilweise aufheben
(BGE 102 IV 226).
In der Praxis spielt in diesem Zusammenhang auch die Schwere des dem
Täter vorgeworfenen Deliktes eine
wesentliche Bedeutung. Obwohl im
Gesetz so in keiner Weise vorgesehen,
wird der Staatsanwalt bei der Untersuchung eines mit einer langjährigen
Freiheitsstrafe bedrohten Tötungsdeliktes eher geneigt sein, eine psychiatrische Begutachtung vornehmen zu
lassen als bei einem «kleinen» Vermögensdelikt. Das entspricht regelmässig
auch den Anträgen des Beschuldigten
und seines Verteidigers, da eine psychiatrische Begutachtung einen erheblichen Kostenfaktor innerhalb einer Untersuchung darstellt, der im
Rahmen eines Tötungsdeliktes mit
Gesamtkosten von 100 000 Franken
und mehr nicht übermässig ins Gewicht fällt, hingegen bei dem erwähnten «kleinen» Vermögensdelikt mit
Untersuchungskosten von einigen
hundert bis tausend Franken nicht
mehr zu vertreten wäre.
Sobald auch eine längere Freiheitsstrafe in Aussicht steht, ist auch regelmässig mit einem entsprechenden An-
trag des Beschuldigten auf Vornahme
einer psychiatrischen Begutachtung
zu rechnen. Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, hängt die Dauer der
Strafe direkt und ganz erheblich von
der Schuldfähigkeit ab. Da die Wahrscheinlichkeit auf eine Erkenntnis des
Sachverständigen, die eine mögliche
leichte Einschränkung der Schuldfähigkeit zumindest nicht ausschliesst,
erfahrungsgemäss – selbst wenn weit
und breit keine konkreten Anzeichen
einer psychischen Störung des Beschuldigten vorhanden sind – sehr
hoch ist, müsste das Absehen von einem entsprechenden Antrag auf Begutachtung beinahe als anwaltschaftlicher Kunstfehler der Verteidigung
bezeichnet werden.
Glaubwürdigkeitsgutachten: Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang
zwischen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person und der
Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu differenzieren. Allerdings hat sich diese
Unterscheidung nie ganz durchgesetzt, und es werden beide Bezeichnungen verwendet, wobei regelmässig die «Beurteilung der Glaubwürdigkeit» umfassend als Beantwortung der
Frage nach dem objektiven Wahrheitsgehalt von zu untersuchenden Aussagen verstanden wird. Ob nun ein Gutachten durch eine Fachperson anzufertigen ist, sollte sich grundsätzlich gemäss den auch hier massgebenden
aufgezeigten gesetzlichen Grundlagen
danach entscheiden, ob dem Richter
im Rahmen einer objektiven, nicht auf
den einzelnen handelnden Richter beschränkten Betrachtungsweise die da-
Workshop-Kongress-Woche in Marokko
Grenzen-Systeme-Kulturen
für erforderliche Sachkenntnis fehlt.
Gemäss den von der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich zuhanden der Staatsanwaltschaften erlassenen «Weisungen für die Untersuchungsführung» ist es wohl zulässig,
«einen Psychiater zu beauftragen, sich
über die Glaubhaftigkeit von Aussagen eines psychisch auffälligen Zeugen zu äussern», und mitunter sogar
erwünscht, auch Aussagen gesunder
Kinder durch einen Sachverständigen
beurteilen zu lassen, während die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines
psychisch gesunden Zeugen dagegen
wiederum Sache des Richters ist. Aufträge an psychiatrische Sachverständige, die Aussagen eines Angeschuldigten zu prüfen, sind hingegen zu unterlassen, da es Sache des Staatsanwaltes oder Richters sei, die Glaubhaftigkeit einer Schilderung des Angeschuldigten zu beurteilen.
In der Rechtsprechung und Lehre fehlen klare und allgemein anerkannte Kriterien, unter welchen konkreten Umständen schliesslich ein Gutachten erstellt werden soll. In der Praxis werden
im Kanton relativ wenige Gutachten
zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit
und Glaubwürdigkeit von Zeugen in
Auftrag gegeben und ausgearbeitet,
während dies in Deutschland vergleichsweise sehr viel häufiger erfolgt,
ja in Fällen von (sexuellen) Gewaltdelikten gegenüber Kindern beinahe den
Regelfall darstellen soll. Man hat sich
dementsprechend zu fragen, ob das
Fachwissen der Richter im Kanton Zürich und in der Schweiz gegenüber
demjenigen ihrer Kollegen aus
Marokko
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- Prof. h.c. Dr. med. Nossrat Peseschkian, Wiesbaden
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- Dr. med. Thomas Hess und Dr. med. Claudia Starke, Männedorf
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16
Fachwissen
Gutachten in Strafuntersuchungen
Deutschland derart eklatant höher ist…
Die Frage nach der Notwendigkeit der
Erstellung eines Gutachtens über den
Wahrheitsgehalt von Aussagen lässt
sich allerdings nicht allein auf eine solche des Fachwissens reduzieren. Vielmehr geht es dabei auch um Grundfragen im Zusammenhang mit den
Gerichten und deren (demokratische)
Legitimation ganz allgemein. Dementsprechend muss der herrschenden
Lehre und dem Bundesgericht uneingeschränkt zugestimmt werden,
wenn ausgeführt wird, dass die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ureigenste Aufgabe des Gerichts
ist, die grundsätzlich nicht weiter
delegiert werden darf.
Nur einschränkend bei besonderen
Umständen soll auf ein durch externe
Sachständige angefertigtes Gutachten
zurückgegriffen werden dürfen. Ein
Weglassen der erforderlichen besonderen Voraussetzungen dafür müsste
schliesslich konsequenterweise nach
sich ziehen, dass auch die Aussagen
des die Tatvorwürfe bestreitenden Angeschuldigten einer Begutachtung
unterzogen werden müssten, was am
Ende weder sinnvoll und praktikabel
wäre.
Unter welchen Voraussetzungen nun
ausnahmsweise dennoch eine Begutachtung angezeigt und zulässig erscheint, kann nicht generell-abstrakt
festgelegt werden. Hilfreich erscheint
diesbezüglich die Feststellung hinsichtlich der Aussagen von Kindern,
wonach eine Begutachtung umso angezeigter erscheint, je jünger das Kind
ist, je komplizierter die angezeigte Tat,
je grösser der zeitliche Abstand zwischen Tat und Anzeige und je auffälliger das Aussageverhalten des Kindes
ist, vor allem bei einer engen Beziehung zwischen dem Täter und dem
Opfer (A. Scheidegger, Minderjährige
als Zeugen und Auskunftspersonen,
Schulthess 2006, S. 295).
Art. 19 StGB
Im psychiatrischen Gutachten werden
– kurz zusammengefasst – das Vorliegen eines (psychischen) Ausnahmezustandes des Täters, dessen Zusammenhang mit der Tat, dessen Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit des
Täters, das Bestehen einer Rückfallgefahr sowie die Behandlungsmöglichkeiten des Täters im Hinblick auf eine
Reduktion der Rückfallgefahr abgeklärt.
Aus der Sicht des Täters ist die Frage
der Schuldfähigkeit von entscheidender Bedeutung, hat das Gericht doch
gemäss Art.19 StGB die Strafe zu mildern, falls der Täter zur Zeit der Tat in
seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt
war. Obwohl in dieser Einfachheit und
Klarheit von den Gerichten stets vehement von sich gewiesen, kommt es
am Ende darauf hinaus, dass
– eine leichtgradige Verminderung
der Schuldfähigkeit einen «Strafrabatt» von rund einem Viertel bis zu
einem Drittel der Strafe,
– eine mittelgradige Verminderung
der Schuldfähigkeit einen «Strafrabatt» von rund der Hälfte der Strafe und
– eine schwergradige Verminderung
der Schuldfähigkeit einen «Strafrabatt» von rund zwei Dritteln bis drei
Vierteln der Strafe
zur Folge hat.
Diese hohen Strafreduktionen erscheinen aus Sicht des Praktikers, der im
Rahmen der Strafuntersuchung zuweilen in einem recht engen Kontakt
mit den Opfern (einschliesslich der
Hinterbliebenen von Getöteten) steht,
problematisch. Eingestandenermassen beruht das schweizerische Strafrecht auf dem Verschulden des Täters,
weshalb eine Einschränkung von dessen Schuldfähigkeit diskussionslos
auch eine Reduktion der Strafe bewirken muss. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass das staatliche
Strafrecht eine gewisse Sühnefunktion
zu übernehmen hat: Der Täter soll für
das von ihm verübte Unrecht bestraft
werden, es soll ihm vergeltungsweise
ein Übel zugeführt werden, nicht
durch das Opfer oder dessen Familie,
sondern durch den Staat, der diese
Aufgaben anstelle der Opfer ausschliesslich übernommen hat. Selbstjustiz durch die Opfer wird nicht toleriert und bestraft – im Gegenzug muss
der Staat allerdings auch gegenüber
den Opfern zeigen, dass er gewillt ist,
diesen Sühnecharakter, der zwar auf
keinen Fall im Vordergrund steht, aber
doch nicht ganz vernachlässigt und
ausgeschlossen werden darf, zumindest teilweise sicherzustellen.
Infolge der regelmässig teilweise eingeschränkten Schuldfähigkeit des Täters bei schweren Gewaltdelikten fehlt
dieser Sühnecharakter oft, zumindest
wird er vom Opfer, dessen Leiden in
keiner Weise von der Schuldfähigkeit
des Täters abhängt, nicht wahrgenommen.
Konkret sieht das wie folgt aus: Ein
Täter begeht eine vorsätzliche Tötung. Die Strafe von zwölf Jahren Freiheitsstrafe – das entspricht ungefähr
einer «gewöhnlichen» vorsätzlichen
Tötung – beläuft sich infolge einer
schwergradig verminderten Schuldfähigkeit auf drei Jahre, was zur Folge
hat, dass der Täter unmittelbar nach
der Gerichtsverhandlung aufgrund
der ihm zustehenden bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei
Dritteln der Strafe bereits wieder in
Freiheit sein kann. Ein derartiges Ergebnis wird nicht nur von Opfern und
deren Angehörigen nicht verstanden,
sondern kann auch beim Staatsanwalt, der jene zuvor mit dem Hinweis
auf das staatliche Gewaltmonopol
überzeugt hat, allfällige Versuche von
Selbstjustiz zu unterlassen, Irritationen
hinterlassen.
Markus Oertle
Fachwissen
Psychotherapie mit psychisch kranken Straftätern
«Gegenstand der Therapie ist der Mensch, nicht sein Delikt»
Auftraggeber der Psychotherapie in
der Forensik ist das Amt für Justizvollzug. Wer eine bessernde Massnahme
hat, ist bereits begutachtet, verurteilt
und wegen einer psychischen Störung
als vermindert schuldfähig, behandlungsbedürftig und therapierbar beurteilt worden. Ohne Therapie, die Teil
der Massnahme ist, führt kein Weg in
die Freiheit. Und es muss eine Entwicklung in genau definierten Bereichen erfolgen. Diese braucht Zeit.
Ich will die mir am meisten gestellte
Frage gleich zu Beginn beantworten:
Nein, ich habe keine Angst, wenn ich
mit Straftätern arbeite. Schliesslich
fahre ich täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und dort begegnen mir
auf jeder einzelnen Fahrt mehr Aggression und Feindseligkeit als in meiner Arbeit mit psychisch Kranken. Im
forensischen Bereich unserer Klinik ereignen sich weniger Zwischenfälle als
in der Akutpsychiatrie – und nur ganz
selten sind sie gefährlich.
Unsere Patienten sind durch Medikamente einigermassen stabilisiert, vor
allem aber wissen sie sehr gut, dass jeder Ausrutscher Konsequenzen hat,
die sich auf die Dauer der Massnahme
auswirken. Am wichtigsten ist jedoch
unsere Haltung als Psychotherapeuten den Patienten gegenüber. Wenn
wir uns für die Menschen, die uns anvertraut sind, wirklich interessieren, ihr
Sein und ihre Bemühungen würdigen
und es uns gelingt, eine therapeutische Beziehung aufzubauen und zu
erhalten, dann ist die Chance gross,
dass der Kontakt gut und konstruktiv
wird.
Grundsätzlich ist Psychotherapie mit
Straftätern nichts anderes als Psychotherapie allgemein. Mit dieser Aussage könnte ich meinen Artikel eigentlich abschliessen.
Doch es gibt schon Spezielles an unserer Arbeit.
Unsere Patienten sind psychisch krank
und haben Straftaten begangen, die in
direktem Zusammenhang mit ihrer Erkrankung stehen. Die Krankheit beinhaltet per se eine Rückfallgefahr. Behandlungsziele ist nicht die Verbesserung der Lebensqualität oder die Verminderung des Leidensdrucks, son-
dern die Verbesserung der Legalprognose, das heisst die Rückfallfreiheit
und somit der Schutz der Gesellschaft.
Man hat vor allem am Beispiel von
Vergewaltigungsfällen festgestellt,
dass die alleinige Verbesserung des
psychischen Zustandsbildes Rückfälle
nicht verhinderte. Daraus schloss man,
dass die Therapie «deliktorientiert»
sein muss, um bezüglich Legalprognose wirksam zu sein.
In meinem Verständnis geht es aber
darum, den Ursprung des Konflikts
nicht aus den Augen zu verlieren, also
zu verstehen, wie es zu der Straftat
kommen konnte, wie Erkrankung und
Delikt in Zusammenhang stehen und
was man daraus lernen kann – oder
vielmehr lernen muss. Dabei orientiere ich mich weniger am Delikt als am
Menschen, der mir gegenübersitzt, mit
seiner Geschichte, seinem Erleben, seinen Verhaltensweisen.
Die Deliktbearbeitung passiert, indem
wir uns immer wieder auf das Geschehen im Delikt beziehen. Der Mensch
(der unter anderem ein Straftäter ist)
ist Gegenstand der Therapie, nicht das
Delikt selbst. Denn es ist der Patient,
der sich verändern, entwickeln und
Verantwortung übernehmen soll. Das
Delikt ist ein wichtiger Themenbereich, weil es sowohl psychisch als
auch biographisch einen Kulminationspunkt in der Geschichte des Patienten darstellt.
Den Patienten werden zwei Rollen zugemutet: diejenige des psychisch
Kranken und diejenige des Straftäters.
Beides sind Rollen, die stigmatisiert
sind, die abgelehnt und verurteilt werden. Entsprechend stark ist die Abwehr, sich selber als psychisch krank zu
erkennen oder beschuldigen zu lassen.
Also sehen sich die Patienten oft als
Opfer, weil das leichter zu ertragen ist.
Wir wissen, dass viele unserer Patienten in ihrem Leben tatsächlich Opfer
waren, und sehen in den jeweiligen
Biographien oft eine Opfer-TäterUmkehrung.
Um die Gedankenakrobatik noch etwas weiter zu betreiben, versuchen Sie
sich einmal vorzustellen, dass Sie einen
Albtraum haben, in dem sie verfolgt
werden und getötet werden sollen. In
Notwehr gelingt es Ihnen, Ihren Ver-
Edith Burri, dipl. Psychologin FH
und SBAP.-Mitglied, geboren
1955, arbeitet seit sechs Jahren im
Bereich Forensik des Psychiatriezentrums Rheinau als Psychotherapeutin mit psychisch schwerkranken Straftätern. Sie ist zurzeit in
Therapieausbildung zur Personzentrierten Psychotherapeutin PCA
nach Carl R. Rogers.
folger umzubringen oder sich zu verstecken. Sie sind in Sicherheit.
Nun erwachen Sie aus dem Traum und
stellen fest, dass sie tatsächlich jemanden umgebracht haben. Wie geht es
Ihnen jetzt?
Was denken Sie, wie es unseren schizophrenen Patienten geht, wenn sie
aus der Psychose erwachen und feststellen müssen, dass sie ein Delikt begangen haben? Schuld und Scham
sind so überwältigend, dass viele es
vorzögen, wieder in die Psychose zu
fliehen, um dieser Schande zu entgehen. Sie werden durch das eigene Delikt ähnlich traumatisiert wie ihre Opfer und fühlen sich teilweise auch zu
Recht als Opfer ihrer Tat. Gleichzeitig
sollen diese Patienten Reue zeigen,
Empathie mit dem Opfer empfinden,
ihre Krankheit anerkennen und mit ihrer riesigen Last an Schuldgefühlen
umgehen lernen.
Auftraggeber der Psychotherapie in
der Forensik ist nicht der Patient, sondern das Amt für Justizvollzug. Wer
eine bessernde Massnahme hat, wurde bereits begutachtet, verurteilt und
aufgrund einer psychischen Störung
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Fachwissen
Psychotherapie mit psychisch kranken Straftätern
als vermindert schuldfähig, behandlungsbedürftig und massnahmefähig –
das heisst therapierbar – beurteilt. Die
Therapie ist nicht freiwillig, sondern
zwingender Bestandteil der Massnahme. Ohne erfolgreiche Therapie
kommt der Patient nicht aus der Klinik,
dem Gefängnis und auch nicht aus der
Massnahme. Es muss zwingend eine
Entwicklung stattfinden, und zwar in
genau definierten Bereichen.
Diese Entwicklung braucht in der Regel viel Zeit. Die meisten Patienten
verbringen vier bis fünf Jahre in der Klinik plus in der Regel weitere Jahre in
einem geschützten Wohnbereich und
werden ambulant weiterbehandelt. Es
liegt auf der Hand, dass die Unfreiwilligkeit und die lange, unbestimmte
Aufenthaltsdauer nicht motivierend
wirken. Menschen, die von sich aus
eine Therapie wünschen, sind motiviert und arbeiten mehr oder weniger
aktiv an sich. In der Forensik muss zuerst einmal ein Mindestmass an Eigenmotivation gefördert werden, wenn
man als Therapeutin nicht dauernd gegen Widerstand kämpfen will und eine
gute therapeutische Beziehung entstehen lassen möchte. Dass man viel Zeit
hat, ist einerseits ein Vorteil, kann aber
auch lähmend wirken. Fast jeder Patient hat eine oder mehrere Phasen, in
denen er vor sich hindümpelt, resigniert, alles von den anderen erwartet
und kein Gefühl von Selbstwirksamkeit mehr hat.
Auch das Machtgefälle zwischen dem
Behandlungsteam als Exekutive der
Justiz und dem Patienten wirkt oft demotivierend. Wenn die Autonomie,
die Freiwilligkeit und die Intimsphäre
eines Menschen derart eingeschränkt
werden, kann keine Eigenmotivation
mehr erwartet werden. Die Gefühle
des Patienten, ausgeliefert zu sein,
wecken nicht selten Erinnerungen an
frühere negative Erlebnisse und wirken oft lähmend. Im positiven Fall
können diese Gefühle genutzt werden, wenn die Patienten die Gelegenheit bekommen und es schaffen, negative Gefühle zuzulassen, wahrzunehmen und neue Bewältigungsstrategien auszuprobieren. Wenn neue Erfahrungen erlebt werden können,
wirkt sich das auf die Selbstwirksam-
keit und damit auf die Eigenmotivation aus.
Das Machtgefälle wirkt, nebenbei gesagt, sowohl auf die Patienten als auch
auf das Behandlungsteam. Die Gefahr
für das Team besteht meines Erachtens darin, dass in Konflikten machtvoll statt konstruktiv reagiert wird.
Dass Patienten die Arbeit an das
mächtige Team delegieren. Die Versuchung ist gerade bei anstrengenden
Patienten gross, dass aus der therapeutischen Arbeit eine andere Art
Strafvollzug gemacht wird, und es bedarf immer wieder neuer Anstrengungen, sich darauf zu besinnen und entsprechend zu handeln, dass wir in einer psychiatrischen Klinik arbeiten und
es mit psychisch kranken Menschen zu
tun haben.
Aufgrund unserer Funktion und unseres Auftrages sind wir als Psychotherapeuten gezwungen, im interdisziplinären Team und gegenüber der Justiz
Auskunft zu geben und unsere Patienten zu beurteilen. Gleichzeitig soll die
Psychotherapie einen Schutzraum bieten, einen Ort, an dem angstfrei über
alles und jedes berichtet werden, alles
an- und ausgesprochen werden darf.
Von allen Seiten ist grösstmögliche
Transparenz gefordert über etwas, das
üblicherweise als Intimbereich angesehen wird. Diese gegensätzlichen
Vorstellungen gleichen für die Therapeuten nicht selten einer Gratwanderung. Wir wollen eine stabilisierende
therapeutische Beziehung und werden
gleichzeitig zu Verrätern der therapeutischen Werte, was uns, aber auch unser Verhältnis zu den Patienten stark
belasten kann.
Speziell ist auch, dass die Patienten im
forensischen Bereich in Rheinau fast
ausnahmslos sehr schwere psychische
Erkrankungen haben – sonst wären sie
anderswo untergebracht oder würden
ambulant betreut. Wir behandeln keine Sexualstraftäter, es sei denn, die sexuelle Straftat stehe im Zusammenhang mit einer Psychose beziehungsweise einer Schizophrenie. Fast zwei
Drittel unserer Patienten leiden an Erkrankungen aus dem schizophrenen
Formenkreis, allen voran an paranoider Schizophrenie. Sie oder vielmehr
ihre Symptomatik wie Halluzinationen
oder Wahnerleben sind oft Auslöser
der Deliktvorgeschichte und des Delikts. Die übrigen Patienten leiden
mehrheitlich an Persönlichkeitsstörungen, ganz wenige an einer bipolaren
Störung.
Therapeutisch gesehen ergibt sich also
eine etwas einseitige Klientel, die uns
stark herausfordert. Schizophrene Patienten scheinen es etwas leichter zu
haben, Krankheitseinsicht zu entwickeln, zumal die Krankheit auch als gewisse Entlastung bezüglich des Delikts
dient.
Ich habe bereits erwähnt, dass offiziell
die Verbesserung der Legalprognose
das Ziel unserer Bemühungen ist. Für
mich als Therapeutin genügt das nicht,
denn diese Verbesserung kann vorübergehender Natur sein, wenn der
Mensch weiterleidet, keine Lebensziele hat und die Lebensqualität vermindert ist. Es gilt, die protektiven Faktoren, die Resilienz, zu steigern, damit
sich Schuldgefühle in Verantwortungsgefühle wandeln können und
grösstmögliche Autonomie bei grösstmöglicher Sicherheit für Patienten und
Umwelt entstehen kann. Dass es auf
diesem Weg eine Krankheits- und Delikteinsicht braucht, dass Patienten
sich vorbeugend eine möglichst hohe,
vor allem aber eine echte Medikamenten-Compliance erarbeiten, dass man
lernt, sich möglichst adäquat in sozialen Situationen zu verhalten, gehört
dazu.
Am Beispiel der Opferempathie, die
auch «verlangt» wird, zeigt es sich
aber, dass es mehr braucht. Wie soll
ein Täter Opferempathie lernen, wenn
er mit sich selber nicht empathisch ist,
seine Gefühle und seine Bedürfnisse
nicht wahrnehmen und/oder äussern
kann und sie, wenn er sie äussert, nicht
gehört werden? Sicherheit kann nur
jemand geben, der selbst einigermassen sicher ist. In der Therapie mit psychisch kranken Straftätern versuchen
wir, die Patienten so viel «Sicherheit»
erfahren zu lassen, dass sie es nicht
mehr nötig haben, sich durch Straftaten abzusichern – weder im Normalzustand noch in der Psychose. Und wir
versuchen ihnen zumindest einen Teil
der verlorenen Würde wiederzugeben.
Edith Burri
Fachwissen
Endstation Pöschwies?
Verwahrung als Ultima Ratio
Während eine Freiheitsstrafe als
Quittung für eine Straftat betrachtet
werden kann, ist die Verwahrung,
also die dauerhafte Wegschliessung,
eine präventive Sicherheitsmassnahme. Um potenzielle Opfer zu schützen, werden Verwahrte vorwiegend
in einer geschlossenen Strafanstalt
zurückbehalten – für etwas also, was
sie noch nicht getan haben, aber laut
Gefährlichkeitsprognose mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit tun
würden, wenn sie Gelegenheit dazu
hätten.
Bis Ende 2006 war die Verwahrung
von StraftäterInnen unter zwei
Rechtstiteln möglich: zum einen für
geistig Abnorme gemäss Art. 43 des
alten Strafgesetzbuchs (aStGB), zum
andern für Gewohnheitsverbrecher
gemäss Art. 42 aStGB. Laut einer Erhebung des Bundesamtes für Justiz
waren gesamtschweizerisch per Ende
2006 exakt 281 Straftäterinnen und
Straftäter verwahrt, 21 nach Art. 42
aStGB und 260 nach Art. 43 aStGB.
Die Strafanstalt Pöschwies beherbergte 1994 16 Verwahrte, 5 nach Art. 42
aStGB und 11 nach Art. 43 aStGB.
2006 waren es insgesamt 65 Verwahrte, 9 gemäss Art. 42 aStGB und
56 gemäss Art. 43 aStGB. Innerhalb
von zwölf Jahren hat sich also die Anzahl verwahrter geistig Abnormer in
der Strafanstalt Pöschwies verfünffacht! Warum?
Seit der schrecklichen Tötung einer
jungen Frau in Zollikerberg vom Oktober 1993 wurde im Kanton Zürich,
bis auf eine Ausnahme, kein Verwahrter nach Art. 43 aStGB entlassen. Im
Februar 2004 stimmte dann das
Schweizervolk der sogenannten Verwahrungsinitiative zu. Über den Abstimmungsgegenstand hinaus brachte die Mehrheit des Stimmvolkes in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass
sie vom Staat verlangt, potenzielle
Opfer vor gefährlichen Straftätern zu
schützen.
Verwahrung und stationäre Massnahme nach neuem Recht
Seit 1. Januar 2007 ist der neue allgemeine Teil des Schweizerischen Strafgesetzbuches in Kraft. Neben der Ver-
wahrung gemäss Art. 64 StGB, die in
erster Linie die Öffentlichkeit vor gefährlichen Sexual- und Gewaltstraftätern schützen soll und somit einem Sicherungszweck dient, kann nun bei
psychisch schwer gestörten Tätern
eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB angeordnet werden, sofern eine solche Behandlung Erfolg verspricht. Die stationäre Massnahme wird vom Gericht
für fünf Jahre angeordnet und kann
um jeweils fünf Jahre verlängert werden. Der Gesetzgeber zielt mit dieser
Bestimmung darauf ab, nur unbehandelbare und nicht behandlungswillige
Straftäter zu verwahren – die Verwahrung soll Ultima Ratio bleiben. Der
Schutz der Öffentlichkeit bleibt gewahrt, weil eine stationäre Massnahme, die nicht zu einer deutlichen Senkung des Rückfallrisikos führt, nachträglich in eine Verwahrung umgewandelt werden kann. Die stationäre
Massnahme gemäss Art. 59 StGB wird
deshalb auch als «kleine Verwahrung»
bezeichnet.
Die 281 verwahrten Personen per
Ende 2006 mussten vom zuständigen
Gericht dahingehend überprüft werden, ob die alte Verwahrung nach
neuem Recht weitergeführt oder ob
sie in eine stationäre Massnahme umgewandelt werden soll. Bis zum 30.
Juni 2009 waren von 281 Verwahrten
248 überprüft. Bei 106 Personen wurde die Verwahrung in eine stationäre
Massnahme, bei 6 in eine ambulante
Massnahme umgewandelt. Bei 129
Personen wird die Verwahrung nach
neuem Recht weitergeführt. 4 Personen sind unterdessen verstorben, und
3 Fälle wurden anders erledigt.
Schweizweit haben also 38 Prozent
der Verwahrten die Chance, sich mit
einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung im Rahmen der stationären Behandlung öffnende Vollzugsschritte, allenfalls bis zur bedingten
Entlassung, zu erarbeiten. Es sind zwar
immer noch dieselben Menschen, mit
denselben schweren Delikten und
denselben Persönlichkeitsstörungen,
aber sie sind vorerst vom Mal der Verwahrung befreit.
Auch in der Strafanstalt Pöschwies hat
sich die Anzahl der Verwahrten im
Ueli Graf, dipl. Psychologe IAP, geboren 1948, ist seit 1997 Direktor
der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf ZH. Er absolvierte das
Nachdiplomstudium Forensische
Fachqualifikation, IOT, Spezialisierung Prognostik. 1991 bis 1997
war er Mitglied des Grossen Rates
des Kantons Luzern.
E-Mail: ueli.graf@ji.zh.ch,
www.poeschwies.ch.
Vergleich mit dem 31. Dezember 2006
scheinbar halbiert. Aktuell befinden
sich 26 Verwahrte gemäss Art. 64
StGB im Hause, davon waren 24
schon nach altem Recht verwahrt. 35
Gefangene haben eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art.
59 StGB erhalten, davon waren 23
nach altem Recht verwahrt. 14 altrechtlich Verwahrte warten immer
noch auf den Überprüfungsentscheid
des zuständigen Gerichts.
Die öffentliche Meinung
Die öffentliche – oder besser die veröffentlichte – Meinung zur Verwahrung ist heute hochemotional und negativ besetzt. Mit einer Geschichte
über einen Verwahrten, in welchem
Zusammenhang auch immer, kann
mit geringstem Aufwand grosse mediale Aufmerksamkeit erzielt werden,
vor allem wenn es um Vorschläge
geht, die das Verwahrungsrecht ausweiten oder verschärfen wollen. Der
Verwahrte gilt als Ausbund allen
Übels, als Unmensch. Verwahrte sol-
19
20
Fachwissen
Endstation Pöschwies?
len für immer weggesperrt werden,
obwohl das StGB unter Art. 64a die
bedingte Entlassung aus der Verwahrung vorsieht, sobald anzunehmen ist,
dass sich der Betroffene in Freiheit bewährt. Verwahrte sollen keinen Urlaub erhalten, obwohl sich Betroffene
im Rahmen dieser Vollzugslockerung
seit Jahren bewähren. Verwahrte sollen innerhalb des geschlossenen Vollzugs isoliert werden und in Einzelhaft
leben müssen, obwohl sich die grosse
Mehrheit der Betroffenen im geschützten Rahmen des Vollzugs sozial
unauffällig verhält.
Die öffentliche Meinung ist meilenweit von dem entfernt, was uns das
Strafgesetzbuch und die Richtlinien
des Europarats vorgeben. Zudem orientiert sich die Bürgerschaft weniger
am geltenden Strafgesetzbuch, sondern mehr an voraufklärerisch anmutenden Strafkonzepten. Nicht der
Geist des modernen Strafgesetzes (per
Anfang 2007 nach ungenutzter Referendumsfrist in Kraft gesetzt), sondern
die aufgebrachte Volksseele bestimmt
zunehmend das Handeln des Justizvollzugs, was aus rechtsstaatlicher
Sicht zu denken geben muss.
Nullfehlerprinzip
Um die Befindlichkeit der Entscheidungsträger im Justizvollzug nachempfinden zu können, ist folgende
Frage zu beantworten: Wievielmal
darf die Hebamme den Säugling fallen lassen? Ich habe noch niemanden
gefunden, welcher der Hebamme
auch nur ein einmaliges Fallenlassen
eingeräumt hätte.
Das neue Recht sieht wie erwähnt
durchaus eine bedingte Entlassung
aus der Verwahrung vor, wenn zu erwarten ist, dass sich der Entlassene in
Freiheit bewährt. Es geht also darum,
dass dem Verwahrten eine gute Prognose gestellt werden kann. Praktisch
heisst das, dass die am Vollzug Beteiligten (Strafanstalt, Psychiatrisch-Psychologischer Dienst, einweisende Behörde, Fachkommission, Gutachter)
dem Inhaftierten ein geringes Rückfallrisiko attestieren.
Beziffern wir nun ein geringes Risiko
für eine schwere Straftat (Gewaltoder Sexualstraftat) mit einer Rück-
fallwahrscheinlichkeit von zehn Prozent, und stellen wir uns eine Testgruppe von zehn Verwahrten mit
demselben Rückfallrisiko vor. Die
Rechnung ist einfach: Statistisch wird
einer dieser zehn Verwahrten rückfällig werden, neun nicht. Weil wir nicht
wissen, welcher rückfällig werden
wird, verlangt das geforderte Nullfehlerprinzip, dass wir niemanden entlassen. Das Risiko eines Fehlentscheides
soll nicht von der Öffentlichkeit, sondern vom Täter getragen werden. Wir
nehmen mit dieser Haltung in Kauf,
dass ein Verwahrter länger als notwendig ohne Lockerungen im geschlossenen Vollzug bleiben muss
oder über eine gewisse Lockerungsstufe nicht hinauskommt. Der Auftrag
zur Resozialisierung wird durch den
Sicherungsauftrag zurückgedrängt.
Diese Politik wird von einer grossen
Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen.
Die Hürden vor einer Entlassung werden für Verwahrte also hoch bleiben.
Der Weg in die Freiheit wird ausnahmsweise über eine Umwandlung
in eine stationäre Massnahme, über
eine schwere Erkrankung oder die Invalidität führen.
Geforderter Justizvollzug
Der Justizvollzug ist doppelt gefordert: Zum einen sind die für die
Durchführung der stationären Behandlung
notwendigen
Plätze
schweizweit bereitzustellen. Die Strafanstalt Pöschwies führt seit 1. September 2009 eine Forensisch-Psychiatrische Abteilung mit zwei Behandlungsgruppen à zwölf Plätzen für die
Durchführung von stationären Massnahmen. Neben der bisherigen deliktorientierten Einzel- und Gruppenthe-
rapie wird in dieser Abteilung neu die
milieutherapeutische Behandlung angeboten. Dieser für die stationäre
Massnahme entscheidende Behandlungspfeiler entspricht in seiner Wirkung der Zuschaltung des Allradantriebs in schwierigem Gelände.
Zum andern dürfen die Verwahrten
nicht in Vergessenheit geraten. Nur
wenige unter ihnen werden auf dem
Umweg über die stationäre Massnahme eine Perspektive in Richtung Freiheit erhalten. Die grosse Mehrheit
wird lebenslang in gesicherter oder
beaufsichtigter Umgebung bleiben
müssen. In den nächsten Jahren werden spezielle Einrichtungen zu schaffen sein, die geeignet sind, Verwahrte, auch ältere und pflegebedürftige,
langfristig menschenwürdig unterzubringen, ohne dass sie vereinsamen
und stumpfsinnig werden.
Ueli Graf
Neue Mitglieder
Christine Baumgartner, Basel
Gabriela Felber Piso, Egerkingen
Anna Moser, Langnau
Neue Studentenmitglieder
Barbara Rehder, Niederhasli
Hanna Zihlmann, Horw
Ruth Aeppli, Steckborn
Mirjam Meier, Zürich
Nicole Mohyla, Bern
Yvonne Cavicchia, Gordola
Danielle Zollinger, Zürich
Nicole Burgermeister, Zürich
Jovita Faedi, Bern
Astrid Sommer, Zug
Rahel Müller, Allenwinden
Herzlich willkommen!
PsychotherapeutInnen SBAP.
Senta Reinmann, Kölliken
Rosangela Bontempi, Zürich
Fachpsychologin SBAP.
in Arbeits- und Organisationspsychologie
Katrin Rutz, Winterthur
Der SBAP. gratuliert!
Studie
Fakten zur Jugenddelinquenz
Tatort Bahnhofplatz, nachts
Wo, wann, wie, mit wem und warum
üben Jugendliche Gewalt aus? Welche Faktoren stehen im Zusammenhang mit gewalttätigem Verhalten?
Inwiefern unterscheiden sich gewalttätige von nicht gewalttätigen Jugendlichen? Dies sind einige der Fragen, die eine im Frühjahr 2008 im
Kanton St. Gallen durchgeführte Studie zu beantworten versucht.
Jugendliche im neunten Schuljahr (15bis 16-Jährige) füllten in der Schule
online einen Fragebogen aus, in dem
sie unter anderem zu ihren Täter- und
Opfererfahrungen für verschiedene
Delikte befragt wurden. Da der Fragebogen übers Internet ausgefüllt wurde und keine externen Personen, sondern die Lehrpersonen selber die Klassen während der Durchführung betreuten, konnten enorme Kosten gespart werden. Anstelle einer Stichprobenziehung konnte so eine Vollerhebung durchgeführt werden. Für die
Auswertung standen schliesslich 5200
Fragebogen zur Verfügung. Diese für
die Schweiz einzigartig hohe Zahl erlaubte auch Analysen von sehr selten
auftretenden Verhaltensweisen wie
zum Beispiel der sexuellen Gewalt unter Jugendlichen. In diesem Artikel
werden wir den Fokus auf das Freizeitverhalten der Jugendlichen legen. Die
gesamte Studie kann auf unserer
Homepage www.rwi.uzh.ch/killias
kostenlos heruntergeladen werden.
Wie viele Jugendliche waren nun im
letzten Jahr (vor der Befragung) gewalttätig? Insgesamt gaben 21 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten
mindestens ein Gewaltdelikt begangen zu haben. Gruppenschlägereien
(15 Prozent) und Körperverletzungen
(13 Prozent) kommen relativ häufig
vor, während Raubüberfälle (3 Prozent) und sexuelle Gewalttaten (1
Prozent) viel seltener begangen werden.
Für eine spezifische Präventionsarbeit
ist es unerlässlich, die Umstände der
Gewaltdelikte zu kennen, also vor allem zeitliche und örtliche Faktoren.
Die erhobenen Daten zeigen, dass fast
drei Viertel aller Gewalttaten an öffentlichen Orten, also auf der Strasse,
auf Plätzen, am Bahnhof, an Partys
usw., geschehen. Nur relativ wenige
Taten werden hingegen in der Schule
oder im privaten Raum – bei jemandem zu Hause – begangen. Dies kann
als erster Hinweis auf die Wichtigkeit
von Freizeitfaktoren im Hinblick auf
gewalttätiges Verhalten angesehen
werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die
zeitliche Verteilung von Gewaltdelikten. Insgesamt werden über die Hälfte aller Delikte nach 20 Uhr begangen.
Bedenkt man, dass die Zeitspanne
zwischen dem Aufstehen und 20 Uhr
normalerweise viel länger ist als diejenige zwischen 20 Uhr und dem ZuBett-Gehen, so wird klar, dass abends
und nachts überproportional häufig
Gewalt ausgeübt wird. Auch unterscheiden sich die Tatumstände zwischen Gewalttaten, die tagsüber, und
solchen, die abends und nachts begangen werden: Abends und nachts
agieren die Jugendlichen häufiger in
Gruppen, häufiger als tagsüber sind
Alkohol und Drogen im Spiel, und die
Tatsache, dass mehr Körperverletzungen mit Waffengewalt ausgeführt
werden, deutet darauf hin, dass die
Gewalt abends und nachts brutaler ist.
Faktoren, die mit Gewalt korrelieren
Neben der Frage nach den Tatumständen interessiert natürlich auch die Frage, was das für Jugendliche sind, die
Gewalt anwenden, was diese von
friedfertigen Jugendlichen unterscheidet – oder mit anderen Worten: welche Faktoren mit Gewalt korrelieren.
Es ist wichtig zu beachten, dass die
vorliegende Studie nur Korrelationen
aufzeigt; dass zum Beispiel der Prozentsatz von gewalttätigen Jugendlichen bei Schulrepetenten grösser ist
als bei Jugendlichen, die noch nie eine
Klasse wiederholen mussten. In welche Richtung ein allfälliger Kausalzusammenhang geht, kann statistisch jedoch nicht festgelegt werden. Sind die
Jugendlichen gewalttätig geworden,
weil sie eine Klasse repetieren mussten, oder ist nicht vielleicht die Repetition Folge ihres gewalttätigen Verhaltens? Diese Frage kann höchstens
inhaltlich begründet werden. Zudem
besteht auch die Möglichkeit einer
beiden Faktoren zugrunde liegenden
Simone Walser, Master of Science
in Psychologie, Psychopathologie
des Kindes- und Jugendalters und
Kriminologie, ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Kriminologischen
Institut der Universität Zürich unter Prof. Martin Killias. Zuvor war
sie Assistentin am Institut de criminologie et de droit pénal an der
Universität Lausanne.
Drittvariablen: So könnte eine geringe
Intelligenz die Ursache sowohl einer
Repetition als auch gewalttätigen Verhaltens bilden. Diese Problematik sollte bei den nachfolgenden Resultaten
immer im Hinterkopf behalten werden.
Inwiefern unterscheidet sich die Freizeitgestaltung von gewalttätigen und
nicht gewalttätigen Jugendlichen? Die
Zahlen der Studie zeigen, dass gewalttätige Jugendliche häufiger in Discos,
an Partys oder an Konzerte gehen,
mehr Zeit in Bars oder Beizen verbringen, häufiger in den Jugendtreff gehen, häufiger einfach so an öffentlichen Orten oder bei Freunden zu
Hause herumhängen und häufiger
Shoppingtouren machen. Zu Hause
surfen sie häufiger im Internet oder
spielen Computerspiele.
Nicht gewalttätige Jugendliche lesen
dafür häufiger ein Buch oder spielen
ein Musikinstrument. Auch unternehmen sie mehr mit ihren Eltern (zu Hause oder auswärts). Alle diese Unterschiede bleiben auch bestehen, wenn
21
22
Studie
Fakten zur Jugenddelinquenz
man das Geschlecht statistisch kontrolliert. Vor dem Fernseher sitzen gewalttätige und nicht gewalttätige Jugendliche gleich oft. Der Zusammenhang mit Gewalt ist für ausserhäusliche Aktivitäten stärker als für innerhäusliche – unabhängig davon, ob die
jeweilige Aktivität mit mehr oder weniger Gewalt einhergeht. Offensichtlich ist das Freizeitverhalten im öffentlichen Raum enger mit gewalttätigem
Verhalten verbunden als Aktivitäten,
die zu Hause ausgeübt werden.
Auffallend ist, dass der Zusammenhang mit Gewalt für Shopping im
Vergleich zu den anderen erhobenen
ausserhäuslichen Aktivitäten viel
schwächer ist. Dies könnte mit der Tageszeit der Ausübung zu tun haben.
Während alle anderen ausserhäuslichen Aktivitäten vorwiegend oder zumindest teilweise abends oder nachts
ausgeübt werden, ist Shopping praktisch ausschliesslich tagsüber möglich.
Für diese These spricht auch, dass bei
allen anderen ausserhäuslichen Aktivitäten ein Zusammenhang mit der Tatzeit der ausgeübten Gewaltdelikte gefunden wurde. Jugendliche, die also
beispielsweise häufiger in Discos gehen, begehen proportional mehr Gewaltdelikte abends oder nachts. Ein
solcher Zusammenhang zeigt sich
beim Shopping nicht. Offensichtlich
sind also vor allem das abendliche
Ausgehverhalten und das Herumhängen an öffentlichen Orten mit Gewalt
verbunden. Die Gewalt nimmt zu, je
häufiger die (männlichen oder weiblichen) Jugendlichen abends in den
Ausgang gehen.
Erwartungsgemäss sind ausserhäusliche Freizeitaktivitäten stark mit dem
Konsum von Alkohol und Drogen verbunden. Dabei lässt sich jedoch ein interessanter Aspekt erkennen: Während Alkohol am stärksten mit typischen Ausgangsaktivitäten (Disco-,
Party-, Konzert-, Restaurant-, Barund Beizenbesuchen) zusammenhängt, korreliert der Konsum von
Cannabis und harten Drogen am
stärksten mit dem Herumhängen an
öffentlichen Orten. Erfreulich ist, dass
der Besuch von Jugendtreffs nur relativ schwach mit dem Konsum von Alkohol und Drogen korreliert, obwohl
auch dies eine typische Ausgangsaktivität ist. Dies könnte ein Hinweis dafür sein, dass Jugendliche im Ausgang
unter Aufsicht von erwachsenen Personen weniger Substanzen konsumieren. Zusätzlich könnte hier wiederum
der Zeitfaktor eine Rolle spielen, da
Jugendtreffs ja meist relativ früh
schliessen.
Der Konsum von Alkohol und Drogen
spielt aber im Hinblick auf Gewalt
nicht nur bei Jugendlichen mit einem
intensiven Ausgehverhalten eine
wichtige Rolle. Im Gegenteil: Bei Jugendlichen, die nur selten abends ausgehen, ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und Substanzkonsum
gar noch stärker.
Präventionsarbeit ist essenziell
Eine wirkungsvolle Präventionsarbeit
in diesem Bereich erscheint folglich essenziell. Dass in diesem Bereich noch
viel Potenzial vorhanden ist, zeigt
auch die Tatsache, dass über die Hälfte aller Jugendlichen angeben, schon
mal Alkohol gekauft zu haben, obwohl sie dafür laut Gesetz noch zu
jung gewesen sind.
Sport gehört neben den erwähnten
Aktivitäten für die meisten Jugendlichen ebenfalls zur Freizeitgestaltung;
über 90 Prozent aller Jugendlichen betätigen sich in irgendeiner Form sportlich. Die Studie zeigt jedoch, dass
sportliche Aktivität keinen einheitlichen Zusammenhang mit Gewalt aufweist. Es gibt gewisse Sportarten (Reiten, Kunstturnen, Wandern, Schneesport, Badminton, Schwimmen und
Radsport), die mit verminderter Gewalt, und solche (Kampfsport, Krafttraining, Basketball, Fussball, Eishockey und Skateboarding), die mit
erhöhter Gewalt einhergehen. Diese
Resultate bleiben auch für weibliche
und männliche Jugendliche sowie für
Migranten und Nichtmigranten einzeln bestehen. Da weibliche Jugendliche und Nichtmigranten generell die
«sanften» Sportarten bevorzugen, ist
bei ihnen sportliche Aktivität mit weniger Gewalt verbunden, während bei
Migranten (die «harte» Sportarten
bevorzugen) Sport mit mehr Gewalt
korreliert. Bei männlichen Jugendlichen, die ebenfalls eher die «harten»
Sportarten bevorzugen, lässt sich kein
Zusammenhang zwischen Sport und
Gewalt feststellen.
Neben der Sportart ist auch die Clubzugehörigkeit ein Faktor, der mit gewalttätigem Verhalten zusammenhängen könnte. Hier zeigen die Daten
der Studie jedoch keine eindeutigen
Resultate. Jugendliche, die in einem
Club Sport betreiben, sind nicht weniger gewalttätig – und auch nicht gewalttätiger als Jugendliche, die auf eigene Faust sportlich aktiv sind.
Die Resultate zu Sport und Gewalt zeigen, dass Sport nicht per se als protektiver Faktor gegen Gewalt angesehen
werden kann. Anscheinend ist vor allem die ausgeübte Sportart – und weniger eine Clubzugehörigkeit – entscheidend. Es gilt jedoch auch hier zu
beachten, dass es sich allesamt um
Korrelationen handelt und somit statistisch gesehen keine Kausalitätsschlüsse zulässig sind. Da sich die
Sportarten im Hinblick auf zahlreiche
Faktoren unterscheiden, könnten
auch eher die Begleiterscheinungen
das gewalttätige Verhalten beeinflussen. So könnte zum Beispiel auch hier
wieder der Zeitfaktor eine Rolle spielen; diejenigen Sportarten, die mit verminderter Gewalt einhergehen, werden vorwiegend oder ausschliesslich
tagsüber ausgeübt. Detailliertere Analysen der vorliegenden Daten sowie
zusätzliche Forschung sind notwendig, um den Zusammenhang zwischen Sport und Gewalt genauer beschreiben zu können.
Simone Walser
Siehe auch «Jugendgewalt – Ursachen und Prävention» auf Seite 29.
punktum.-Redaktion
Wir freuen uns, Sabine Richebächer in unserer Redaktion willkommen heissen zu dürfen. Sie ist bekannt als Autorin von «Eine fast
grausame Liebe zur Wissenschaft»,
dem Buch über Sabina Spielrein im
Dörlemann Verlag.
SBAP. aktuell
Vorstandsnews
Berufspolitische News
Der SBAP., der Verband, der die Interessen der Angewandten Psychologie
vertritt
Mit der Bologna-Reform verändern
sich die Lebensläufe, die CV. Beispiel
Berufs- und Laufbahnberatung: Heute
können Fachpersonen mit einem Bachelor-Abschluss eines Nichtpsychologie-Studienganges ein MAS-Studium
in Berufs- und Laufbahnberatung absolvieren und im Berufsfeld der Angewandten Psychologie Berufs- und Laufbahnberatung anbieten. Es stellt sich
die Frage, ob der SBAP. in Zukunft ein
Verband für PsychologInnen und
NichtpsychologInnen sein wird.
Es ist eine Tatsache, dass in gewissen
Berufsfeldern, schon längere Zeit und
in Zukunft vermehrt, PsychologInnen
und qualifizierte NichtpsychologInnen
nebeneinander und miteinander im Berufsfeld der Angewandten Psychologie
tätig sein werden. Es dürfte deshalb
vermehrt von Interesse sein, dass im
Berufsfeld der Angewandten Psychologie für NichtpsychologInnen hohe
Standards gelten und diese für das Publikum sichtbar gemacht werden. Der
Vorstand beschäftigt sich intensiv mit
diesen Fragen, die auch unmittelbar mit
der Zukunft des Verbandes zu tun haben.
Skandal: Universitäten verfügen
praktisch Berufsverbot für FH-PsychologInnen
In der neusten Ausgabe der Regelung
des Praktikum-Moduls im Rahmen des
Masterstudiums Psychologie der Universität Zürich steht: «Die Studierenden achten bei der Auswahl einer Praktikumsstelle selbständig darauf, dass
die Betreuung durch eine Psychologin
/ einen Psychologen mit universitärem
Studienabschluss gewährleistet ist und
dass die geplanten Praktikumstätigkeiten Einblicke und Erfahrungen in einschlägige Tätigkeiten einer / eines universitär ausgebildeten Psychologin /
Psychologen vermitteln.»
Auch die Universität Bern anerkennt
lediglich von universitären PsychologInnen geführte Praktika. Dies führt
praktisch dazu, dass FH-PsychologInnen keine leitenden Stellen mehr einnehmen können – denn sie sind ja als
PraktikumsleiterInnen von den Universitäten nicht anerkannt. Diese Diskriminierung ist vor dem Hintergrund
des so lange ersehnten und nun vom
Bundesrat verabschiedeten PsyG besonders störend.
Wir werden uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr
setzen. Der SBAP. ist bereits bei der
Zürcher Regierungsrätin Regine
Aeppli vorstellig geworden.
«Fritz und Fränzi»
Während vieler Jahre hat Mariann Holti unzählige fachkompetente Antworten auf LeserInnenfragen in «Fritz und
Fränzi», dem Familienmagazin mit den
Themenschwerpunkten Erziehung,
Schule, Gesundheit, Freizeit und interkulturelles Zusammenleben, und in
dessen Online-Forum geschrieben.
Nun übergibt sie ihre Aufgabe an Simone Gruen. Wir danken Mariann Holti!
Betriebsbesichtigung 2009
Die Besichtigung der Firma Phonak
stiess bei unseren Mitgliedern auf grosses Interesse. Herzlich danken möchten
wir Stefan Heer, Stud. Psych. ZHAW
Dep. P, der uns spezielle Einblicke ermöglichte.
punktum. 2010
Fürs neue Jahr ist eine punktum.-Sondernummer zum Thema Schriftpsychologie geplant.
PsyG
Der Bundesrat hat das Psychologieberufegesetz (PsyG) ans Parlament
zur Beratung überwiesen. Hier das
Wichtigste in Kürze:
Das Gesetz bezweckt den Gesundheitsschutz und den Schutz vor Täuschung und Irreführung von Personen, die Leistungen auf dem Gebiet
der Psychologie in Anspruch nehmen.
Der Schutz für den Titel PsychologIn
gilt für diejenigen, die einen Master-,
einen Lizentiats- oder einen Diplomabschluss in Psychologie haben gemäss Universitätsförderungs- oder
Fachhochschulgesetz.
Im Gesetz wird unmissverständlich
klar, dass Psychotherapie eine Behandlung von psychischen Leiden mit
psychologischen Verfahren auf
Grundlage psychologischer Erkenntnisse ist. Deshalb verlangt das Gesetz
für die Weiterbildung zur Erlangung
eines eidgenössischen Weiterbildungstitels ein Psychologiestudium.
Explizit steht, dass, «wer einen akkreditierten Weiterbildungsgang in Psychotherapie absolvieren will, während
der Ausbildung eine genügende Studienleistung in klinischer Psychologie
und Psychopathologie erbracht haben» muss.
Die Weiterbildungsgänge müssen akkreditiert werden. Sie müssen «unter
der fachlichen Verantwortung einer
gesamtschweizerischen Fachorganisation, einer Hochschule oder einer anderen geeigneten Organisation» stehen und bauen auf der Hochschulausbildung in Psychologie auf. Die Akkreditierung gilt für höchstens sieben
Jahre. Das Akkreditierungsverfahren
ist mit Kosten verbunden.
Damit dürfte klar sein, dass kleinere
Weiterbildungsinstitutionen werden
fusionieren oder nicht mehr in dieser
Sparte werden tätig sein können.
Für die privatwirtschaftliche Berufsausübung als PsychotherapeutIn
wird weiterhin eine kantonale Bewilligung notwendig sein. Zu den obligatorischen Berufspflichten gehört
eine Berufshaftpflichtversicherung
oder das Erbringen einer vergleichbaren finanziellen Sicherheit. Das Wahren des Berufsgeheimnisses und die
kontinuierliche Fortbildung sind
ebenfalls Bestandteil der Berufspflichten.
Weitere eidgenössische Weiterbildungstitel sind:
– Kinder- und Jugendpsychologie,
– Klinische Psychologie,
– Neuropsychologie.
Der Bundesrat kann nach Anhörung
der Psychologieberufekommission für
andere unmittelbar gesundheitsrelevante Fachgebiete der Psychologie
eidgenössische Weiterbildungstitel
vorsehen.
Der Psychologieberufekommission,
die auch eine Geschäftsstelle unterhält, kommt eine wesentliche Bedeutung zu in Bezug auf Anerkennung
von Aus- und Weiterbildung. Die Vertreter sollen «angemessen» aus Wissenschaft, Hochschulen, Kantonen
und «der betroffenen Berufskreise»
vertreten sein.
23
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SBAP. aktuell
Berufspolitische News
Zu den Übergangsbestimmungen:
Das PsyG enthält in der vom Bundesrat verabschiedeten Fassung einige
Übergangsbestimmungen, deren Verständnis nicht einfach ist. Es gilt, drei
Fragen zu unterscheiden:
– Erstens: Wer darf sich nach dem Inkrafttreten PsychologIn nennen?
Nur Absolventen eines dem PsyG
entsprechenden Grundstudiums sind
berechtigt, sich als PsychologIn zu
bezeichnen (Art. 4 und Art. 2 PsyG).
Eine Übergangsbestimmung ist hier
nicht vorgesehen, was zur Folge hat,
dass als Psychologen tätige Personen, die kein gesetzeskonformes
Grundstudium absolviert haben,
keinen Titelschutz geniessen. Allerdings ist zurzeit noch nicht entschieden, ob dies auch für Personen gilt,
die über eine eidgenössisch anerkannte Weiterbildung (insbesondere in Psychotherapie) verfügen, und
ob sie den entsprechenden vom
Bundesrat noch festzulegenden Titel
(Art. 10 PsyG) führen dürfen.
– Zweitens: Welche AbsolventInnen
von Weiterbildungen sind dazu berechtigt, den vom Bundesrat erst
noch festzulegenden Weiterbildungstitel zu führen?
Das PsyG enthält dazu ausführliche
Übergangsbestimmungen. Diese sehen vor, dass PsychotherapeutInnen, die ihre Ausbildung an einer
vom Bundesrat anerkannten Weiterbildungsinstitution absolviert haben, über einen eidgenössischen
Abschluss verfügen. Sie sind demnach auch berechtigt, den vom Bundesrat festzulegenden Titel zu führen.
– Drittens: Kann eine Bewilligungsinhaberin bzw. ein Bewilligungsinhaber die Tätigkeit überall in der
Schweiz ausüben?
Das PsyG lässt die Zuständigkeit der
Kantone zur Ausstellung von Berufsausübungsbewilligungen unberührt. Wer im Erstkanton über eine
Berufsausübungsbewilligung verfügt, kann seine Tätigkeit nicht in
einem Zweitkanton ausüben, ohne
die dortige Bewilligung zu erlangen.
Verfügt die betreffende Person jedoch über eine eidgenössisch anerkannte Weiterbildung, so wird ihr
der Zweitkanton die Berufsausübungsbewilligung unter fachlichen
Aspekten ohne weiteres erteilen
müssen. Vorbehalten bleibt einzig
die Erfüllung bestimmter ergänzender Anforderungen des kantonalen
Rechts (Beispiel: § 4 GesG-ZH).
FH-Profil
Der Vorstand von FH SCHWEIZ beschloss an seiner letztjährigen Retraite, ein FH-Profil zu erstellen. Dies einerseits, um der Debatte ums Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im
Hochschulbereich (HFKG) gewachsen
zu sein, und andererseits, um den Behauptungen, dass die Fachhochschulen sich mehr und mehr den Universitäten anglichen, nachzugehen. Zahlreiche Recherchen und Befragungen
wurden durchgeführt. Erste Resultate
und Konsequenzen dieses Prozesses
liegen nun vor.
1. Es entstanden 13 Forderungen, die
das Ziel verfolgen, das eigenständige Profil der Fachhochschulen zu
sichern. Diese sollen Inhalt einer
Zusammenarbeitsvereinbarung mit
den Fachhochschulen bilden.
2. Ein Beirat, der sowohl aus Vertretern der Politik als auch der Wirtschaft besteht, wurde ins Leben gerufen. Ziel: gegenseitiger Interessens- und Wissensaustausch – und
eben auch entsprechende Vertretung der FH-Interessen.
Die politischen Vertreter des Beirates haben in der Vergangenheit bereits SBAP.-Interessen vertreten. Es
sind dies: NR Mario Fehr, SR Ivo Bischofberger, NR Christian Wasserfallen und die Präsidentin des Beirates, NR Brigitte Häberli.
3. Es braucht vermehrt FH-AbsolventInnen in den einschlägigen Gremien, die FH-Interessen vertreten
und beispielsweise Expertenstatus
innehaben.
4. Die FH SCHWEIZ muss als Organisation in der Öffentlichkeit sichtbarer sein und ergreift entsprechende
Massnahmen, welche die Kommunikation verbessern.
Die 13 Forderungen sind auf
www.fhschweiz.ch/content-n104-sD.html
publiziert.
Einige, die besonders für den Studiengang Psychologie von Interesse sind,
möchte ich hier herausgreifen:
– Die Einbindung von Dozierenden
aus der Praxis
Die Praxistätigkeit der Dozierenden
der Fachhochschulen ist ein zentrales Element, um das FH-Profil aufrechtzuerhalten. Nur so können die
Dozierenden den Studierenden auch
anwendungsorientiertes Wissen
vermitteln. Deshalb muss der Nachwuchs aus FH-Kreisen massiv gestärkt werden. Zudem müssen FHDozierende in der Praxis tätig oder
mit der Praxis verbunden sein. Unter anderem sind seitens Fachhochschule – anstelle eines PhD – diese
Besonderheiten auch für die Professorentitelvergabe zur berücksichtigen.
– FH-Absolventen in Gremien und
Führungsstufen
Gegenwärtig sind viele Stellungen in
Gremien bei Bund und Kantonen sowie auf Führungsstufen der Fachhochschulen ausschliesslich von Personen mit universitärem Ausbildungshintergrund besetzt. In Zukunft müssen vermehrt Personen
mit FH-Hintergrund berücksichtigt
werden.
– Promotion
Gegenwärtig kann im FH-Bereich
der Schweiz die Promotion nicht erlangt werden. Dies stellt gegenüber
den universitären Hochschulen eine
Ungleichbehandlung dar. Deshalb
muss diese Möglichkeit auch an
Fachhochschulen etabliert werden.
Der 2. Hochschultag der ZHAW mit
SBAP.-Preisträger Peter Schneider
Peter Schneider hielt ein brillantes
Keynote-Referat zum Thema «Finanzkrise und Bildungsblase». Sie finden es auf:
www.sbap.ch/service/news.php.
Worum ging es Peter Schneider? «Es
geht mir nicht darum, zu zeigen, wie
eine verfehlte Bildungspolitik Mitschuld an der Krise trägt, und Vorschläge für eine bessere Bildungspolitik zu machen, welche in der Lage ist,
unsere Wirtschaft krisentüchtiger zu
machen. Sondern darum, zu zeigen,
wie eine überkandidelte Business-
SBAP. aktuell
Berufspolitische News
Rhetorik und -Ideologie ein vernünftiges Nachdenken über Bildung ersetzt und ein Phänomen hervorgebracht hat, das man ohne viel Übertreibung analog zu den ökonomischen
Bubbles als ‹Bildungsblase› bezeichnen kann. Es scheint mir höchste Zeit
zu sein, heisse Luft aus unseren Bildungsinstitutionen abzulassen, statt
munter weiter zu blasen, bis die Blase
platzt.»
Die Podiumsdiskussion wurde dem
Niveau Peter Schneiders in keiner
Weise gerecht, die Chance einer spannenden Auseinandersetzung wurde
verpasst. Schade! Hoffen wir, dass
beim nächsten Hochschultag der Auswahl der Podiumsteilnehmer mehr
Aufmerksamkeit geschenkt wird – zur
Wertschätzung des Referenten und
zum Wohle der Zuhörer.
Cure und Care
Die Auseinandersetzungen im und
ums Burghölzli fanden im August ihren Niederschlag in der Tagespresse
und im «Beobachter». Den Leserbrief
des SBAP. möchten wir Ihnen nicht
vorenthalten: «Die Auseinandersetzungen in und um die Klinik Burghölzli lassen die PatientInnen nicht kalt.
Sie lösen Sorgen und Ängste aus, wie
es mit ihren Behandlungen und ihrem
Leben weitergehen soll. Noch werden
die Theaterstücke von Arthur Schnitzler gespielt, und deren Inhalt ist uns
gegenwärtig. Es geht die Angst um,
dass – wie damals – die ganz auf Rationalität und Fortschritt orientierte
Gesellschaft vergisst, dass im Unbewussten des Menschen Kräfte wohnen, die sich der Kontrolle des Verstandes entziehen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Hälfte aller chronisch erkrankten Patienten die
ihnen verordneten Medikamente
nicht einnehmen. Bei vielen neuropsychiatrischen Erkrankungen ist die
Noncompliance-Rate sogar noch höher. Die Hälfte aller stationären Behandlungskosten bei schizophrenen
und depressiven Patienten wird durch
Noncompliance verursacht. Es gibt sie,
und es wird sie weiterhin geben, die
Chronischkranken. Deshalb stelle ich
dem von Herrn Seifritz propagierten
‹Cure statt Care› das bescheidenere,
aber realistischere Cure und Care entgegen!
Die Leib-Seele-Diskussion ist jahrhundertealt. Es steht dem Burghölzli wohl
an, auf das Menschenbild, das hinter
den propagierten Therapiemethoden
steht, zu achten.
Vergessen wir nicht, dass niemand gegen stigmatisierende Einstellungen
gegenüber psychisch Kranken gefeit
ist. Eine menschenwürdige, zeitgemässe Psychiatrie orientiert sich an
neurobiologischen (pharmakotherapeutischen), sozialpsychiatrischen und
psychotherapeutischen Erkenntnissen.
Bilder des Gehirns können somatische
Korrelate für psychische Phänomene
sichtbar machen und der Verlaufskontrolle einer Behandlung dienen. Sie
können jedoch weder Aussagen über
die Ursachen einer psychischen Erkrankung machen, noch liefern sie
eine Theorie für das Verständnis komplexer psychischer Prozesse.
Die Wirksamkeit von Psychotherapie
an und für sich und die Nachhaltigkeit
der tiefenpsychologischen Verfahren
sind in zahlreichen wissenschaftlichen
Studien (Küchenhoff, Kächele, Gerlach) belegt.
Die psychiatrischen Kliniken sind auch
Ausbildungsstätten. Wir wünschen
uns psychiatrische Fachleute, die Medikamente verschreiben, von denen
sie die neurobiologischen Parameter
kennen. Wir wünschen uns aber auch
PsychotherapeutInnen, die im klinischen Bereich Erfahrungen sammeln
konnten. Konkret heisst dies: Assistenzärzte, PsychologInnen, Pflegepersonal benötigen ausreichend Zeit, um
ihren PatientInnen wirksam zu helfen
und Verläufe beobachten zu können.»
Und noch dies
Der SPV schmückt sich mit falschen
Federn. Im gemeinsamen Schreiben
von FSP und SPV bezüglich PsyG an
ihre Mitglieder gibt sich der SPV unkorrekterweise als ältester PsychotherapeuteInnenverband aus!
Korrekt ist, dass der SBAP. 1952 gegründet wurde und von jeher mehrheitlich klinisch und psychotherapeutisch tätige Mitglieder in seinen Reihen zählte. Die Gründung des SPV
folgte 1979 und diejenige der FSP
1987.
Der SBAP. wurde von der FSP im Vorfeld über diesen Brief informiert. Er
sollte die Mitglieder der beiden Verbände dahingehend beruhigen, dass
sich FSP und SPV im Rahmen des
PsyG nicht bekämpfen werden. Es bestand also keinerlei Notwendigkeit
seitens des SBAP., bei diesem Brief
mitzutun. Der SBAP. steht hinter dem
PsyG – ohne Wenn und Aber!
Heidi Aeschlimann
Präventionsgesetz:
Bundesrat verabschiedet Vorlage
Der 30. September 2009 kann nicht
nur wegen der Verabschiedung der
PsyG-Vorlage als eine Art Meilenstein
für die psychische Gesundheit in der
Schweiz angesehen werden: An diesem Tag wurde auch der Entwurf zum
Bundesgesetz für Prävention und Gesundheitsgesetz (Präventionsgesetz)
verabschiedet. Damit will der Gesetzgeber die Steuerung von Präventions-, Gesundheitsförderungs- und
Früherkennungsmassnahmen in der
Schweiz verbessern – und somit seinen in der Bundesverfassung (Art.
118) verankerten Gesetzgebungsauftrag erfüllen, Regelungen zur Bekämpfung stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten zu erlassen.
Dass im Präventionsgesetz Krankheit
definiert wird als «die Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Gesundheit, die nicht die
Folge eines Unfalls darstellt», zeigt,
dass der Gesetzgeber psychische Erkrankungen den somatischen gleichstellt. Die psychische Gesundheit wird
somit als gesellschaftlich bedeutsam
erkannt: eine dringend nötige Erkenntnis, denn rund die Hälfte der Bevölkerung leidet mindestens einmal im
Leben unter einer psychischen Störung, und etwa ein Viertel erkrankt jedes Jahr neu daran (vgl. «Nationaler
Gesundheitsbericht 2008» des Obsan).
Der Gesetzesentwurf enthält keine
spezifischen Präventionsmassnahmen, sondern regelt unter anderem
neue Steuerungs- und Koordinationsinstrumente (zum Beispiel von Bund
und Kantonen gemeinsam definierte
25
26
SBAP. aktuell
Berufspolitische News
nationale Ziele) und die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen,
also organisatorische Massnahmen,
die auch Finanzierungsfragen betreffen (beispielsweise Verwendung des
KVG-Prämienzuschlags und der Tabakpräventionsabgabe). Im Gesetz
vorgesehen ist auch ein Schweizerisches Institut für Prävention und Gesundheitsförderung als neues Kompetenzzentrum auf Bundesebene: Dieses
dient der Verbesserung von Synergien
und zur Effizienzsteigerung der heute
von verschiedenen national tätigen Akteuren (Gesundheitsförderung
Schweiz, Teilen des BAG usw.) wahrgenommenen Tätigkeiten.
PolitikerInnen und Fachleute aus allen
Lagern begrüssen die Vorlage sehr;
ihre Gegner stammen vornehmlich
aus Wirtschaftskreisen, und diese befürchten Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit: Der Gewerbeverband beispielsweise hat bereits mit dem Referendum gedroht. Eine unverständliche
Haltung, denn Prävention und Gesundheitsförderung, gerade im Bereich chronischer und psychischer
Krankheiten, senken nicht nur die Gesundheitskosten nachweislich, sondern stärken auch die Volkswirtschaft
durch die Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Wahrung der Arbeitsfähigkeit.
Infos: www.bag.admin.ch > Themen
> Gesundheitspolitik (Gesetzesvorlage) oder heloisa.martino@sbap.ch
Jugendförderungsgesetz:
Vernehmlassung eröffnet
Ein weiteres aktuelles Gesetzgebungsprojekt ist die Totalrevision des Jugendförderungsgesetzes (JFG). Ziele
des neuen Gesetzes sind: die Förderung offener und innovativer Formen
der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung der Kantone beim Aufbau und
bei der Weiterentwicklung ihrer Kinder- und Jugendpolitik sowie die Stärkung des Informations- und Erfahrungsaustausches und der Zusammenarbeit mit den kinder- und jugendpolitischen Akteuren.
Grund für die Totalrevision ist gemäss
Gesetzgeber, dass das bisherige Gesetz nicht mehr zeitgemäss sei: Das
JFG wurde vor etwa 20 Jahren erlassen, und seitdem habe sich das Umfeld für die ausserschulische Kinderund Jugendarbeit stark gewandelt,
etwa durch veränderte familiäre
Strukturen, Migration, neue Technologien. Das neue Bundesgesetz bezweckt ein stärkeres Engagement des
Bundes im Bereich Kinder- und Jugendförderung, und dies unter anderem mittels gesetzlicher Verankerung
und des Ausbaus der Förderung offener und innovativer Formen der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen und der Erweiterung der
Zielgruppe auf Kinder im Kindergartenalter. Eine weitere Massnahme
sieht auch die zeitlich befristete Anschubfinanzierung vor zugunsten der
Kantone für deren Aufbau und die
konzeptuelle Weiterentwicklung von
kinder- und jugendpolitischen Massnahmen.
Infos: unter: www.bsv.admin.ch >
Dokumentation > Vernehmlassungen
(Vernehmlassungsunterlagen) oder
heloisa.martino@sbap.ch
Aktionsbündnis Psychische Gesundheit Schweiz (ABPG)
Am 18. September 2009 hat die zweite Mitgliederversammlung (MV) des
ABPG in diesem Jahr stattgefunden.
Heloisa Martino wurde einstimmig in
den Vorstand gewählt. Im Zusammenhang mit den geplanten Projekten des ABPG hat das Plenum über
eine vom Vorstand vorgeschlagene
Initiative diskutiert: Diese soll als eine
erste öffentliche Aktion des ABPG sowie als Test für die erstrebte Referendumsstärke des Bündnisses lanciert
werden.
Die Initiative fordert, dass sich Bund
und Kantone aktiv um Information
der Bevölkerung für die Bedeutung
psychischer Gesundheit bzw. um Sensibilisierung für die Schwierigkeiten
und Anliegen von Menschen mit psychischen Krankheiten kümmern und
dass psychische Krankheiten in der
Gesundheitsversorgung den somatischen Krankheiten gleichgestellt werden. Diesem Projekt wurde einstimmig zugestimmt. Die Lancierung der
Initiative ist für Frühjahr 2010 vorgesehen.
Ebenfalls 2010 wird die Website des
ABPG lanciert − Heloisa Martino ist
aktiv daran beteiligt. Ein weiteres und
wichtiges Ziel für das neue Jahr ist das
Gewinnen zusätzlicher, engagierter
Mitglieder für das ABPG.
Infos: heloisa.martino@sbap.ch
Interessengemeinschaft Psychologische Arbeit mit chronisch körperlich
Kranken
Chronische körperliche Krankheiten
wie Krebs, Diabetes oder Aids stellen
nicht nur die Betroffenen und ihr Umfeld vor eine grosse Herausforderung,
sondern auch die Gesellschaft: Gemäss Schätzungen der Gesundheitsligen sind in der Schweiz 1,5 Millionen
Menschen davon betroffen. Die psychologische Arbeit mit Betroffenen
umfasst neben der konkreten Auseinandersetzung mit der Krankheit auch
die psychische Gesundheit an sich,
wie Coping, Ressourcenaktivierung
sowie Unterstützung von gesundheitsförderlichem Verhalten. Obwohl
erste erfolgversprechende Ansätze
dieser Arbeit durchaus vorangetrieben
werden, wird sie im heutigen Gesundheitssystem nach wie vor nur schwach
einbezogen.
Zum Vorteil der Betroffenen, aber
auch des Berufsstandes sei es dringend notwendig, dass PsychologInnen ihre Fachkompetenzen in diesen
Bereich einbringen. So lautet die Forderung des Psychologen Alfred Künzler (Präsident FSP) und der Psychologin Reginne Strittmacher (Rheumaliga
Schweiz), beide InitiantInnen der Interessengemeinschaft Psychologische
Arbeit mit chronisch körperlich Kranken. Dafür seien die Schaffung und
der Ausbau von Strukturen und Angeboten zentral − was zunächst die
Etablierung des Themas in Berufs- und
Bildungspolitik voraussetzt.
Am 1. Juli 2009 haben sie diverse ExpertInnen zu einem Initialtreffen eingeladen. Dieser Einladung gefolgt sind
neben Heidi Aeschlimann auch VertreterInnen von Fach- und Berufsverbänden (unter anderem Public Health
Schweiz) sowie von Hochschulen und
Gesundheitsligen (unter anderem
Krebsliga Schweiz). Ziele waren eine
Bestandesaufnahme der aktuellen
SBAP. aktuell
Berufspolitische News
psychosozialen Versorgung von Betroffenen sowie eine Situationsanalyse der psychologischen Arbeit in diesem Bereich.
Im Rahmen dieses Treffens wurde
festgehalten, dass der Aufbau psychologischer Arbeit in der Psychoonkologie und in der Schmerztherapie bereits fortgeschritten sei; die auf diesen
Gebieten erarbeiteten Grundlagen
sollten genutzt werden. Auch Rehabilitationskliniken bauen ihre psychologischen Angebote stetig aus, denn
diese gehören schon heute zu den
Forderungen von Leistungsträgern
(Kantonen und Versicherern) und des
Qualitätsmanagements. Dieser Trend
ist aufzugreifen.
Als wichtig erachteten die Teilnehmenden, dass die Möglichkeiten in
den bestehenden Kranken- und Invalidenversicherungsgesetzen im Hinblick auf Leistungserweiterung, Abrechnungsoptionen oder Leistungsverträge zu eruieren und entsprechend auszuschöpfen seien.
Alle Anwesenden begrüssten die weitere Bearbeitung dieses Themas und
einigten sich auf folgendes Vorgehen:
Eine interdisziplinäre Plattform wird
geschaffen sowie eine Arbeitsgruppe
gebildet, die sich dem Verfassen eines
Positionspapiers widmen wird; dieses
soll von der Gesamtgruppe verabschiedet werden. In der Arbeitsgruppe sind, neben den InitiantInnen, Roberto Brioschi (Geschäftsleitung RehaClinic, Bad Zurzach), Gion Duno Simeon (Kantonsspital Chur) und Heloisa Martino (SBAP.) aktiv.
Infos: heloisa.martino@sbap.ch
Projekt «Psychologie TV»
Im August erreichte uns eine Anfrage
der Firma Zapperbusch GmbH: Diese
«Agentur für Bewegtbildkommunikation» aus Bern realisiert in den nächsten Monaten das Projekt «Psychologie TV», einen Internet-/Web-TVSpartensender. Der Projektleiter wird
das Projekt im Herbst (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) vorstellen,
das interessante Möglichkeiten der
virtuellen Kommunikation eröffnet,
beispielsweise das Einrichten von interaktiven Sitzungen im Rahmen von
Online-Psychotherapie.
Berufsbegleitende Weiterbildungslehrgänge
MAS Systemische Psychotherapie
mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt
In Kooperation mit dem ZSB, Bern
Die empirisch abgesicherte, störungsbezogene Psychotherapie-Weiterbildung,
in der die praktische Umsetzung im Zentrum steht. Abschluss: Master of
Advanced Studies ZFH, Anerkennungen: Fachtitel Psychotherapie FSP, SBAP.,
FMH empfohlen.
Infoveranstaltungen:
11. Januar 2010, 18.00 Uhr, IAP, Merkurstrasse 43, Zürich
22. März 2010, 18.00 Uhr, ZSB, Vilettemattstrasse 15, Bern
MAS Systemische Beratung
In Kooperation mit dem ZSB, Bern
Der MAS vermittelt Kenntnisse in systemischer, ressourcen- und lösungsorientierter Beratung und deren Umsetzung in die Beratungspraxis. Abschluss:
Master of Advanced Studies ZFH.
CAS Positive Peer Culture
Der CAS führt in die Grundlagen und Praxis von Positive Peer Culture (PPC) ein.
Er vermittelt die Kompetenz, Gruppentreffen mit Jugendlichen zu moderieren.
Die Absolventinnen und Absolventen sind zudem in der Lage, andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Co-Trainer auszubilden bzw. anzuleiten.
Infoveranstaltung:
8. März 2010, 18.15 Uhr, IAP, Merkurstrasse 43, Zürich
MAS Berufs-, Studien- und
Laufbahnberatung
Der MAS vermittelt fundiertes, auf den internationalen Forschungsstand
ausgerichtetes Wissen und befähigt, eine Tätigkeit als Berufs-, Studien- und
Laufbahnberater/in auszuüben. Abschluss: Master of Advanced Studies ZFH,
Berufs-, Studien- und Laufbahnberater/in BBT.
Infoveranstaltung:
29. März 2010, 18.15 Uhr, IAP, Merkurstrasse 43, Zürich
Info und Anmeldung: Tel. +41 58 934 83 33, info.iap@zhaw.ch
www.iap.zhaw.ch > Weiterbildung > Psychologen/-innen
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SBAP. aktuell
Berufspolitische News
Aktuelles aus der Geschäftsstelle
Dritte überregionale Plattform Psychoonkologie
Am 6. November 2009 fand die dritte Plattform Psychoonkologie statt. Einer der Schwerpunkte war der Informationsaustausch zwischen den diversen regionalen Plattformen: Was
wurde in diesen Gruppen besprochen,
welche Erfahrungen gesammelt? Wie
geht es mit den Regionalgruppen weiter?
Der zweite Teil der Plattform stellte
das Thema der Achtsamkeit in der
Psychoonkologie ins Zentrum. Das
Konstrukt der Achtsamkeit, dessen
Einbettung in die Psychoonkologie
und die bisherige Wirksamkeitsforschung dazu wurden zunächst theoretisch erläutert. Danach sollte dieses
den Teilnehmenden anhand eines
Fallbeispiels aus der praktischen Arbeit nicht nur näher gebracht, sondern
auch konkret erfahrbar gemacht werden: Die Anwesenden wurden in verschiedene kurze Achtsamkeitsübungen angeleitet, die sie ausprobieren
konnten.
Heloisa Martino
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Rechtzeitig auf den Winter konnten
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erleichtert dieser Pool mit seiner Online-Plattform die Orientierung im
Schweizer Beratungsmarkt. Auftraggeber und Anbieter von Beratung und
Personalentwicklung können sich dort
treffen, ihre Projekte kostenlos ausschreiben, ihr Profil veröffentlichen
oder selber nach einer Fachperson suchen. In Form von Fachbeiträgen,
Buchtipps, Praxishilfen, Verzeichnissen usw. steht eine breite Informationspalette zur Verfügung (siehe auch
beiliegenden Flyer).
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Ihre SBAP. -Geschäftsstelle
Freitag, 26. – Sonntag, 28. März 2010
Verhaltenstherapietage 2010
Fortbildungsveranstaltung in Zusammenarbeit mit dem IFT-Gesundheitsförderung, München, und
der Schweizerischen Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie.
Eröffnungsveranstaltung am Freitag zum Thema «Neue Entwicklungen in der Psychotherapie» mit
• Prof. Dr. Ulrike Ehlert, Psychologisches Institut, Universität Zürch
• Andrew T. Gloster, Ph. D., Klinische Psychologie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden
Kurse Samstag / Sonntag
Ein- und zweitägige Kurse, geleitet von Referenten aus der Schweiz und Deutschland, zu folgenden
Inhalten: Burnout, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, geringer Selbstwert, Angststörungen,
Suizidalität, Supervision, Gruppentherapie, körperdysmorphe Störung, Beziehungsgestaltung und Trauer.
Weitere Informationen zur Veranstaltung und den Themen finden Sie unter www.privatklinik-meiringen.ch
Privatklinik Meiringen AG
Willigen
CH-3860 Meiringen
Telefon +41 33 972 81 11
www.privatklinik-meiringen.ch
Ein Unternehmen
der Michel Gruppe
Ärztliche Leitung:
Prof. Dr. med. M. Soyka
Gelesen
Jugendgewalt – Ursachen und Prävention
Klaus Wahl, Katja Hees: Täter oder Opfer?
Klaus Wahl, Sozialwissenschaftler und
Leiter der wissenschaftlichen Stabsabteilung des Deutschen Jugendinstituts, und die Journalistin Katja Hees
unternehmen den anspruchsvollen
Versuch, Ausmass, Formen, Entstehung und Prävention von Jugendgewalt darzustellen.
Im ersten Teil werden Zahlen und Daten zur Jugendgewalt diskutiert.
Ein Abschnitt widmet sich dem wichtigen Thema der Mehrfach- und Intensivtäter. Bei der Besprechung statistischer Untersuchungen zur Jugendgewalt kommen die Autoren zu
keinem eindeutigen Ergebnis bezüglich der Frage, ob diese zugenommen
hat. Zur qualitativen Veränderung gewalttätigen Handelns Jugendlicher
wird aufgezeigt, dass in allen deutschsprachigen Ländern die schweren
Delikte wie Körperverletzung und
Raub seit mehreren Jahren deutlich zunehmen.
Im zweiten Teil wird Jugendgewalt in
verschiedenen Kontexten besprochen
und anschaulich dargestellt: Tatort
Schule: Vandalismus, Bullying, Amokläufe; Hooligans; rechte Gewaltszene:
Skinheads und Neonazis; linke Gewaltszene: Punks, Autonome und Antifa, interethnische Gruppengewalt;
islamistische Gewalttäter; gewalttätige Mädchen.
Die Ursachen von Jugendgewalt sind
Thema des dritten Teils. Das Zusammenspiel von Erbanlagen und Umwelteinflüssen, Erfahrungen, welche
die Aggressionsentwicklung prägen,
psychische Dynamik und Struktur,
der Einfluss sozialer Isolation und Medien sowie die Interaktion von Ideologie und Aggression werden besprochen.
Im letzten Teil werden neue Erkenntnisse und Formen der Prävention diskutiert und für Prävention bereits im
frühen Lebensalter plädiert. Schliess-
ab 16.08.2010
SBAP, FSP, VEF und SGS anerkannt
Systemisch-Lösungsorientierte Therapie & Beratung
für Einzelne, Paare und Familien
Leitung:
Dr. med. D. Mentha & Th. Estermann
(lic. phil. Fachpsychologe für Psychotherapie FSP)
Investition:
Total Fr. 21'990.-für 86 Seminartage & 16 Gruppensupervisionstage
Titel:
Fachpsychologe/-in für Psychotherapie FSP
Inhalt:
Prämissen und Techniken:
- Systemischer Beratungskonzepte
(Ludewig, von Schlippe, Schweitzer, u.v.m.)
- Lösungsfokussierter Therapiekonzepte
(St. de Shazer, Insoo K. Berg, u.v.m.)
- Hypnosystemischer Überlegungen (G. Schmidt)
Dozenten:
namhafte DozentInnen wie Dr. Gunther Schmidt,
Prof. Dr. Arist von Schlippe, Jürgen Hargens,
Dr. Luc Isebaert, Uli Clement, Michael Dahm
w i l o b AG, Hendschikerstrasse 5, CH-5600 Lenzburg
Tel.: 062 892 90 79, Fax: 062 892 90 78
wilob@solnet.ch, www.wilob.ch
Klaus Wahl, Katja Hees: Täter oder
Opfer? Jugendgewalt – Ursachen
und Prävention.
Ernst Reinhardt Verlag, München
2008, 174 Seiten, Fr. 34.50,
ISBN 3-497-02037-0.
lich werden verschiedene in Deutschland eingesetzte Präventionsprogramme vorgestellt.
Es ist den Autoren gelungen, das Thema Jugendgewalt auf engem Raum
von unterschiedlichsten Seiten her zu
beleuchten – dies jedoch auf Kosten
der Tiefe. In den Fallbesprechungen
und den entwicklungspsychologischen Erläuterungen werden die Erkenntnisse der Bindungs- und Kleinkindforschung der letzten Jahre zu
wenig berücksichtigt. Die Stärke des
Buches liegt in der breiten Übersicht
zum Thema und in der Darstellung
verschiedener Kontexte der Gewaltausübung sowie den dazugehörigen
Fallbesprechungen. Auch kommen
Jugendliche immer wieder selbst zu
Wort und schildern ihre persönlichen
Geschichten und Sichtweisen.
Das Buch richtet sich nicht primär an
Psychologen, sondern an Fachleute
verschiedener Disziplinen und aufgrund der leicht verständlichen Sprache auch an weitere interessierte
Kreise.
Richard Winzeler
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Gelesen
Psychoanalyse und Körper
Peter Geissler: Analytische Körperpsychotherapie
Der Wiener Arzt und Psychotherapeut
Peter Geissler ist profilierter Autor von
zahlreichen Büchern zum Thema analytische Körperpsychotherapie. Er
setzt sich verdienstvoll und effizient
für die Verknüpfung der beiden Therapierichtungen Psychoanalyse und
Körperpsychotherapie ein. Als Begründer und Organisator des Wiener
Symposiums Psychoanalyse und Körper, das dieses Jahr zum siebten Mal
stattfand, weiss er vielseitige, interdisziplinär befruchtende Programme zusammenzustellen.
2007 hat Geissler zusammen mit Günter Heisterkamp ein umfangreiches
und sehr lesenswertes Lehrbuch über
die psychoanalytisch orientierte Körperpsychotherapie unter dem Titel
«Psychoanalyse der Lebensbewegungen» vorgelegt. Nun vermittelt sein
neuer Band, «Analytische Körperpsychotherapie», einen Überblick über
die Entwicklung seit den neunziger
Jahren. Nach jahrelangem Ringen um
ein gegenseitiges theoretisches und
praktisches Verständnis entfaltete sich
die Körperpsychotherapie unter dem
Namen analytische Körperpsychotherapie als eigenständiges psychotherapeutisches Verfahren innerhalb der
Psychoanalyse. Dass dies zustande
kam, ist weitestgehend Geisslers Verdienst.
Es ist lehrreich, die Entstehungsgeschichte einer Methode zu betrachten, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Zeit, in welchem Umfeld und vor
welchem theoretischen Hintergrund
eine neue Therapieform auftaucht,
sich entwickelt, ausbreitet, andere
Methoden beeinflusst und sich
schliesslich etabliert. Anhand von
Geisslers eindrücklicher Ausbildungsbiographie, die mit der Psychoanalyse
und vor allem der bioenergetischen
Analyse begann, zeigt sich, wie aktuell viele Fragestellungen nach wie vor
sind und wodurch sich andere inzwischen verändert oder erübrigt haben.
Das Buch vereint eine Sammlung von
Aufsätzen, in denen Geisslers profundes Wissen und seine reiche Erfahrung
als Körperpsychotherapeut zum Ausdruck kommen. Kapitelüberschriften
lauten beispielsweise «Auf den Spuren
von Ferenczi, Balint und Winnicott:
Liebe und Hass in einem für körperund handlungsbezogene Interventionen offenen Setting» (2002), «Der
Körper in der analytischen Körperpsychotherapie» (2006), «Überlegungen
zur theoretischen Konzeptualisierung
des Körpers in der analytischen Körperpsychotherapie» (2007), «Die Körperpsychotherapie im Spiegel der
Säuglingsforschung» (2007) oder
«Analytische Körperpsychotherapie
als eigenständige psychotherapeutische Methode» (2008). Auch finden
sich Zusammenfassungen aus seinen
früheren Büchern, etwa aus «Mythos
Regression» (2001) oder aus «Selbstregulation» (2004).
Neben der enormen Vielfalt eines solchen Sammelbands sei ein Hauptaspekt besonders hervorgehoben: In
der analytischen Körperpsychotherapie steht die Interaktion zwischen
Klient und Therapeut in ihrer körperlichen Manifestation im Mittelpunkt.
Geissler schlägt den Begriff «interaktioneller Körper» vor. Gemeint ist der
Körper, wie er in der Körperpsychotherapie unmittelbar in der Interaktion zwischen Klient und Therapeut in
Erscheinung tritt. Das hat für das Rollenverständnis des Therapeuten weit
reichende Konsequenzen, verlangt es
doch möglichst ständige Authentizität in der Begegnung mit dem Klienten. Um sich als Körperpsychoherapeut als Teil dieser Zwei-PersonenPsychologie adäquat in das Behandlungsgeschehen einzubringen, wird
unter anderem der Rolle der Emotionen als Repertoire des «emotionalen
Signalisierens» in der Interaktion eine
grosse Bedeutung zugeschrieben. Wie
Geissler dies aufzeigt, mit Fallbeispielen bebildert und immer wieder auch
in den Bezugsrahmen der Säuglingsforschung und Videointerventionstherapie stellt, ist für Körperpsychotherapeuten, die das relationale Verstehen in ihrer Praxis ernst nehmen
und umsetzen wollen, sehr wertvoll.
Die Kapitel «Auge und Affekt» und
«Die Welt ist Klang» können als Anregung zur Vertiefung der eigenen
Wahrnehmungs- und Resonanzfähigkeit verstanden werden – im Sinne des
deutschen Naturphilosophen Lorenz
Oken: «Das Auge führt den Men-
Peter Geissler: Analytische
Körperpsychotherapie –
Eine Bestandsaufnahme.
Edition Psychosozial,
Giessen 2009,
383 Seiten, Fr. 64.90,
ISBN 3-89806-879-X.
schen in die Welt, das Ohr führt die
Welt in den Menschen.»
Ein ausführliches Literaturverzeichnis,
ein Personen- und Stichwortregister
sowie ein hilfreiches Glossar vervollständigen den Band, der allen an der
Verbindung von Psychoanalyse und
Körperpsychotherapie Interessierten
zur Lektüre sehr zu empfehlen ist.
Maria Steiner Fahrni,
Psychotherapeutin SPV und SBAP.
Inserat
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Oh-la-la
Liebesgeflüster
Ein Spiel für Paare: Über Sex reden
– (k)ein leichtes Spiel
Der SBAP. gratuliert Henri Guttmann, Psychotherapeut SBAP. für
Paare und Familien zum soeben
erschienen Spiel.
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Punktum-LeserInnen beziehen
dieses Spiel zum Spezialpreis von
CHF 22.95 direkt unter
www.liebesgefluester.ch
Henri Guttmann schreibt, dass ihm
immer wieder aufgefallen ist, dass
auch in guten, langjährigen Liebesbeziehungen kaum mehr über sexuelle Wünsche gesprochen wird.
In sämtlichen Ratgeberbüchern
steht: Redet über Eure Wünsche!
In Wirklichkeit wird jedoch
geschwiegen. Das Spiel Liebesgeflüster schliesst eine Lücke, indem Paare auf heitere, aber auch
ernsthafte Weise – ohne viel Worte zu verlieren – miteinander bisher
verheimlichte Wünsche austauschen können. Das Spiel wird auf
www.liebesgefluester.ch beschrieben. Der bekannte deutsche Autor
und Sexualtherapeut Prof. Dr.
Ulrich Clement aus Heidelberg
schrieb: Das Spiel Liebesgeflüster
ist in eine witzige Form gebracht,
die einladend ist und die das
Potential hat, eingeschlafene Partnersexualität wieder aufzuwecken.
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Informationsabend zur
zur Praxis
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Schweizerische Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung. Psychotherapie. Beratung.
Postgraduale Weiterbildung 2009 – Personzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers
Vierjährige berufsbegleitende Weiterbildung für PsychologInnen und ÄrztInnen. Anerkannt durch alle
namhaften Fachverbänden, insbesondere durch FSP, SBAP und FMH.
Beginn:
Ort:
Leitung:
Dezember 2009
Dauer Phase I: 2 Jahre
Die Seminare finden extern mit Übernachtung statt, die Supervision in den Praxen der
AusbilderInnen.
Rainer Bürki, Simone Grawe, Dora Iseli Schudel (Gruppenselbsterfahrung)
Information: Geschäftsstelle pca.acp | Josefstrasse 79 | 8005 Zürich | T 044 271 71 70 | www.pca-acp.ch
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SBAP.-Agenda
16.03.2010
59. Mitgliederversammlung im Restaurant Zunfthaus zur Waag, Münsterhof 8, 8001 Zürich.
Ab 18 Uhr Apéro, 19.30 Uhr Mitgliederversammlung
19.05.2010
Alumni-Veranstaltung an der ZHAW Dep. AP, Zürich.
Thema: Demenz, Referentin: Frau lic. phil. Jutta Stahl, ZHAW.
Film: Zeichensprachen, Signale des emotionalen Ausdrucks von Menschen mit Demenz.
Beginn: 18 Uhr, Apéro ab 19.30 Uhr
25.06.2010
Betriebsbesichtigung Schweizer Fernsehen SF in Zürich
Beginn: 16.45 Uhr. Kosten Billag 10 Fr.!
14.09.2010
Forum 13: Restaurant Linde Oberstrass, Universitätsstr. 91, 8006 Zürich.
Thema: Neue Medien in der Berufspraxis aus psychologischer Sicht.
Referentin: Frau lic. phil. Annette Kielholz, Psychologin.
Ab 18 Uhr Apéro, 19 Uhr Referat. Gäste willkommen
05.10.2010
5. SBAP.-Preisverleihung im Kunsthaus-Saal in Zürich
28.10.2010
Jubiläum Schweizerische Graphologische Gesellschaft (SGG).
Redaktionskommission:
Heidi Aeschlimann
Barbara Fehlbaum
Manuela Lisibach
Heloisa Martino
Claudio Moro
Sabine Richebächer
Koordination /
Inserate und Beilagen:
SBAP. Geschäftsstelle
Auflage:
1600 Exemplare
Redaktionsschluss
Nr. 1/2010: 11. Januar 2010
MitarbeiterInnen dieser Ausgabe:
Heidi Aeschlimann
Edith Burri
Samuel Buser
Fritz Frauenfelder
Ueli Graf
Otto Horber
Daniel Jositsch
Carole Kherfouche
Manuela Lisibach
Heloisa Martino
Heinz Marty
Claudio Moro
Jan Needham
Markus Oertle
Maria Steiner Fahrni
Simone Walser
Richard Winzeler
Layout, Druck und Ausrüsten:
Druckerei Peter & Co., Zürich
Lektorat:
Thomas Basler, Winterthur
Konzept und Gestaltung:
greutmann bolzern zürich
Adresse:
SBAP. Geschäftsstelle
Merkurstrasse 36
8032 Zürich
Tel. 043 268 04 05
Fax 043 268 04 06
info@sbap.ch
www.sbap.ch
ISSN 1662-1778