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ANDREA BIELER ABTAUCHEN MIT LUC BESSON: IMPLIZITE RELIGIÖSE SPUREN IM WERK DES FRANZÖSISCHEN FILMEMACHERS Der Regisseur Luc Besson gilt seit den achtziger Jahren als einer der erfolgreichsten französischen Filmemacher, der nicht nur in Frankreich, sondern auch auf der internationalen Bühne, insbesondere in den USA, Aufsehen erregt hat. Er ist durch die kreative Mischung von Filmgenres hervorgetreten, die überraschende Interpretationen von Figuren und Handlungen ermöglichen. In seiner Heimat gilt er als umstrittene Figur. Bessons Filme wurden vom Publikum geliebt und von der Filmkritik zerrissen. „Er sei ein ‚chausseur des images‘, seine Filme glichen mehr in die Länge gezogenen, zweistündigen Videoclips denn cineastischen Werken – ein Kino der Oberfläche, eben des schönen Scheins, eben ein cinema du look.“1 Der Autodidakt Besson polemisierte gegen den von ihm als elitär empfundenen Anspruch des französischen Films: „Die eigene Intellektualität mit populären Gedanken in Beziehung zu setzen ist ein […] generöser Akt. Die eigene Intellektualität einfach nur zur Schau zu stellen und nicht über den Austausch nachzudenken, ist selbstverliebte Nabelschau, die dem Zweck der Kunst zutiefst widerspricht. Kunst sollte freigiebig und populär sein, wenn sie dies nicht ist, ist sie sinnlos.“2 Besson beschreibt sich selbst als Geschichtenerzähler, als jemand, der unterhalten und dabei ausdrücklich das Lebensgefühl von Jugendlichen ansprechen will. Die Mehrzahl seiner Filme wurde während der Mitterand-Ära gedreht, die mit großen Hoffnungen auf eine sozialistische Reorientierung der Gesellschaft begann und in zynischer Ernüchterung besonders für die Jugendlichen in den Vorstädten endete. Rassismus, Erwerbslosigkeit, gebrochene Versprechen, Misstrauen gegenüber der Erwachsenen-Gesellschaft sowie Perspektivlosigkeit prägten das Lebensgefühl vieler junger Menschen. Sie sind das von Besson primär imaginierte Publikum.3 1 2 3 Mioc, Petra: Jenseits der Normalität – Reisen zum Planeten des Luc Besson. In: Stigletter, Marcus (Hrsg.): Splitter im Gewebe. Filmemacher zwischen Autorenfilm und Mainstreamkino, Mainz 2000, 253. Besson, Luc: L’Histoire de Léon, Paris 1995, 170. In folgenden Filmen führte Besson unter anderem zwischen 1982 und 2006 Regie: LE DERNIER COMBAT (Der letzte Kampf, F 1982); SUBWAY (Subway, F 1985); LE GRAND BLEU (Im Rausch der Tiefe, F 1987); NIKITA (Nikita, F/I 1989); ATLANTIS (Atlantis, F/I 1991); LEON (Léon der Profi, F 1994); THE FIFTH ELEMENT (Das fünfte Element, F 1997); THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC (Johanna von Orléans, F/USA 2 ANDREA BIELER Der folgende Beitrag geht den Spuren impliziter Religion nach, die sich in Bessons Werk finden lassen. Der aus der Religionssoziologie entliehene Begriff der impliziten Religion scheint mir für die Analyse des Werkes von Luc Besson hilfreich zu sein.4 Thomas Luckmann versteht darunter den Versuch, Religiosität mittels allgemeiner Sinndeutungsmuster zum Ausdruck zu bringen. Hierbei können Versatzstücke der jüdisch-christlichen Tradition beispielsweise in populären Kinofilmen zum Einsatz kommen, zum tragenden Deutungsgerüst müssen sie allerdings nicht gehören. Luckmann analysiert im Hinblick auf implizit religiöse Ausdrucksformen Transzendenzen kleiner, mittlerer und größerer Reichweite, die in den meisten Fällen allgemein menschliche, intersubjektiv vermittelte Erfahrungen zum Inhalt haben. Die kleinen Transzendenzen beziehen sich dabei auf alltägliche Erfahrungen in Zeit und Raum. Die mittleren Transzendenzen erschließen sich in der Begegnung mit dem Anderen, in der die eigenen lebensweltlichen Sinndeutungen irritiert, verwandelt und überschritten werden. Die großen Transzendenzen nähern sich Themen an, die der Alltagserfahrung nicht unmittelbar zugänglich sind und nur in mythologischer Form vermittelbar sind. Luckmann geht davon aus, dass die als gefährlich und zerstörerisch erlebten Aspekte der beschriebenen Transzendenzen durch Erzählungen, Rituale und andere kulturelle Produktionen kommunikativ vermittelt werden können. Existenzielle Themen wie die Suche nach wahrhaftiger Liebe, nach Sinn jenseits der Konsum- und Profitgesellschaft, das Ertasten der Welt hinter der Welt, die das Geheimnis des Lebens bereithält, die Sehnsucht nach Erlösung aus erfahrener Entfremdung sowie die Angst vor dem katastrophischen Untergang gehören zum Stoff impliziter Religion. Alle diese Themen lassen sich auch in Luc Bessons Filmen finden. Besson, der Meister der Zitierkunst, schöpft dabei aus einem großen Repertoire der Film- und Kulturgeschichte und greift auf Motive und Traditionsstoffe der jüdisch-christlichen Traditionen zurück, ohne diesen jedoch einen privilegierten Platz zuzugestehen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, finden wir kleine, mittlere und große Transzendenzen im Werk von Luc Besson, die eine differenzierte Wahrnehmung von Sinndeutungsmustern ermöglichen. Ich konzentriere mich auf fünf Filme, deren Plots und Hintergründe im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen: LE GRANDE BLEU (Im Rausch der Tiefe, F 1987, R: Luc Besson) erzählt von der Passion des Meerestauchers Jacques Mayol, der in den Tiefen der Ozeane unbeschreibliche Glückserfahrungen macht und für den das Meer – und weniger das Leben auf dem Festland – Liebe, Spiel, Hingabe 1999); ANGEL-A (Angel-A, F/E 2005); ARTHUR ET LES MINIMOYS (Arthur und die Minimoys, F/USA 2006). 4 Vgl. hierzu detaillierter die instruktive Analyse des Phänomens der impliziten Religion in Thomas, Günter: Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation, Würzburg 2000. ABTAUCHEN MIT LUC BESSON 3 und Sehnsucht bereithält. Die blauschwarzen Tiefen des Meeres und insbesondere die Beziehung zu den Delphinen ermöglichen Jacques das Erleben grenzenloser Freiheit, wohl gerade weil das Tauchen so gefährlich ist und die Möglichkeit des Körpers, ohne Sauerstoff auszukommen, begrenzt ist. So ist das Meer sowohl ein Ort schrankenloser Freiheit, in dem sich die Grenzen zwischen Körper, Selbst und dem Element des Wassers aufzulösen scheinen, als auch ein Ort, an dem sich die Todessehnsucht als Sehnsucht nach ununterbrochener Communio mit den Delphinen in den Tiefen des Meeres entfalten kann.5 LE GRANDE BLEU erzählt auch die Geschichte einer Freundschaft zwischen Solidarität und Konkurrenz. Jacques Mayol und Enzo Molinari sind von Kindesbeinen an von einer Obsession für das Tauchen getrieben, die ihren gesamten Lebensweg bestimmen wird. Für Enzo, den Weltmeister im Tiefseetauchen, geht es darum, sich selbst immer wieder beweisen zu müssen, dass er der Beste in seiner Disziplin ist. Er liebt die Effekte, die der Ruhm mit sich bringt, ein Leben in Reichtum, ausschweifende Partys, Frauengeschichten. Für Jacques hingegen scheinen weder das Geld noch der Ruhm eine Rolle zu spielen. Es geht ihm um das Tauchen als totale Sinnerfahrung. Beide Männer gehen schließlich über ihre physischen Grenzen hinaus; so weit, dass Enzo stirbt und sein Freund ihn letztlich dem Meer zurückgibt. Am Ende wird auch Jacques seiner ihn umtreibenden Sehnsucht nachgeben und in den Tiefen des Meeres verschwinden. Neben der Männerfreundschaft wird auch eine tragische Liebesgeschichte erzählt. Johanna und Jacques fühlen sich von Beginn des Films an zueinander hingezogen. Johanna verlässt ihr erfolgreiches Leben als Versicherungsagentin und beginnt mit Jacques, zu den verschiedenen Tauchwettkämpfen zu reisen. Die Liebe bleibt aber auf merkwürdige Weise schal. Denn obwohl Johanna alles daran setzt, der Beziehung eine Chance zu geben, muss sie miterleben, dass Jacques’ erste Liebe dem Wasser und den Delphinen gehört. Dies wird sehr eindrücklich an einer Sexszene verdeutlicht, in der Jacques nicht wirklich präsent ist, weder wirklich loslassen noch sich seiner Freundin öffnen kann. Die Bewegungen der schwitzenden Körper wirken mechanisch, wie ein Uhrwerk, das abläuft. Nach der Bettszene verlässt Jacques das Haus und schwimmt hinaus ins Meer, wo er auf einen Delphin trifft, mit dem das „eigentliche“ von Leichtigkeit und Fließen geprägte Liebesspiel stattfindet. Der Film ist von der Lebensgeschichte des Tiefseetauchers Jacques Mayol inspiriert, die Besson früh fasziniert. Im Alter von sechzehn Jahren sieht er eine Dokumentation, in der Mayol 93 Meter in die Meerestiefen hinabgleitet 5 Vgl. zur Identitätsproblematik, die in der Figur des Jacques gespiegelt ist, in psychoanalytischer Perspektive Jullier, Laurent: The sinking of the self: Freudian hydraulic patterns in Le Grand bleu. In: Hayward, Susan/Powrie, Phil (Hrsg.): The Films of Luc Besson. Master of Spectacle, Manchester/New York 2006, 109-120. 4 ANDREA BIELER und dabei vier Minuten ohne Sauerstoffzufuhr auskommt. Besson erinnert sich an seine Reaktion: „Es war nicht einfach die Tatsache, ihn vier Minuten lang im dunklen Wasser verschwinden zu sehen, ohne dass er atmen konnte – der Druck, der sich dabei aufbaut, brachte mich zum Weinen. Es war vielmehr die Erkenntnis, dass er sich inmitten dieses Albtraumes wunderbar fühlte. Als er auftauchte, hatte er ein breites Lächeln im Gesicht und fühlte sich absolut entspannt. Ich war wie erstarrt. Welche Tür hatte sich ihm in diesem Albtraum geöffnet, dass es möglich wurde, dieses unglaubliche Glück zu erleben? Was sah er in dieser unergründlichen Dunkelheit? Ich weiß nicht, was er sah, aber er sah etwas, das ihn unbeschreiblich glücklich machte.“6 Dieser Film ist sicherlich auch motiviert von Bessons eigener Leidenschaft für das Tauchen. Er stammt aus einer Familie, in der Sporttauchen professionell betrieben wurde. Luc Besson hatte in seiner Jugend auf eine Karriere im Tauchmetier gehofft, musste diese Träume jedoch aufgrund eines Unfalls aufgeben. Das aggressionsfreie Leben der Delphine – sie essen, spielen und machen Liebe – hatte für Besson eine große Anziehungskraft.7 Kritiker haben LE GRANDE BLEU als ausgedehntes Musikvideo beschrieben, das sowohl eine dramatische Erzählstruktur vermissen lasse als auch eine Tiefenschärfe im Hinblick auf die Entwicklung der Charaktere. Die Arbeit mit der Oberfläche kann aber auch als bewusst eingesetztes Stilmittel verstanden werden. NIKITA (Nikita, F/I 1989, R: Luc Besson) erzählt die Geschichte einer 19jährigen, drogenabhängigen jungen Frau, die aufgrund ihrer Sucht jegliches moralisches Bewusstsein hinter sich gelassen hat. Während eines Raubüberfalls tötet sie scheinbar kaltblütig einen Polizisten. Im Gefängnis wird sie von einem Agenten des französischen Geheimdienstes rekrutiert, der auf der Suche nach Personen ist, die für die Geheime Staatspolizei als Killer eingesetzt werden können. Nikita willigt in dieses Angebot ein, weil es ihr ein gewisses Maß an Freiheit verspricht. Sie durchläuft ein intensives Training, in dem sie paradoxerweise wieder zu sich selbst findet und Selbstvertrauen und Respekt gegenüber der eigenen Person aufbauen kann. Für eine kurze Zeit ist sie sogar in der Lage, ein halbwegs normales Leben zu führen. Sie beginnt eine Liebesbeziehung mit Marco, die beide zunächst glücklich macht. Als zum Töten ausgebildete Agentin des Staates muss sie jedoch erkennen, dass die moralischen Zweifel mit jedem Mord, den sie verübt, größer werden. Das Doppelleben mit Marco wird unerträglich. Zugleich entdeckt sie, dass die Gefühle zu Bob, dem Agenten, der sie rekrutiert hat, größer als erwartet sind. Nikita ist jedoch realistisch genug zu erkennen, dass eine Beziehung zu Bob viel zu gefährlich wäre. Eines Morgens ist Nikita verschwunden. Sie 6 7 Hayward, Susan: Luc Besson, Manchester/New York 1998, 6 (Übersetzung A.B.). So äußerte sich Besson in einem Interview. Vgl. Hayward: Luc Besson, 6. ABTAUCHEN MIT LUC BESSON 5 verlässt ihr Doppelleben, ihr Leben als tötende Agentin, und sie lässt zwei Männer zurück, die sie liebt.8 Dieser Film erzählt von den Problemen des Erwachsenwerdens, von der Kontrolle des Staates, der kaum ausgewichen werden kann und von den korrupten staatlichen Autoritäten sowie der Unmöglichkeit, die guten von den bösen Menschen zu unterscheiden. Nikita ist eine transgressive Persönlichkeit, zwischen den Geschlechtern, dem Jugendlichen- und Erwachsenenalter, der Unterwelt der Spionage und der Geheimdienste, die den meisten Menschen nicht zugänglich ist, jedoch das Schicksal von Nationen bestimmt und dem Leben einer normalen jungen Frau, die sich nach Liebe sehnt. Eine andere Unterwelt wird in SUBWAY (Subway, F 1985, R: Luc Besson) vorgeführt. Fred, der Sänger, der seine Singstimme verloren hat, taucht immer wieder in das Labyrinth des Pariser Metrosystems ab, um eine Gruppe von Musikern und Musikerinnen zu einem Konzert in der Subway zusammenzutrommeln. Die Menschen, die den Zuschauenden im Metro-Untergrund begegnen, sind – obwohl sie Diebe und Betrüger sind – Charaktere, die als integer und authentisch vorgestellt werden. Die Subway ist eine Welt für sich, in der die Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Die Ordnungshüter, Polizisten und Detektive werden als lächerliche, zum Teil korrupte Figuren dargestellt, die nicht in der Lage sind, eine auf Gerechtigkeit basierende Ordnung durchzusetzen. Fred ist auch ein Dieb, eine Art Robin Hood, der um der Kunst und um seiner Freunde willen einen Safe ausraubt. Fred folgt spontan seinen Gefühlen und Impulsen. Er verliebt sich in Helena, die Frau eines mafiösen Kriminellen, der als oberflächlicher, geldgieriger Geschäftsmann eingeführt wird, welcher der Welt oberhalb der Subway angehört. Helena ist zu Fred hingezogen, weil er Spontaneität, Gefühl und Lebensfreude für sie verkörpert, die es in der Lebenswelt ihres Mannes nicht gibt. Bereits wie in NIKITA und LE GRAND BLEU findet auch diese Liebe keine Erfüllung. Fred, verfolgt von den Gewährsleuten von Helenas Ehemann, wird auf dem Höhepunkt des Konzertes erschossen. Mitten hinein in das begeisterte Publikum fallen die tödliche Schüsse, genau in dem Moment, in dem Helena Fred gefunden hat. In der Schlusseinstellung des Films wird der Tod dann noch einmal parodiert als der tote (?) Fred den Kopf hebt und spöttisch die Augen verdreht. THE FIFTH ELEMENT (Das fünfte Element, F 1997, R: Luc Besson) ist ein schneller, mit Slapsticks gespickter Science-Fiction-Film, der als eine Persiflage auf BLADE RUNNER (Der Blade Runner, USA 1982, R: Ridley Scott) und ähnliche Filme interpretiert werden kann. Der schwarze Präsident Lindberg erhält am 18. März 2259 die Information, dass eine feindlich gesonnene, außerirdische Intelligenz ein schwer identifizierbares Objekt auf die Er8 Vgl. für die weitere Interpretation auch Radner, Hilary Ann: Nikita: consumer culture’s killer instinct and the imperial imperative. In: Hayward, Susan/Powrie, Phil (Hrsg.): The Films of Luc Besson. Master of Spectacle, Manchester/New York 2006, 135-146. 6 ANDREA BIELER de zurasen lässt, um den Planeten zu zerstören. Nur Leeloo (Milla Jovovich), eine zerbrechliche Frau, die aus dem Genmaterial einer den Menschen wohlgesinnten Spezies geklont wurde, ist in der Lage, die Welt zu retten, da sie das Wissen über die fünf Elemente hat. Sie benötigt dazu jedoch den ehemaligen Luftwaffenoffizier Korben Dallas (Bruce Willis), der ihr nach anfänglichem Zögern dann auch bereitwillig zur Seite steht. Klassische HollywoodHeldenmotive werden aufgenommen und gleich wieder parodiert. Letztendlich ist es aber dann doch die Liebeserklärung, die Korben Leeloo macht, die den Planeten Erde vor dem Untergang rettet. Auf diese Weise wird das Böse besiegt. Die Überwindung des Bösen durch die Liebe sowie die Rettung vom Weltuntergang können hier als klassische Themen impliziter Religion identifiziert werden. THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC (Johanna von Orléans, F/USA 1999, R: Luc Besson) greift einen Stoff der Christentumsgeschichte auf: die Geschichte der Johanna von Orléans. Obwohl hier auf einen konkreten historischen Zusammenhang angespielt wird, erfahren wir nicht allzu viel über die Zeitumstände des Hundertjährigen Krieges, in denen das arme Bauernmädchen Johanna von Orléans die französische Armee zunächst siegreich in den Kampf gegen die Engländer führt und auf diese Weise dem Dauphin zur Krönung in Reims verhilft. Johanna hat immer wieder direkte Visionen, in denen sie einen göttlichen Auftrag erhält. Je grausamer die kriegerischen Auseinandersetzungen werden, desto größer werden allerdings auch ihre Gewissensbisse und ihre Zweifel, ob sie in den erlebten Offenbarungsmomenten wirklich die Stimme Gottes gehört hat. Am Ende wird Johanna an die Engländer ausgeliefert, die ihr den Prozess wegen Ketzerei machen und sie anschließend auf dem Scheiterhaufen brennen lassen. Spuren impliziter Religion Die hier vorgestellten Kinofilme behandeln eine Reihe von Themen impliziter Religion, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Unter-Welten – Gegen-Welten und U-topien Es ist auffällig, dass alle Filme mit dem Motivkreis der Unter-Welt, der Gegen-Welt oder eines utopischen Raumes befasst sind, in dem eine Alternative zu den Entfremdungserfahrungen, der Oberflächlichkeit oder der Verlogenheit ABTAUCHEN MIT LUC BESSON 7 und Gewalt der vordergründigen Welt vorgestellt wird.9 In LE GRAND BLEU erscheint das Meer als mystischer Ort, in dem sich Ich-Grenzen auflösen, die pure Schönheit der Natur genossen und in eine paradiesische Stille hineingelauscht werden kann, die einen Todeswunsch entfachen kann, der so stark ist, dass nicht mehr klar ist, warum man wieder auftauchen sollte. Das Meer wird zum Übergangsort zwischen Leben und Tod, an dem wirkliche spielerische Liebe möglich ist. Die Unterwelt, in die Nikita abtaucht, ist ein ambivalenter Ort. Die Gewalt, die in ihr ausgeübt wird, verdeutlicht wie im Brennglas die Gewaltverhältnisse, auf denen der Staat seine Macht aufbaut. Es geht um Manipulation und totale Kontrolle der Subjekte, um die Schaffung von Räumen autoritärer Disziplinierung, in denen Killerinstinkte ausgebildet und grundlegende Mechanismen der Empathie außer Kraft gesetzt werden. Diese Unterwelt wird aber auch zum Ausgangspunkt für den Sprung in die Freiheit, den Nikita am Ende wagt, der jedoch als ein u-topos, als Nicht-Ort beschrieben werden kann, da wir nicht mehr erfahren, wie die von ihr gelebte Lebensalternative wirklich aussieht. In NIKITA ist weder die Welt des Staates noch die Unterwelt der Geheimpolizei ein Ort, an dem unbeschädigtes Leben möglich ist und die Einzelnen sich in Freiheit entfalten können. In THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC sind es die Visionen, die Johanna von Orléans empfängt, surreale Momente, in denen durch das Element des aufbrausenden Windes der Raum tranceartig verwandelt wird. Darin begegnet Johanna als Kind dem Jesuskind und als junger Frau dem erwachsenen Christus. Dies sind Visionen, die einer gewissen Ambivalenz verhaftet bleiben, weil das, was offenbart wird, nicht explizit ausgesprochen wird; zumindest das Kinopublikum kann den Inhalt der Vision nicht vernehmen. Der Raum, der in den Visionen geschaffen wird, wird zugleich als psychischer Innenraum vorgestellt, der Johannas Absichten, ihre Gefühlswelt und ihre Handlungen in totaler Weise bestimmt. In SUBWAY ist das Leben im Labyrinth der Metro tatsächlich ein Gegenmodell zum Leben auf den Straßen. Hier erscheint es möglich, Authentizität und spielerische Zuneigung zu leben und zugleich frei künstlerisch tätig zu sein. Dieses Leben im Augenblick ist jedoch auch immer wieder zutiefst bedroht, wie der – sofort wieder parodierte – Tod Freds am Ende deutlich macht. Die Unter-Welt, die Besson in SUBWAY portraitiert, funktioniert nicht nach den gängigen kulturellen Normen. „Selbst die Zeit ist außer Kraft gesetzt. Ihr Voranschreiten erkennen wir nur vage an der wechselnden Zahl der Fahrgäste, 9 Vgl. zur Bedeutung der Konstruktion von Räumen in Bessons Filmen Orme, Marc: Imprisoned freedoms: space and identity in Subway and Nikita. In: Hayward, Susan/Powrie, Phil (Hrsg.): The Films of Luc Besson. Master of Spectacle, Manchester/New York 2006, 121134. 8 ANDREA BIELER die gewohnte Gliederung des Tages durch Tag und Nacht ist aufgehoben. Damit entsteht ein Ort jenseits der Zeit.“10 Die Gegenwelten, die Luc Besson in seinen Filmen aufbaut, spielen immer wieder mit dem Moment des Surrealen. Ist die Pariser Metro wirklich in dem zu erkennen, was gezeigt wird? Ist die Ausbildungszentrale der Geheimpolizei ein konkreter Ort? Die filmerischen Mittel, die Besson einsetzt, verstärken diesen Eindruck. Das Format, mit dem er am liebsten arbeitet, ist das Cinemascope. Dieses von ihm bevorzugte Breitbandformat verändert die Beziehung zwischen Charakteren und Orten. Einerseits wirken die Raumbeziehungen in der horizontalen Achse naturalistisch. Weil Cinemascope jedoch die Höhe des Bildes verringert und einen abflachenden Effekt erzielt, wird auf der vertikalen Achse die Zweidimensionalität des Bildes auf eine Weise hervorgehoben, dass eine Spannung zwischen Illusion und Realität des Bildes betont wird.11 Durch diese Technik gelingt es Besson, seine Gegen-Orte als Orte jenseits von Zeit und Raum einzuführen und so ihren utopischen Charakter zu betonen. Subjektivität und Sinn Ähnliches wie über die archaisch unbestimmten Gegen-Welten Bessons können wir im Hinblick auf die Entwicklung und Darstellung der Charaktere sagen. Sie sind ortlos in Bezug auf Familiengeschichte und Traditionszusammenhänge. Hier werden die Kinder einer elternlosen Gesellschaft vorgestellt. Familienzusammenhänge, die als soziale, absichernde Netzwerke funktionieren, tauchen in seinen Filmen nicht auf. Wir erfahren nur wenig darüber, was die Figuren sonst geprägt hat. In LE GRAND BLEU werden zwei Kindheitsszenen gezeigt, die im Tod von Jacques’ Vater kulminieren. In NIKITA ist die schmerzliche Abwesenheit der Mutter im Zentrum eines horrormäßigen Albtraumes. Die patriarchalen Ersatzfiguren, die eingeführt werden, erscheinen oft als dysfunktional, tragisch oder lächerlich. Susan Hayward schlägt vor, Bessons Filme als antiödipale Erzählstoffe zu interpretieren, da in ihnen die Krise der Familie, insbesondere der Vater- und der Autoritätsfiguren zur Sprache kommt.12 Anstelle von Familienzusammenhängen und Tradition wird Subjektivität im puren Augenblick zelebriert. Begegnungen geschehen im Moment. Wir erfahren nur wenig von der Entwicklung von Beziehungen, Gefühlen, Einsichten und Weltsichten. Nicht das Entwicklungsmäßige scheint für Besson von Belang, sondern das Momenthafte. Besson ist in den meisten seiner Filme an 10 11 12 Mioc: Jenseits der Normalität, 255. Vgl. weiter zu Bessons Gebrauch spezifischer Filmtechniken Hayward: Luc Besson, 15-17. Vgl. Hayward: Luc Besson, 147. ABTAUCHEN MIT LUC BESSON 9 der fragmentarischen Beschreibung von gesellschaftlichen Verhältnissen und von Seelenzuständen der Einzelnen interessiert, nicht so sehr am dramatischen Action-Film, der einem eindeutig identifizierbaren Höhepunkt entgegenstrebt. Das Interesse am Augenblick und nicht an der Genealogie als Blueprint für die Sinnsuche erscheint als postmoderne Perspektive im Werk von Besson. Mit der Ausnahme von THE FIFTH ELEMENT erscheint Liebe stets als unmögliche Möglichkeit. Begegnungen zwischen Männern und Frauen, in denen die Sehnsucht durchaus Gestalt annimmt, bleiben auf seltsame Weise kontaktlos, tragisch oder unerfüllt. Die Liebe erscheint als gefährlich, sie offenbart Leere oder Gewaltstrukturen, in denen Empathie und Begegnung unmöglich werden. Die Parodien stabiler Ich-Identitäten und die damit verbundenen Repräsentationen von Subjektivität werden insbesondere durch die Mischung von Filmgenres erzeugt. SUBWAY beispielsweise ist eine hybride Form aus Musical und Thriller. Während das Musical letztlich heterosexuelle Liebe und das Happy End in der Ehe propagiert, ist der Thriller vom Töten und der Verfolgungsjagd als Mittel der Gewaltanwendung zur Durchsetzung retributiver Gerechtigkeit bestimmt. Während im Musical die Frage im Vordergrund steht, wann sich X und Y endlich finden werden, lautet die Frage des Thrillers, wann die böse Hauptfigur endlich getötet wird. In SUBWAY gelingt es Besson in meisterhafter Weise, diese scheinbar unvereinbaren Genres und Fragen in der Parodie aufeinander zu beziehen. So kann er Vorstellungen von romantischer Liebe als Ersatzreligion sowie von retributiver Gerechtigkeit und eines gewalttätigen Heroismus in Frage stellen.13 Mit der Abwesenheit der Vaterfigur und der damit verbundenen Infragestellung von Autorität verschwindet auch die Darstellung einer Gottesvorstellung, in der Gott als autoritäres Wesen gezeigt wird, das von außen die Geschicke der Menschen regiert. Die Spuren impliziter Religion können stattdessen in den intersubjektiven Begegnungen und im Naturerleben entdeckt werden. Gewalt und Erlösung Das Thema der Gewalt ist in Bessons Werk von zentralem Interesse. Gewalt wird als Mittel auf dem Weg der Erlösung verstanden. Zwar gehören Gewaltverhältnisse strukturierend zur Welt des Staates und der Erwachsenen. Gewalt wird aber auch von den Menschen angewandt, die der Unteroder Gegenwelt angehören. In NIKITA ist es die Explosion des Terrors, die es der Protagonistin letztlich ermöglicht, die Spirale der Gewalt zu unterbrechen, indem sie sich davonschleicht. In THE FIFTH ELEMENT ist das Töten ein Mittel, um den Weg für die letztliche Erlösung, die im Ge13 Vgl. Hayward: Luc Besson, 130/131. 10 ANDREA BIELER heimnis der Liebe liegt, frei zu machen. In THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC wird vorgeführt, wie eng religiöser Wahn und Gewaltanwendung beieinander liegen können. Johanna von Orléans, die sich als Botin Gottes versteht, die die Feinde um Gottes Willen abschlachten lässt, muss letztlich wahnsinnig und selbst Opfer der Gewalt werden. In THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC wird die zerstörerische Verbindung zwischen Erlösungsphantasien und Gewaltausübung, die immer auch die Gefahr der Lust an der Gewalt in sich birgt, portraitiert. Transzendenzen Die Gottesfrage wird in Bessons Werk selten explizit zur Sprache gebracht. Vielmehr treffen wir – wie gezeigt wurde – immer wieder auf implizite Thematisierungen von Religion, die allgemeine Fragen der Sinndeutung betreffen. Dabei entzieht sich Besson simplen Lösungen. Weder wird die Liebe einfach zur Ersatzreligion – am simplen Happy End ist er in den meisten Fällen nicht interessiert –, noch sind die Gegenwelten, die er zeigt, einfach Paradiese, die von der Zerstörung und der Macht des Bösen unberührt bleiben. Auch der von ihm favorisierte Augenblick, der das Potenzial zur Selbsttranszendierung der alltäglichen Erfahrung in sich birgt, hat am Ende keine tragende erlösende Kraft. Die von ihm filmisch gezeigten transzendenten Augenblicke erhalten ihre Ausstrahlung, weil sie gerade nicht die ambivalenten Dimensionen des Lebens aussparen. Transzendenzen kleiner, mittlerer und großer Reichweite sind im Werk von Besson auf die Ambivalenzen gelebter Erfahrung bezogen. Transzendenzen großer Reichweite werden in THE FIFTH ELEMENT thematisiert, in dem es um die erlösende Macht der Liebe geht, die den Untergang des Planeten Erde bewirken kann. Auch der Wunsch nach Unendlichkeit und Auflösung einer abgegrenzten Ich-Identität, der in den Tiefen des Meeres in LE GRAND BLEU erfüllt wird, verweist auf Transzendenzen großer Reichweite. Auch Transzendenzen mittlerer Reichweite, die sich in der zwischenmenschlichen Begegnung entfalten können, lassen sich in Bessons Werk finden. Helena entwickelt in SUBWAY durch die Begegnung mit Fred eine andere Vision vom Leben, das auch für sie Glück bereithält. Nikita wird durch ihre Liebe zu Marco und zu Bob verwandelt und kann am Ende ein Leben für sich imaginieren, das nicht von Gewalt terrorisiert ist. Beide Geschichten verweisen auf Transzendenzerfahrungen, in denen Gott explizit keine Rolle spielt, sondern die Verwandlung des eigenen Lebensentwurfes im Zentrum steht.