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Herausgegeben von Christian Mann und Peter Scholz „Demokratie“ im Hellenismus VON DER HERRSCHAFT DES VOLKES ZUR HERRSCHAFT DER HONORATIOREN? Sonderdruck Herausgegeben von Martin Zimmermann Die hellenistische Polis als Lebensform BAND VerlagAntike  Sonderdruck Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ©  Verlag Antike e.K., Mainz Satz Judith Schönholz, Mannheim Einbandgestaltung disegno visuelle kommunikation, Wuppertal Einbandmotive Vorderseite: Modelle von Knidos mit freundlicher Genehmigung von H. Bankel, V. Hinz und S. Franz. Rückseite: Athen, Akropolis. Basis eines Weihgeschenks des Hegelochos. Zeichnung von A. Brauchle und Z. Spyranti mit freundlicher Genehmigung. (Hauptmotiv spiegelverkehrt verwendet; alle Abbildungen in Band  dieser Reihe, Stadtbilder im Hellenismus, S. ,  und ). Druck und Bindung Memminger MedienCentrum Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN ---- www.verlag-antike.de Inhalt Vorwort ............................................................................................................................ 7 Christian Mann: Gleichheiten und Ungleichheiten in der hellenistischen Polis: Überlegungen zum Stand der Forschung .................................................... 11 Peter Scholz: ‚Demokratie in hellenistischer Zeit‘ im Licht der literarischen Überlieferung ..................................................................................................... 28 Patrice Hamon: Gleichheit, Ungleichheit und Euergetismus: die isotes in den kleinasiatischen Poleis der hellenistischen Zeit .............................. 56 Andreas Victor Walser: ΔΙΚΑΣΤΗΡΙΑ – Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis .......................................................................... 74 Roberta Fabiani: Dedochthai tei boulei kai toi demoi: protagonisti e prassi della procedura deliberativa a Iasos ..................................................................... 109 Register ......................................................................................................................... 167 ΔΙΚΑΣΤΗΡΙΑ Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis* Andreas Victor Walser „Were I called upon to decide whether the people had best be omitted in the legislative or judicial department, I would say it is better to leave them out of the legislative.“ Thomas Jefferson 1 1 Das Recht, Recht zu sprechen Um die Mitte des 2. Jh. v. Chr. schlossen sich die beiden zentralgriechischen Poleis Stiris und Medeon zu einer Sympolitie zusammen. Dabei sollte der kleinere Küstenort Medeon in das grössere Stiris eingemeindet werden, zu Bedingungen, die in einem inschriftlich erhaltenen Vertrag definiert wurden. 2 Die an erster Stelle genannte und sicherlich wichtigste lautete: „Alle Medeonier sollen völlig gleichberechtigte Stirier sein.“ Was dies hiess, wurde im Vertrag sogleich * 1 2 Überarbeitete und erweiterte Fassung eines unter dem Titel „Zum Gerichtswesen im Hellenismus“ auf dem 47. deutschen Historikertag in Dresden gehaltenen Vortrages. Für nützliche Hinweise zur Vortragsfassung danke ich R. Haensch und H. Müller, für zahlreiche Verbesserungen zur Druckversion Chr. Schuler und H.-U. Wiemer, für die finanzielle Förderung der VolkswagenStiftung. Die Ausarbeitung dieses Beitrages war Ende 2009 abgeschlossen. Die später erschienene, breit angelegte Untersuchung von A. Cassayre, La Justice dans les cités grecques. De la formation des royaumes hellénistiques au legs d’Attale, Rennes 2010, konnte nur noch punktuell in den Anmerkungen berücksichtigt werden. Abkürzungen für Zeitschriften und Standardwerke der Epigraphik wurden, soweit in den Abkürzungsrichtlinien des DAI nicht enthalten, dem Verzeichnis des Projekts „CLAROS. Concordance of Greek inscriptions“ entnommen; abrufbar unter: URL <http://www.dge.filol.csic.es/claros/cnc/2cnc3.htm> (Stand: 15.09.2010). Letter to L’Abbé Arnoux (July 19, 1789), in: J. Boyd (Hg.), The Papers of Thomas Jefferson, Bd. 15, Princeton 1958, 283. IG IX 1, 32 (SIG 647). Zur Datierung in die Zeit zwischen 189 und ca. 130, die auf prosopographischen Überlegungen beruht, vgl. die Bemerkungen von H. Pomtow im Kommentar der Sylloge. Zum Phänomen der Sympolitie vgl. vorläufig G. Reger, Sympoliteiai in Hellenistic Asia Minor, in: St. Colvin (Hg.), The Greco-Roman East. Politics, Culture, Society, Cambridge 2004 (YClSt 31) 145-180 und A.V. Walser, Sympolitien und Siedlungsentwicklung, in: A. Matthaei – M. Zimmermann (Hg.), Stadtbilder im Hellenismus, Die hellenistische Polis als Lebensform 1, Berlin 2009, 135-155. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 75 konkretisiert, indem man hinzufügte: „Und sie sollen zusammen mit der Polis der Stirier Volksversammlungen abhalten und die Ämter besetzen, und in den städtischen Prozessen sollen alle diejenigen Urteile sprechen, die das entsprechende Alter erreicht haben.“ 3 Στίριος ἴ σος καὶ ὅμοιος zu sein, „ein Bürger von Stiris völlig gleichen Rechts“, berechtigte einen Medeonier zur Teilnahme an den Volksversammlungen und zur Mitwirkung bei der Ämterbestellung und erlaubte ihm darüber hinaus, in den Gerichtsverfahren, die in die Zuständigkeit der Polis fielen, Urteile fällen zu können. Die in dieser Vertragsklausel von einer phokischen Kleinpolis zum Ausdruck gebrachte Auffassung von den Rechten oder vielmehr den Eigenschaften des Polisbürgers deckt sich erstaunlich genau mit der bekannten Definition des πολίτης, die Aristoteles im dritten Buch der Politik vornimmt. Danach ist es für den Polisbürger konstitutiv, an der Entscheidungsfindung und an den Staatsämtern Anteil zu haben, μετέχειν κρίσεως καὶ ἀρχῆς. 4 Hierzu gehört nach Aristoteles nicht nur die Abstimmung in der Volksversammlung und die Bekleidung der städtischen Magistraturen, sondern explizit auch die Urteilsfindung bei Gericht und die Amtstätigkeit als Richter (δικαστής). 5 Die Richter seien es ja schliesslich, die zusammen mit den Mitgliedern der Volksversammlung die wichtigsten politischen Entscheidungen träfen. Aristoteles behauptet freilich nicht, dass der Bürger in allen Fällen durch die Teilhabe an κρίσις und ἀρχή gekennzeichnet ist, vielmehr muss er entsprechend den jeweiligen Grundsätzen der unterschiedlichen Verfassungstypen verschieden definiert werden: „Der Bürger, wie er oben definiert wurde, existiert deswegen hauptsächlich in einer 3 Z. 10-18: εἶ μεν [τ]οὺς Μεδεωνίους πάντας [Σ]τιρίους ἴ σους καὶ ὁμοίους, καὶ συνεκλησιάζειν καὶ συναρχοστατεῖ σθαι μετὰ τᾶς [πό]λιος τᾶς Στιρίων, καὶ δικά[ζ]ειν τὰς δίκας τὰς ἐπὶ πόλι[ο]ς πάσας τοὺς ἐνικομένους [τ]αῖ ς ἁλικίαις. 4 5 Aristot. Pol. 1275a 23. Zur im Einzelnen kontroversen Interpretation der Stelle vgl. mit der älteren Literatur den auf unzulässige Vereinfachungen verzichtenden Kommentar von E. Schütrumpf, Aristoteles Politik, Buch II und III, Berlin 1991 (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung Bd. 9), 388-395. Die häufig anzutreffende Übersetzung der Stelle im Sinne von „Teilhabe an der Richtertätigkeit und an der Regierung“ – so neben anderen etwa auch Cl. Mossé, La conception du citoyen dans la Politique d’Aristote, Eirene 6, 1967, 17-21 – übergeht Aristoteles’ Bemühungen, gerade auch die Richtertätigkeit als ἀρχή zu begreifen. Den Bürgerbegriff bei Aristoteles skizzierte zuletzt vereinfachend K. Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen in der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts v. Chr. Eine vergleichende Untersuchung zum philosophischen und rhetorischen Diskurs, Stuttgart 2001 (Historia ES 154), 73-77. Die δικασταί der griechischen Volksgerichte sind bekanntlich mit den Berufsrichtern moderner Rechtssysteme nicht zu vergleichen. Sie sind aber auch keine Geschworenen im heutigen Sinne, da sie nicht nur über die Schuld befinden, sondern auch – ohne Anleitung eines Richters – die Strafe bestimmen. 76 Andreas Victor Walser Demokratie; in anderen Verfassungen kann er zwar existieren, muss es aber nicht notwendigerweise. So gibt es in manchen Verfassungen den Demos (als politische Instanz) nicht, und sie kennen keine Volksversammlungen, sondern nur Einberufungen eines Rates, und die Urteile in den Prozessen werden nach einer bestimmten Geschäftsverteilung (von Behörden) gefällt. So urteilt etwa in Sparta in diesen Vertragssachen der eine Ephor, in jenen der andere, die Geronten in Mordprozessen, wieder andere Amtsträger vielleicht wieder in anderen Rechtssachen. Genauso in Karthago: Alle Prozesse entscheiden Magistrate.“ 6 Anders in Athen, wo sich gemäss der Darstellung in der aristotelischen Athenaion Politeia „das Volk zum Herrn über alles gemacht hat und alles durch Volksbeschlüsse und Gerichte, in denen das Volk die Entscheidungsgewalt hat, verwaltet. Sogar die Rechtsprechung des Rates haben sie auf das Volk übertragen.“ 7 Der Stellenwert der Rechtsprechung in der Demokratieauffassung des Aristoteles zeigt sich noch deutlicher im sechsten Buch der Politik, in der die demokratische Verfassungsform definiert wird. Zu den bekannten Kriterien, die nach Aristoteles über den demokratischen Charakter einer Verfassung entscheiden, gehört selbstverständlich auch das Prinzip einer Rechtsprechung aller über alle oder zumindest die wichtigsten Angelegenheiten. 8 Selbst in der seiner Ansicht nach besten, am stärksten gemässigten Form der Demokratie, in der eine Einschränkung des passiven Wahlrechts für die Ämter durchaus in Betracht gezogen wird, stellt Aristoteles die Mitwirkung der Gesamtbürgerschaft an der Rechtsprechung keinesfalls infrage. 9 Dass die gleiche Beteiligung aller Bürger an der Rechtsprechung kennzeichnend für eine demokratische Ordnung ist, bestätigt – freilich aus ganz anderer Perspektive – auch Platon. Bestrebt, „die Mitte zwischen einer monarchischen und einer demokratischen Verfassung einzuhalten“, entwirft Platon in seinen Nomoi eine wesentlich aristokratisch geprägte Ordnung. Sie sieht vor, dass Urteile in letzter Instanz (τὸ δὲ τέλος κρίνειν) in den allermeisten Fällen nicht von 6 7 8 9 Aristot. Pol. 1275b 5-12: διόπερ ὁ λεχθεὶς ἐν μὲν δημοκρατίᾳ μάλιστ' ἐστὶ πολίτης, ἐν δὲ ταῖ ς ἄλλαις ἐνδέχεται μέν, οὐ μὴν ἀναγκαῖ ον. <ἐν> ἐνίαις γὰρ οὐκ ἔστι δῆμος, οὐδ' ἐκκλησίαν νομίζουσιν ἀλλὰ συγκλήτους, καὶ τὰς δίκας δικάζουσι κατὰ μέρος, οἷ ον ἐν Λακεδαίμονι τὰς τῶν συμβολαίων δικάζει τῶν ἐφόρων ἄλλος ἄλλας, οἱ δὲ γέροντες τὰς φονικάς, ἑτέρα δ' ἴ σως ἀρχή τις ἑτέρας. τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον καὶ περὶ Καρχηδόνα: πάσας γὰρ ἀρχαί τινες κρίνουσι τὰς δίκας. Aristot. Ath. Pol. 41, 2: ἁπάντων γὰρ αὐτὸς αὑτὸν πεποίηκεν ὁ δῆμος κύριον, καὶ πάντα διοικεῖ ται ψηφίσμασιν καὶ δικαστηρίοις, ἐν οἷ ς ὁ δῆμός ἐστιν ὁ κρατῶν. καὶ γὰρ αἱ τῆς βουλῆς κρίσεις εἰς τὸν δῆμον ἐληλύθασιν. Arist. Pol. 1317b 25-28. Arist. Pol. 1318b 5-1319a 19, bes. 1318b 29f. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 77 aus der Gesamtbürgerschaft zu bestimmenden Richtern, sondern von einem „Gericht, das aus den Beamten des Vorjahres durch Auswahl der Besten gebildet ist“, gefällt werden. 10 Nur mit spürbarem Widerwillen räumt Platon auch im Losverfahren aus der Gesamtbürgerschaft zusammengestellten Richterkollegien in seiner Gerichtsverfassung Platz ein. Für den aristokratisch gesinnten Philosophen sind solche Gerichte, die ihr Zustandekommen der „Gleichheit des Loses“ verdanken, nichts als ein notwendiges Übel, um der „Unzufriedenheit der Masse“ und Zwietracht im Staat vorzubeugen: 11 „Denn wer keinen Anteil an der Befugnis mitzurichten hat, glaubt, überhaupt an der Polis nicht beteiligt zu sein.“ 12 Die Beteiligung an der Rechtsprechung galt demnach zumindest in demokratischen Poleis wie Athen, von dessen Verfassung Platon bei seinem Gesetzesentwurf ausging, 13 aber ebenso auch in einer Kleinpolis wie Stiris als integrales Recht des Bürgers, das mit der Möglichkeit zur Partizipation in der Volksversammlung auf einer Stufe steht. Weshalb man diesem ‚Bürgerrecht‘ sowohl in der politischen Theorie wie auch in der politischen Praxis einen solch hohen Stellenwert zumass, wird angesichts der zentralen Rolle der Gerichte als Garant der demokratischen Ordnung verständlich. Diese Rolle schrieb den Gerichten jedenfalls der athenische Redner Lykurg in seiner am Ende der 30er Jahre des 4. Jh. gehaltenen Anklagerede im Verratsprozess gegen Leokrates zu: „Drei wesentliche Dinge sind es nämlich, die die demokratia und die Prosperität der Polis bewachen und bewahren: Erstens die Gesetzesordnung, zweitens der Stimmstein der Richter, drittens das diesen die Verbrechen (zur Beurteilung) zuführende Anklageverfahren. Die Rolle der Gesetze ist es vorzuschreiben, was man nicht tun darf, die des Anklägers jene anzuzeigen, die den gesetzlich festgelegten Strafen schuldig geworden sind, des Richters schliesslich jene zu bestrafen, die ihm von der einen oder anderen Instanz angezeigt wurden.“ 14 10 11 12 13 14 ἐκλεκτοὶ / ἔκκριτοι δικασταί: 926d 3-5; 928b 4f.; 938b 4f. , 946d 7; 948a 3f. τὸ τῶν περυσινῶν ἀρχόντων ἀριστίνδην ἀπομερισθὲν δικαστήριον: 855c 7-d 1. Plat. leg. 757e 2f.: τῷ τοῦ κλήρου ἴ σῳ ἀνάγκη προσχρήσασθαι δυσκολίας τῶν πολλῶν ἕνεκα. Plat. leg. 768b 2f.: ὁ γὰρ ἀκοινώνητος ὢν ἐξουσίας τοῦ συνδικάzειν ἡγεῖ ται τὸ παράπαν τῆς πόλεως οὐ μέτοχος εἶ ναι. Zum – hier lediglich gestreiften – Ge- richtswesen in Platons Nomoi vgl. neben den knappen Bemerkungen von K. Schöpsdau, Platon. Nomoi (Gesetze) Buch IV-VII, Göttingen 2003 (Platon, Werke IX 2), 424-437 v.a. die detaillierte Untersuchung von M. Piérart, Platon et la Cité greque. Théorie et réalité dans la Constitution des „Lois“, Brüssel 1974, 386-463. Vgl. dazu Piérart, Platon (wie Anm. 12) 462. Lykurg.1, 4: Τρία γάρ ἐστι τὰ μέγιστα, ἃ διαφυλάττει καὶ διασῴζει τὴν δημοκρατίαν καὶ τὴν τῆς πόλεως εὐδαιμονίαν, πρῶτον μὲν ἡ τῶν νόμων τάξις, δεύτερον δ᾿ ἡ τῶν δικαστῶν ψῆφος, τρίτον δ᾿ ἡ τούτοις τἀδικήματα παραδοῦσα κρίσις. ῾Ο μὲν γὰρ νόμος πέφυκε προλέγειν ἃ μὴ δεῖ πράττειν, ὁ δὲ κατήγορος 78 Andreas Victor Walser Der eminenten Bedeutung, die nach Einschätzung dieser Quellen dem Gerichtswesen und besonders der aktiven Teilhabe der Bürger an der Rechtsprechung für die Demokratie zukommt, entspricht der breite Raum, der dieser Thematik etwa in der Athenaion Politeia des Aristoteles zugestanden wird. 15 In der modernen Forschungsdiskussion um die griechische Demokratie in hellenistischer Zeit hingegen fand dieser Aspekt, anders als etwa die Rolle der Volksversammlungen oder die Bestellung und Bekleidung von Amtsfunktionen, bislang nur wenig Beachtung. 16 Dieser Befund ist wenig überraschend: Schon als man sich im Rahmen zeitgenössischer politischer Debatten im 18. und 19. Jh. mit der athenischen Demokratie auseinandersetzte, richtete sich die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Volksversammlungen und Losämter, und man versuchte gerade an diesen Institutionen die Unterschiede zwischen antiker und moderner Demokratie herauszuarbeiten. 17 Nichtsdestoweniger sah noch die liberale Verfassungsbewegung des 19. Jh. in Schwurgerichten eine Garantie bürgerlicher Freiheit, und nach 1848 wurden diese nach und nach in den deutschen Staaten eingeführt. Auch das Gerichtsverfassunggesetz von 1877 sah Schwurgerichte vor, doch wurden sie 1924 primär aus Kostengründen abgeschafft. Obwohl sich das Schwurgericht bis dahin grosser Popularität erfreut hatte, ist es danach „recht bald aus dem politischen Bewusstsein verschwunμηνύειν τοὺς ἐνόχους τοῖ ς ἐκ τῶν νόμων ἐπιτιμίοις καθεστῶτας, ὁ δὲ δικαστὴς κολάζειν τοὺς ὑπ᾿ ἀμφοτέρων τούτων ἀποδειχθέντας αὐτῷ (...). Zur Datierung – 15 16 17 331 oder 330 – zuletzt J. Engels, Lykurg. Rede gegen Leokrates, Darmstadt 2008 (Texte zur Forschung 93), 113. P.J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 1981, 697 betont nichtsdestoweniger zu Recht, dass die Kap. 63-69 weit davon entfernt sind, das athenische Gerichtswesen auch nur in seinen prozeduralen Aspekten umfassend darzustellen. Aristoteles konzentriert sich vielmehr auf die Mechanik der Richterauswahl, der Zeitmessung und des Abstimmungsverfahrens. Hingegen fehlen Ausführungen zu den an anderer Stelle im Werk erwähnten Vorstufen des Verfahrens ebenso wie zur Beweisführung während der Verhandlung. Vgl. den Forschungsüberblick von Chr. Mann in der Einleitung zu diesem Band und P. Hamon, Démocraties grecques après Alexandre à propos de trois ouvrages récents, Topoi 16, 2009, 347-382. Die Rezeption der antiken Demokratiekonzepte in der Neuzeit kann und braucht hier so wenig wie die Fortentwicklung der Demokratie in Theorie und Praxis diskutiert zu werden. Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf den souveränen begriffsgeschichtlichen Überblick in W. Conze – O. Brunner – R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 821-899 und auf die jüngst erschienene Studie von W. Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2008, deren Autor der Rolle der Gerichte ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit schenkt, wobei jedoch die hellenistische Zeit gänzlich ausgeklammert wird. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 79 den“. 18 Heute ist die aktive Beteiligung des Bürgers an der Rechtsprechung in den modernen europäischen Staaten ausser in wenigen Sonderfällen nicht gegeben. 19 Einer der wenigen Forscher, 20 die versuchten, der dem Gerichtswesen zugeschriebenen Bedeutung bei der Analyse der politischen Verhältnisse Rechnung zu tragen, war der britische Althistoriker Geoffrey de Ste. Croix, der sich in seiner breit angelegten Studie zum Class Struggle in the Ancient Greek World aus marxistischer Perspektive mit der „Zerstörung der Demokratie“ in nachklassischer Zeit befasste. 21 Nach de Ste. Croix’ Auffassung begann sich schon früh in hellenistischer Zeit die politische Macht vollständig in den Händen der Reichen zu konzentrieren. In einem langsamen Prozess verschwanden nach und nach die demokratischen Institutionen der griechischen Poleis, und spätestens in der römischen Kaiserzeit hatten sie jede praktische Bedeutung eingebüsst. Dabei meint de Ste. Croix besonders drei Faktoren identifizieren zu können, die zum Niedergang der Demokratie führten: 1. Die zunehmende Kontrolle der Volksversammlungen durch die Könige, städtische Magistrate, den Rat oder andere Kontrollinstanzen. 2. Die wachsende Belastung städtischer Ämter durch kostspielige Liturgien. 3: „The third significant oligarchic device by which de18 19 20 21 Vgl. zu den Schwurgerichten in der deutschen Justiz K. Kroeschell, Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jh., München u.a. 1992, 34 und 65 (dort das Zitat); ders., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, Opladen 1989, 163-165 (jeweils mit weiterführender Literatur). Bekanntlich spielt die Beteiligung der Bürger im Rahmen von weitgehend durch das Los konstituierten Geschworenengerichten im Justizsystem der Vereinigten Staaten von Amerika eine wichtige Rolle, die durch die Amendments V bis VII der amerikanischen Verfassung garantiert ist. Es ist durchaus fraglich, ob es den Gründervätern etwa mit dem VII. Amendment nur darum ging, ein „right to a jury trial“ zu etablieren oder ob nicht eher das „right to serve on a jury“ im Vordergrund stand (vgl. A.R. Amar, The Bill of Rights as a Constitution, Yale Law Journal 100, 1991, 1181-1199). Vgl. das meiner Studie voran gesetzte Zitat von Thomas Jefferson. Hinzuweisen ist im Weiteren besonders auf die – an L. Robert u.a. anschliessende – Studie von Ch. Crowther, The Decline of Greek Democracy?, JAC 7, 1992, 13-48 zu den fremden Richtern, auf die unten im Detail noch näher einzugehen sein wird. Einen Versuch, die Rechtsprechung unter den veränderten Rahmenbedingungen der hellenistischen Poliswelt umfassend zu analysieren, unternimmt nun Cassayre (wie Anm.*). Ste. Croix war 15 Jahre lang als Notar („solicitor“) tätig gewesen, bevor er nach dem 2. Weltkrieg mit dem Studium der Alten Geschichte begann. Zur Person vgl. R. Parker, Geoffrey Ernest Maurice de Ste. Croix 1910-2000, Proceedings of the British Academy 111, 2001, 447-478, der zu den Jahren als Jurist bemerkt: „But the solicitor in humdrum practice in Worthington was not useless to the historian of The Class Struggle in the Ancient Greek World. A mastery of legal texts and and an easy familiarity with legal argument provide much of the underpinning of that work“ (450). 80 Andreas Victor Walser mocracy was gradually extinguished was the abolition of the popular dikasteria (...), on which in full Greek democracy all citizens were entitled to serve.“ 22 Gerade die Untersuchung dieses „gerichtlichen Aspekts des Niedergangs der griechischen Demokratie“ – der hier als einziger interessieren soll – bleibt in seiner Studie, wie de Ste. Croix offen eingesteht, lückenhaft und konzentriert sich auf das Gerichtswesen in den griechischen Poleis unter römischer Herrschaft. Seine Behauptung, dass die Gerichtshöfe schon in hellenistischer Zeit mehr und mehr in die Hände der besitzenden Klasse kamen, stützt der Autor einzig mit dem Verweis auf ein Dekret der ägyptischen Polis Ptolemaïs in der Thebais. 23 In diesem ehrten der Rat und das Volk im 3. Jh., vermutlich 278/77, die sechs Mitglieder des Prytanenkollegiums, weil sie während ihres Amtsjahres die Stadt verdienstvoll regierten: 24 Als es im Rat und in den Volksversammlungen, besonders bei den Wahlen, zu Tumulten und sogar gewaltsamen Ausschreitungen gekommen war, verhängten sie die gesetzlich vorgesehenen Strafen und stellten so die Ordnung wieder her. Daraufhin legten sie – offensichtlich mit dem Ziel, künftig derartige Unruhen zu verhindern – durch Abstimmung fest, dass die Gerichte ebenso wie der Rat künftig aus einer Gruppe von vorgewählten Männern und mithin nicht mehr aus der Gesamtbürgerschaft bestellt werden sollten. 25 Im Dekret war danach anscheinend von weiteren Massnahmen die Rede, doch ist die Inschrift an der Stelle stark zerstört und der Sinn nicht mehr zu rekonstruieren. 26 Nichtsdestoweniger steht fest, dass die Unruhen in Pto22 23 24 25 26 G.E.M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World from the Archaic Age to the Arab Conquest, London 1981, 300f., das Zitat 306. Ebd. 306; 315-317. IGENLouvre 4; IPros.Pierre 4 (wo eine Datierung in das Jahr 278/77 gegenüber der ebenfalls möglichen in das Jahr 240/39 vorgezogen wird); OGIS 48. Z. 13f.: [εἶ τα] καὶ ἐψηφίσαν[το] ἐξ ἐπιλέκτων ἀνδρῶν τὴν βουλὴν [καὶ τὰ] δικαστή[ρια αἱρεῖ σ]θαι. Der Erstherausgeber P. Jouget, Ptolémais et sa constitution, BCH 21, 1897, 203 vermutete, dass ἐψηφίσαντο hier in Folge eines Steinmetzfehlers oder wegen einer sprachlichen Ungenauigkeit an Stelle des geforderten ἐπεψήφισαν steht. E. Bernand (IGENLouvre 4, S. 24) lehnt diese Vermutung ab, rechnet aber dennoch nach dem üblichen Prozedere mit einem Probouleuma, einem Vorschlag der Prytanen und einem anschliessenden Beschluss der Volksversammlung. Z. 14-17, nach denen der Text ganz abbricht, lauten in der weithin akzeptierten Lesung Jougets: ἐφ' ο[ἷ ς̣] παροξυνόμενοι οἱ νεώτεροι καὶ οἱ ἄλλοι π[ολῖ τ]αι ο[ἱ] αἱρο[ύμενοι] βέλτιον π[ολιτεύεσθ]αι καὶ περὶ ὧν ὑπελάμβανον συμφέρειν τῆι πόλει διο[ι]κηθῆνα[ι --- διο]ικητὴν, ὅ[π]ω[ς ---]. E. Bernand übersetzt: „à propos desquels (sc. der ἐπιλέκτων ἀνδρῶν) s’irritaient les plus jeunes, tandis que tous les autres citoyens, choisissant d’être mieux gouvernés, estimaient aussi au sujet de ceuxci qu’il était utile à la cité d’être administrée (...) un administrateur, afin que (...).“ Der griechische Text, jedenfalls in der gemeinhin übernommenen Lesung Jougets, stellt – wie schon Dittenberger (OGIS 48) gesehen hat – die νεώτεροι und οἱ ἄλλοι πολῖ ται jedoch nicht als Konfliktparteien gegenüber, wie Jouget folgend in dieser Überset- Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 81 lemaïs zum Anlass genommen wurden, mit der Beschränkung des passiven Wahlrechts auf eine gesonderte, im Gesetz nicht näher definierte Gruppe von ἐπίλεκτοι ἄνδρες radikal in die Verfassung einzugreifen, und zwar in einer Art und Weise, die der Gesamtbürgerschaft wichtige Partizipationsmöglichkeiten entzog und nach Aristoteles zweifellos als oligarchisch zu gelten hat. 27 Ob von dem in diesem Einzelfall zu beobachtenden Niedergang der Volksgerichte demokratischen Zuschnitts extrapolierend auf die Entwicklung der Verfassungsordnungen in anderen Poleis in nachklassischer Zeit geschlossen werden kann, bleibt hingegen fraglich. Ptolemaïs kann nur sehr bedingt als typische griechische Polis gelten. In seinem kurzen Verweis auf die Stadt bescheinigt Strabon Ptolemaïs zwar ausdrücklich „eine politische Ordnung nach griechischer Art“, 28 worin ihn die Inschriften mit der Nennung städtischer Institutionen wie Boule und Volksversammlung ja auch bestätigen, Spezifika der Verfassungsordnung hatte der Geograph aber kaum im Auge. Vielmehr wollte er die Sonderstellung unterstreichen, die Ptolemaïs als neben Naukratis und Alexandreia einziger Gemeinde mit Polisstatus in Ägypten inne hatte. Als solche war sie zwar – bis zu einem gewissen Grad – nicht der allgemeinen königlichen Verwaltung Ägyptens unterstellt, dennoch deuten eine Reihe von Anzeichen darauf hin, dass die ptolemaiischen Herrscher auf die inneren Angelegenheiten der Stadt, die auch ein wichtiger Garnisonsstandort war, erheblichen Einfluss ausübten. 29 Festzuhalten ist darüber hinaus, dass die Umgestaltung der Verfassung, die die Ehreninschrift dokumentiert, schon wenige Jahrzehnte nach der 27 28 29 zung sowie im Kommentar etwa von A. Bernand vorausgesetzt ist. Zudem ist ἐφ᾿ οἷ ς und damit der Unmut der νεώτεροι nicht zwingend auf die Massnahmen der Prytanen zu beziehen, sondern könnte auch auf die weiter oben genannten Unruhen verweisen. Vgl. auch B. Legras, Néotês. Recherches sur les jeunes Grecs dans l’Égypte ptolémaique et romaine, Genf 1999, 229, der ohne auf die Schwierigkeiten einzugehen davon spricht, dass die „néôteroi ainsi que d’autres citoyens“ die Prytanen unterstützt hätten. P. M. Fraser, Ptolemaic Alexandria II, Oxford 1972, 178 Anm. 23 las nach Kontrolle des Steines an der Stelle οἱ ἄλλοι πολῖ ται προαιροῦνται βελτίον πο[λιτεύεσθ]αι, was von E. Bernand übersehen, von A. Bernand registriert, aber ohne weitere Erklärung nicht übernommen wird. Das in IGENLouvre (Pl. 6) gedruckte Photo lässt vermuten, dass sich die Lesung der Stelle durch eine erneute Prüfung des Steines klären liesse. Bis dahin erübrigt sich weitere Spekulation zum Inhalt. Vgl. die Charakterisierung der Oligarchie Pol. 1293a 10-25. oder die Aufzählung der oligarchischen Züge einer Mischverfassung 1294b 7-13. Strab. 17, 1, 42 (C 813): σύστημα πολιτικὸν ἐν τῷ Ἑ λληνικῷ τρόπῳ. Vgl. W. Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit 332-30 v. Chr., München 2001, 223f. mit Anm. 18 u. 19. 82 Andreas Victor Walser Gründung der Polis durch Ptolemaios I. Soter erfolgte und somit kein Eingriff in eine seit längerer Zeit bestehende demokratische Ordnung war. 30 Auch de Ste. Croix stützte seine – bewusst vorsichtig formulierte – These, dass bereits mit Beginn der hellenistischen Zeit der Niedergang der Volksgerichte einsetzte, nicht deshalb auf das Dekret aus Ptolemaïs, weil er diesen Fall für besonders typisch hielt, sondern weil seiner Ansicht nach anderes aussagekräftiges Quellenmaterial schlicht fehlte. Mit guten Gründen zweifelte er prinzipiell an der Möglichkeit, die Entwicklung des Gerichtswesens in den hellenistischen Poleis so zusammenhängend und umfassend darzustellen, wie das für das klassische Athen möglich ist. 31 Unser recht genaues Bild von dessen Gerichtsbarkeit basiert hauptsächlich auf Informationen, die den aristotelischen Schriften, besonders natürlich der Athenaion Politeia, und den attischen Gerichtsreden zu entnehmen sind, und vergleichbare Quellen fehlen bekanntlich für andere Poleis und die nachklassische Zeit ganz generell. 32 Das hauptsächlich epigraphische Quellenmaterial, das für die hellenistische Zeit zur Verfügung steht, bietet hingegen meist nur ganz punktuelle Einblicke in das Funktionieren der Jurisdiktion in einer bestimmten Polis. Da nicht davon auszugehen ist, dass das Gerichtswesen in allen hellenistischen Poleis deckungsgleich ausgestaltet war, lassen sich die Einzelinformationen nicht ohne Weiteres zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Nichtsdestoweniger erlauben es die Quellen, Fragen nach dem demokratischen oder aristokratisch-oligarchischen Charakter der Rechtsprechung in den hellenistischen Poleis weit differenzierter zu beantworten, als es de Ste. Croix für möglich hielt. Im Anschluss an die bei Aristoteles dargelegte und auch sonst verbreitete Auffassung der Rolle des Bürgers in einer demokratisch verfassten Polis soll im Folgenden in erster Linie die – als Möglichkeit gegebene und im gerichtlichen Alltag realisierte – aktive Partizipation des einfachen Bürgers an der Jurisdiktion als Massstab für den demokratischen Charakter der Gerichtsordnung dienen. 33 Die aus unserer heutigen Perspektive vielleicht näher liegende 30 31 32 33 Zu Ptolemaïs vgl. jeweils mit zahlreichen weiteren Quellen- und Literaturverweisen G.M. Cohen, The Hellenistic Settlements in Syria, the Red Sea Basin, and North Africa, Berkeley u. a. 2006, 350-352; A. Calderini, Πτολεμαὶς ἡ Ἑ ρμείου, Dizionario dei nomi geografici e topografici dell' Egitto greco-romano, Bd. 4.3, Mailand 1986, 210-211. De Ste. Croix (wie Anm. 22) 306; 315f. Welche Schlüsselrolle der Athenaion Politeia trotz ihrer Konzentration auf technische Aspekte für das Verständnis der Gerichtsorganisation im klassischen Athen zukommt, verdeutlichen Studien (z.B. G. Gilbert, Der Staat der Lakedaimonier und der Athener, Leipzig 1881 (Handbuch der griechischen Staatsalterthümer, Bd. 1), 357389, die sich mit dieser Thematik allein auf Grund der verstreuten Nachrichten bei den Rednern oder in der Komödie beschäftigt haben. Im Vordergrund steht dabei das Gerichtswesen innerhalb der einzelnen Poleis, wäh- Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 83 Frage nach der Gleichheit der Bürger nicht als Richter, sondern vor dem Richter, würde eine eigene Untersuchung verdienen, 34 die angesichts der problematischen Quellenlage schwierig und hier nicht zu leisten ist. In einem ersten Teil ist nachfolgend direkt im Anschluss an Ste. Croix’ These nach dem Verschwinden oder der Fortexistenz von Gerichtshöfen des athenischen Typs zu fragen, also Gerichten mit einer grossen Zahl aus der gesamten Bürgerschaft rekrutierter, idealiter durch das Los ausgewählter und für ihre Tätigkeit bezahlter Richter. 35 Probleme, die im Gerichtswesen hellenistischer Poleis sichtbar werden, sollen im Zentrum eines zweiten Teiles stehen. Daran anknüpfend ist auf Innovationen und Veränderungen in der Rechtsprechung in den Poleis der hellenistischen Zeit einzugehen. Ein Fazit schliesst die Arbeit ab. 2 Volksgerichte athenischen Typs in hellenistischer Zeit Es liegt nahe, nach demokratischen Volksgerichten des klassischen Zuschnitts zunächst in Athen selbst zu suchen. 36 Freilich sollen gerade hier gemäss einer 34 35 36 rend auf die in jüngster Zeit wiederholt untersuchte zwischenstaatliche Gerichtsbarkeit nur am Rande eingegangen wird; vgl. S.L. Ager, Interstate Arbitrations in the Greek World 337-90 B.C., Berkeley – Los Angeles 1996 (Hellenistic Culture and Society 18); A. Magnetto, Gli arbitrati interstatali greci. Vol. II: Dal 337 al 196 A. C., Pisa 1997; K. Harter-Uibopuu, Das zwischenstaatliche Schiedsverfahren im Achäischen Koinon. Zur friedlichen Streitbeilegung nach den epigraphischen Quellen, Köln 1998 (Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 12). Der Gleichheit vor dem Gesetz im republikanischen Rom ist M. Jehne in einem Vortrag auf dem 47. Historikertag in Dresden nachgegangen; eine eigene Sektion war dem Thema „Ungleichheiten vor Gericht“ in der Neuzeit gewidmet. Mit der Sonderstellung von Fremden in der Rechtsprechung griechischer Poleis hat sich in einer grundlegenden Studie Ph. Gauthier, Symbola. Les étrangers et la justice dans les cités grecques, Nancy 1972, auseinandergesetzt. Wenn von Gerichten „athenischen Typs“ die Rede ist, soll damit nicht impliziert werden, dass die Gerichtsorganisation tatsächlich von Athen übernommen oder dem athenischen Modell nachgebildet ist. Volksgerichte mit einer grossen Zahl von Richtern sind schon früh auch in anderen Poleis nachweisbar, z. B. in Chios im 6. und 5. Jh. oder in Teos und Abdera in der 1. Hälfte des 5. Jhs.; vgl. R. Koerner, Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis: aus dem Nachlass von Reinhard Koerner hrsg. von Klaus Hallof, Köln 1993 (Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte 9), Nr. 61f. und Nr. 79. Die Untersuchung des athenischen Gerichtswesens kann sich auf die sorgfältige Zusammenstellung des archäologischen und schriftlichen Quellenmaterials bei A.L. Boegehold (Ath.Agora 28) stützen. Knappe Bemerkungen zur hellenistischen Zeit ebd. 41f; auch P.J. Rhodes with D.M. Lewis, The Decrees of the Greek States, Oxford 1997, 38 und 55; V. Grieb, Hellenistische Demokratie. Politische Organisati- 84 Andreas Victor Walser Notiz in der Suda die Volksgerichte schon von Antipatros wohl im Jahre 322/21 im Anschluss an die athenische Niederlage im Lamischen Krieg „aufgelöst“ worden sein (κατέλυσε τὰ δικαστήρια). 37 Zu den übrigen Bemühungen der Handlanger des Antipatros, unter dem Deckmantel einer „Rückkehr zur Verfassung der Väter“ eine gemässigte Oligarchie einzurichten, passt diese Massnahme gut, was sie konkret bedeutete und wie weit sie bis zum baldigen erneuten Regimewechsel überhaupt umgesetzt wurde, wissen wir nicht. 38 Über die Tätigkeit der Volksgerichte unter dem Regime des Demetrios von Phaleron liefern die Quellen keine Hinweise, doch spricht nichts dafür, dass Demetrios ihre Kompetenzen eingeschränkt hätte. 39 Teilen der Bürgerschaft blieb die Teil- 37 on und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen, Stuttgart 2008 (Historia ES 199), 47f. Vgl. auch B. Dreyer, Wann endet die klassische Demokratie Athens?, AncSoc 31, 2001, 27-66 (mit der älteren Literatur), in dessen Betrachtung die Gerichte kaum eine Rolle spielen. Dass sich die Organisation des Gerichtswesens in Athen im Hellenismus von derjenigen der klassischen Zeit grundsätzlich nicht unterschied, setzt G. Thür, Recht im hellenistischen Athen, in: E. Cantarella – G. Thür (Hrsg.), Symposion 1997, Köln u.a. 2001, 141-164 bei seinem spannenden, aber eingestandenermassen spekulativen Versuch, auf Basis von Komödienfragmenten die Privatrechtspraxis zu beleuchten, voraus (s. besonders 162f.). Suid. (Δ 414 Adler) s.v. Δημάδης, Ἀθηναῖ ος, ῥήτωρ, καὶ δημαγωγὸς πανοῦργος καὶ εὐτυχής: (...) οὗτος κατέλυσε τὰ δικαστήρια καὶ τοὺς ῥητορικοὺς ἀγῶνας. τελευτᾷ δὲ ἐπὶ Ἀντιπάτρου. Diese überlieferte Lesung der Stelle ist vermutlich korrupt. Kiessling schlug vor, den zweitletzten Satz unter Änderung von οὗτος zu ὅς am Ende anzufügen, also τελευτᾷ ἐπὶ Ἀντιπάτρου, ὃς κατέλυσε τὰ δικαστήρια καὶ τοὺς ῥητορικοὺς ἀγῶνας zu lesen. Frühere Korrekturversuche Ruhnkes – des- 38 39 sen Text noch Boegehold a.O. (wie Anm. 36) 41 Anm. 61 ohne jeden Hinweis auf die Emendation druckt – gehen wohl zu weit; vgl. kritisch F. Jacoby, FGrHist 2 D 227 p. 641. Auf die Ereignisgeschichte und die Vielzahl damit noch immer verbundener Probleme ist hier und im Folgenden nicht einzugehen, siehe generell Chr. Habicht, Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit, München 1995 und B. Dreyer, Untersuchungen zur Geschichte des spätklassischen Athen (322-ca. 230 v. Chr.), Stuttgart 1999 (Historia ES 137). Überlegungen wie diejenigen von G. de Sanctis, Contributi alla storia ateniense della guerra Lamiaca alla guerra Cremonidea, in: ders., Scritti Minori, S. Accame (Hrsg.), Bd. 1, Rom 1966, 249f., der eine Übertragung der Kompetenzen der Volksgerichte auf den Areopag vermutet, bleiben reine Spekulation. Vgl. auch H.-J. Gehrke, Phokion. Studien zur Erfassung seiner historischen Gestalt, München 1976 (Zetemata 64), 93 Anm. 38. Demetr. fr. 141 a Wehrli = 96 A (ed. P. Stork – J.M. v. Ophuijsen – T. Dorandi, in: W.W. Fortenbaugh – E. Schütrumpf (Hg.), Demetrius of Phalerum. Text, Translation and Discussion, New Brunswick – London 2000 [Rutgers University Studies in Classical Humanities 9]) lässt sich so verstehen, dass „unter Demetrios“ die Zahl der Richter in Eisangelie-Prozessen von 1000 auf 1500 erhöht wurde. Eher jedoch dürfte in κατὰ δὲ τὸν Φαληρέα ein Bezug auf Demetrios’ Schrift zur Nomothesie zu sehen sein. Vgl. den Kommentar der letzten Herausgeber ad loc. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 85 habe an der Jurisdiktion indes verwehrt, da die Ausübung der vollen bürgerlichen Rechte einen Mindestzensus von 1000 Drachmen voraussetzte. 40 Es ist vielleicht überraschend, dass vor allem Beschlüsse über die Verleihung des Bürgerrechts und des Immobilienerwerbsrechts (γῆς καὶ οἰκίας ἔγκτησις) in der Folgezeit die Fortexistenz der Gerichte positiv bezeugen: Seit den letzten Jahren des 4. Jhs. wurde es in Athen üblich, die Vergabe dieser besonders wichtigen Rechte nach der Genehmigung in der Volksversammlung zusätzlich von einer δοκιμασία, einer Prüfung der potentiellen Empfänger, vor Gericht abhängig zu machen. 41 Die Anordnung einer solchen gerichtlichen Überprüfung findet sich in der Folgezeit zwar nicht ausnahmslos, sie erscheint jedoch immer wieder in Beschlüssen des 3. und 2. Jh. bis hinab in die Zeit um 140 v. Chr., aus der die letzten athenischen Bürgerrechtsdekrete stammen. 42 Somit ist klar, dass die Gerichte in Athen jedenfalls bis in die letzten Jahre des 2. Jh. und vielleicht darüber hinaus in Betrieb blieben. Grundsätzlich bezeugen zwar all diese Belege nur, dass die Gerichtshöfe fortwährend für die Prüfung der Neubürger und Privilegienempfänger zuständig waren, doch spricht nichts dafür, dass sie ihre Kompetenzen in der Rechtsprechung im engeren Sinne verloren hätten. Dass Prozesse im Alltagsleben der Stadt zumindest in der ersten Hälfte des 3. Jh. nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle spielten, bezeugt Herakleides Kriti40 41 42 So schon H.-J. Gehrke, Politik und Philosophie bei Demetrios von Phaleron, Chiron 8, 1978, 154, der darauf hinwies, dass der Zensus und das Fehlen von Diätenzahlung in Kombination mit der Höhe der geforderten Richterstimmen (vgl. vorangehende Anm.) „die Möglichkeit eines Missbrauchs (der Volksgerichte) im Sinne der radikalen Demokratie so gut wie ausschloss.“ Die Anweisung an die Thesmotheten, die Bürgerrechtsverleihung einer gerichtlichen Dokimasie zu unterziehen, enthält zuerst ein Dekret, das in die kurze demokratische Phase im Jahre 318 gehören dürfte (IG II2 398b; M.J. Osborne, Naturalization in Athens, 4 Bde., Brüssel 1981-1983 [Verhandelingen van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van Belgie, Klasse der Letteren, 98, 101 und 109], hier Bd. 1, D36) und erscheint danach erst wieder ab dem Jahre 303/02 (IG II2 496 + 507 + Add. p. 661; Osborne, ebd. D61). Noch die wohl jüngsten Bürgerrechtsdekrete (SEG 14, 73; Osborne, Naturalization [wie Anm. 41] D121, nach ca. 140; IG II2 982; Osborne, Naturalization [wie Anm. 41] D113, gemäss S.V. Tracy, Attic Letter-Cutters of 229 to 86 B.C. [Berkeley 1990] ca. 130) enthalten eine Dokimasiebestimmung. Vgl. im Einzelnen zur Chronologie und zur praktischen Bedeutung der Dokimasie Osborne, Naturalization (wie Anm. 41) III/IV, 109. Die Interpretation der Dokimasie als oligarchische Innovation durch W. S. Ferguson, Athenian Politics in the Early Third Century, Klio 5, 1905, 155-179, hier 172f. lehnt Osborne sicher zu Recht ab und unterstreicht stattdessen den demokratischen Charakter der gerichtlichen Prüfung. Rhodes – Lewis, Decrees (wie Anm. 36) 38 warnen jedoch ihrerseits berechtigterweise davor, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Dokimasie und somit die Gerichtstätigkeit unter den oligarchischeren Regimen in Athen jeweils ausgesetzt wurde. 86 Andreas Victor Walser kos, der die heimtückischen Attiker, die er von den echten Athenern unterscheidet, als Sykophanten bezeichnet, die stets argwöhnisch das Leben der Fremden beobachteten. Auch in der Stadt gäbe es erpresserische Logographen, die es auf die reichen Fremden abgesehen hätten, doch würden diese vom Volk bei Ergreifung mit harten Strafen belegt. 43 In jenen Phasen, in denen die Demokratie auf Grund des politischen Drucks von aussen grundsätzlich in Frage stand, konnte freilich auch die Stellung der Gerichte prekär sein. Wenn etwa das Ehrendekret für Demochares, den Neffen des Demosthenes, aus dem Jahre 271/70 mit Verweis auf seine demokratische Haltung im Schlusssatz besonders auch dessen Einsatz für die Erhaltung der Gerichte unterstreicht, ist dies bestimmt kein Zufall: „Den Urteilen, den Gesetzen, den Gerichtshöfen und dem Eigentum verschaffte er durch seine Politik zum Nutzen aller Athener Sicherheit und nie hat er etwas gegen die Demokratie unternommen, weder in Wort noch in Tat.“ 44 Gleichwohl blieb offenbar die Rolle der Gerichte zumindest im Rahmen des Dokimasieverfahrens selbst während der langen Phase der athenischen Unfreiheit unter makedonischer Dominanz zwischen 261 und 229 unangetastet. 45 Wenn auch die Fortexistenz der Gerichte im hellenistischen Athen klar bezeugt ist, so bedeutet dies natürlich grundsätzlich noch nicht, dass die δικαστήρια im 2. Jh. noch ebenso durch das Los bestellt wurden und organisiert waren, wie dies in der Athenaion Politeia für das 4. Jh. beschrieben ist. Einige Indizien sprechen aber durchaus dafür: In einem Dekret aus dem Jahre 288/7 wird der Geehrte u.a. dafür belobigt, dass er – vermutlich als Thesmothet – die „Auslosung der Gerichte (...) gerecht und gemäß den Gesetzen“ vorgenommen hatte. 46 Dies bleibt zwar der einzige schriftliche Beleg für die Auslosung von 43 Heracl. Frg. I 4 (Pfister). οἱ μὲν Ἀττικοὶ περίεργοι ταῖ ς λαλιαῖ ς, ὕπουλοι, συκοφαντώδεις παρατηρηταὶ τῶν ξενικῶν βίων. (...) διατρέχουσι δέ τινες ἐν τῇ πόλει λογογράφοι, σείοντες τοὺς παρεπιδημοῦντας καὶ εὐπόρους τῶν ξένων, οὓς ὅταν ὁ δῆμος λάβῃ σκληραῖ ς περιβάλλει ζημίαις. Zum Autor und Werk vgl. 44 A. Arenz, Herakleides Kritikos „Über die Städte in Hellas“. Eine Periegese Griechenlands am Vorabend des Chremonideischen Krieges, München 2005 (Quellen und Forschungen zur Alten Welt 49), zur Stelle 68; 190. Das Ehrendekret ist bei Plut. Mor. 851D-F überliefert: καὶ τὰς κρίσεις καὶ τοὺς νόμους καὶ τὰ δικαστήρια καὶ τὰς οὐσίας πᾶσιν Ἀθηναίοις ἐν ἀσφαλεῖ ποιήσαντι διὰ τῆς αὑτοῦ πολιτεῖ ας καὶ μηδὲν ὑπεναντίον τῇ δημοκρατίᾳ πεπραχότι μήτε λόγῳ μήτε ἔργῳ. Vgl. zum Lebenswerk-Dekret für Demochares 45 46 etwa B. Dreyer, Demokratie (wie Anm. 36) 33f. Vgl. Rhodes – Lewis, Decrees (wie Anm. 36) 51f., wo die von Osborne, Naturalization (wie Anm. 41) III/IV, 168-170 vertretene gegenteilige Auffassung überzeugend zurückgewiesen wird. IG II2 1163 (Ath.Agora 28, 94) Z. 8-13: ἐπιμελεῖ ται δὲ καὶ τῆς κληρώσεως τῶν δικαστ[ηρ]ίων (...) δικαίως καὶ κατὰ το[ὺ]ς νόμους Vgl. auch die analoge Ehrung Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 87 Gerichten in Athen aus hellenistischer Zeit, doch zeigen die Funde von κληρωτήρια, Losmaschinen, dass die Gerichtshöfe nach wie vor im Losverfahren und – wie man vermuten kann – aus der gesamten Bürgerschaft besetzt wurden. Die erhaltenen Kleroteria stammen, so weit sie datierbar sind, aus der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr, 47 entsprechen in der Bauweise aber noch weitgehend den Beschreibungen in der Athenaion Politeia. Die grössten Exemplare waren geeignet, aus bis zu 1000 Personen auszulosen, und bezeugen damit, dass nach wie vor eine grosse Zahl von Bürgern an der Jurisdiktion partizipierte. 48 Auch jenseits von Athen kamen in hellenistischen Poleis Losmaschinen zum Einsatz. Vier Fragmente vermutlich hellenistischer Kleroteria wurden auf Delos, zwei weitere auf Paros gefunden, ansonsten blieben ausserhalb von Athen keine Exemplare erhalten. 49 Inschriftlich belegt ist die Nutzung von Losmaschinen in Smyrna in der 2. Hälfte des 3. Jh. 50 Funde von vermutlich hellenistischen Bronzeplättchen, die mit Personennamen beschriftet und für die Verwendung in Kleroteria vorgesehen waren, sind in geringer Zahl aus Thasos, Rhodos, Olbia, Abydos, Sinope, Pamphylien und vielleicht aus Arkadien bekannt geworden, weitere späthellenistische Plaketten, die vermutlich bei einfachen Losziehungen aus Urnen Verwendung fanden, wurden in mehreren aiolischen Poleis gefunden. 51 Sie belegen auch an diesen Orten die Durchführung von Losprozedere, 47 48 49 50 51 Ath.Agora 16, 86 für einen Thesmotheten aus dem Jahr 327/26. Nach wie vor grundlegend bleibt der den Losmaschinen gewidmete Abschnitt in S. Dow, Prytaneis. A Study of the Inscriptions Honoring the Athenian Councillors, Athen 1937 (Hesperia Supp. 1), 198-215. Zum Einsatz und zur Funktionsweise v.a. S. Dow, Aristotle, the Kleroteria, and the Courts, HarvStClPhil 50, 1939, 1-34. Die neuere Literatur verzeichnet A. Boegehold in Ath.Agora 28, 230f. Manche der Kleroteria dienten möglicherweise auch Auslosungen, die nichts mit Gerichtsverfahren zu tun hatten, wie etwa der Bestimmung der Sitzordnung in der Boule (vgl. Dow, Prytaneis [wie Anm. 47] zu Nr. X). Noch weitere archäologische Kleinfunde von der Agora sind mit Gerichtsverfahren in Zusammenhang zu bringen, und manche von ihnen dürften auch aus hellenistischer Zeit stammen, doch bleibt die Datierung in aller Regel schwierig. Vgl. die Kataloge in Ath.Agora 28, 53-90. J.-C. Moretti, Klèrôtèria trouvés à Délos, BCH 125, 2001, 133-143; K. Müller, Zwei Kleroterion-Fragmente auf Paros, AA 1998, 167-172. Die Datierung kann sich jeweils nur auf den Vergleich mit den datierbaren athenischen Stücken stützen und bleibt entsprechend unsicher. Nach IMSipylos 1 (= ISmyrna 573) II Z. 52f. sollen die Namen der neu in Smyrna eingebürgerten Magnesier nach der Einlosung in die Phylen ε[ἰς τὰ κληρ]ωτήρια aufgezeichnet werden. Den Gebrauch von Kleroteria zur Auswahl der Richter verfügte auch Augustus in seinem 1. Edikt aus Kyrene (SEG 9, 8; 7/6 v. Chr.), doch dürfte er hier römischer, nicht griechischer Praxis folgen (zur Stelle vgl. S. Dow, Aristotle [wie Anm.47], 14. Teilweise überholte Übersicht bei J.H. Kroll, Athenian Bronze Allotment Plates, Cambridge, Mass. 1972, App. B, 268-278; Rhodos: P.M. Fraser, Notes on Two Rho- 88 Andreas Victor Walser die zu häufig nur mit Athen in Verbindung gebrachten werden. Da Losverfahren nicht nur bei der Bestellung von Gerichten, sondern bei zahlreichen anderen politischen Geschäften eine Rolle spielten, lässt sich von den Kleroteria und Losplaketten nur dort mit letzter Sicherheit auf die Existenz von Volksgerichten athenischen Typs schliessen, wo wie im Falle von Thasos, Rhodos oder Delos schriftliche Quellen weitere Hinweise liefern. In Thasos waren die Richter in unterschiedliche Sektionen aufgeteilt und wurden vermutlich am Gerichtstag ganz ähnlich wie in Athen durch das Los einem Gerichtshof zugewiesen. 52 Etwas besser kennen wir das Gerichtswesen von Rhodos: Von dort sind bislang nur gerade fünf Lostäfelchen bekannt geworden, doch nennen mehrere Inschriften aus dem 1. Jh. einen als „Richterausloser“, κλαρωτὰς δικαστᾶν, bezeichneten Amtsträger, der anscheinend wie die Thesmotheten in Athen für die Auslosung der Richter verantwortlich war. 53 Zudem wurden in Rhodos – worauf noch zurückzukommen ist – die Richter für ihre Tätigkeit entlohnt. 54 Es ist sicherlich kein Zufall, wenn der Verfasser des wohl im 2. Jh. n. Chr. entstandenen und Sallust zugeschriebenen Briefes an 52 53 54 dian Institutions, ABSA 67, 1972, 113-124, hier 119-124 (Ende 3. Jh. bis Kaiserzeit [?]); C. Doumas, ADelt. 29, 1973-74, 961; Thasos: S. Dow, Dikasts’ Bronze Pinakia, BCH 87, 1963, 653-687, hier 676-684 (4./3. Jh); Olbia: J.G. Vinogradov, Une tablette de dicaste dans la collection de l’Ermitage, Balkanika Antiqua, Moskau 1987, 10-16 (vgl. BE 1990, 507); Abydos: J. Nollé, Eine Losplakette aus Abydos am Hellespont, Tyche 13, 1998, 191-193 (4./frühes 3. Jh.); Sinope: Kroll, Plates (a.a.O.) 270-272 (4. Jh.?); Pamphylien (Side): Cl. Brixhe, Un nouveau document épichorique de Sidé, Kadmos 8, 1969, 143-151 (3./2. Jh.); Arkadien: Kroll, Plates (a.a.O.), 277f. Zu den aiolischen Losplaketten ebd. 269 und IKyme 84-88. Die Datierung der Plaketten basiert in den meisten Fällen nur auf den Merkmalen der Schrift und ist entsprechend unsicher. Vgl. auch die – nicht vollständige – Zusammenstellung von Kleroteria und Richtertäfelchen bei Cassayre, Justice (wie Anm. *) 364f. Nicht mit Sicherheit zu klären ist die Funktion der aus hellenistischer Zeit stammenden Stimmarken, die Grabungen in Olympia und Elis in grosser Zahl zu Tage gefördert haben. Bei den Funden aus dem Theater in Elis ist die Vermutung plausibel, dass sie auch für Abstimmungen von Volksgerichten verwendet wurden. Vgl. dazu H. Baitinger – B. Eder, Hellenistische Stimmarken aus Elis und Olympia, Jdl 116, 2001, 163-243; S. Minon, Les incriptions éléenes dialectales, Genf 2007, I Nr. 59 (mit weiterer Literatur). Vgl. J. Pouilloux, Recherches sur l’histoire et les cultes de Thasos. Vol. I: De la fondation de la cité à 196 avant J.-C., Paris 1954, 390-395; F. Salviat, Une nouvelle loi thasienne: Institutions judiciaires et fètes religieuses à la fin du IVe siècle av. J.-C., BCH 82, 1958, 193-267, hier 202-212; zusammenfassend Dow, Allotment Plates (wie Anm.51) 681f. A. Maiuri, Nuova Silloge Epigrafica di Rodi e Cos, edita dalla Facoltà Filologica della R. Università di Firenze, Florenz 1925, 18 Z. 7; IG XII 1, 55 Z. 3; ASAtene 22, 193940, 151 Nr. 7 Z. 8; κληρωτής als Bezeichnung für den Bediener der Losmaschinen bezeugt Poll. 9, 44. Neben der im Folgenden zitierten Cicerostelle vgl. Dion. Chrys. 31, 102. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 89 Caesar auf das Exempel Rhodos verweist, wenn er die Vorzüge einer egalitären Gerichtsordnung preist: „Weder die Rhodier noch andere Gemeinwesen waren jemals über ihre Gerichte unzufrieden, in denen Reiche und Arme ohne Unterschied, wie einen jeden das Los trifft, über die wichtigsten und geringsten Angelegenheiten richten.“ 55 Rhodos wurde nicht zuletzt wegen der Organisation der Rechtsprechung zum Modellfall eines demokratischen Gemeinwesens, von dem Cicero, im Allgemeinen kein Freund der politischen Vorstellungen der Graeculi, Scipio in de re publica sagen lässt: „Aber wenn du dich erinnerst, waren alle zugleich zum Volk gehörig und Ratsherren, und sie wechselten sich dabei ab: In bestimmten Monaten übten sie die Funktion des Volkes, in bestimmten die der Ratsherren aus; in beiden Fällen erhielten sie Diäten, sowohl im Theater als auch in der Kurie. Kapitalprozesse und alle übrigen richteten dieselben; jeder vermochte und galt so viel, wie die Volksmenge einem jeden zumass.“ 56 Die Organisation des Gerichtswesens vermögen wir in Rhodos nur wenig besser zu fassen als in Thasos. Wieviel komplexer sie möglicherweise war, als man auf Basis der wenigen verfügbaren Informationen aus diesen Poleis vielleicht vermuten würde, kann der Vergleich mit Delos zeigen. 57 In der Zeit der delischen Unabhängigkeit zwischen 314 und 167/66 existierten hier drei unterschiedliche Gerichtshöfe: Ein die „Einundreissig“ genanntes Gericht, die τριάκοντα καὶ ἕνα, war für Prozesse, die das Handelsgeschehen betrafen, zuständig, die für Delos naturgemäss besonders wichtig waren und für die man wie in Athen ein beschleunigtes, innerhalb eines Monats abzuschliessendes 55 56 57 Ps. Sall. rep. 2, 7, 12: Neque Rhodios neque alias civitates umquam iudiciorum suorum paenituit, ubi promiscue dives et pauper, ut cuique fors tulit, de maximis rebus iuxta ac de minimis disceptat. Zum Brief und seiner Entstehungszeit R. Syme, Sallust, Berkeley – Los Angeles 1964, 299f.; 314-351. Vgl. zum rhodischen Gerichtswesen auch H.-U. Wiemer, Krieg, Handel und Piraterie. Untersuchungen zur Geschichte des hellenistischen Rhodos, Berlin 2002 (Klio Beihefte NF 6), 22 und Grieb, Demokratie (wie Anm. 36) 300-302. Cic. Rep. 3, 35, 48: Sed, si meministi, omnes erant idem tum de plebe tum senatores vicissitudinesque habebant quibus mensibus populari munere fungerentur, quibus senatorio (utrubique autem conventicum accipiebant, et in theatro et in curia); res capitalis et reliquas omnes iudicabant idem; tantum poterat tantique erat quanti multitudo <iullerat/voluerat unusquisque>. Zur Lesung der Stelle siehe J.-L. Ferrary, Cicéron (De re publica 3, 35, 48) et les institutions Rhodiennes, in: Filologia e Forme Letterarie. Studi offerti a Francesco Della Corte (Urbino 1988) 247-252. Die von Ferrary vorgeschlagene neue Interpunktion ist in jeder Hinsicht überzeugend und entzieht der Auffassung, dass die rhodische Boule umfassende judikative Kompetenzen besessen hätte – was in der hellenistischen Zeit ohne Parallele wäre –, ihre Grundlage. Diese These hätte bei Grieb, Demokratie (wie Anm. 36) 340 auch mit dem in Anm. 441 geäusserten Vorbehalt nicht mehr im Text erscheinen dürfen. Grundlegend für das Folgende ist Cl. Vial, Délos indépendante, Athen – Paris 1984 (BCH Suppl. 10), 147-163. 90 Andreas Victor Walser vorsah. 58 Ein „Gerichtshof der Epitimeten“, δικαστήριον ἐπιτιμητῶν, den im ersten Viertel des 3. Jh. vielleicht 70, später 101 Richter gebildet haben dürften, war wohl ausschliesslich für die Überprüfung der Amtsführung der Kommissäre zuständig, die alle vier Jahre die heiligen Grundstücke inspizierten und schätzten. 59 Schliesslich existierte ein sicher nach athenischem Vorbild „Heliaia“ genanntes Gericht, das sich mit öffentlichen Klagen (γραφαί) befasste. 60 Wieviele Richter diesem allenfalls in verschiedene Sektionen eingeteilten Gericht angehörten, lässt sich kaum genauer klären, doch dürften es mehrere hundert gewesen sein. 61 Dass die auf Delos gefundenen Kleroteria eben dafür genutzt wurden, die Richter für die Heliaia in der Zeit der delischen Unabhängigkeit auszulosen, ist zumindest eine plausible Vermutung. 62 Wie die rhodischen erhielten auch die delischen Richter für ihre Tätigkeit Diäten. Das zur Bezahlung nötige Geld stammte – anders als in Athen – nicht aus einem staatlichen Fonds, sondern war zunächst stets vom Kläger aufzubringen. War er im Prozess siegreich, war der unterlegene Angeklagte jedoch verpflichtet, dem Kläger den Richtersold zusammen mit dem diesem zustehenden Anteil der Verfahren 58 59 60 61 62 In ihrer Zuständigkeit für Monatsklagen sind die „Einundreissig“ im Gesetz über den Verkauf von Holz und Kohle (ID 509 [Prêtre, Choix, 195-198] Z. 18-21) zu fassen. Das Gericht erscheint nur als Zahlungsempfänger in den Abrechnungen des Heiligtums (IG XI 2, 148 Z. 65f.; 199 A Z. 65; 203 A Z. 62; 223 A Z. 7; 287 A Z. 81; ID 290 Z. 110). Die Zahl der Richter berechnete Vial, Délos (wie Anm. 57) 152f. ausgehend von der Annahme eines Richtersoldes von 1 Obole (s.u.). IG XI 2, 199 A Z. 65; 203 A Z. 62; 223 A Z. 7. Vial, Délos (wie Anm. 57) 153 mit Anm. 32 geht davon aus, dass auch die Richter in der Heliaia 1 Obole Richtersold pro Verhandlung bezogen. Mit den in den Tempelabrechnungen genannten Gesamtsummen könnten demnach im Jahre 269 500 (IG XI 2, 203 A 62), im Jahr 262 (IG XI 2, 223 A 7) 600 Richter entlohnt werden. Würden diese Zahlen stimmen, hiesse das, dass die Heliaia je nach Schätzung der Gesamtzahl der Bürger – 650-1000 nach Reger, 1200-1500 nach Vial, 1800-2100 nach Bruneau (vgl. G. Reger, Regionalism and Change in the Economy of Independent Delos, Berkeley u.a. 1994 [Hellenistic Culture and Society XIV] 83-85) – rund ein Viertel, die Hälfte oder gar die gesamte delische Bürgerschaft umfasst hätte. Ph. Gauthier, Les institutions politiques de Delphes au IIe siècle a. C., in: A. Jacquemin (Hg.), Delphes cent ans après la grande fouille. Essai de bilan, Athen – Paris 2000 (BCH Suppl. 36), 130 Anm. 119 bezeichnet Vials Berechnungen deshalb mit Recht als „aussi hasardées qu’invraisemblables“, ebenso P. Fröhlich, Les cités grecques et le contrôle des magistrats (IVe-Ier siècle avant J.-C.), Genf 2004, 423. Geht man von einem höheren Richtersold von zwei oder gar vier Obolen aus, würde dies nach Vials – natürlich mit vielen Fragezeichen behafteter – Berechnungsmethode auf eine realistischere Zahl von 150 bis 300 Richtern führen. So mit der nötigen Vorsicht Moretti, Klèrôtèria (wie Anm. 49) 142; Dow, Pinakia (wie Anm. 51) 682 vermutete hingegen, dass die Kleroteria von Delos nach 166 von der athenischen Klerouchia verwendet wurden. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 91 Strafzahlungen zu erstatten. 63 Der Sold im Gerichtshof der „Einundreissig“ betrug wohl nur eine Obole, 64 wie viel die Richter in den übrigen Gerichtshöfen erhielten, wissen wir nicht. Die Richterbesoldung, die Aristoteles als eines der Kennzeichen der radikalen Demokratie heraushob, 65 lässt sich in hellenistischer Zeit ausser in Rhodos und Delos auch in Samos und Milet zweifelsfrei nachweisen. 66 In einer Reihe weiterer Poleis wird die Existenz grosser Volksgerichte erkennbar, ohne dass wir über diese Genaueres wüssten: In Stiris sollten nach den Bestimmungen des eingangs erwähnten Sympolitievertrags die Bürger, die das vorgeschriebene Alter erreicht hatten, in allen städtischen Prozessen Recht sprechen. Für die einzelnen Prozesse wurden auch hier die Richter in einem Losverfahren bestimmt, für das die obersten Amtsträger der Polis, die Archonten und ein Hierotamias, zuständig waren. 67 Nicht durch das Los, aber keineswegs weniger demokratisch war das Tribunal besetzt, das 332/31 in Eresos auf Lesbos über das Schicksal der Tyrannen zu urteilen hatte, die in der 2. Hälfte des 4. Jh. die Macht an sich gerissen hatten. Zweifellos bildete hier die Gesamtheit der Bürger, mithin die Volksversammlung, das Gericht, denn es waren nicht weniger als 876 Richter, die sich – bei sieben Gegenstimmen – für den Tod der 63 64 65 66 67 So lautet jedenfalls die entsprechende Regelung im Gesetz über den Verkauf von Holz und Kohle (ID 509 [= Prêtre, Choix 195-198] Z. 21-31). Ob darin mit Vial, Délos (wie Anm. 57) 150f. tatsächlich ein allgemeingültiger Grundsatz der delischen Prozessordnung erkennbar wird, lässt sich nicht weiter klären. Die in IG XI 2, 144 A Z. 113 als δικ[α]στηρίωι μισθὸς ausgewiesenen 31 Obolen lassen sich mit Vial, Délos (wie Anm. 57) 151 wohl nur als die Diäten der „Einundreissig“ verstehen. Die übrigen Versuche Vials, die Zahl der Richter aus den als Richtersold aufgeführten Summen zu berechnen, bleiben hingegen problematisch (vgl. vorangehende Anm.) Aristot. Pol. 1294a 37-41; vgl. ebd. 1320a 17-35. Samos: IG XII 6, 169 Z. 30f. (ca. 245/4); zur Stelle G. Thür – H. Taeuber, Prozessrechtlicher Kommentar zur „Krämerinschrift“ aus Samos. Prozessrechtliche Inschriften der griechischen Poleis Sonderheft A, AnzWien 115, 1978, 224. Milet: Milet I 3, 147 Z. 30-32. Vgl. zur Richterbesoldung auch Cassayre, Justice (wie Anm. *) 278281. Der in Delos und Milet vor Prozessbeginn dem Gericht zu entrichtende μισθός ist sicherlich nicht nur „a token fee“, wie Rhodes – Lewis, Decrees (wie Anm. 36) 380, vgl. 530 verstehen, sondern kann dem Wortlaut entsprechend eben doch nur „a stipend for all the jurors“ sein. Vgl. schon die Richtigstellung von Ph. Gauthier, BE 111, 1998, Nr. 104, 583-585, hier 585. Die Untersuchung von G.E.M. de Ste Croix, Political Pay outside Athens, ClQ 25, 1975, 48-52 bleibt auf Rhodos beschränkt. IG IX 1, 32 (SIG 647) Z. 15-18. 31-34. In unklarem, möglicherweise aber ähnlichen Zusammenhang ist in dem Abkommen zwischen den lokrischen Orten Myania und Hypnia (IG IX 12, 3, 748; F. Delphes III 4, 352) von der Auslosung von Richtern die Rede (Col. 1 Z. 5-7: ὁ δὲ ἄρχω[ν --- κλαρ]ωσάτω δικασ[τήριον ---] vel δικασ[τάς --] ἀνδρῶν πε[ντ---]). 92 Andreas Victor Walser Tyrannen aussprachen. 68 Das Verfahren in Eresos entsprach somit der athenischen Eisangelia εἰς τὸν δῆμον, bei der bis zur Mitte des 4. Jh. ebenfalls die Volksversammlung bei Anklagen wegen Verrat oder Verschwörung als Gericht fungierte. 69 Angaben zur Grösse der Gerichte finden sich ansonsten nur im Bereich der zwischenstaatlichen Gerichtsbarkeit: Die Gerichte, die Konflikte zwischen zwei meist benachbarten Poleis in einem Schiedsgerichtsurteil regeln sollten, bestanden schon in klassischer Zeit in der Regel nur aus kleinen Gremien von gewählten Richtern. Doch gab es gerade in hellenistischer Zeit bemerkenswerte Ausnahmen: Nicht weniger als 600 Milesier wurden im 2. Jh. als „der grösste in den Gesetzen vorgesehene Gerichtshof“ durch das Los aus dem gesamten Volk ausgewählt, um ein Urteil in einem Territorialkonflikt zwischen Messene und Sparta zu fällen, 70 301 durch das Los bestimmte Richter aus Eretria urteilten zwischen Paros und Naxos, 71 204 Stimmen wurden zu Beginn des 3. Jh. in Knidos abgegeben, als man einen Darlehensstreit zwischen Kalymna und Bürgern von Kos zu klären hatte 72 – um nur die grössten solcher Gerichte zu nennen. 73 Im Falle von Milet und Knidos ist klar, in anderen Fällen kann man es vermuten, dass in diesen Fällen die Entscheidungsfindung Volks- 68 69 70 71 72 73 A.J. Heisserer, Alexander the Great and the Greeks. The Epigraphical Evidence, Norman 1980, 27-78 (A. Bencivenni, Progetti di riforme constitutizionali nelle epigrafi greche die secoli IV-II A.C., Bologna 2003, 55-77 Nr. 3; Rhodes – Osborne, GHI 83). Der ausführliche rechtshistorische Kommentar von C. Koch, Prozesse gegen die Tyrannis. Die Vorgänge in Eresos in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr., Dike 4, 2001, 169-217 bewegt sich nicht immer auf der Höhe der Forschung und bleibt in manchem problematisch. Vgl. M.H. Hansen, Eisangelia. The Sovereignty of the People’s Court in Athens in the Forth Century B.C. and the Impeachment of Generals and Politicians, Odense 1975 (Odense University Classical Stuides 6). Ager, Arbitrations (wie Anm. 33) Nr. 159 (SIG 683) Z. 47-49 ἀπ[ε]κληρώθη κριτήριον ἐκ παντὸς τοῦ δήμου τὸ μέγιστ̣ον ἐκ τῶν νόμων (ca. 138). Ager, Arbitrations (wie Anm. 33) Nr. 83 (IG XI 4, 1065) A Z. 12f. (2. Jh.). Ager, Arbitrations (wie Anm. 33) Nr. 21 (Magnetto, Arbitrati 1997 Nr. 14; TC 79) B Z. 31-33 (300-286). Weiter etwa Ager, Arbitrations (wie Anm. 33) Nr. 137 (SIG 655) Z. 37f.: 101 Richter zwischen Sparta und Megalopolis (2. Jh.); Ager ebd. Nr. 38 (Magnetto, Arbitrati (wie Anm. 33) Nr. 36; SIG 471) II Z. 5f.: 151 Richter aus Megara zwischen Epidauros und Korinth (3. Jh.). Als Richter zwischen Kimolos und Melos amtierte am Ende des 4. Jh. ὁ δᾶμος ὁ τῶν Ἀργείων, vermutlich also die Volksversammlung: Ager ebd. Nr. 3 (Magnetto, Arbitrati [wie Anm. 33] Nr. 1; IG XII 3, 1259) Z. 2f. In der Zeit des Tiberius urteilte das aus 334 Mitgliedern bestehende Synhedrion des thessalischen Bundes in einem Konflikt zwischen Kierion und Metropolis. Vgl. allgemein zum Ablauf zwischenstaatlicher Schiedsverfahren Harter-Uibopuu, Schiedsverfahren (wie Anm. 33) 130-160, zu den Richtern bes. 139-148. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 93 gerichten übertragen wurde, die normalerweise als reguläre Polisinstitutionen mit der innerstädtischen Gerichtsbarkeit befasst waren. 74 Wie im spätklassisch-hellenistischen Athen oblag es auch in Halikarnassos und in Kos Gerichten (δικαστήρια), die Empfänger besonderer Ehrungen wie des Bürgerrechts zu prüfen. 75 Wie diese Gerichte in Halikarnassos ausgesehen haben, erfahren wir nicht. Bei den Gerichen in Kos wird es sich aber zweifellos um Volksgeriche des athenischen Typs gehalten haben. Wie gross der Stellenwert war, den man in der Polis Kos den Gerichten als Bestandteil der demokratischen Ordnung zumass, verdeutlicht der Bürgereid, mit dem die Wiederherstellung der Homopoliteia zwischen Kos und Kalymna beschworen wurde: Die Bürger versprachen nicht nur, an der bestehenden Demokratie festzuhalten und die Gesetze zu achten, sondern versichterten darüber hinaus ausdrücklich, auch ein „gerechter Richter“ sein zu wollen. 76 Die koischen Bürger in ihrer Funktion als Richter sind es, die als die fiktiven Adressaten im zweiten Mimiambus des Herondas erscheinen. An sie lässt er den Zuhälter Battaros seine in kunstvollen Verse gekleidete Bitte richten, seinen Fall „bei der Abgabe des Stimmsteins“ „sorgfältig zu prüfen“ und ein „aufrichtiges Urteil“ zu fällen. 77 3 Probleme in der Rechtsprechung hellenistischer Poleis Belegen diese Zeugnisse die nach wie vor weite Verbreitung von funktionierenden Volksgerichten des athenischen Typs im Hellenismus, so fehlen doch auch nicht Hinweise auf schwerwiegende Probleme im Bereich der Rechtsprechung der Poleis. Exemplarisch werden sie durch die berühmte Darstellung der Verhältnisse in Boiotien an der Wende vom 3. zum 2. Jh. bei Polybius illustriert: „Die politischen Zustände in Boiotien aber hatten einen solchen Grad der Zer74 75 76 77 Vgl. zu dieser Frage auch Harter-Uibopuu, Schiedsverfahren (wie Anm. 33) 141f. Cassayre, Justice (wie Anm. *) 367f. geht davon aus, dass die Zahl der Richter in aller Regel sehr klein war, kann diese Sicht jedoch nur mit wenigen Belegen stüzen. Halikarnassos: A. Wilhelm, Neue Beiträge zur griechischen Inschriftenkunde VI, SAWW 183.3, 1921, 7-9 (Akademieschriften I 298f.) Z. 9f.: εἰσεδώκαμεν ε[ἰς δικαστή]ριον; Kos: Segre, I. Cos ED 180 Z. 36 (1. Jh. v. Chr.) und D. Bosnakis – K. Hallof, Alte und neue Inschriften aus Kos II, Chiron 35, 2005, 220-220 Nr. 20 Z. 2f. mit Kom. S. 224; vgl. Hamon, Démocraties a.O. (wie Anm. 16) 365. TCal Test. XII (StV III 545) Z. 27: ἐσσεῦμαι δὲ καὶ δικαστὰς δίκαιος (letzte Jahre des 3. Jh.; vgl. zur Homopolitie mit weiterer Literatur Walser, Sympolitien [wie. Anm. 2] 148-153). Herod. 2, 95-100: νῦν δείξεθ᾿ ἡ Κῶς κὠ Μέροψ κ̣όσον δραίνει (...) ταῦτα σκοπεῦντες πάντα τὴν δίκην ὀρθῇ γνώμῃ κυβερνᾶτ᾿. Vgl. den Kommentar von L. Di Gregorio (Hrsg.), Eronda. Mimiambi (I-IV), Milano 1997, bes. 166-170. 94 Andreas Victor Walser rüttung erreicht, dass fast fünfundzwanzig Jahre lang die Rechtsprechung in Prozessen sowohl betreffend privater Verträge wie auch die Öffentlichkeit anbelangender Straftaten bei ihnen völlig ausgesetzt hatte. Die Beamten kommandierten die Leute einfach zum Dienst im Grenzschutz oder beriefen sie zu Feldzügen des Bundes ein und verhinderten dadurch immer von neuem die Durchführung der schwebenden Verfahren.“ 78 Dieses Bild der Situation in Boiotien mag überzeichnet sein, 79 doch belegen zahlreiche Zeugnisse, dass auch in anderen Teilen vor allem Zentral- und Nordgriechenlands, aber auch Kleinasiens Prozesse über längere Zeiträume hinweg unentschieden blieben, da die Gerichte nicht in der Lage waren, alle Verfahren abzuwickeln oder gar ganz suspendiert waren. 80 Weshalb es den jeweiligen Poleis nicht gelang, eine funktionierende 78 79 80 Pol. 20, 6, 1f. (Übers. W. Rüegg): τὰ δὲ κοινὰ τῶν Βοιωτῶν εἰς τοσαύτην παραγεγόνει καχεξίαν ὥστε σχεδὸν εἴ κοσι καὶ πέντ ἐτῶν τὸ δίκαιον μὴ διεξῆχθαι παρ' αὐτοῖ ς μήτε περὶ τῶν ἰδιωτικῶν συμβολαίων μήτε περὶ τῶν κοινῶν ἐγκλημάτων, ἀλλ' οἱ μὲν φρουρὰς παραγγέλλοντες τῶν ἀρχόντων, οἱ δὲ στρατείας κοινάς, ἐξέκοπτον ἀεὶ τὴν δικαιοδοσίαν; vgl. auch 22, 4, 2. Zur Stelle F.W. Walbank, A Historical Commentary on Polybios III, Oxford 1979, 72 (bes. zur Datierung); vgl. nach wie vor auch M. Feyel, Polybe et l’histoire de Béotie au IIIe siècle avant notre ère, Paris 1942, 273-279, der auf dieselbe Situation auch Herakleides Kritikos, Frgm. I 16 beziehen möchte, den jedoch die Mehrheit der Forschung (zuletzt Arenz, Herakleides [wie Anm. 43] 83 und passim), wenn auch ohne ganz zwingende Gründe, in die Mitte des 3. Jh. datiert. Vgl. zum Gerichtswesen in Boiotien P. Roesch, Études Béotiennes, Paris 1982, 379411, der mit der – wohl wiederum zu apologetischen – Feststellung schliesst (ebd. 411): „Ainsi commence à se dessiner l’image de la Justice en Béotie. C’est celle d’une organisation à la fois centralisée, souple, et, quoi qu’en dise Polybe, efficace.“ (auch ders., La justice en Béotie à l’époque hellénistique, in: J.M. Fossey – H. Giroux [Hrsg.], Actes du troisième congrès international sur la Béotie antique – Proceedings of the third international Conference on Boiotian Anitiquities, Amsterdam 1985, 127-134). Die Einsetzung fremder Richter (s.u.) wird wiederholt eben damit begründet, dass viele Prozesse hängig sind, z.B. τῶν ἐγκλημάτων εἱλκυσμένων ἐκ πλειόνων χρόνων (FdD III 120; SEG 2, 281. 282) oder ἐκ πλείονος χρόνου δικῶν οὐσῶν ἀδικαστῶν (I. Priene 59; IG XII 2, 530). Im thessalischen Gonnoi werden die fremden Richter wiederholt mit der Abwicklung der „aufgeschobenen Prozesse“ (ἐπὶ τὰς βολίμους δίκας; zur Wendung A. Wilhelm, AE 1912, 253 [Abhandlungen und Beiträge III 157]) beauftragt (Gonnoi II 77. 79. 80), und ein Ehrendekret bezeichnet sie explizit als βολιμοδικασταί, als „Richter über die aufgeschobenen Verfahren“ (Gonnoi II 75). In Teos und Lebedos scheiterte die Durchsetzung von Verträgen διὰ τὸ ἐ[κ πολλοῦ ἀδίκαστα] εἶ ναι ὑμῖ ν τὰ συναλλάγματα (Welles, RC 3 Z. 34f.; zur Ergänzung L. Robert, BCH 50, 1926, 472 Anm. 3 [Robert, OMS I 37]). Vgl. auch die in Teilen veraltete, aber immer noch nützliche Zusammenstellung bei B. Haussoullier, Traité entre Delphes et Pellana. Étude de droit grec, Paris 1917, 96-114 und die knappen Bemerkungen bei L. Robert, Les juges étrangers dans la cité grecque, in: Xenion. Festschrift f. P.I. Zepos, Athen u.a. 1973, 765-782 (Robert, OMS V 137-154; Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 95 Rechtsprechung aufrecht zu erhalten, ist im Einzelfall schwer zu klären. Schon im klassischen Athen musste die Gerichtstätigkeit bei militärischer Gefährdung der Polis bisweilen ausgesetzt werden. 81 Mit Blick auf eine äussere Bedrohung der Polis sah auch der Rechtshilfevertrag zwischen Delphi und Pellana aus dem 3. Jh. vor, dass die festgesetzten Fristen für die Abwicklung bestimmter Prozesse automatisch erstreckt werden sollten, falls eine der Prozessparteien sich in öffentlichem oder militärischem Auftrag im Ausland befindet oder auch ganz allgemein, wenn mehr als zwei Drittel der Bürger jenseits der Polisgrenzen unter Waffen im Felde stehen. 82 Die Vermutung ist plausibel, dass diese Einschränkungen in Delphi grundsätzlich galten und mithin die Gerichtstätigkeit automatisch eingestellt wurde, falls – genau wie es im benachbarten Boiotien nach Polybios der Fall war – grosse Teile der Bürgerschaft militärisch engagiert waren und eine ordnungsgemässe Behandlung der Angelegenheit unmöglich schien. 83 Exemplarisch wird hier eine strukturelle Schwäche der Jurisdiktion durch grosse oder in aufwändigen Losverfahren konstituierte Gerichte erkennbar: Sie erforderte von der Gemeinde einen hohen personellen und zeitlichen Aufwand und wurde dadurch störanfällig. Forderte die aussenpolitische Lage den Bürger als Soldaten, so stand er als Richter nicht zur Verfügung, und folglich musste die Rechtsprechung ins Stocken geraten. Häufiger als äussere Bedrohungen brachten jedoch soziale Konflikte im Innern die geregelte Rechtsprechung in den hellenistischen Poleis zum Erliegen. Die auf der aufwändigen Urteilsfindung in Volksgerichten basierende Rechtsprechung war nicht flexibel genug, um auch in Zeiten, in denen etwa sozioökonomische Krisen zu einem erheblichen Anstieg von Klagen führten, eine geregelte Abwicklung der Prozesse zu gewährleisten. Hinzu kam, dass dann, wenn sich die Bürgerschaft entlang sozialer Trennlinien zu spalten drohte, das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Richtersprüche schwinden musste. Damit stieg die Gefahr, dass die Rechtsprechung der Bürger über ihre Mitbürger nicht mehr zur Streitbeilegung führte, sondern im Gegenteil bestehende Konflikte weiter 81 82 83 jetzt um Quellennachweise ergänzt und erneut abgedruckt in ders., Choix d’écrits, ed. D. Rousset, Paris 2007, 299-314), hier 774f. Demosth. Or. 45, 3f. zur Zeit nach 368: οὐ γὰρ ἦσαν ἐn τῷ τότε καιρῷ δίκαι, ἀλλ᾿ ἀνεβάλλεσθ᾿ ὑμεῖ ς διὰ τὸν πόλεμον. Weitere Belege zur klassischen Zeit bei Haussoullier, Traité (wie Anm. 80) 97-102. FdD III 1, 486 (Staatsverträge III 558) II B Z. 19-22 mit dem Kommentar von Haussoullier, Traité (wie Anm. 80) 96f. 109-114. So Haussoullier, Traité (wie Anm. 80) 109. Der Rechtshilfevertrag definierte ein „Anwesenheitsquorum“, obwohl Gerichte mit lediglich 11 bis 15 Richtern vorgesehen waren. Anscheinend legte man gerade angesichts der kleinen Zahl von Richtern Wert darauf, dass ihre Auslosung aus einer hinreichend grossen Grundgesamtheit erfolgen konnte. 96 Andreas Victor Walser verschärfte. Diese Gefahr war zwar gebannt, wenn man auf die Behandlung zumindest bestimmter Typen gerichtlicher Verfahren verzichtete, doch trug dies selbstverständlich nicht zur Lösung einer bestehenden Krise bei. 84 Just in dem Moment, in dem man die Gerichte als Mittel der friedlichen Streitbeilegung am dringendsten nötig gehabt hätte, drohten sie mithin zu versagen. 4 Innovationen und Veränderungen Vor dem Hintergrund dieser Probleme in der städtischen Rechtsprechung erklärt sich der grosse Erfolg einer hellenistischen Innovation im Gebiet der Rechtspflege: der fremden Gerichte, der ξενικὰ δικαστήρια. Dank einer Vielzahl von Dokumenten, hauptsächlich Ehreninschriften für die Richter, sind wir über keinen Bereich des Gerichtswesens in hellenistischer Zeit besser informiert, und entsprechend eingehend wurde das Phänomen behandelt. 85 Es kann an dieser Stelle deshalb genügen, als Grundlage für die Diskussion der hier interessierenden Fragen die Grundzüge des Phänomens knapp zu skizzieren. Schon seit archaischer Zeit hatte man in der griechischen Welt immer wieder auf die Gerichte in einer fremden Polis oder von einem Drittstaat entsandte Richter zurückgegriffen, um Konflikte zwischen verschiedenen Poleis zu schlichten oder durch ein Urteil zu beenden. Am Ende des 4. vorchristlichen Jahrhunderts begann man, vermutlich zunächst im Kontext der von Alexander dem Grossen angeordneten Wiedereingliederung von Verbannten in ihre Heimatpoleis, 86 den Anwendungsbereich dieses altbekannten Verfahrens auf einen neuen Gegenstand auszuweiten, indem fremde Richter auch Rechtsstreitigkeiten unter den Bürgern in einzelnen Poleis beilegen sollten. Gelang es ihnen nicht, in Schlichtungsverfahren einvernehmliche Vergleiche zwischen den Parteien her84 85 86 Vgl. ausführlich zu Ursachen und Verlauf solcher Krisen A.V. Walser, Bauern und Zinsnehmer. Politik, Recht und Wirtschaft im frühhellenistischen Ephesos, München 2008 (Vestigia 59). Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit der Thematik bleibt die magistrale Synthese von L. Robert über die „juges étrangers“ (wie Anm. 80), auf der die folgende Skizze – wo nicht anders vermerkt – beruht. Mit einigen Aspekten habe ich mich an anderer Stelle befasst (Walser, Bauern [wie Anm. 84]), wo auch die neuere Literatur erschlossen wird. Ausführlich behandelt das Phänomen der fremden Richter nun Cassayre, Justice (wie Anm. *) 127-175, ohne zu grundlegend neuen Erkenntnissen gelangen zu können. Ein ξενικὸν δικαστηρίον erscheint in der Rechtsprechung innerhalb einer Polis zum ersten Mal im Beschluss über die Rückkehr der Verbannten aus Tegea aus dem Jahre 324: SIG 306 (Heisserer, Alexander [wie Anm. 68] 205-229; IPArk. 5; zuletzt A. Bencivenni, Progetti [wie Anm. 68] 79-103 mit der älteren Literatur). Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 97 beizuführen, wurde vor dem fremden Gericht ein Prozess geführt und durch die Richter aus der fremden Polis rechtskräftig entschieden. Bei den ersten uns bekannten Fällen aus dem späten 4. und beginnenden 3. Jh. griff man auf fremde Richter in schweren inneren Krisen zurück, eben dann, wenn die normalen städtischen Gerichte die Prozessflut aus welchen Gründen auch immer nicht mehr zu bewältigen vermochten. Häufig ging dabei der Anstoss dazu, fremde Richter von einer anderen Polis anzufordern, mehr oder weniger direkt von einem der königlichen Machthaber aus. 87 Das System wurde jedoch rasch von den griechischen Poleis in Eigenregie übernommen und fand eine grosse Verbreitung, zunächst in Kleinasien und in der Ägäis, später auf dem Festland. Im 2. Jh. waren fremde Gerichtshöfe z.B. in Priene und Magnesia oder in anderen Poleis Westkleinasiens, aber etwa auch in Thessalien zu einer normalen Erscheinung im Rechtsleben der Gemeinden geworden. 88 Diese fremden Gerichte unterscheiden sich grundsätzlich von den Volksgerichten athenischen Zuschlags: Als Richter amtierte meist nur eine Handvoll Männer, meist drei bis fünf, nie mehr als zehn Männer, manchmal auch ein Einzelrichter. Auf die Besetzung der Gerichte hatte die Polis, die sie anforderte, keinerlei Einfluss. Die Richter wurden in aller Regel von ihrer Heimatpolis bestimmt, nicht durch das Los, sondern durch Wahl. Nicht selten griff man dabei auf Personen zurück, die sich schon früher in der Jurisdiktion in fremden Städten bewährt hatten, und sandte sie als eigentliche Rechtsspezialisten wiederholt in verschiedene Poleis. 89 Es ist längst darauf hingewiesen worden, dass sich die Übertragung der Rechtsprechung auf fremde Richter schwerlich mit dem eingangs dargestellten Demokratieverständnis verträgt. Georg Busolt sprach ein geradezu vernichtendes Verdikt: „Wenn die Rechtspflege ‚die erste und höchste Aufgabe des Staates ist‘ (Mommsen), und die griechische Demokratie ihren Staat als den Rechtsstaat und Gesetzesstaat rühmt, so bedeutete die Anerkennung der Unfähigkeit zu eigener selbständiger Rechtsprechung gerade für diese demokratische Polis das Eingeständnis der staatlichen Ohnmacht und Impotenz.“ 90 Ganz so weit ging Louis Robert nicht, stellte aber gleichwohl fest: „Les villes n’existaient plus 87 88 89 90 Vgl. Ph. Gauthier, Les rois hellénistiques et les juges étrangers: à propos de décrets de Kimôlos et de Laodicée du Lykos, JS 1994, 165–195; zusammenfassend Walser, Bauern (wie Anm. 84) 270-272. Die Frage nach dem Einfluss der hellenistischen Herrscher auf die Rechtsprechung steht im Zentrum der Studie von Cassayre, Justice (wie Anm. *). Für die Nachweise s. u. Anm. 102. Für eine Liste solcher Personen vgl. Ph. Gauthier, Nouvelles inscriptions de Sardes II, Genf 1989 (Hautes études du monde gréco-romain 15), 123f. G. Busolt, Griechische Staatskunde. Erste Hälfte: Allgemeine Darstellung des griechischen Staates, München 1920 (HAW IV 1, 1) 513. 98 Andreas Victor Walser comme démocraties judiciaires.“ 91 Es ist alles andere als ein Zufall, so beobachtete Robert, dass sich weder das stolz auf seine demokratische Tradition blikkende Athen noch das mächtige, auf seine Eigenständigkeit bedachte Rhodos jemals Richter aus der Fremde erbeten hat. 92 Nimmt man die eingangs dargelegte Auffassung, dass die Richtertätigkeit ein konstitutiver Bestandteil des „Bürger-Seins“ in der demokratischen Polis ist, zum Massstab, kann das Urteil kaum milder ausfallen als bei Busolt oder Robert, sofern die Berufung fremder Richter tatsächlich den Verzicht auf die eigenständige Rechtsprechung bedeutete. Es lohnt sich jedoch, genauer danach zu fragen, wie die Übertragung der Jurisdiktion an die fremden Gerichte erfolgte, und vor allem, wie weit diese tatsächlich ging. 93 Aus den Ehrendekreten für die fremden Richter geht klar hervor, dass auch dort, wo die Hinzuziehung fremder Richter jeden Ausnahmecharakter verloren hatte, diese nie auf Grund eines in irgendeiner Form gesetzlich verankerten Automatismus erfolgte, sondern stets von Neuem in der Volksversammlung beschlossen werden musste. Dabei wurde den fremden Richtern keineswegs eine Generalvollmacht über die Gerichtsbarkeit in die Hand gegeben. Vielmehr betraute man sie für eine begrenzte Zeitdauer mit der Schlichtung oder abschliessenden Beurteilung einer bestimmten Klasse von Prozessen, die entweder durch den Streitgegenstand oder eine Fristenregelung genau definiert war. Da die Tätigkeit der fremden Richter in den Ehrenbeschlüssen meist nur in ganz stereotypen Formeln dargestellt wird, wissen wir trotz der dichten Dokumentation über ihre Tätigkeit und die Konfliktgegenstände, mit denen sie befasst 91 92 93 Robert, Juges (wie Anm. 80) 777. Zuletzt ist Crowther, Decline (wie Anm. 20) 13-48 noch einmal der Frage nachgegangen, welche Bedeutung der Institution der fremden Richter für den demokratischen Charakter der Polisverfassungen zukommt, ohne dabei wesentlich über die Einschätzungen Busolts oder Roberts hinauszukommen. Ausführliche Diskussion nun bei Cassayre, Justice (wie Anm. *), zusammenfassend 179f. Robert ebd. Zu den Staaten, die keine fremden Richter beriefen, zählten vermutlich auch Delos in der Zeit seiner Unabhängigkeit und, wie zuletzt Chr. Habicht, Fremde Richter im ätolischen Delphi?, Chiron 17, 1987, 87-95 nochmals zweifelsfrei nachwies, Delphi unter aitolischer Hegemonie. Freilich schuf hier der Bundesstaat mit seiner föderalen Einflussnahme auf das Gerichtswesen besondere Bedingungen. Die folgenden Ausführungen führen Gedanken weiter, die ich an anderer Stelle in Auseinandersetzung mit dem ephesischen Gesetz über die Schuldentilgung entwikkelt habe (Walser, Bauern [wie Anm. 84] 258-272). Auf die Wiederholung von dort zusammengetragenen Belegen wird hier weitgehend verzichtet. Cassayres (Justice [wie Anm. *]) Beobachtungen zur Rolle der fremden Gerichte decken sich in vielerlei Hinsicht mit meinen eigenen und sind in meiner früheren Untersuchung, die Cassayre in ihrer Bibliographie anführt, jedoch nicht zitiert, in wesentlichen Punkten vorweggenommen. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 99 waren, letztlich nur wenig. Zu beobachten ist jedenfalls, dass fremde Richter nur ganz selten mit im engeren Sinne politischen Prozessen befasst sind, also etwa mit Verstössen gegen die Verfassungsordnung oder Vergehen bei der Ausübung der städtischen Magistraturen. 94 Welcher Ausnahmecharakter solchen Fällen zukam, zeigt sich etwa daran, dass fremde Richter nach Demetrias bestellt wurden, um über einen einzigen Volksbeschluss zu urteilen, gegen den wegen Gesetzeswidrigkeit Klage erhoben worden war, oder dass Priener in Erythrai ebenfalls nur eine einzige Anzeige zu behandeln hatten, zweifellos auch in einer Staatsangelegenheit. 95 Eine Rechtsprechung fremder Gerichte in Kapitalprozessen lässt sich, so weit ich sehe – ausser in einem Sonderfall 96 – gar nicht belegen. In der grossen Mehrzahl der Fälle betraute man die fremden Richter vielmehr mit der Urteilsfindung bei Klagen wegen gewöhnlicher Strafsachen, ἐγκλήματα, oder noch häufiger in Prozessen um Verträge, συμβόλαια oder συναλλάγματα, wohl hauptsächlich wirtschaftlicher Natur und in erster Linie solchen zwischen Gläubigern und Schuldnern. 97 Es sind offenbar solche Rechtsstreitigkeiten um Schulden, Erbschaften, Pachten und Ähnliches – Geschäfte, von deren hoher Komplexität die attischen Gerichtsreden des 4. Jhs. einen Eindruck vermitteln –, die vor allem kleinere und mittelgrosse Poleis im Rahmen der normalen Rechtsprechung nicht zu bewältigen vermochten, wenn sie gehäuft auftraten. Das vielzitierte Ehrendekret der Polis Kalymna für Richter aus Iasos, denen es im 3. Jh. gelungen war, von 250 oder 350 solcher Verfahren alle bis auf zehn allein durch ihre Vermittlungsbemühungen zu beenden, ohne dass ein Gerichtsprozess geführt werden musste, 98 legt nahe, dass diese Verfahren im Einzelnen von geringer Brisanz waren und nur wegen ihrer grossen Zahl zum Problem wurden. Auch in der Abwicklung der begrenzten Zahl von Fällen, die man den 94 95 96 97 98 Die wenigen einschlägigen Fälle sind bei Robert, Juges (wie Anm. 80) 773f. aufgelistet. Zur Rolle von fremden Richtern bei Prozessen, die sich aus der Überprüfung der Amtsführung von Magistraten ergeben und die nur zwei Inschriften aus Thessalien bezeugen, vgl. Fröhlich, cités (wie Anm. 61) 430-436. Demetrias: B. Helly, Décrets de Demetrias pour des juges étrangers, BCH 95, 1971, 555-559: ὑπὲρ ψηφίσματος ὡς παρανόμου κε̣κ[̣ ριμένου]; Erythrai: IPr. 50 Z. 6: ἐπὶ τὴν δίκην τῆς μηνύσεως; zu beiden Fällen Robert, Juges (wie Anm. 80) 774 und Chr. Habicht, Judicial Control of the Legislature in Greek States, in: B. Virgilio (Hg.), Studi Ellenistici XX, Pisa – Rom 2008, 17-23. Nach 184/83 sollten nach Paus. 7, 9, 5 in Sparta sämtliche Kapitalprozesse von fremden Richtern gehört werden. Dies wurde jedoch nicht von den Spartanern aus freien Stücken beschlossen, sondern geschah auf Anweisung einer römischen Gesandtschaft um Appius Claudius. Für den Kontext vgl. Liv. 31, 33. 36f. Der Gegenstand der vertraglichen Vereinbarungen ist freilich in aller Regel nur sehr schwer zu bestimmen; vgl. hierzu Walser, Bauern (wie Anm. 84) 268-270 mit den entsprechenden Nachweisen. TC XVI (IIasos 82). 100 Andreas Victor Walser fremden Richtern übertrug, liess ihnen die Polis keineswegs freie Hand. Man verpflichtete sie zumindest darauf, die am Ort herrschenden Gesetze – nicht jene ihrer Heimatstadt – zur Anwendung zu bringen, konnte aber durchaus auch soweit gehen, eigens für die Rechtsprechung der fremden Richter eine neue, nur für diese Fälle gültige gesetzliche Grundlage zu schaffen. 99 Grundlegend bleibt, dass die fremden Gerichte zwar zu einer mancherorts regelmässig, aber eben doch stets nur okkasionell ins Leben gerufenen Einrichtung geworden sind. Sie ergänzten während bestimmter Phasen und in besonderen Bereichen die Jurisdiktion der städtischen Gerichte, konnten – und sollten – diese jedoch nicht ersetzen. 100 Ein Beschluss, vermutlich aus dem 2. Jh., von Rat und Volk der Polis Erythrai zu Ehren des Bürgers Kallikrates, Sohn des Leagoras, zeigt dies in aller wünschbaren Klarheit. Kallikrates wurde nicht – wie man erwarten könnte – für die pflichtbewusste Ausübung einer Magistratur oder eine grosszügige Schenkung belobigt, sondern für Verdienste, die er sich erworben hatte, „nachdem er vom Volk zum Richter bestellt worden war“. Hätte Kallikrates in der Fremde gewirkt, wäre an einer solchen Ehrung wenig Aussergewöhnliches, doch amtierte der Geehrte in Erythrai selbst, in seiner Heimatstadt. Welche besonderen Leistungen er im Einzelnen als Richter vollbracht hat, bleibt wegen des fragmentarischen Zustandes der Inschrift weitgehend unbekannt. Die Polis begnügte sich indes nicht damit, die Ehrung mit Kallikrates’ Verdiensten zu begründen, sondern rechtfertigte sich darüber hinaus grundsätzlich dafür, eine solche Ehrung auszusprechen. Sie tat dies mit einem ungewöhnlichen, in seiner Art wohl singulären politischen Statement: „Das Volk will auch die vor das städtische Gericht gebrachten Klagen ordnungsgemäss und gerecht behandelt wissen und es gebraucht Sorgfalt, wenn es Jahr für Jahr Richter in den Wahlversammlungen bestimmt, damit die mit Verträgen zusammenhängenden Streitigkeiten für die Bürger mit aller Sorgfalt und den Gesetzen gemäss behandelt werden.“ 101 99 100 101 Das letztere Vorgehen wird beispielhaft in der ephesischen Schuldenkrise (vgl. Walser, Bauern [wie Anm. 84]) fassbar, doch dürfte dies kaum ein Einzelfall gewesen sein. So schon ganz knapp Ph. Gauthier, Les cités hellénistiques: Épigraphie et histoire des institutions et des régimes politiques, in: Πρακτικά του Η' Διεθνούς Συνεδρίου Ελληνικής και Λατηνικής Επιγραφικής, Athen 1984, I 103. IEryth. 114 Z. 3-8: ἐπειδὴ τοῦ δήμου προεἱρημέ[νου] καὶ τὰς εἰς τὸ π[ολι]τικὸν κρίσεις εἰσαγομένας διεξάγεσθα[ι καλ]ῶς καὶ δικαίως καὶ πεποημένου πρ[όνο]ιαν περὶ τῶν ἀποδεικνυ[ομέ]νων δικαστῶν ἀν' ἕκαστον ἔτος ἐν ταῖ ς ἀρχαιρεσίαις ἕνεκα [το]ῦ διεξάγεσθαι τὰ συμβόλαια τοῖ ς ἰδιώταις ἐπιμελῶς καὶ [τοῖ ]ς νόμ[οι]ς ἀ[κ]ολούθως (Übers. nach H. Engelmann – R. Merkelbach); vgl. A. Wil- helm, Inschriften aus Erythrai und Chios, JÖAI 12, 1909, 133f. (= Abhandlungen Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 101 Dass sich ausgerechnet in einem Dekret von Erythrai ein solches Bekenntnis zur städtischen Rechtsprechung findet, kann erstaunen. Erythrai war eine jener Poleis, für die die Bestellung fremder Richter im 2. Jh. derart zur Routine geworden war, dass sie in ihren Ehrendekreten für die fremden Richter ganz selbstverständlich der Hoffnung Ausdruck gaben, die „in Zukunft in unserer Polis anwesenden Richter“ würden angesichts der in Aussicht gestellten Ehrungen wieder ebensoviel Sorgfalt und Eifer an den Tag legen, wie die Richter es diesmal getan hätten. 102 Das Ehrendekret für Kallikrates macht indes deutlich, dass selbst in einer dieser Poleis, in denen die fremden Gerichte zumindest in unserem Quellencorpus eine überragende Position erlangt haben, auch der rein städtischen Gerichtsbarkeit, dem πολιτικὸν δικαστήριον, höchste Bedeutung zugemessen wurde. Das Volk von Erythrai scheint sich geradezu gegen jeden Verdacht wehren zu wollen, man würde der Rechtspflege als „der ersten und höchsten Aufgabe des Staates“ nicht genügend Aufmerksamkeit zukommen lassen und damit seine „staatliche Ohnmacht und Impotenz“ eingestehen. Den fremden Richtern temporär die Rechtsprechung in bestimmten Prozessen zu übertragen, heisst nicht – so wollte sich das Volk von Erythrai wohl verstanden wissen –, die innerstädtische Rechtsprechung gering zu schätzen und zu vernachlässigen. Gerade in seinem Bemühen, die Bedeutung und Wertschätzung der traditionellen, innerstädtischen Rechtsprechung zu bekräftigen, dokumentiert das erythraiische Ehrendekret – von seinen Urhebern sicherlich unbeabsichtigt – aber auch ein gewandeltes Bild des Richters und somit auch ein gewandeltes Bürgerund Demokratieverständnis. Wo immer die Rechtsprechung auf grossen Volksgerichten beruhte, war es eine Selbstverständlichkeit, dass ein jeder Bürger als Richter aktiv werden konnte, wenn das Los auf ihn fiel. Als Richter war es seine Pflicht, auf Basis der Gesetze, so gut er eben vermochte, Recht zu sprechen, doch blieb er anonym und hatte keine Möglichkeit, sich besonders auszuzeichnen. Die Polis versuchte zwar mit allen Mitteln, bei der Auslosung jeglichen Missbrauch zu verhindern, die Auswahl der Richter blieb jedoch dem Zufall überlassen. Für Rat und Volk von Erythrai hingegen war die Bestellung der Richter zur höchsten Priorität geworden. Sie erfolgte im Rahmen der jährlichen 102 und Beiträge I 355f.); Crowther, Decline (wie Anm. 20) 31-36; Cassayre, Justice (wie Anm. *) 290f.; 355f. u.ö. IPr. 50 (IEryth. 111) Z. 10-15. Vgl. die Nachweise für weitere Poleis bei Robert, Juges (wie Anm. 80) 774 und v.a. Crowther, Decline (wie Anm. 20) 40 mit Anm. 102 und Appendix. Dachziegel mit der Inschrift κ̣ατάλυμα τῶν Ῥ ωμ̣αίων καὶ δικαστᾶn bezeugen, dass im 2. Jh. fremde Richter so häufig nach Sparta kamen, dass es sich lohnte, für sie – und römische Gesandte – ein Gästehaus zu bauen. Vgl. C. Crowther, Foreign Judges and Regional Variations, in: H. Elton – G. Reger (Hg.), Regionalism in Hellenistic and Roman Asia Minor, Bordeaux 2007, 58. 102 Andreas Victor Walser Besetzung der Polismagistraturen, 103 auf welche Weise wissen wir freilich nicht. 104 Es galt jedenfalls, Männer zu finden, die wie Kallikrates nicht anonym, sondern für alle sichtbar ihre Fähigkeiten als Richter unter Beweis zu stellen hatten – Fähigkeiten, die man offenbar nicht mehr bei jedem Bürger in gleichem Masse und selbstverständlich voraussetzte. Die Richter, die das Volk von Erythrai bei der Formulierung des Ehrendekretes vor Augen sah, hatten wenig mit den „Wespen“ eines Aristophanes gemeinsam, die früh morgens auch einmal in schäbigen Lumpen fluchend und Zoten reissend zum Gericht zogen. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung der fremden Gerichte hatte ein neues Bild des Richters Konturen gewonnen: Richter hatten „gute und tüchtige Männer“ – καλοὶ καὶ ἀγαθοί – zu sein, die „den Prozess gerecht und dem Ansehen der sie entsendenden Stadt gemäss führen“ – so formulierten es die Erythraier selbst in einem Beschluss zu Ehren eines Richters aus Priene. 105 Ihnen selbst attestierte Mytilene mit einer Kranzverleihung, „dass sie sich die grösste Mühe gegeben und vortreffliche Richter abgesandt haben“, „würdig derer, die sie entsandt haben“. 106 Wenn die städtischen Gerichte gleich hohen Massstäben genügen sollten wie die fremden, war es nur folgerichtig, dass sich Erythrai auch bei der Auswahl der städtischen Richter auf grösste Sorgfalt und Voraussicht verpflichtete. Auch hier sollten Leute wie Kallikrates, eben die καλοὶ καὶ ἀγαθοί, Richter werden. Ein solcher vortrefflicher Mann war zweifellos auch jener Ouliades, der wohl im 2. oder 1. Jh. in Mylasa für zahlreiche Verdienste geehrt wurde, die er sich „in Wort und Tat für das Vaterland und die Römer“ erworben hatte. 107 Neben vielem anderen, das der leider stark zerstörte Beschluss zu seinen Ehren nennt, hatte er sich auch um die Beilegungen von Streitigkeiten bemüht: „Zum Schiedsrichter und auch Richter gewählt, hat er für die einen der im Streit lie103 104 105 106 107 So Engelmann und Merkelbach in IEryth. ad loc. wohl zu Recht gegen die von Wilhelm, Inschriften (wie Anm. 101) vertretene Auffassung. Ob die Bestimmung durch das Los oder – wohl eher – durch Wahl erfolgte, lässt sich aus dem Wortlaut des Ehrendekretes nicht erschliessen: Im Rahmen von ἀρχαιρεσίαι konnten Funktionen sowohl durch Wahl als auch durch Auslosung besetzt werden (vgl. nur Ph. Gauthier, Les assemblées électorals et le calendrier de Samos à l’époque hellénstique, Chiron 31, 2001, 211-227, hier 221f.), und ἀπόδειξις/ἀποδείκνυμι ist der für den Vorgang durchaus geläufige, jedoch wenig spezifische Terminus. Zu den ἀρχαιρεσίαι im Allgmeinen vgl. Ph. Gauthier, La date de l’élection des magistrats athéniens et l’oracle de Delphes, CRAI 1998, 63-75, bes. 72ff. IPr. 50 (IEryth. 111) Z. 11f. IEryth. 122 Z. 21-23 und 30f. IMylasa I 101, das Zitat Z. 36f.; vgl. zuletzt Ph. Gauthier, BE 1989, 14. Die Inschrift ist ohne jegliche Datierungshinweise publiziert. Die Schrift scheint eher gegen eine späte Datierung zu sprechen. Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 103 genden, indem er eine Lösung des Konflikts herbeiführte, die Versöhnung und Wiederherstellung der Freundschaft erreicht, für die andern die allerbesten Schiedssprüche und Urteile gefällt, wobei er sich in jeder Hinsicht unbeeinflussbar und unbestechlich gezeigt hat.“ 108 Allein der Kontext macht klar, dass der Geehrte hier als Richter in seiner Heimatpolis gewürdigt wurde. Die Formulierungen, derer man sich zur Würdigung des Mitbügers bediente, sind jene, die sich in zahllosen Ehrendekreten für fremde Richter immer wieder finden. Dass diese Formeln passten, lag daran, dass das Volk in Mylasa nun eben auch für die innerstädtische Rechtsprechung einen jener „vortrefflichen Männer und Wohltäter“ gewählt hatte, denen zu zeigen galt, dass man „den gebührenden Dank abzustatten weiss“. 109 In den Dekreten aus Erythrai und Mylasa lässt sich vielleicht eher erahnen denn klar fassen, dass man an der Gleichheit des Bürgers, insbesondere an seiner Qualifikation, Recht zu sprechen, zu zweifeln begann. Offen zur Sprache gebracht wurden solche Zweifel um 110 in einem Rechtsstreit zwischen den euboiischen Poleis Eretria und Karystos auf der einen, Chalkis auf der anderen Seite. Gegenstand des Streites war die Stimme des euboiischen Ethnos in der delphischen Amphiktyonie: Nach Auffassung von Chalkis war die Stimme in der Amphiktyonie grundsätzlich allen Euboiern gemeinsam, stand in den pythischen Jahren jedoch nur Chalkis allein zu. Eretria und Karystos vertraten hingegen die Ansicht, dass die Stimme den euboiischen Poleis im Turnus ohne Rücksicht auf pythische Jahre zukommen sollte. 110 Gegen einen ersten Entscheid der Amphiktyonie zu Gunsten von Chalkis hatten Eretria und Karystos Einspruch erhoben, woraufhin die Amphiktyonie den Streitfall der Polis Hypata zur Beurteilung übertrug. Dort bestimmte man – ganz wie üblich – durch das Los aus der Gesamtbürgerschaft 31 Männer als Richter. Diese kamen zum gleichen Schluss wie die Amphiktyonie und gaben Chalkis Recht. 111 Mit diesem Urteil kam der Fall jedoch nicht zum Abschluss. Wie die inschriftlichen Aufzeichnungen festhalten, protestierten Eretria und Karystos vielmehr erneut gegen den Entscheid, denn „das Urteil in Hypata sei für sie nicht in bestmöglicher Weise 108 Z. 42-46: διαιτητής τε καὶ κριτὴς [αἱ]ρούμενος [τῶν] μὲν τὰ νίκη διαλύων εἰς σύλλυσιν καὶ φιλίαν ἀποκ[α]θ̣ίστησ[ιν τοὺς] διαφερομέ[ν]ους, τῶν δὲ τὰς δια[ί]τας [καὶ τ]ὰς [κ]ρ̣ίσεις ἀπὸ παντὸς τοῦ βελτίστου ποιεῖ τε[λέως] ἀνερίθευτον καὶ ἀδωροδόκητον ἑαυτὸν παρεχόμενος ἐμ πᾶ[σ]ιν. Vgl. auch 109 110 111 IMylasa I 127, wo W. Blümel diese Passage in einem nicht weiter aussagekräftigen Fragment ergänzt. Z. 55f. (die Ergänzung ist problematisch). CID 4, 121f. mit dem Kommentar von F. Lefèvre. Vgl. ders., L’amphictionie pyléodelphique: Histoire et institutions, Paris 1998 (BEFRA 298), 64f. CID 4, 121. Die Ergänzungen beruhen auf CID 4 122 und können im Wesentlichen als gesichert gelten. 104 Andreas Victor Walser zustande gekommen.“ 112 Die Amphiktyonie nahm diesen Protest durchaus ernst und forderte die Hypatier nun ihrerseits in einem Schreiben auf zu prüfen, „ob das frühere Urteil in Hypata in bestmöglicher Art und Weise gefällt worden sei oder ob das Urteil annulliert werden müsse, das 31 Männer gefällt hatten, die durch das Los bestimmt worden waren.“ Die in der Anfrage kaum verhohlene Kritik verstand man in Hypata anscheinend sehr wohl: Das Volk bestimmte andere Richter, nun jedoch nicht mehr durch das Los aus der Gesamtbürgerschaft, sondern wählte sie „nach Massgabe ihrer Tüchtigkeit“ (ἀριστίνδην), was natürlich nur bedeuten konnte: aus der aristokratischen Elite. 113 Dass es Eretria und Karystos auch jetzt noch nicht gelang, das Gericht von ihrem Standpunkt zu überzeugen, und sie den Prozess erneut verloren, ist für uns von geringem Interesse. Bemerkenswert bleibt hingegen, dass die beiden euboiischen Poleis die Rechtmässigkeit eines Urteils allein mit dem Argument bestreiten konnten, dass es von einem durch das Los aus der Gesamtbürgerschaft konstituierten Gericht gefällt wurde. Dieser Protest liesse sich als juristischer Winkelzug der unterlegenen Partei abtun, wenn ihn nicht die Amphiktionen und das Volk von Hypata selbst anerkannt und eine Neubeurteilung angeordnet hätten. Damit hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass das „beste Urteil“, die κρίσις κατὰ τὸ βέλτιστον, eben auch nur von den gewählten „besten Männern“ und nicht von einer zufällig gebildeten Gruppe von Durchschnittsbürgern gesprochen werden kann. Schien Aristoteles die Sicht, „dass die Entscheidung eher bei der Mehrheit als bei der geringen Zahl der Besten zu liegen habe,“ noch durchaus vertretbar, „ja vielleicht sogar wahr“ 114, war man hier zu einem anderen Schluss gekommen. 115 112 113 CID 4, 122 Z. 3f.: ... ἀντιλεγόντων πά[λι]ν καὶ οὐ φαμένων γε[γονέναι ἑαυτοῖ ς τὴν κρίσιν ἀπ]ὸ παντὸς τοῦ βελτίστου ἐν τῇ Ὑ πάτῃ. CID 4, 122 Z. 4-9: οἱ Ἀμφικτίονες ἔδωκαν[ἑτέραν ἐπιστολὴν Ὑ παταίοις] ὥστε κριθῆναι πότερον γέγονεν ἡ κρίσις ἐν τῇ Ὑ πάτῃ κ̣[ατ]ὰ τὸ βέλ[τιστον ἢ δεῖ ἄκυρον γίγνεσθαι] τὴν κρίσιν ἐν ἀνδράσιν τριάκοντα ἑνὶ κλήρου γενομένου: τῶν δὲ [ἄλλων δικαστῶν ἐν τῇ Ὑ πάτῃ χειρο]τονηθέντων ἀριστίνδην ὑπὸ τοῦ δήμου (...) πάλιν ἐνί[κ]ησαν Χαλκιδεῖ ς. Vgl. Z. 15, wo es vom ersten Urteil heisst: [γίγνεσθαι ἐν ἀν]δράσιν τριάκοντα ἑνὶ [κ]ληρωθεῖ σιν [ἐ]ξ ἁπ[άντω]ν und mithin 114 unterstrichen wird, dass die Auslosung aus der Gesamtbürgerschaft erfolgte. Zur Bedeutung von ἀριστίνδην vgl. W. Dittenberger im Kommentar zu IO 47, der betont, dass das Wort „direkt und dem Wortsinne nach auf persönliche Tüchtigkeit, nicht auf vornehme Geburt geht“. In der Praxis dürfte dies freilich nur einen geringen Unterschied gemacht haben. Aristot. Pol. 1281a 40-42: ὅτι δὲ δεῖ κύριον εἶ ναι μᾶλλον τὸ πλῆθος ἢ τοὺς ἀρίστους μὲν ὀλίγους δέ, δόξειeν ἂν λέγεσθαι καί τιν᾿ ἔχειν ἀπορίαν τάχα δὲ κἂν ἀλήθειαν. 115 Auch Cassayre, Justice (wie Anm. *) 366 beobachtet am Beispiel des Kallikrates aus Erythrai, dass sich das Anforderungsprofil des Richters in hellenistischer Zeit wan- Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 105 5 Fazit Die Möglichkeit, sich gleichberechtigt an der Rechtsprechung zu beteiligen, war für den Bürger unabdingbar, wenn er in vollem Masse an der Entscheidungsfindung und der Herrschaftsausübung in den Staatsämtern beteiligt sein sollte. Nur in einer Polis, die diese volle Partizipation aller Bürger ermöglichte, herrschte nach Auffassung des Aristoteles Demokratie. Grosse Volksgerichte, die idealiter aus einer grossen Zahl von Richtern bestanden, die aus der gesamten Bürgerschaft durch das Los bestimmt und besoldet wurden, entsprachen diesem Anspruch an der Beteiligung jedes Bürgers an der Rechtsprechung, soweit dies praktisch möglich war. Diese Volksgerichte waren, wie zu zeigen versucht wurde, keineswegs nur ein Phänomen der klassischen Zeit. Die Zahl der Poleis, in denen sich die Tätigkeit von Volksgerichten in der bruchstückhaften Dokumentation eindeutig belegen lässt, wächst dank Neufunden zwar stetig an, bleibt jedoch bislang gering. Indes spricht gerade die breite geographische und chronologische Streuung der Zeugnisse dafür, dass es den Bürgern doch recht vieler Poleis auch in hellenistischer Zeit möglich war, als Richter zu amtieren und dabei „gewaltig, ja allmächtig zu sein und dem Reichtum ins Angesicht zu lachen.“ 116 Eine zunehmende Übertragung richterlicher Kompetenzen von den Volksgerichten auf den Rat oder Magistrate und Behörden ist nicht nachzuweisen. Die These, dass die Volksgerichte im Hellenismus nach und nach abgeschafft worden wären, widerlegen die Quellen somit eindeutig. Werden in den durch Losung konstituierten Volksgerichten „klassische“ und im Sinne des Aristoteles demokratische Züge im Gerichtswesen der Zeit nach Alexander greifbar, so ist die Jurisdiktion durch fremde Richter zwischen den Bürgern einer Polis eine durch und durch hellenistische Erscheinung. Fremde Gerichte waren zunächst nur ein Notbehelf – „von den Griechen zunächst wegen ihres gegenseitigen Misstrauens erdacht, weil sie der fremden Gerechtigkeit gleich wie anderer bei ihnen nicht gedeihender Lebensmittel bedurften“ 117 –, um eine geregelte Jurisdiktion zu gewährleisten, wenn die innerstädtische Gerichte dazu nicht in der Lage waren. Obgleich die fremden Gerichte bis zum 2. Jh. in manchen Poleis als fester Bestandteil zum Instrumentarium der 116 117 delt. Dieser Wandel ist nach ihrer Ansicht jedoch nicht von der Praxis der Rechtsprechung durch fremde Richter beeinflusst. Die Veränderung des Bürgerbildes mit Blick auf die Rechtsprechung betont, freilich mit anderen Akzenten, auch sie (ebd. 473-482). Aristoph. Vesp. 575: ἀρ᾿ οὐ μεγάλη τοῦτ᾿ ἔστ᾿ ἀρχὴ καὶ τοῦ πλούτου καταχήνη; Plut. mor. 493a-b. 106 Andreas Victor Walser gerichtlichen Streitbeilegung gehörten, 118 wurden sie in keiner Polis zu einer kontinuierlich bestehenden, fest institutionalisierten Einrichtung. Die stets wieder erlassenen Ehrendekrete für die Richter, deren Schreiber oder ihre Heimatpolis, die in ihrer grossen Zahl das Quellenmaterial zum hellenistischen Gerichtswesen so dominieren, beweisen als solche, dass die fremden Gerichte auch in späthellenistischer Zeit ihre Ausnahmestellung nie verloren haben. Als „démocraties judicaires“ hörten die Poleis allenfalls für eine bestimme Zeitspanne oder in bestimmten Bereichen der Rechtsprechung auf zu existieren, aber keineswegs grundsätzlich. Hatten die Fremden ihre verdienten Ehren empfangen und traten den Heimweg an, lag es wieder an den innerstädtischen Gerichtsorganen, Recht zu sprechen. Wenn die innerstädtische Rechtsprechung von den fremden Gerichten mithin auch keineswegs verdrängt wurde, so blieb sie von diesem neuen und in vielem ganz anderen Modell der Jurisdiktion doch auch nicht unbeeinflusst. Mit der wachsenden Bedeutung der fremden Gerichte veränderte sich ganz generell das Bild des Richters. 119 Sollte ein bestmögliches Urteil gefällt werden, mussten auch die besten Männer als Richter amtieren. Dies garantierte allein die Wahl „nach Tüchtigkeit“, nicht die Auslosung aus der Gesamtbürgerschaft. Von hier war es nicht mehr weit bis zur Forderung – wie man sie in einem Einzelfall schon im 3. Jh. findet –, die Richter nicht nur ἀριστίνδαν, sondern auch πλουτίνδαν zu wählen, nicht nur nach „Tüchtigkeit“, sondern auch nach „finanziellem Vermögen“. 120 Weit eher als die fremden Gerichte führen solche Entwicklungen im Innern zum Verlust des demokratischen Charakters der Rechtsprechung. Wie eingangs betont wurde, bietet das Quellenmaterial immer nur punktuelle Einblicke in das Gerichtswesen einer von vielen Poleis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wenn sich in der Gesamtschau bestimmte Entwicklungslinien ausmachen lassen – von den klassischen Volksgerichten hin zu durch Wahl konstituierten Gerichten aus Bürgern oder Fremden –, so haben wir uns darüber im Klaren zu sein, dass darin lediglich ein allgemeiner Trend fassbar wird. In den 118 119 120 Die Forschung hat zuletzt zu Recht betont (vgl. etwa J. Ma, Peer Polity Interaction in the Hellenistic Age, Past & Present 180, 2003, 15-23; Crowther, Foreign Judges [wie Anm. 102] 53-59), dass der Austausch von fremden Richtern nicht nur dazu diente, die Jurisdiktion zu stärken, sondern auch ein Mittel war, diplomatische Kontakte zu pflegen und zu vertiefen. Die wichtige Frage, inwiefern sich auch die Rolle des Richters im Prozess änderte, kann hier – und in Ermangelung aussagekräftiger Quellen vielleicht auch grundsätzlich – nicht geklärt werden. Vgl. IG IX 1², 3, 706 (Staatsverträge III 472) mit dem Kommentar von A. Wilhelm, Die lokrische Mädcheninschrift, Jahresh. 14, 1911, 236-238 (= Abhandlungen und Beiträge II, 446-448). Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis 107 einzelnen Poleis haben wir mit durchaus ganz unterschiedlichen Entwicklungen zu rechnen, die der allgemeinen Strömung – wenn überhaupt – mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und auch nicht überall gleich weit folgen. In allen Poleis führte die Integration des griechischen Ostens in das Imperium Romanum zu tief greifenden Umgestaltungen im Gerichtswesen. Der Einfluss der römischen Machthaber wurde hier weit stärker spürbar als in anderen Bereichen. Zwar dürften die Poleis auch noch in der Kaiserzeit eine eigenständige Rechtsprechung gepflegt haben, doch konnte grundsätzlich jede Klage auch vor den Statthalter gebracht werden. Von einer Souveränität der Polis in der Rechtsprechung kann keine Rede mehr sein. 121 Die Bemühungen einer Polis wie Kolophon oder des lykischen Bundes, 122 sich gerade im Bereich der Rechtsprechung der römischen Einflussnahme möglichst zu entziehen, manifestieren noch ein letztes Mal, wie wichtig die – wenn auch nicht mehr in jedem Fall demokratische, so doch zumindest autonome – Gerichtsbarkeit für das Selbstverständnis der Bürgerschaft war. An der mittelfristigen Erfolglosigkeit dieser Bemühungen, das Ideal einer Gerichtsbarkeit der Bürger über die Mitbürger zu retten, änderte dies freilich nichts. Korrekturzusatz: B. Dreyer und G. Weber unterstreichen in einem jüngst erschienenen Beitrag (Lokale Eliten griechischer Städte und königliche Herrschaft, in: B. Dreyer – P. F. Mittag (Hg.), Lokale Eliten und hellenistische Könige. Zwischen Kooperation und Konfrontation, Berlin 2011, 26f.) zu Recht, dass ausgehend von Untersuchungen von Einzelaspekten, wie der Entwicklung des Gerichtswesens, eine „Aussage über die Entwicklung der Demokratie als solche (…) – für alle griechischen Staaten zugleich – nicht zu treffen“ ist. Anders als der dortige Verweis auf meinen im Druck befindlichen Beitrag suggerieren könnte, wird ein solch umfassender Anspruch hier, wie deutlich geworden sein dürfte, keinesfalls erhoben. Unzutreffend ist die Aussage (ebd. Anm. 37), dass „Walser (…) die These eines Wandels im 2. Jh. v. Chr., als fremde Richter vorherrschend gewe121 122 Zur Gerichtsbarkeit der griechischen Poleis unter römischer Herrschaft vgl. noch D. Nörr, Imperium und Polis in der hohen Kaiserzeit, Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 50, München 1966, 30-34 und jetzt J. Fournier, Entre tutelle romaine et autonomie civique. L’administration judiciaire dans les provinces hellénophones de l’Empire romain (129 av. J.-C. - 235 apr. J.-C.). Athen 2010. Vgl. beispielsweise IClaros, dazu J.-L. Ferrary, Le statut des cités libres dans l’empire romain, CRAI 1991, 566-577; P. Schøyen I 25 mit P. Sanchez, La convention judicaire dans le traité conclu entre Rome et les Lyciens (P. Schøyen I 25), Chiron 37, 2007, 363-381. 108 Andreas Victor Walser sen sein sollen“, vertritt. Vielmehr war ich bereits bei meinem Vortrag beim Historikertag ebenso wie in der hier vorgelegten schriftlichen Fassung bemüht, die Bedeutung der Volksgerichte auch in hellenistischer Zeit nachzuweisen und die seit langem vertretene These einer weitgehenden Übertragung der Rechtsprechung an fremde Richter zu relativieren.