Realoptionen - Finanzoptionen:
Gemeinsamkeiten ond Unterschiede
Von Klaus Spremann
Uberblick
• Problemstellung: In den letzten Jahren haben sich Realoptionen zunehmend als
fruchtbarer Ansatz im Capital Budgeting und bei der Untemehmensbewertung erwiesen. Zudem hat sich die von Finanzoptionen bekannten Replikationsportfolios als
hilfreich fUr die Bewertung auch von Realoptionen herausgestellt. So entsteht die
Frage, ob es Parallelen zwischen Finanzoptionen und Realoptionen gibt und wie weit
sie gehen.
• Ziele des Beitrags: 1. Optionen lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Das erste Ziel ist es, eine der Perspektiven als bedeutsam heraus zuarbeiten:
Wer Optionen hlilt, paBt sein Exposure mit Veriinderungen der Marktentwicklung an.
Die Betonung der Untersuchung liegt mithin auf der durch Optionsstrategien bewirkten Exposurevariation. 2. Das Erwerben von Finanzoptionen und das Schaffen
von Realoptionen und das Halten und eventuelle Austiben dieser Optionen erlaubt
eine prozyklische Anpassung des Exposures an Infonnationen tiber die Marktentwicklung. Auf der Ebene der Zahlungsebene sind die resultierenden bedingten Cash
Flows in konvexer Weise abhiingig yom Underlying. Hier liegt die wichtigste Gemeinsamkeit von Finanz- und Realoptionen. Sie verhilft zur Beantwortung der Frage,
wann eine Untemehmung Realoptionen schaffen sollte.
• Realoptionen zeitigen wichtige Unterschiede zu Finanzoptionen. 1. Zum einen ist
ihre Replikation zwar theoretisch moglich, aber kaum praktikabel. Wenn eine Unternehmung sich prozyklisch verhalten mochte, ist sie praktisch auf Realoptionen angewiesen - wiihrend ein Finanzinvestor eine Finanzoption durchaus replizieren
kann. 2. Ein anderer Unterschied besteht darin: Die Kosten fUr die Schaffung von
Realoptionen konnen (weit) unter oder tiber ihrem okonomischen Wert liegen. Realoptionen konnen, anders als Finanzoptionen, einen positiven oder negativen Net
Present Value (NPV) besitzen.
• Der Aufsatz zeigt schlieBlich ein bislang kaum beobachtetes Phiinomen auf: Unternehmen konnen Realoptionen auch schreiben. Es gibt Moglichkeiten fUr eine antizyklische, realwirtschaftliche Investitionspolitik.
Professor Dr. Klaus Spremann, Schweizerisches Institut fUr Banken und Finanzen der Universitiit St. Gallen HSG
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A. Grundlagen: Optionen zur Anderung des Exposures
In einem liquiden Finanzmarkt ist es immer moglich, Wertpapiere zu kaufen oder zu
verkaufen. Diese Moglichkeit dient einem Anleger nicht nur dazu, neue Gelder anzulegen, oder bei Geldbedarf, Wertpapiere zu verkaufen. Vor allem kann ein Finanzinvestor zu beliebigen Zeitpunkten innerhalb der gesamten Anlageperiode das Exposure seines Portfolios verandem. Ein aktives Portfoliomanagement wird oft fUr nlitzlich angesehen, und hierbei wird oft auf das Timing gesetzt, die interime Anpassung des Exposures
an die Marktentwicklung. Dazu werden, in Abhangigkeit zwischenzeitlicher Informationen tiber die Marktentwicklung, die Gewichte risikobehafteter Instrumente (Aktien,
lang laufende Bonds) und risikoarmer Anlagen (Geldmarkt, Kurzliiufer) verandert. Es
gentigt, sich das Portfolio aus zwei Komponenten zusammengesetzt vorzustellen: einem
Exposure gegenUber "dem Markt" und einer risikofreien Anlage.
• So kann sich ein Anleger beispielsweise prozyklisch verhalten. Prozyklisches Verhalten wlirde bedeuten, mit steigendem Markt das Exposure noch zu erhOhen, und es
zu verringem, wenn die Marktkurse fallen. Der typische Privatinvestor versteht unter
aktivem Portfoliomanagement gerade das Timing mit der Absicht eines prozyklisch
gefiihrten Exposures.
• Ebenso konnte ein Investor sein Portfolio auch antizyklisch fiihren. Das hieBe, bei
steigenden Kursen zu verkaufen - Gewinne einmal zu realisieren - und bei gefallenem Kursniveau das Exposure wieder zu erhohen ("Buy-low-sell-high Politik).
In jedem Fall wird durch ein aktives Portfoliomanagement das Exposure verandert, und
zwar in Abhangigkeit yom Marktindex. Auf diese Weise ist das Anlageergebnis nicht
mehr proportional zur Marktentwicklung, wie dies bei einem konstantem Exposure der
Fall ist. Das Anlageergebnis hangt nicht-linear yom Marktindex abo Eine prozyklische
Investitionspolitik beispielsweise fiihrt bei steigenden Miirkten zu Uberproportionalen
Anlageergebnissen, und bei fallenden Markten - aufgrund des dann reduzierten Exposures - zu einer gebremsten Teilnahrne am Marktruckgang. Eine nicht-lineare Abhangigkeit des Anlageergebnisses yom Marktindex dieser Struktur heiBt konvex. Auf der
anderen Seite fiihrt ein aktives, antizyklisches Portfoliomanagement auf eine konkave
Abhangigkeit des Anlageergebnisses yom Marktindex.
Selbstverstandlich erfolgen alle Transaktionen zu denjeweiligen Marktpreisen.
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B. Finanzoptionen ond Realoptionen
I. Finanzoptionen
Das eben beschriebene aktive Portfoliomanagement erfordert eine laufende Beobachtung des Marktindexes und quasi permanente Anpassungen. Eine Altemative dazu liegt
in Optionsstrategien.
Bekanntlich sind Finanzoptionen Kontrakte, die der einen Vertragsseite - dem Erwerber und Inhaber der Option - das Recht einriiurnen, innerhalb einer gewissen Frist oder
zu einem Termin in der Zukunft eine Wertpapiertransaktion von der anderen Vertragsseite zu verlangen. Bei einer Kaufoption (Call) kann der Optionsinhaber wahlen, ob er
das Wertpapiers erhalten mochte; bei einer Verkaufsoption (Put) kann er wahlen, ob er
das Wertpapier abgeben mochte. Der Preis zu dem diese Transaktion auf Wunsch des
Optionsinhabers erfolgen (Ausi~ngoder Exercisepreis) wurde im vornherein vereinbart. Das dem Geschaft zugrunde liegende Wertpapier, das Underlying, ist hier der Index, der den "Markt" beschreibt.
Der Inhaber der Option hat fUr dieses Wahlrecht seinem Partner etwas bezahlt - den
Optionspreis. Der Kontraktpartner hat sich mit der Einnahme des Optionspreises zugleich verpflichtet, seine Bereitschaft zu der eventuell abgerufenen Transaktion aufrecht
zu erhalten - sich still zu verhalten.
Ein Finanzinvestor kann folglich mit Hilfe von Optionen wiihrend der Laufzeit dieser
Optionen oder zum Fiilligkeitszeitpunkt, jedenfalls aber wiihrend der Anlagedauer des
eigenen Portfolios eben dessen Exposure verandem. Beim Einsatz von Optionen konnen
diese Veranderungen zu Konditionen erfolgen, die bereits friiher mit dem Stillhalter
vereinbart worden waren. Man kann deshalb sagen, daB ein Optionsinhaber das Exposure seines Portfolios "ohne grofiere Extrakosten" andem kann - wobei allerdings zuvor
ein Preis fUr die Option an den Stillhalter zu entrichten war.
In der Frage der Ausiibung von Wahlrechten wird sich der Optionsinhaber rational verhalten. Ob der Marktindex bezogen (bei einem Call) oder gegeben (bei einem Put) wird,
hangt lediglich vom Exercisepreis und vom Marktindex abo
1m Ergebnis hangt der Anlageerfolg wieder aufnicht-lineare Weise vom Marktindex abo
Der Inhaber eines Calls beispielsweise hat iiberproportionale Vorteile bei einer Marktsteigerung und nur unterproportionale Nachteile bei einem Marlctriickgang. Generell
entsprechen Strategien, die den Erwerb einer oder mehrerer Optionen vorsehen - unabhangig davon, ob es sich urn Calls oder urn Puts handelt - einer prozyklischen Exposureanderung. Sie bewirken, daB das Anlageergebnis konvex vom Marktindex abhangt.
Das gilt auch, wenn die Optionen nicht bis zum Verfall gehalten werden, sondem schon
zuvor auf dem Finanzmarkt verkauft werden.
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II. Das Replikationsportfolio
Was die Frage nach der Hohe des Optionspreises anbe1angt, so haben Pionierarbeiten
auf dem Gebiet der Finance die Antwort gefunden. Der Inhaber einer Option erhlilt
(vom Stillhalter) Cash Flows, die yom Wert des Underlying zum Austibungszeitpunkt
abhangen. Wenn beispielsweise der Inhaber einer Kaufoption austibt, und zum Exercisepreis K=3500 den Marktindex bezieht, der dann bei S=4000 notiert, flieBt ihm der
Geldbetrag 500 zu; notiert der Index bei S=5000, erhlilt der Optionsinhaber yom Stillhalter 1500, und notiert der Index bei S=3000, wird der Inhaber des Calls gar nicht austiben - der ihm zuflieBende Cash Flow ist o. Jede Option wird mithin in der Betrachtungsebene von Zahlungen durch bedingte Cash Flows abgebildet.
Nun kann man die Frage stellen, ob es gewisse Zusammenstellungen (portfolios) anderer Wertpapiere gibt, die dieselben bedingten Cash Flows haben. Ein Portfolio, das die
bedingten Cash Flows einer Option nachbildet, heiBt "Replikationsportfolio". Wenn die
Komponenten des Replikationsportfolios in Finanzml:irkten bereits gehandelt werden, so
daB fiir sie der Kurs dort gegeben ist, dann kann man den Optionspreis ableiten: Die
Option ist marktgerecht bewertet, wenn ihr Preis mit dem Marktwert des Replikationsportfolios tibereinstimmt. Diese Ableitung verdeutlicht, weshalb Optionen aIs
"Derivate" bezeichnet werden.
III. Realoptionen
Die Sichtweise der Option als Wahlmoglichkeit - ohne groBe Extrakosten das Exposure aufgrund zwischenzeitlicher Informationen tiber den Markt anpassen zu konnen kann direkt auf die Situation eines Untemehmers tibertragen werden.
Untemehmer investieren in realwirtschaftliche Projekte. Der Erfolg einer jeden Realinvestition hangt davon ab, wie sich die relevanten Produkt- und Faktorml:irkte entwikkeln. EinfluB auf den Projekterfolg haben auBerdem die Konirurrenzsituation, die Konjunktur, die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, und andere EinfluBfaktoren.
Der Projekterfolg hangt also von mehreren GroBen ab, und alle diese GroBen verandem
sich im Zeitablauf, wobei zufallige Einfltisse wirken.
Zur Verinfachu~(bt
man Realinvestitionen in einer "reinen Form", bei denen
der Projekterfolg nur von einer eindimensionalen GroBe abhangen moge. Es kann sich
dabei beispielsweise urn das Preisniveau in einem Produktmarkt handeln, oder urn die
"allgemeine Wirtschaftslage". 1m Folgenden spreche man yom "Markt" oder yom
"Marktindex" .
Eine solche Realinvestition kann man sich durchaus so vorstellen, daB der spiitere Projekterfolg (Cash Flow) proportional zum Marktindex ausfallen werde, wobei der Marktindex eine unsichere GroBe ist. Ein Untemehmer wird deshalb diese kritische Erfolgs-
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groBe beobachten und er wird von Zeit zu Zeit versuchen, in Abhangigkeit der Informationen fiber diesen Marktindex, sein Exposure zu verandem.
Es scheint nur natiirlich, wenn der Untemehmer sein Projekt ausweiten mochte, sobald
die Informationen einen steigenden Marktindex (Absatzpreis) erwarten lassen. Umgekehrt mochte er Kapazitaten abbauen, wenn alles auf einen Marktriickgang deutet. Genau wie ein Finanzinvestor mochte deshalb auch ein Untemehmer sein Exposure andem, und hierbei liegt eine prozyklische Vorgehensweise nahe.
Natiirlich gabe es dazu die prinzipielle Moglichkeit, die Produktionskapazitat durch Erweiterungsinvestitionen zu erhohen, oder - im Fall adverser Marktentwicklungen zu Stillegungen und zur Geschiiftsliquidation.
Die Konditionen, unter denen soiche Anpassungen durchfiihrbar werden, sind durch
"Markte" fUr Produktionskapazitat, auch fUr gebrauchte Produktionseinrichtungen gegeben. Es bedarf keiner weiteren Ausfiihrung, daB diese "Markte" wenig liquide sind.
Eine jede Transaktionen - Veranderung des Exposures im Portfolio realwirtschaftlicher Investitionen - ist mit hohen Kosten fUr die Suche und die Abwicklung verbunden. Hinzu kommt, daB ein Untemehmer auch in Vermogenspositionen investieren
diirfte, die fiberhaupt nicht auBerhalb seines Geschiiftes verwertbar sind. Dazu gehOren
spezielle Entwicklungen, halbfertige Forschungsprojekte Schulungen der Mitarbeiter
und viele andere Investitionen. Aus soichen GrUnden haben realwirtschaftliche Investitionen stets den Aspekt der Irreversibilitat. Sind sie einmal getroffen, gibt es fiber
"exteme Markte" kaum die Moglichkeit einer Revision.
Hier kann es sich als Ausweg bieten, Realinvestitionen von vornherein technischorganisatorisch so zu gestalten, daB die Untemehmung in der Folge doch noch einige
Wahlmoglichkeiten behalt. Solche Wahlmoglichkeiten konnen die Hohe der Produktionskapazitat betreffen, etwa durch ein stufenweises Vorgehen beim Ausbau oder beim
Rfickzug. Die Wahlmoglichkeiten konnen den Charakter einer zeitlichen Flexibilitat
und zahlreiche andere Formen haben. Mit allen diesen MaBnahmen zur Steigerung der
Flexibilitat kann die Untemehmung - eben ohne groBe weitere Extrakosten - ihr Exposure verandem, und an zwischenzeitlich beobachtbare Marktinformationen anpassen.
Soiche Wahlmoglichkeiten werden als Realoptionen bezeichnet. Eine Realoption ist die
Flexibilitat, das mit einer realwirtschaftliche Investition verbundene Exposure zu verandem, so daB es bei Informationen fiber eine positive Marktentwicklung erhOht und bei
abtraglichen MarKt:entwicklungen reduziert werden kann.
Realoptionen gestatten mithin die gewiinschte prozyklische Anpassung des Exposures
an Marktinformationen, genau wie dies bei Finanzoptionen der Fall ist.
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IV. Zur Wertbestimmung von Realoptionen
Genau wie Finanzoptionen sind Realoptionen nicht gratis zu haben. Eine flexible Universalmaschine hat hlihere variable Kosten als eine starre Spezialmaschine. Die stufenweise Verwirklichung eines Investitionsvorhabens - mit der Moglichkeit, nach jeder
Stufe eine Stop-Go-Entscheidung treffen zu konnen - ist regelmii/3ig aufwendiger als
eine One-Step-lnvestition. Nicht alle Realoptionen werden durch inteme Flexibilitat geschaffen; oft wird involvierten extemen Parteien eine Option abverlangt. Denn bei einigen Realoptionen werden Optionskontrakte mit extemen Lieferanten geschlossen; ein
gelaufiges Beispiel sind Optionen, mit denenAirlines die endgilltige Entscheidung Uber
den Kauf von Flugzeugen noch hinausschieben konnen. Jedenfalls ist weder die eigene,
innere Flexibilitat noch die Flexibilitat mit extemen Geschiiftspartnem gratis.
Um Realoptionen zu erhalten, hat die Untemehmung mithin Kosten. Wie hoch diese
Kosten sind, diirfte im Einzelfall recht kompliziert zu schiitzen sein, weil Flexibilitat
oftmals von vielen Faktoren abhiingt. Auf der anderen Seite kann doch etwas zu der
Frage gesagt werden, wie hoch die finanziellen Vorteile sind, die eine Untemehmung
aus einer Realoption - die sie bereits hat - erzielen kann.
Realinvestitionen fiihren auf Cash Flows. Mit zusatzlichen Realoptionen werden diese
Cash Flows verandert. Nun hangen zwei Aspekte bei einer Realoption yom "Kurs des
Underlying" abo Erstens die Frage, ob eine Realoption ausgeUbt werden sollte, und
zweitens die Hohe der von der Realoption beeinflu13ten Cash Flows. Foiglich mUssen
wieder bedingte Cash Flows betrachtet werden.
Die Bedingung ist der Kurs des Underlying. Das Underlying bei einer Realoption ist
jene GroBe, die das variable Umfeld (Faktor- und Produktmarkte) beschreibt, und auf
deren Veranderung die Untemehmung mit ihrer Flexibilitat reagieren mochte, urn ihr
Exposure entsprechend zu veriindem. 1m Beispiel eines Rohstoffproduzenten ware der
Rohstoffpreis das Underlying. Realoptionen - wie die Moglichkeit, mit der Offuung
eines Bergwerkes noch warten zu konnen, ohne dadurch die Kosten fur die Offuung wesentlich zu erhohen - bewirken Cash Flows, deren Hohe yom Rohstoffpreis abhangt.
In Fallen von Realoptionen, die sich mit einfacher mathematischer Struktur modellieren
lassen ist es nun moglich, ein Replikationsportfolio aufzustellen - natiirlich kann eine
so1che Realoptionen trotz ihrer einfachen finanzmathematischen Struktur praktische
Relevanz besitzen. Das Replikationsportfolio kann dann zur Ermittlung jenes Wertes
herangezogen werden, den die Realoption fUr die Untemehmung hat - ungeachtet der
Frage, was es die Firma gekostet hat, sich die Wahlfreiheit und Flexibilitat zu sichem.
Der durch Replikation theoretisch ermittelte Wert der Realoption werde auch als
"okonomischer Wert" bezeichnet.
Unerheblich bei der Wertbestimmung ist, ob die Untemehmung das Replikationsportfolio praktisch kaufen konnte. In der Regel ist bei Realoptionen das Replikationsportfolio
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theoretischer Natur. Mit diesem methodischen Ansatz werden deshalb Realoptionen mit
Hilfe einer Nachbildung jener Gesetze bewertet, die auch der Markt bei der Preisfindung
befolgt.
C. Wer sollte Optionen erwerben?
1. Nicht-liquide Markte
Das Halten einer Finanzoption - selbst wenn diese nicht bis zu ihrer Falligkeit gehalten
wird - bewirkt einen vom Underlying nicht-linear abhangigen Payoff, der als prozyklische Anlagestrategie interpretiert werden konnte. Wie gesagt kann ein Finanzinvestor
prozyklische Anlagestrategien (konvexe Payoffs) auch ohne Optionen erzeugen, indem
er das Underlying bei steigendem Kurs kauft, und bei fallendem Kurs verkauft.
Denkt man an die Moglichkeit, so eine Option zu replizieren, dann wirken beide Methoden zur Verwirklichung einer prozyklischen Exposurevariation - die Optionsstrategie und das Kaufen und Verkaufen des Underlying bei dessen Kursanderungenaquivalent. Allenfalls wtirde man die zwar vorhandenen, wenngleich in Finanzmarkten
kleinen Transaktionskosten als Nachteil der Variante ansehen, die Payoffs einer Option
durch dynamischen Kauf- und Verkauf des Underlying zu replizieren.
In den "Markten" flir Objekte realwirtschaftlicher Investitionsprojekte - Maschinen,
Anlagen, Organisation - sind diese Transaktionskosten prohibitiv. Mit anderen Worten
scheidet die Replikation der Zahlungswirkungen einer Realoption durch Kauf oder Verkauf von Produktionskapazitat praktisch aus.
Wenn eine Unternehmung das mit einer ReaIoption mogliche prozyklische Exposure
(die konvexen Zahlungswirkungen) wUnscht, dann mu/3 sie sich folglich die Realoption
durch interne und externe MaBnahmen schaffen. Die Replikation der konvexen Payoffs
durch Kauf oder Verkauf von Produktionskapazitat auf den "Markten" fUr Objekte
realwirtschaftlicher Investitionsprojekte ist aufgrund der Transaktionskosten keine Alternative zur Realoption.
Die Unvollkommenheit oder Nichtliquiditat dieser Markte - ihr Ausdruck war die Irreversibilitat der realwirtschaftlichen Investitionen - ist jedoch nicht der wichtigste
oder gar der einzige Grund flir die Bedeutung von Realoptionen. Bislang wurde nur gesagt: Wenn ein Unternehmer - aus we1chen GrUnden auch immer - ein prozyklisches
Exposure (konvexe Payoffs) wUnscht, ist er auf Realoptionen angewiesen, weil sie sich
praktisch nicht replizieren lassen.
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II. Preisunschiirfe bei realwirtschaftlichen Investitionen
Die Frage, unter welchen Bedingungen eine Untemehrnung eine realwirtschaftliche Investition verwirklichen sollte, hat die einfache, tiber den Barwert der implizierten Zahlungsreihe (NPV), gegebene Antwort. Es schlieBt sich die Frage an, weshalb Untemehmen tiberhaupt Projekte mit positiven NPV finden konnen. Ein positiver NPV ist so zu
lesen: Der Untemehrnung kostet es weniger das Projekt zu schaffen, als es ihr einbringt.
Offensichtlich muB man von gewissen "Marktunvollkommenheiten" ausgehen. Beispielsweise kann es zu gewissen Projekten faktische Zugangsbeschriinkungen geben, die
einer Untemehrnung eine Investition erlauben, nicht aber einer anderen.l
Diese Betrachtung gilt analog fUr Realoptionen. Es ist davon auszugehen, daB die Kosten fUr die Schaffung von Realoptionen tiber oder unter ihrem "okonomischen Wert"
liegen, dem Wert, den die Untemehrnung der Realoption durch Simulation der Marktbewertung beimiBt. Anders als Finanzoptionen, bei denen der marktgerecht bewertete
Payoff mit dem Optionspreis tibereinstimmt - Finanzoptionen sind Instrumente mit
einem NPV=O - konnen Realoptionen fUr die Untemehrnung einen positiven oder auch
einen negativen NPV haben.
Wenn die Untemehrnung vor der Entscheidung steht, unter Kosten sich Wahlmoglichkeiten und Flexibilitat zu sichem, wird die Entscheidung urn so leichter zugunsten der
Realoption ausfallen, wenn ihr NPV positiv ist. In der Literatur sind einige Beispiele
prasentiert worden, in denen die Untemehrnung aus einer Realoption Vorteile schopfte,
jedoch nicht so sehr, weil es sich dabei urn eine Option handelte (konkaver Payoff) sondem weil die Realoption einen Payoff mit positiven NPV hatte.
III. Option als Wette tiber die Volatilitat?
Es bleibt die Frage, ob die Untemehrnung sich Wahlrechte und Flexibilitat im realwirtschaftlichen Bereich sichem sollte, wenn die Kosten fUr die Schaffung dieser Realoptionen genauso hoch sind wie ihr okonomischer Wert.
Diese Frage nun stellt sich gleichlautend fUr den Kaufer einer Finanzoption und ist dort
klar beantwortet worden.
Eine Option - gleich ob eine Finanz- oder Realoption - zu halten erzeugt oder erhOht
die Konvexitat der Payoffs des Gesamtergebnisses. Konvexitat (ErhOhung des Exposure
in steigenden Miirkten, Reduktion des Exposure in fallenden Miirkten) hat einen urn so
groBeren Vorteil fUr den Halter der Option, je wahrscheinlicher es zu deutlichen Kursveranderungen beim Underlying kommt. Sind die Kursvariationen klein, kann der Halter der Option nur in geringem MaBe yom nicht-linearen Verlauf der Payoffs gewinnen.
MaBgebend ist also die Volatilitat des Underlying.
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Bei einer Finanzoption ist die Tatsache, daB dem Halter einer Option aus der Volatilitat
ein Vorteil zuwachst, natiirlich bereits im Optionspreis beriicksichtigt. Die der Rechnung zugrunde liegende Volatilitat wird auch als "implizite Volatilitat" bezeichnet, wei!
sie im Optionspreis enthalten ist und sich aus ihm errechnen llillt. Insofern hat der Kiiufer einer Finanzinvestition eine gewisse Volatilitat bereits bezahlt.
Die Frage ist, ob damit zuviel oder zuwenig bezahlt hat. Wenn ein gut inforrnierter Investor davon ausgeht, daB die "wahre" Volatilitat des Underlying groBer als die beim
Kaufvon Optionen mit zu bezahlende implizite Volatilitat ist, dann ist aus seiner Sicht
die Finanzoption giinstig angeboten und es ist vorteilhaft, sie zu kaufen. Umgekehrt
kann man schlieBen: Wenn ein gut inforrnierter Investor davon ausgeht, daB die wahre
Volatilitat des Underlying geringer ist als die beim Kauf von Optionen zu bezahlende
implizite Volatilitat, dann ist aus seiner Sicht die Finanzoption zu teuer angeboten. Er
wird sie nicht kaufen - vielleicht wird er sich auf die Marktseite jener stellen, die Finanzoptionen schreiben.
IV. Wer schatzt konvexe Payoffs?
Was nun gilt fUr die Vorteilhaftigkeit einer Optionsstrategie, wenn die wahre Volatilitat
genauso hoch eingeschatzt wird wie die implizite Volatilitat? Sind dann Optionsstrategien irrelevant? Die Antwort lautet Nein
Optionen konnen mit den erzeugten nicht-linearen Payoffs den Priiferenzen eines
Finanzinvestors oder einer real investierenden Unternehmung besonders entgegen
kommen. Eine prozyklische Anpassung des Exposures bietet eine gewisse Schutzfunktion in fallenden Miirkten. Finanzinvestoren wie Unternehmen, denen dieser Schutz aufgrund ihrer Situation oder Priiferenz besonders niitzlich ist, werden sich prozyklisch
verhalten. Almliches gilt fUr den Fall steigender Miirkte. Hier bietet die prozyklische
Exposurevariation "Extragewinne", und die Frage stellt sich fUr den Finanzinvestor oder
fUr die Unternehmung, wie niitzlich solche Extragewinne sind.
Was Finanzoptionen anbelangt, so werden sie von solchen Investoren gekauft, deren
Niitzlichkeit des Schutzes (in fallenden Miirkten) und des Extragewinns (in steigenden
Miirkten) iiberdurchschnittlich hoch ist. Als Stillhalter fungieren dagegen bei Finanzinvestitionen jene Investoren oder Institutionen, fUr die der Schutz in fallenden Miirkten
und der Extragewinn in steigenden Miirkten nur von unterdurchschnittlicher Niitzlichkeit ist. 2
In Analogie dazu wird eine Unternehmung Realoptionen fUr sich schaffen, wenn aufgrund ihrer Situation, aufgrund der Corporate Governance, oder aufgrund des Verhaltens ihrer Kapitalgeber es iiberdurchschnittlich niitzlich ist, bei rezessiver Marktsituation
geschiitzt zu sein und bei steigenden Miirkten schnell das Exposure ausweiten zu konnen - selbst wenn diese Flexibilitat einiges kostet.
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V. Realoptionen schreiben?
In gewissem Umfang kann sich eine Unternehmung Flexibilitat tiber externe Partner
kaufen: Outsourcing der Schaffung der Realoption. Als Beispiel wurden Optionen zum
Erwerb von Flugzeugen genannt. Hebt man die mit Realoptionen verbundenen Wahlrechte von der Ebene der gtiterwirtschaftlichen Produktion auf die Ebene der Akquisition von Unternehmen, so schaffen finanzielle Mittel und damit einverstandene Kapitalgeber die Plattform fur eine zUgige Exposurevariation durch den Kauf und Verkauf von
Beteiligungen. Auch hier ware die Schaffung und das Halten und eventuelle Austiben
der Realoption mit einer prozyklischen Exposurevariation zu identifizieren: Kaufe Beteiligungen in steigenden Markten, verkaufe Beteiligungen in fallenden Markten.
Diese Betrachtungsebene erlaubt es, yom Schreiben (VerauBern) vqn Realoptionen zu
sprechen. Eine Unternehmung schreibt eine Realoption, wenn sie bei ihrem realwirtschaftlichen Engagement eine antizyklische Exposurevariation verwirklichen kann und
verwirklicht. Eine Moglichkeit dazu besteht darin, anderen eine Realoption zu bieten,
etwa dadurch, daB man bei steigenden Markten Ressourcen anbietet, und bei fallenden
Markten Ressourcen zuriicknimmt. Leasing-Geber etwa nehmen diese Position ein. Eine
weitere Moglichkeit im "Schreiben von Realoptionen" besteht darin, Beteiligungen in
fallenden Markten zu suchen und zu kaufen, und Beteiligungen in steigenden Markten
zu verkaufen.
Das Schreiben von Realoptionen fuhrt auf ein Ergebnis, das wieder nicht-linear, diesmal
konkav, yom "Marktgeschehen" abhangt. Wie zuvor ausgefuhrt, werden Unternehmen
Realoptionen schreiben, fUr die der Schutz in fallenden Mfu'kten und der Extragewinn in
steigenden Markten nur von unterdurchschnittlicher Niltzlichkeit ist.
D. Synthese
Realoptionen und Finanzoptionen zeitigen einige Paralle1en: Beide ermoglichen es, das
Exposure in Abhangigkeit von Informationen tiber den Markt zu verandern. Bei einer
Optionsstrategie realisiert der Inhaber von Optionen eine prozyklische Exposurevariation. Sie fuhrt auf eine nicht-lineare, genauer konvexe Abhangigkeit des Gesamtergebnisses yom Marktindex.
Die Strategie, Finanzoptionen zu schreiben, empfiehlt sich in zwei Situationen. 1. Wenn
man denkt, die wahre Volatilitat des Marktes sei groBer als die im Optionspreis implizit
enthaltene, bezahlte Volatilitat. 2. Wenn die Ntitzlichkeit des Schutzes (in fallenden
Markten) und des Extragewinns (in steigenden Markten) fur im Hinblick auf die eigene
Situation tiberdurchschnittlich hoch ist.
Eine weitere Gemeinsamkeit haben Finanzoptionen und Realoptionen insoweit, als Replikationsportfolios zur Bestimmung ihres okonomischen Werts herangezogen werden.
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Bei Realoptionen sind einige Besonderheiten zu beachten, welche die eben genannte
Vorteilhaftigkeitsfrage stark liberlagern konnen. 1. Die durch Realoptionen vornehmbaren Exposurevariation konnen kaurn dadurch repliziert werden, daJ3 in den "Markten"
fUr Investitionsobjekte Kaufe oder Verkaufe getatigt werden, einfach weil die Transaktionskosten dort zu hoch sind. 1m Unterschied zu einem Finanzinvestor ist eine Unternehmung, die eine prozyklische Exposurevariation wUnscht, praktisch darauf angewiesen, Realoptionen zu schaffen und flexibel zu bleiben. 2. Die Kosten, die einer Unternehmung fUr die Schaffung und Erhaltung von Flexibilitat entstehen, dlirften in aller
Regel in einem nur losen Zusarnmenhang mit dem okonomischen Wert der Realoption
stehen. Realoptionen konnen, anders als Finanzoptionen, einen von 0 verschiedenen
NPV besitzen. Realoptionen mit einem positiven NPV sind allein aus diesem Grund
schon interessant. 3. Realoptionen konnen auch geschrieben werden. Darunter fallen alle
MaBnahmen im realwirtschaftlichen Bereich, mit denen eine antizyklische Exposurevariation erzielt wird, also eine konkave Abhangigkeit des Gesamtergebnisses yom Markt.
Anmerkungen
1. Brealey 1 Myers hierzu: "When the firm looks at capital investment decisions, it does not
assume that it is facing perfect, competitive markets." .
2 Rubinstein and Leland (1981) bemerken: " ... covered call writers should typically be investors whose risk aversion does not increase as rapidly as the average investor's as the value
of their portfolios increase, ... protective put buyers should typically be investors whose risk
aversion decreases more rapidly than the average investor's as the value of their portfolios
increases. "
Literatur
Dixit, Avinash K.; Pindyck, Robert S. (1995): Investment under Uncertainy. Princeton
University Press, New Jersey.
Perold, F.; Sharpe, William (1988): Dynamic Strategies for Asset Allocation. Financial
Analysts Journal (Jan/Feb), S. 16-27.
Pindyck, Robert S. (1991): Irreversibility, uncertainty, and investment; in: Journal of
Economic Literature, 29/3, S. 707-727.
Rubinstein, Mark; Leland, Hayne E. (1981): Replicating Options with Positions in
Stock and Cash. Financial Analysts Journal (July/Aug), S. 63-72.
Spremann, Klaus (1995): Flexibilitat; in: Die Unternehmung 4, pp. 219-224.
Trigeogis, Lenos (1996), Real Options. Managerial Flexibility and Strategy in Resource
Allocation. The MIT Press, Cambridge, Massachusetts.
Funktionalmarkt-Konzept als Planungsinstrument
bei prinzipieUen High-Tech-Innovationen*
Von Werner Pfeiffer
Uberblick
Prinzipielle High-Tech-Innovationen verandem bestehcnde Markte radikal und schaffen
hiiufig vollig neue. Ihr Chancen- bzw. Bedrohungspotential wird allerdings unterschiitzt,
wenn es nicht gelingt, typische Fehler bei der Erkennung und Einschiitzung des Marktes
prinzipieller Innovationen zu vermeiden. Zu diesen 'Fallstricken' gehOrt beispielsweise
eine zu stark an aktuellen Kunden und Branchen ausgerichtete Beschreibung von
Technologien und Bedarfen, die den Blick auf Chancen und Bedrohungen, die im Sinne
Druckers 'von den Randem kommen', versperrt. Ebenso verhangnisvoll ist bei der
Bewertung und Steuerung von prinzipiellen High-Tech-Innovationsprojekten eine zu
kurzfristige, gegenwartsorientierte Perspektive sowie eine unreflektierte Zahlengliiubigkeit.
Das vorgestellte Funktionalmarkt-Konzept unterstUtzt die Vermeidung solcher
'Fallstricke'. Dies gelingt z. B. durch eine streng an der Funktion bzw. dem
ProblemlOsungscharakter orientierten Beschreibung von Technologien und ihrer Markte
(daher 'Funktionalmarkt-Konzept'). Durch Integration von Instrumenten wie z. B.
Technologie-Portfolio, S-Kurven und Erfahrungskurven-Konzept dominiert im
vorgestellten Funktionalmarkt-Konzept per se eine langfristig-dynamische Perspektive.
Professor Dr. Werner Pfeiffer, Lehrstuhl flir Industriebetriebslehre, Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Fakultat der Friedrich-Alexander-Universitat Erlangen-Niirnberg,
Lange Gasse 20, D-90403 Niirnberg
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A. Notwendigkeit einer Neuorientierung bei der Markteinschatzung
von prinzipiellen High-Tech-Innovationen
Wer sich wissenschaftlich mit dem Management prinzipieller Innovationen beschiiftigt,
staBt bei der Durchsicht der einschliigigen Fachliteratur und der allgemeinen
Wirtschaftspresse auf zwei Phiinomene:
Zurn einen werden in vielen Fallen die Marktchancen neuer technologischer Potentiale
von den Untemehmen und insbesondere dem dafiir zustiindigen Marketing- bzw.
Marktforschungsbereich falsch beurteilt. So wurde fUr den Mikroprozessor ein
jiihrlicher Bedarf von 2.000 StUck geschiitzt, was das Projekt bei Intel in einer
fortgeschrittenen Phase fast zum Kippen gebracht hiitte (vgl. Malone 1996, S. 16).
Desgleichen sah eine weltweit renommierte Beratungsgesellschaft fUr die XerografieErfindung nur einen Markt von maximal 5.000 Geriiten (vgl. Eichbol1].1990, S. 7).
Zurn anderen werden Substitutionsbedrohungen existenter Produkte durch Produkte mit
gleicher Funktion, aber neuer zugrundeliegender Technologie iibersehen bzw.
hinsichtlich ihrer zeitlichen und sachlichen Relevanz ignoriert oder unterschiitzt. So
ergab eine urnfassende Studie des VDI-Technologiezentrums zu den Moglichkeiten des
Mikroelektronikeinsatzes im deutschen Maschinenbau 1978, daB die befragten
Untemehmen nur zu 19,8 % mit einer Verbesserung der ProzeBfunktionen und 12 % mit
einer Steigerung der Flexibilitat rechneten (vgl. VDI-Technologiezentrum 1983). DaB
sogar noch 1982 die Chancen zur ProzeBverbesserung von nur 41,9 % und die zur
Steigerung der Flexibilitat von nur 46,4 % erkannt wurden, zeigt die Schwierigkeit der
Untemehmen in der Einschiitzung der Relevanz von prinzipiellen High-Tech-Innovationen fUr iln: Geschiiftsfeld.
B. Typische Fallstricke bei der Erkennung prinzipieller Innovationen
und der Einschatzung ihres Marktes
1. Zu phanomenologisch-strukturorientierte Sichtweise bei der Suche
nach neuen Bedarfen und neuen Technologiealtemativen
Innovationen - und vor allem prinzipielle Innovationen - lassen vollig neue Miirkte
entstehen undloder verdriingen auf vorhandenen Miirkten Produkte mit einer alteren
technologischen Basis. Deshalb miissen Informationen iiber neue technologische
Potentiale in der Untemehmensurnwelt, die als Substitutionsprodukte zu einer
Bedrohung des aktuellen Markterfolgs werden konnen, treffsicher und moglichst friih
erkannt werden. Umgekehrt miissen auch fUr diejenigen prinzipiell neuen Technologien,
die sich in der eigenen Entwicklung befinden, ebenso zuverliissig und friihzeitig alle
moglichen Anwendungsfelder identifiziert werden, urn zu zukunftsorientierten, fundierten Projektentscheidungen zu kommen.
Art und Umfang der gewinnbaren Informationen hangt sehr stark davon ab, in welcher
Weise bei der Marktplanung die Bedarfe und Potentiale definiert bzw. beschrieben
werden.
423
Ublicherweise erfolgt die Beschreibung von Bedarfen bzw. Markten stark phanomenologisch und strukturorientiert. Die Marktbeschreibung orientiert sich dabei an
auBerlich erkennbaren oder fach- bzw. branchenspezifischen Charakteristika der
gegenwiirtigen Produkte. Mit Hilfe solcher Kriterien werden dann Produkt-MarktSegmente bzw. Geschaftsfelder festgelegt.
Dies ist in zweifacher Weise problematisch:
(1) AuBerhalb der Branchengrenzen auftretende Potentiale, die als Substitutionskonkurrenz relevant werden konnen, werden nicht erkannt, wiihrend die erkennbaren,
innerhalb der Branche liegenden Potentiale eher gradueller Natur sind. So wird ein
Untemehmer, der Rohre isoliert, auf die Frage nach den Bedfufnissen seiner Kunden
wie aus der Pistole geschossen antworten: 'Der Kunde will niedrige Preise, hohe
Diirnmwerte und lange Lebensdauer der Isolierung.' Dagegen ist auf den ersten Blick
nichts einzuwenden. Aber schon beim zweiten Blick miiBte die Frage kommen: 'Stimmt
das wirklich? Will der Kunde nicht ganz einfach eine preiswerte Losung zur
Vermeidung von Warmeverlusten?' Wenn das zutrifft, dann ist eine ganze Branche
schlagartig am Ende, sobald Rohrhersteller dazu ubergehen, ihre Produkte selbst
vorzuisolieren oder aus einem Material zu liefem, das keiner zusatzlichen Isolierung
mehr bedarf (vgl. Laukamm 1986).
(2) Die Anwendungsmoglichkeiten (Anwendungsbreite), die sich durch die in der
eigenen Entwicklung forcierten, prinzipiell neuen Technologiepotentiale auBerhalb der
eigenen Branche bzw. des bisher bedienten Marktes (Gegenwartsmarkt) erschlieBen lassen, werden nicht identifiziert. So ware aufgrund einer zu engen Produktdefinition - und
zwar als ein lediglich verkleinerter Minicomputer (vgl. Quinn 1985, S. 29) - der
Einstieg von Intel in die Produktion und Vermarktung seines 'Produktes 4004', des ersten Mikroprozessors, um ein Haar an der negativen Bewertung der Marktchancen
durch das Intel-Marketing gescheitert (vgl. Malone 1996, S. 16).
Der Mikroprozessor wurde aus der Sicht des Intel-Marketings sehr eng als Computer
charakterisiert und dort der Untergruppe Minicomputer zugeordnet. D. h. man verstand
den Mikroprozessor als reine Substitutionstechnologie flir die damals aktuellen
Minicomputer, die noch auf Mehrchip-Bausatzen beruhten und daher aus technischen
und okonomischen Griinden ein sehr begrenztes Marktvolumen besaBen.
Die damit festgelegte phanomenologische Beschreibung der Funktion eines
Mikroprozessors (Computer i.e.S.) verhinderte den kreativen Transfer des Erfolgspotentials auf llI!-dere Geschaftsfelder. Und mit dieser Fehlleistung wurde dann auch der
Absatzmarkt bzw. das real mogliche Marktvolumen der Innovation Mikroprozessor
radikal falsch eingeschatzt. 1
Nur dem beherzten Durchgreifen des Direktoriums von Intel und seinem 'Uber-dieBedenken-Hinweg-Setzen' bzw. der 'Absorption' der trotz allem bestehenden
UngewiBheit2 ist es zu verdanken, daB Produktion und Vermarktung trotzdem gestartet
wurden.
424
II. Zu einseitige Orientierung an quantitativen GraBen bei der Beurteilung
Bei der Ermittlung des Marktes von prinzipiellen Innovationen dominiert zu friih ein zu
vordergrundiges, quantitatives und formalzielorientiertes Denken i.S. einer
'Rtickspiegel-Marktforschung', wie sie Trommsdorff beschreibt. ,,'Rtickspiegel-Marktforschung' stellt mit dem Blick nach hinten einen Trend fest und schreibt ihn fort, statt
Brtiche und Widersprtiche zu erkennen, zu erklaren und 'vorherzusagen' (im Sinne
eines Sich-darauf-Einstellens). Letztlich liegt das Problem ... in der Beschriinkung auf
harte quantitative, aber nach vorne blinde Methoden." (Trommsdorff 1993, S. 29).
Marketing und Marktforschung sind Gefangene Ihrer Methoden, die im wesentlichen
nur greifen, wenn bereits vorhandene Gegenwartsmarkte fortgeschrieben werden.
Prinzipielle High-Tech-Innovationen kreieren jedoch oft vollig neue Markte, die auf
dem traditionellen 'methodischen Radarschirm' konstruktionsbedingt nicht erscheinen
(vgl. Christensen 1997, u. a. S. XXI, S. 148 ff.). Sieht man die Dinge so, versteht man,
warum das Intel-Marketing, den Markt flir die Mikroprozessorinnovation anfangs nur
bei einer jahrlichen Sttickzahl von 2.000 sah. Geniale Erfindungen erfordern stattdessen
die kongeniale Erfindung von Zukunftsmarkten. 3 Dabei geht es zunachst um "insight not
numbers" (Kotler et al. 1985, S. 258). Zum Beispiel Einsichten wie: "Aufgrund seiner
geringen GroBe .. , und seinem niedrigen Energiebedarf konnte man den Mikroprozessor
in beinahe alles, yom Lichtschalter bis (in ferner Zukunft) zum menschlichen Korper
einbauen." (Malone 1996, S. 28).
Durch solche Visionen im Sinne von Leuchtfeuer fUr Zukunftsrouten wie z. B. auch die
Vision von Steven Jobs 'a computer on every desk in every home', gewinnt am Horizont
ein Zukunftsmarkt mit vollig anderen Dimensionen erst Konturen (vgl. auch Simon
1989).
III. Zu einseitige Markt- und Kundenorientierung
In vielen Fallen laBt sich mit prinzipiell neuen Technologien am Anfang ihrer
Entwicklung zwar nicht die Performance der etablierten, dominierenden 'alten'
Technologie bzw. deren Markte (Mainstream Markets) erreichen, wohl aber konnen sie
tiber ein enormes Potential fUr andere bereits existente und fUr Zukunftsmarkte
verfligen, die im Entstehen begriffen sind (i.S.v. Christensens 'Emerging Markets',
Christensen 1997). Mit dem Eintritt in diese neuen Markte tun sich gerade sehr
erfolgreiche Marktfiihrer sehr schwer. Eine der zentralen Barrieren ist dabei die
Philosophie einer konsequenten Markt- und Kundenorientierung, nach der das ganze
WertschOpfungsnetzwerk ausgerichtet ist.
Da die Informationsgewinnung fUr Eintrittsentscheidungen in mogliche latente Markte
streng aus der Perspektive des gegebenen komplexen, austarierten WertschOpfungsnetzwerks erfolgt, ist ein negatives Votum oft bereits vorprogrammiert: Die
Kunden der Gegenwart sehen keinen Bedarf, Vertriebs- und Produktionssysteme sehen
keine adaquaten Mengen, das Finanzwesen vermiBt die entsprechenden Margen.
425
FUr eine Revision derartiger Fehlentscheidungen ist es meist zu spat, wenn die
prinzipiell neuen Technologien mit einer tiber Jahre gewonnenen Performance von den
Randem her die seitherigen Mainstream-Markte aufrollen.
IV. Zu gegenwartsbezogene, statische Beurteilung prinzipieller
Innovationen
Wie bereits erwahnt sind neue Technologien im Anfangsstadium ihrer Entwicklung oftmals in der funktionalen Qualitat viillig unzulanglich und gleichzeitig ganzlich
unattraktiv im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Eignung. "Often, its initial shortcomings
led observers to believe it would find only limited applications. Also the first ball-point
pens ... , they blotted skipped and stopped writing on paper and even leaked into pockets.
... The first transistors were expensive and had sharply limited frequencies, power
capabilitites and temperature tolerance; some observers find they would never find more
than limited application." (CooperiSchendeI1976, S. 63).
Dazu kommen die im 'status nascendi' einer Innovation oft vorhandenen
Kostennachteile. Das Beispiel Uhrwerk verdeutlicht, wie bei einem kurzfristigen Betrachtungshorizont der sogenannte Kostenhocker untiberwindlich erscheint, aus Sicht
eines langfristig orientierten Betrachters aber nur ein temporares Phanomen darstellt.
Analoge Betrachtungen sind im Hinblick auf die Faktoren der funktionalen Qualitiit und
Zuverlassigkeit anzustellen.
Der Kostenhiicker in der Fertigung von Uhrwerken wird eindrucksvoll deutlich beim
Ubergang von der Elektromechanik (Batteriewerk) auf die Elektronik (Quarzwerk), der
in Abbildung I veranschaulicht wird.
Abb. I:
~
Zu gegenwartsbezogene Beurteilung einer Technologie am Beispiel des
Ubergangs auf elektronische Uhrwerke
Arbeitskosten fUr
die Uhrwerkmontage
Quarzwerk "2000"
20
Kostenhocker beim
Technologieiibergang
(Analog: Qualitatsh5cker)'
10
/
Batteriewerk "830"
(Metallbauweise)
Erfahrungskurve der elektronischen
Uhrwerkstechnologie
Batteriewerk "875"
(Kunststofibauweise)
/-------a
Erfahrungskurve der
elektromechanischen Uhrwerkstechnologie
1962
1971
Quarzwerk "2005"
1978
426
Betrachtet man die Arbeitskosten, die bei der Montage der jeweiligen Uhrwerke
anfallen, sieht man: Die Arbeitskosten beim elektromechanischen Uhrwerk sinken
zwischen 1962 und 1971 durch den Ubergang von einer Metallbauweise auf eine
Kunststoffbauweise.
1m Jahr der Umstellung, 1971, steigen die Arbeitskosten fUr ein elektronisches Uhrwerk
in Quarzbauweise auf den dreifachen Wert des elektromechanischen Uhrwerks. Sie
fallen allerdings in den folgenden Jahren durch gezielte RationaiisierungsmaBnahmen
im gesamten Wertschopfungsnetzwerk ebenso dramatisch auf rund ein Zehntel des
Anfangswerts 4 und liegen dann weit unter dem Wert, der mit der elektromechanischen
Technologie erreichbar gewesen ware. 5
v.
Zu einseitige Auswahl der Experten fUr die Inforrnationsgenerierung
und-bewertung
Welche Inforrnationen wann und mit welchem Zeithorizont erhoben und verarbeitet
werden, urn Chancen und Bedrohungen durch prinzipielle Innovationen zu identifizieren, zu bewerten und zu steuem, hangt entscheidend von den dabei eingesetzten
Experten abo
Sind die Aktivitaten der Experten auf die phanomenologisch abgegrenzten gegenwartigen Produkt-Markt-Segmente sowie ihre Technologie und Produktion bezogen,
wird auch der Erfahrungshintergrund des Experten darauf abgestimmt sein.
Kurz gesagt: Die Experten des Status quo sind durch eine zu geringe Know-how-Basis
nicht unbedingt Experten fUr die zukunftsorientierte Bewertung einer prinzipiellen
High-Tech-Innovation bzw. fur die Einschiitzung ihres Zukunftsmarktes.
Auf dem Intemationalen KongreB fUr Chronometrie 1974 in Stuttgart fiihrten noch die
Experten der elektromechanischen Uhrentechnologie das Wort. Nach ihrer damaligen
Einschatzung sollte sich die elektromechanische Uhr in den billigen Preislagennoch 10
bis 20 Jahre behaupten konnen (vgl. Baier 1976). Ein Experte der Halbleitertechnologie
hatte bereits zu diesem Zeitpunkt - u. a. mit Uberlegungen zum Moore'schen Gesetz die Aussage als eklatante Fehlprognose abtun konnen (vgl. die unterschiedlichen
Erfahrungskurven in Abbildung 1).
Ein ahnliches Fehlurteil eines fiihrenden Getriebexperten war auf einer Fachtagung zu
hOren, die sich 1982 mit den moglichen Implikationen des technischen Fortschritts auf
die Getriebetechnik befaBte. Dieser sah in der Mikroelektronik weder auBergewohnliche
Chancen noch Bedrohungen. Allenfalls hielt er sparliche Werkstoffverbesserungen fUr
tiberdenkenswert. Nichts war zu hOren von der bereits im Gang befindlichen
Innovationsdynamik auf dem Gebiet der Antriebstechnik (regelbare Antriebe) und dem
Trend, mit Hilfe von Inforrnations- und Leistungselektronik Kupplungen und Getriebe
teilweise oder vollig zu substituieren oder mit den Antrieben zum System zu integrieren.
Zurn Beispiel wurden bei einem Waschmaschinenhersteller schon 1983 - ein Jahr nach
der erwahnten Fachtagung - die fremdbezogenen Getriebe und Kupplungen fast vollig
durch die Siemens-'Siemodom'-lnnovation substituiert.
427
Wie erklaren sich solche Fehlurteile?
Statt sich fundierte, zusatzliche und fUr ihn subjektiv neue Informationen tiber die neue
Technologie zu besorgen, tibertragt der Manager seine Erfahrungen mit der alten
Technologie in einer Art Extrapolation auf die neue Technologie und beurteilt diese aus
der Vergangenheitsperspektive.
Sein Urteil gerat in eine Extrapolationsfalle (vgl. Staudt 1974, S. 70) und muJ3
zwangslaufig zum Fehlurteil werden, weil die Voraussagen bzw. Einschiitzungen auf
falschen Fundamenten stehen bzw. von falschen Rahmenbedingungen ausgehen.
Wer z. B. die Intensitat der Miniaturisierung bzw. der Tendenzen zum Preisverfall auf
dem Gebiet der Elektronik einschatzen mochte, die wichtige Voraussetzungen fUr die
Entwicklung regelbarer Antriebe waren, kann dies veriaBlich nur erreichen, wenn auf
fundierte Kenntnisse u. a. der Planartechnologie in der industriellen Anwendung
zuruckgegriffen werden kann (vgl. Queisser 1985, S. 186 ff.), auf denen auch das
vorerwiihnte 'Moore'sche Gesetz' griindet.
Noch viel gefahrlicher als die inhaltlichen Probleme, die die Experten der Gegenwartstechnik bei der Beurteilung neuartiger Zukunftstechnologien haben, sind die
Probleme bei der Einschatzung der Geschwindigkeit der Veranderungsdynamik neuer
Technologien. Man miBt sie mit den MaBstaben der eigenen, tiberholten Technik und
manovriert sich durch ein vollig falsches Timing in seinen Innovationsplanungs- und
Steuerungsprozessen in eine Zeitfalle. Statt Schnellstart und Aufrechterhaltung eines
Schnellaufertempos, wie es die neue Technologie fordert, bleibt man beim
Spaziergangertempo, mit dem man bei der seitherigen Technologie hochst erfolgreich
war.
Hierzu findet sich bei Drucker ein aufschluBreiches Beispiel. Als 1948 in den Bell Labs
der Transistor erfunden wurde, erkannte man in der Unterhaltungse!ektronik, bei Radiound Fernsehgerateproduzenten sofort, daB er die Vakuurnrohre einmal ablOsen wiirde.
Die in der Welt damals fuhrenden Geratehersteller - aile aus den USA - 'untersuchten'
den Transistor naher und stellten sich in ihren Langfristplanen darauf ein, 'urn das Jahr
1970' auf Transistoren umzurusten. So lange werde es dauern, bis der Transistor
einsatzreif sei.
Unbeschwert von den Erfahrungen der Rohrentechnologie handelte Sony sofort, erwarb
Produktionslizenzen fur den Transistor und brachte zwei Jahre spater das erste tragbare
Transistorradio heraus - mit einem Fiinftel des Gewichts und zu einem Dritte! des
Preises marktgangiger Radios. Drei Jahre spater hatte Sony den Billigradiomarkt in den
USA erobert und funf Jahre spater beherrschten die Japaner den gesamten RadioWeltmarkt in samtlichen Preislagen (vgl. Drucker 1985, S. 143).
C. Funktionalmarkt-Konzept als Methode einer zukunftsorientierten
Planung prinzipieller High-Tech-Innovationen
Nachfolgend soil das sog. Funktionalmarkt-Konzept zur Planung prinzipieller HighTech-Innovationen in wesentlichen Ztigen dargestellt und anhand mehrerer Beispiele
erlautert werden. 6 Einen Oberblick gibt Abbildung 2.
428
Abb. 2:
Uberblick tiber den ProzeB einer Funktionalmarkt-Analyse
E ploratioo
Enninlung des
Funktion 1m rkts
aller nwendungen fllr cine
bestimmle Technologie
Enniltlung des
FunktionalmarkU
aller polenlielle ubslitutionslechnologicn, mil denen eine
Technologie konlrurrien
Bewertung
(inncrtWb
eines Funk-
uonahnarlas)
Operationa . i rung rei vanter
Bewertu
m~rk'"
Bestimmu d r erkmaJs..
au prlgungeu filr aktuelJ
und zukOJJftigeZeitpunkte
erdicbtun und
Interpretation
StrategieformuIi rung
I.
-
ermarkton tnt 1 (Welcher TeUmark des Fuotioualmarlcts aIs
Gesamnnarkt 011 e!Schlossen werden? Gehen wir auf neue MlIrkte?)
- Tecbnologi Integie (Wechsel auf neue Technologien?)
- Organ ' ation (Venture Units, Kooperationen, Akquisitionen, .. ?)
Exploration
1m Zuge der Technologieplanung dient die Explorationsphase einerseits der Ennittlung
des aller Anwendungen bzw. Mdrkte, in denen eine (neue) Technologie aufgrund ihrer
technischen Funktion prinzipiell vennarktet werden konnte. So Hillt sich beispielsweise
ein Mikroprozessor weit tiber die Computertechnik hinaus vennarkten. Ein weiteres
Einsatzgebiet sind zurn Beispiel Kraftfahrzeuge: so sind in einem typischen
Oberklassewagen inzwischen bis zu 30 Prozessoren zu finden (vgl. O.V. 1997a).
Daneben existieren zahlreiche, nahezu unzahlbare weitere Einsatzfelder yom Einbau in
"Lichtschalter bis (in femer Zukunft) zum menschlichen Korper". Der Uberblick
dariiber, in welchen Markten und Anwendungen eine (neue) Technologie prinzipiell
vennarktet werden kann, ist beispielsweise eine entscheidende Frage, wenn es fur
technologieorientierte Untemehmensgriindungen urn die Beschaffung von Venture
Capital geht (vgl. Klaus 1988).
Andererseits hat flir jedes High-Tech-Untemehmen die Fragestellung hohes Gewicht,
mit welchen (neuen) Technologien man zukiinftig in einem bzw. mehreren bestimmten
Markten konkurriert. Bei dieser zweiten moglichen Perspektive geht es also urn die
429
Identifizierung samtlicher technologischer Altemativen bzw.
potentieller
Substitutionstechnologien.
Bei der Exploration kommt der Art der Technologie- und Bedarfsbeschreibung zentrale
Bedeutung zu. Diese kann struktur- oder fonktionsorientiert erfolgen. Eine strukturorientierte Beschreibung zielt auf die Charakterisierung artmiilliger und riiumlich-geometrischer Eigenschaften. Beschreibungskriterien sind z. B. Farbe, Form und Abmessungen
eines Techniksystems. Weil eine solche Form der Technologiebeschreibung an
unmittelbar wahrnehmbaren Sachverhalten und Gegenstiinden (den 'Phiinomenen') ansetzt, liillt sich auch von einer strukturorientiert-phanomenologischen Beschreibung
sprechen.
Dagegen steht bei einer funktionsorientierten Charakterisierung im Vordergrund, daB
eine Technologie das Mittel fUr einen bestimmten Zweck darstellt: "A technology in this
sense is a form of solution to the customer's problem".? Dementsprechend setzt eine
funktionale Technologiebeschreibung am eigentlichen Problem des Anwenders an. 8 Da
sich jede funktionale Beschreibung von der Ebene konkreter Produkte lost, also eine
Abstraktion darstellt, sprechen wir auch vonfonktional-abstrakter Beschreibung.
Warum ist diese Unterscheidung so maBgeblich? Beschreibt ein Schliisselhersteller die
von ihm produzierten Produkte nach phiinomenologischen Kriterien, wiirde er diese
nach ihrem Aussehen z. B. als Buntbart- oder Zylinderschliissel beschreiben. Fragt er
aber nach dem tieferliegenden funktionalen Bedarf seiner Kunden, liillt sich dieser
funktional-abstrakt als Bedarf nach Sicherheit klassifizieren. Der Hersteller agiert auf
dem Funktionalmarkt fUr Sicherheit. Der hier eingefiihrte Begriff des Funktionalmarkts
betont die Wichtigkeit einer funktional-abstrakten Beschreibung. 9 Der Funktionalmarkt
umfaBt alle Technologien, mit denen sich altemativ eine bestirnmte nachgefragte
Funktion realisieren bzw. das entsprechende Problem losen liillt. Zum Funktionalmarkt
fUr Sicherheit - genauer 'Zugangskontrolle' - gehOren deshalb neben mechanischen
SchlieBsystemen auch strukturell vollig andere Technologien aus dem Bereich der Mikroelektronik und Sensorik (vgl. Abbildung 3). Sie sind funktional aquivalent, d. h.
auch eine Chipkarte, eine PIN-Nummer oder der menschliche Augenhintergund dienen
wie ein 'dummer' Schliissel als Informationsspeicher, mit dessen Hilfe sich ein
Zugangssuchender autorisieren kann.1O Der Schliisselhersteller steht vor der
Herausforderung, sich in Form einer systematischen Bewertung mit dem Bedrohungsund Chancenpotential dieser prinzipiell neuen, von den 'Riindem kommenden'
Technologien auseinanderzusetzen, die er bei einer strukturorientierten Betrachtung
vollig iibersehen hiitte.
430
Abb.3:
Technologische Altemativen im Funktionalmarkt 'Zugangskontrolle'
r
Funktion icberbeit
Zugangsbarrieren
aufbauen und erhalten
Zugangsbarrieren
(tempom) Offnen
I
lichen materiaJisienen
Identifwerungsobjektes
("Was man Is,.)
materiaJisierten
Identifiz.ierungsobjekles
(" Was man hal")
D lur Bas
du >I«I!IJJIiJ/
TKb 010
TtthnOIogltD auf Bas
dtr 'o/IkrodeJrtrofliJr
Auch fUr einen Chipkartenhersteller wirkt eine funktional-abstrakte Beschreibung seiner
Technologie und ihrer moglichen Markte perspektivenerweitemd. Eine Chipkarte laBt
sich ja nicht nur als Substitutionsmoglichkeit fUr typische Anwendungen des
mechanischen Schliissels einsetzen (also das 'Aufsperren' physisch betretbarer Raume).
Die Chipkarte als ' identifikationsgeeigneter Inforrnationsspeicher' errnoglicht es im
Gegensatz zu mechanischen Schliisseln auch, etwa an einem Bankautomaten oder einem
vemetzten PC den Zugang zu virtuellen Raumen wie einem Bankkonto bzw. einem
Rechnemetz zu kontrollieren .
II. Bewertung
1.
Ermittlung des Voraussetzungs- und Konsequenzenzusammenhangs der
untersuchten Technologien
Die Bewertung beginnt mit der Konzeption sogenannter Prinzipkonstruktionen. Urn die
betrachteten Technologien herum wird ein Bild zukiinftiger vor- und nachgelagerter
sowie komplementarer Systeme gezeichnet. Gerade bei neuen Technologien, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nur dem technischen Prinzip nach bekannt sind, wird der
Bewertende auf diese Weise gezwungen, einen umfassenden Uberblick iiber die
jeweiligen Voraussetzungen und Konsequenzen des Technologieeinsatzes zu geben
(vgl. WeiB 1989, S. 205 ff.). Prinzipkonstruktionen sind noch keine Prototypen oder
Pilotanlagen. Als ein erstes, umfassendes Konzept schaffen sie vielmehr den geistigen
GrundriB fur ein zukunftiges Produkt- bzw. Technologiesystem, legen aber noch keine
431
konstruktiven Einzelheiten fest. 1m Rahmen eines Gesamtkonzepts werden also noch
keine 'detail-controlled parts', sondern eher black boxes konzipiert,ll fur die
Funktionen, nicht aber konkrete Strukturen wnrissen werden. So werden auch die
erforderlichen Komplementiirinnovationen deutlich, die bei technologischen Systeminnovationen im ProzeBgeflecht mehrstufiger WertschOpfungsnetzwerke bewirkt
werden mussen. Prinzipkonstruktionen konnen somit auch als Ausgangspunkt eines
differenzierten FuE-Programms gesehen werden, das einen gestuften Plan fur die Realisierung einzelner Entwicklungsschritte und die gezieite Steuerung von FuERessourcen liefert.
Die Bewertungsphase beinhaitet also zuerst die Kliirung der Voraussetzungen und
Konsequenzen von Neuerungen a) im technischen Gesamtsystem komplexer SystemIOsungen sowie b) im gesamten Netzwerk aus anvisierten Anwendern und Lieferanten
komplementiirer materieller und immaterieller ProblemlOsungskomponenten.
Die Notwendigkeit zur sorgfaItigen Ermittlung des jeweiligen Voraussetzungs- und
Konsequenzenzusammenhangs verschiedener Technologien unterstreicht das Beispiel
der digitalen Fotografie a1s' prinzipieller Alternative zur heute dominierenden
chemischen Fotografie. 12 Das System 'Digitale Fotografie' umfaBt nicht nur die
optoelektronischen Sensoren und Speicherchips in der Kamera. Nur zusammen mit
einer Hardware- und Softwareperipherie aus Drucker, zusiitzlichen Speichermedien,
Bildbearbeitungs- und Bildarchivierungsprogrammen kann die yom Nutzer gewiinschte
Funktion realisiert werden. Das gesamte F oto-Wertschopfungsnetzwerk andert sich: Bei
den Herstellern von Komponenten und Systemen ist ein vollig anderes Wissen a1s bei
der chemischen Fotografie notwendig. AuBerdem setzt der Umgang mit diesen Bausteinen eines elektronischen Fotosystems bei den Anwendern ein ganz anderes Know-how
voraus. Uberdies werden die Dienste der Foto-Entwicklungslabors obsolet.
Ein iihnliches Bild zeigt die Prinzipkonstruktion eines elektronischen Zugangssystems,
bei dem u. a. eine EDV-Umgebung zur Priifung und Verwaltung der Zugangsdaten
erforderlich ist.
2.
Operationalisierung relevanter Bewertungsmerkmale
Sind die zu untersuchenden Technologien und ihre Voraussetzungen analysiert, sind
systematisch Bewertungskriterien abzuleiten, anhand derer sich Aussagen uber die
Technologieattraktivitiit treffen lassen. Darunter versteht man die technisch-wirtschaftliche Eignung einer bestimmten Technologie im Vergleich zu anderen (vgl. PfeifferlDogl
1986, S. 15).
Dabei konnen drei ubergeordnete Eignungsdimensionen differenziert werden: Die
technisch-fimktionale Eignung beschreibt die technische Leistungsflihigkeit einer
Alternative, z. B. die Speicherkapazitiit eines neuen Speicherchips. Die Integrationseignung beschreibt, wie gut (oder schlecht) eine Technologie aufgrund spezifischer
Eigenschaften in die Systemumgebung vor- und nachgelagerter sowie komplementarer
Systeme integriert werden kann. Typische Fragen in bezug auf die okonomische
432
Eignung sind etwa: Welche Kosten entstehen bei der Herstellung? Welche Preise sind
moglich? Welche Kosten entstehen beim Einsatz einer Technologie?
Ein Fotosystem muB sich unter anderem an folgenden Kriterien messen iassen:
Bildauflosung, Farbgenauigkeit, Bedienerfreundlichkeit, Zeitdauer bis zum
EndbildITime-to-Visualize (technisch-funktional), Kompatibilitiit mit dem Wissensund Infrastrukturhintergrund moglicher Nutzer (Integrationseignung), einmalige Kosten
einer Kamera und der erforderlichen Peripherie sowie laufende Kosten fUr Fotos
(okonomische Eignung). Dagegen ist bei einem SchlieJ3system zum Beispiel relevant,
welche Sicherheitsqualitiit erreichbar ist und ob sich zusiitzliche Funktionen (z. B. die
Dokumentation von Zugiingen) ermoglichen lassen.
3.
Bestimmung der Merkmalsauspragungen ffir aktuelle und zukfinftige Zeitpunkte
1st ein System von relevanten Bewertungsmerkmalen festgelegt, schlieJ3t sich die
Bewertung i.e.S. an, d. h. die Zuordnung von Merkmalsauspragungen bzw. von
verwertbaren externen und internen Informationen. Hierbei ist entscheidend, daB eine
zukunftsorientierte Bewertung erfolgt. Dies ist wichtig, da neue technologische Potentiale erst im Zeitablauf erschlossen werden und sich die Umfelder des
Technologieeinsatzes gravierend veriindern konnen, so daB eine aktuell scheinbar noch
wenig attraktive Technologie aufgrund von Weiterentwicklungen in bezug auf die
technische Funktionalitat und das Kostenpotential massiv an Relevanz gewinnen kann.
(1) Die erste 'ZukunftsgroJ3e' stellt das technische Weiterentwicklungspotential der betrachteten technologischen Alternativen dar. Mit Hilfe des S-Kurven- und des
TechnoZogie-PortJolio-Konzepts lassen sich begrilndete Annahmen liber die zukiinftige
Leistungsfahigkeit und maximal denkbare Leistungsgrenzen treffen (vgl. Foster 1986
bzw. PfeifferlDogl 1986). Entscheidend ist hierbei die empirisch vielfach bestatigte
Erkenntnis, daB gerode 'junge' Technologien meist liber ein enormes Weiterentwicklungspotential verfUgen, wogegen sich bei 'alten' Technologien auch mit einem
sehr hohen Einsatz an FuE-Mittel kaum mehr Verbesserungen erzielen lassen.
(2) Komplementiir zum S-Kurven-Konzept macht das ErJahrungskurvenlwnzept
Aussagen zur Entwicklung der Stiickkosten. Wiihrend zu Beginn des
Technologielebenszyklus sehr hohe Kosten typisch sind (Stichwort: Kostenhocker),
fallen mit zunehmender Produktionsmenge und -erfahrung die Preise
technolgisv~r
Produkte und Verfahren oft dramatisch (vgl. Pfeiffer/WeiJ3 1990,
S. 21 ff.).
Interpretiert man die Erfahrungskurve ganz allgemein als inverse Know-how-Kurve,
sieht man, daB Lern- und Verbesserungseffekte nicht allein bei den WertgroBen bzw.
Kosten wirken. Auch auf GroBen wie die Qualitat bzw. ie Produkt-Performance ganz
allgemein gehen bei zunehmender Erfahrung und Know-how-Gewinn positive Effekte
aus, die in einer zukunftsorientierten Planung nicht vernachlassigt werden diirfen.
Betrachtet man beim Vergleich alternativer Fototechnologien das Merkmal
'Bildauflosung' aus der Gegenwartsperspektive, ergibt sich eine hohe Uberlegenheit der
433
konventionellen chemischen Fotografie. Die realisierbaren Auflosungen liegen derzeit
noch eine Gro13enordnung tiber der mit optoelektronischen CCD-Sensoren erreichbaren
Auflosung (ca. 1 Mio. versus 20 Mio. Pixel pro Bild).13 Allerdings gilt: Die
konventionelle Technologie wird seit gut 100 Jahren perfektioniert und s1513t hinsichtlich der maximal moglichen Bildauflosung allmahlich an naturwissenschaftlichphysikalische Grenzen. Der obere Rand der S-Kurve scheint nahe. Demgegentiber steht
die digitale Fotografie erst am Anfang ihrer Entwicklung. Berucksichtigt man hier die
Entwicklungsdynamik im Bereich der Halbleitertechnologien,14 ist klar, daB die digitale
Fotografie die Grenze ihrer Leistungsfahigkeit noch lange nicht erreicht hat. Zudem
ergeben sich bereits heute gravierende technisch-funktionale Vorteile. So erlauben es
digitale Fotosysteme, die auf Chip gespeicherten Daten sofort in ein 'Endbild' zu
verwandeln - der chemische Film muB erst entwickelt werden und hat dementsprechend
eine deutlich langere Time-to-Visualize.
Richtet man den Fokus auf die okonomische Eignung der Technologiealternativen,
stach noch vor wenigen Jahren das 'Killerargument' ins Auge, mit Anschaffungskosten
von bis zu 50.000 DM seien Digitalkameras wohl allenfalls fUr professionelle Fotografen eine Alternative. Bereits heute sind aber Modelle fUr den Hobbyfotografen
erhaltlich, die bei reduzierter Bildqualitat weniger als 1.000 DM kosten.1 5 Berucksichtigt man, daB mit einem Anstieg der produzierten Menge an Chipkameras die Kosten und analog dazu die Preise entsprechend dem Erfahrungskurvenkonzept betrachtlich sinken werden und die notwendige Peripherie (PC und Drucker) ohnehin
vorhanden sein wird, laBt sich voraussagen, daB auch viele Hobbyfotografen in Zukunft
zur digitalen Kamera greifen werden.
Ganz analog laBt sich fUr unser zweites Praxisbeispiel feststellen, daB etwa die
'Treffsicherheit' von Bilderkennungssystemen im Laufe der Zeit immer mehr gesteigert
werden konnte (vgl. Peters 1997), und die Preise fUr Zugangskontrollsysteme auf der
Basis von Mikroelektronik und Sensorik kontinuierlich sanken (vgl. DUrand 1996, S.
97)
4.
Verdichtung und Interpretation
Die zur Technologieattraktivitat gewonnenen Einzelinforrnationen lassen sich mit Hilfe
des N utzwertalgorithmus (vgl. Zangemeister 1971) zu einem einzelnen Wert verdichten
und in einem Technologie-Portfolio visualisieren (vgl. Abbildung 4). In diese Betrachtung muB auch die vorhandene Ressourcenstarke eines Unternehmens einflieBen.
Diese gibt an, tiber welche finanziellen, technischen und personellen Potentiale die
bewertende Unternehmung im Vergleich zu potentiellen Konkurrenten verfUgt (vgl.
Pfeiffer/Dogi 1986, S. IS).
434
Abb. 4:
Technologie-Portfolio zur Visualisierung von Technologiepositionen
o
O
2
3
4
~-L"'
o
Res oureen tiirke
-i
-'
2
4
Ressoureenstiirke
Oigitalelektroo' c.be FOlografie
CF Cbemiscbe Fotogralie
( iJberbalogeoKlrolografie)
[F
TechllOlogiepos.(.onen
zum Zeitpunkt "
•
TechllOlog'ep05.(ionen
zwn Zeitpunk\ t,
Die Positionen im Technologie-Portfolio legen dem betroffenen Untemehmen
unterschiedliche Investitions- bzw. Desinvestitionsstrategien nahe. Grundsatzlich gilt: Je
hOher die zukiinftige Attraktivitat einer Technologie im Vergleich zu anderen, um so
mehr ist in den Aufbau des entsprechenden Technologie-Know-hows zu investieren.
Sinnvoll ist ein solches Investment natiirlich nur dann, wenn nicht schon zahlreiche
Konkurrenten diese Chancen friiher erkannt und die notwendigen FuE-Aktivitaten in
Gang gesetzt haben. 16
So standen die Hersteller mechanischer SchlieBsysteme bereits seit Mitte der 70er Jahre
vor der strategischen Herausforderung, ihr Know-how in Richtung Mikroe1ektronik zu
erweitem (vgl. 1 in Abbildung 4). 1m Zuge ihrer strategischen Planung friih erkannt
haben dies nur wenige - die Kiekert AG, ein Hersteller von Kfz-SchlieBsystemen, ist
eine positive Ausnahme. Und auch dort steht man durch die zunehmende Vemetzung
und Integration der Kfz-Elektroniksysteme vor neuen Herausforderungen (vgl.
Schrey/SchneiderlSiedentop 1995).
Fiir die Untemehmen der Fotobranche ergibt sich seit Mitte der 80er Jahre ein analoges
Bild (vgl. 2 in Abbildung 4).
III. Strategieformulierung
Die Ergebnisse der Planung miissen zunachst in eine Eingrenzung des fur ein
Untemehmen relevanten Teilmarkts in bezug zum Funktionalmarkt als dem maximal
denkbaren Gesamtmarkt flihren, auf dem man mit einer bestimmten Technologie
435
agieren will. Diese Entscheidung uber den Teilmarkt eines Untemehmens muE
anschlieBend in konkrete Aktivitaten der Know-how-Gewinnung miinden, wenn neue
Technologien und Marktchancen erschlossen werden sollen. Ein sachlich und zeitlich
gestuftes Handlungsprogramm zur Ressourcensteuerung ist erforderlich, das aus der
Prinzipkonstruktion des neuen Technologiesystems und den erkannten Know-howLucken abgeleitet werden kann. Kooperationen mit Produzenten komplementarer
Technologien sind zu planen und durchzufiihren. Gegebenenfalls ist die eigene Knowhow-Basis durch Akquisitionen zu erweitem.
Entscheidenden EinfluE auf den Erfolg von Bemuhungen, als etabliertes Untemehmen
die Entwicklung einer neuen Technologie zu forcieren, die langfristig die bestehende
Technologie 'kannibalisieren' soll, hat nicht zuletzt die organisatorische Gestaltung der
Innovationsaktivitaten. Ein typischer Fehler ist es, wenn die Neuentwicklung der
innovativen Technologie und die Weiterentwicklung der alten Technologie
organisatorisch, personell und raumlich nicht getrennt werden.
Nur so kann verhindert werden, daB der angestrebte Ubergang zu einer prinzipiell neuen
Technologie und oder neuen Markten sich schon im intemen Gestrupp der
Interessenkollisionen personeller Art sowie in bezug auf Ressourcen und Zeitbudgets
verfangt (vgl. WeiB 1989).
Die generelle Forderung an die Planung strategischer Innovationsaktivitaten lautet
folglich: Die Identifizierung prinzipiell neuer Technologien und die Bewertung ihrer
Marktchancen muB durch die stringente Planung der organisatorischen Umsetzung
komplettiert werden. Andemfalls liegen die gewonnenen Erkenntnisse brach und
wertvolle Zeit auf dem Weg zu marktfahigen Produkten verstreicht ungenutzt.
George Fisher, der Anfang 1994 yom Elektronikkonzem (!) Motorola als CEO zu
Kodak wechselte, scheint diese organisatorische Notwendigkeit des Agierens im
Bereich neuer Technologien erkannt zu haben. Die neugegriindete Digital Imaging Unit
hat die Aufgabe, umfassendes Know-how im Bereich der elektronischen Fotografie
aufzubauen (vgl. Nulty 1995). Die hohe Kunst der aktiven Veranderung etablierter
Marktfiihrer wie Kodak ist jedoch, das Geschaft der Zukunft zu betreiben, ohne die
Zugel in den Geschaftsfeldem der Gegenwart bzw. der traditionellen Technologie
schleifen zu lassen.
D. Einige Bemerkungen zu Voraussetzungen und Grenzen
Mit dem Funktionalmarkt-Konzept wird ein Instrument vorgestellt, das unseren
Untemehmen helfen soll, "die Chancen von morgen ebenso kompetent zu managen wie
die Geschafte von heute." (HameliPrahalad 1992, S. 55). Es hilft, sich im unwegsamen
Gelande des offenen Entscheidungsfelds im FrUhstadium einer prinzipiellen High-TechInnovation zu orientieren.
Die Methode lebt von der konsequenten interdisziplinaren Zusammenarbeit und
Kommunikation zwischen FuE, Produktion, Marketing und Vertrieb, Finanz- und
Rechnungswesen sowie Experten auBerhalb des Untemehmens. Die Vermeidung von
Einseitigkeit
gebietet
schon
die
sinngemaBe
Anwendung
von
Gutenbergs
436
Ausgleichsgesetz der Planung (vgl. Gutenberg 1969, S. 162 ff.). Der Umfang und die
Priizision der mittels des Funktionalmarkt-Konzepts zu generierenden Informationen
sind somit abhiingig davon, wie in einem Untemehmen Lemen durch eine
entsprechende Kultur und Organisation gef6rdert wird. In diesem Zusarnmenhang darf
nicht unerwahnt bleiben, "daB die wichtigste Ressource am Anfang der Entwicklung
eines neuen innovativen Geschaftsfelds nicht das Geld ist, sondem Geschick und
Zuwendung an Zeit von Seiten des Managements." (HamellPrahalad 1992, S. 55).
Jeder Kenner der Praxis wird bestatigen, daB es an dieser Ressource in vielen Fallen
mangelt, weil man sich dem Sog der Vordringlichkeiten, die das Wichtige verdriingen,
nicht entgegenstellt und so zum Gefangenen des Tagesgeschafts wird.
Ein Letztes: Selbst bei besten Voraussetzungen sowie absolut kompetenter Anwendung
des Funktionalmarkt-Konzepts kann man sich nicht tiber die Tatsache hinwegsetzen,
daB die daraus abgeleitete Innovationsstrategie bzw. -steuerung, die oft erhebliche
Ressourcen fordert bzw. bindet, auf sehr komplexen Voraussetzungen,
Wechselwirkungen und Trends griindet, die zu einem weiten Teil hypothetischen
Charakter haben. Wenn nun der Schumpetersche Untemehmer fehlt, der die Signale auf
'Go' stellt, indem er im Luhmannschen Sinne die Verantwortung (gegebenenfalls auch
fUr das Scheitem) tibernimmt, also die UngewiJ3heit fUr alle tibrigen Handelnden im
Untemehmenssystem absorbiert, stoBen auch die exzellentesten Methoden an ihre
Grenzen. Es ist das Verdienst Erich Gutenbergs im Zusarnmenhang mit seiner
Konzeption des dispositiven Faktors auf die zentrale Rolle der Personlichkeitsstruktur
des Untemehmers bzw. Managers fUr eine gedeihliche Entwicklung eines
Untemehmens nachdriicklich hingewiesen zu haben: "Oft fehlt die Weite des Wurfes,
die groJ3es Konnen auszeichnet. Oft auch ist das Verhalten ... mehr pas siver als aktiver
Art, und selten nur steigert er sich zu ganz groBem Format." (Gutenberg 1969, S. 7).
Anmerkungen
Man erkennt an dieser Stelle gut, daB prinzipielle Innovationen und ihr Chancen- und
Bedrohungspotential sowohl von potentiellen Produzenten- als auch (Weiter-)Verwendersystemen unterschiitzt werden konnen. Das Intel-Marketing verkannte das enorme Absatzpotential. - Die deutschen Maschinenbauer sahen keine Verbesserungsmoglichkeiten flir
Prozesse und Flexibilitat (vgl. Kapitel A.).
2 Vgl. Luhmann 1964, S. 172 f., der die Absorption von UngewiBheit flir die Untergebenen
als Kern dessen bezeichnet, was mit Verantwortung einer Fiihrungskraft gemeint ist.
3 Vgl. Ropoh11979, S. 294, der den Unterschied zwischen der Entdeckung eines naturwissenschaftlich-technischen Effekts (Kognition) und einer Erfindung (Invention) folgendermaBen
beschreibt: "Zwischen Kognition und Invention liegt, mit einem Wort, die Nutzungsidee."
Erfinden bedeutet also, daB das Wissen iiber technologische Potentiale und das Wissen iiber
deren mogliche (hypothetische) Anwendungen bzw. Markte 'zusammenfinden'.
Hier wird auch die Feststellung von Pfeiffer 1971, S. 113 klar, daB man Erfindungen - und
damit den zukiinftigen MarkterfoIg der jeweiligen Technologien - im Grunde nur dann
voraussagen kann, "indem man diese Erfindungen selbst macht."
4 Neben den Arbeitskosten waren es auch die wesentlichen Kostenriickgange bei den anfangs
sehr teuren Komponenten und Materialien (z.B. integrierte Schaltungen und Quarze), die
diese dramatische Kostenredution ermoglichte.
437
5
6
7
8
9
Vgl. zu diesem Beispiel Rotzschke 1979.
Eine detaillierter Darstellung findet sich bei Pfeiffer/WeiJ3NolzlWettengl (1997).
Abell 1980, S. 172.
Vgl. Volz 1997, S. 34 ff., 37 ff.
Vgl. iihnliche Aussagen bei Levitt 1960, Robert/Weiss 1990, S. 15, Lender 1991, S. 68 ff.
und HamellPrahalad 1995, S. 142 f.
10 Zur Chipkartentechnik vgl. Rankl/Effing 1995 und Klieber 1996. Zu sog. biometrischen
Verfahren, bei denen physiologische Eigenschafien (z. B. bei der Bilderkennung) und/oder
wiederkehrende, aber individuell differenzierbare Verhaltensmuster (z. B. Analyse der
Schreibdynamik) zur Identifikation benutzt werden, vgl. Briiderlin 1995 und Peters 1997.
11 Vgl. zu dieser Unterscheidung ClarkIFujimoto 1991, S. 140 ff.
12 Zu digitalelektronischen Fotosystemen vgl. Gottfried 1997 und Alsop 1997. Bisher wird der
Funktionalmarkt flir optische Standbildinformationen ('Fotos') von der Silberfotografie
dominiert, die auf der foto-chemischen Reaktion von Silberhalogenid-Partikeln mit Licht
beruht. 1m folgenden wird diese kurz als chemische Fotografie bezeichnet.
13 Die Angaben zur erreichbaren Auflosung schwanken bei verschiedenen Autoren. Die
genannten Werte stammen von Burrows/Smith/Brulll997, S. 44.
14 So stellte Z. B. die japanische Toshiba Corp. Anfang 1997 den Prototypen eines neuen
leistungsfahigeren Bildsensors vor, der die herkommlichen CCD-Sensoren ersetzen konnte.
Vgl. O.V. 1997b.
15 Vgl. die Marktiibersicht flir kompakte Digitalkameras bei Knapp 1996, S. 67 ff.
16 Zur Notwendigkeit einer First-Strategie im Zeitwettbewerb vgl. Pfeiffer/WeiJ3 1994.
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Zusammenfassung:
Prinzipielle High-Tech-Innovationen verandem bestehende Mfu'kte radikal und schaffen
haufig vollig neue, wie das Beispiel des Mikroprozessors eindrucksvoll zeigt. Das
Chancen- bzw. Bedrohungspotential solcher Innovationen wird allerdings unterschiitzt,
wenn es Entscheidungstragem nicht gelingt, typische Fehler bei der Erkennung und
Einschatzung des Marktes prinzipieller Innovationen zu vermeiden. Zu diesen
'Fallstricken', die in Kapitel B erortert wurden, gehOrt beispielsweise eine zu stark an
aktuellen Kunden und Branchen ausgerichtete Beschreibung von Technologien und
Bedarfen, die den Blick auf Chancen und Bedrohungen versperrt, die im Sinne Druckers
'von den Randem kommen'.
Das in Kapitel C vorgestellte Funktionalmarkt-Konzept unterstfitzt die Vermeidung
solcher 'Fallstricke'. Dies gelingt z. B. durch eine Beschreibung von Technologien und
ihrer Mfu'kte, die sich konsequent an der Funktion bzw. dem ProblemlOsungscharakter
der Technologien orientiert (daher 'Funktionalmarkt-Konzept'). Die Nutzlichkeit dieser
funktional orientierten Perspektive wurde am Beispiel technologischer Altemativen im
Funktionalmarkt 'Zugangskontrolle' gezeigt. Durch die Integration von Instrumenten
wie dem Technologie-Portfolio-Konzept dominiert in einer Funktionalmarkt-Analyse
per se eine langfristig-dynamische Perspektive, was anhand einer zukunftsorientierten
Bewertung der prinzipiellen Innovation 'Digitale Fotografie ' veranschaulicht wurde.
Summary
Fundamental high-technology innovations radically change existing markets and quite
often create entirely new ones. However, the opportunies these technologies offer as
well as the potential threats they pose will be underestimated if certain mistakes in the
440
identification and assesssment of markets for such fundamental innovations are not
avoided. One of these pitfalls can be the restricted focus on current customers and
market segments only. For the specification of technologies and needs this 'blinkered'
perspective bears the danger of barring the view of the threats and possibilities
emerging, in Drucker's words, 'at the edges'. A too-short-termed perception and narrow
focus on mere figures and actual facts can also mislead decisions concerning
fundamental high-tech innovation projects.
The functional market concept presented here provides appropriate means of bypassing
pitfalls of this kind. One possible way of doing this is by defining technologies and their
markets strictly in terms of their functions and their problem-solving capabilities
(therefore "functional" markets). The use of such tools as technology portfolios, s-curve,
and experience curves will lead to long-term dynamic perspectives.