Eckhard Geitz
Heterotopie und Black Box
Versiegelungskontexte der digitalisierten Psychiatrie
Einleitung
Die Psych-Landschaft1 erstreckt sich längst nicht mehr nur über Nervenkliniken kurz
vor den Mauern unserer Städte, ehemalige Klöster, psychotherapeutische Gemeinschaftspraxen, psychiatrische Ambulanzen, forensische oder psychosomatische Kliniken. Fortgesetzt wird eine mediale Psych-Expansion,2 die Ensembles aus Beziehungen, Praktiken, Apparaten, Dokumenten und Psych-Artefakten betrifft, die am Tun3
der psychischen Erkrankung und Gesundung beteiligt sind. Diese Medialisierung
nahm im 19. Jahrhundert unter anderem durch die Anwendung der Fotografie in der
Psychiatrie und psychophysischer Vermessungen der Wahrnehmung ihren Anfang.
Inzwischen ist ein neuer, digital attribuierter Raum hergestellt, für den so unterschiedliche Begriffe wie Cyberspace, Infosphäre oder Informationscape4 geprägt wurden. Aus Sicht der User*innen der digitalisierten Psychiatrie5 – ehemals Patient*innen
oder Klient*innen genannt – finden (Selbst-)Behandlungen vermittelt über Monitore
ihrer Endgeräte statt. Folgt man den Diskursen der digitalisierten Psych-Landschaft,
kann diversen psychischen Leiden durch Anwendung verschiedener Programme vorgebeugt werden. Allein durch Scans und Analyse etwa der Smartphonenutzung seien
psychische Erkrankungen diagnostizierbar.6 Therapeutische 1:1-Kontakte könnten
durch Chats und Videosprechstunden ergänzt oder gar ersetzt werden. Ein Beispiel,
das den Umfang der Möglichkeiten einer digitalisierten Psychiatrie zeigt, ist, dass
1 In Anlehnung an die „Psy-Funktion“ bei Castel et al. 1982, 64 ff.: „die das Instrumentarium der technisch-produktivistischen Rationalität auf den Menschen anwendet“.
2 Gemeint ist hier der seit dem 19. Jahrhundert steigende Einfluss von Reproduktionsmedien (z. B.
Fotografie) und elektronischen Medien (wie im Abschnitt zur Psychophysik ausgeführt). Laut Sybille
Krämer bestehen zwei wichtige Effekte von Medien darin, etwas Vorgefundenes „in neue Zusammenhänge zu übertragen und damit auch anders sehen und/oder anders gebrauchen zu können.“ Gleichzeitig sind Medienpraktiken auch solche der „Verkörperung“, also der Herstellung oder Manipulation
von etwas. Krämer 2003, 84.
3 Vgl. Mol 2017.
4 Lillemose/Krieger 2015; Floridi 2015 [2014]; Rheingold 1985.
5 Gemeint ist hier nicht die Anstaltspsychiatrie im Sinne von Goffmans totaler Institution oder das
psychiatrische Krankenhaus, sondern die o. g. Psych-Landschaft, die Psychotherapie explizit mit
einschließt. Eine Trennung zwischen Psychotherapie und Psychiatrie wird hier, ganz im Sinne von
Dörner et al. 2019, nicht vollzogen, denn psychiatrisches Tun findet an den unterschiedlichsten Orten
unter Einbindung unterschiedlichster Handlungsträger*innen statt.
6 DGPPN 2018.
Open Access. © 2020 Eckhard Geitz, publiziert von De Gruyter.
Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110701319-008
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selbst das persönliche Einnahmeverhalten von Medikamenten inzwischen durch
Sensoren erfassbar und somit für Ärzt*innen und User*innen unmittelbar sicht- und
dokumentierbar ist.7
Zur Beschreibung dessen, was unter Digitalisierung im Gesundheitsbereich verstanden werden kann, bietet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Definition an:
eHealth is the cost-effective and secure use of ICT [IKT, Informations- und Kommunikations
technologie (Anm. E. G.)] in support of health and health-related fields, including health-care
services, health surveillance, health literature, and health education, knowledge and research.8
Als mHealth versteht die WHO den Einsatz mobiler Geräte zu direkter gesundheitsbezogener Anwendung.9 Telemedizin bezeichnet die Interaktion zwischen Patient*in
und Behandler*in über räumliche Distanz mittels IKT.10 Diese Interaktion ist der Telepsychiatrie zuzuordnen, sofern sie im Bereich der Psychiatrie stattfindet. e-Mental
Health kann als erweiterter Begriff von Telepsychiatrie verstanden werden, unter dem
sowohl Anwendungen mit und ohne therapeutische Begleitung subsumiert werden.11
Sowohl Psychiatrie als auch (ihre) Digitalisierung sind in gewissem Maße unzugänglich, abgeschlossen oder versiegelt. Während die Geschichte des Wahnsinns
eine von Verbannung, Internierung, Absonderung und – seit den 1960er Jahren –
auch der Wiedereingliederung ist, werden IKT ihrem Wesen nach typischerweise als
Black Boxes verstanden, als unsichtbare Technologien,12 deren Funktionsprinzipien
sich bestenfalls Fachleuten erschließen, aber nicht der Mehrheit ihrer Nutzer*innen.
In diesem Artikel wird mit zwei theoretischen Werkzeugen zur Untersuchung von
Kontexten der Versiegelung der digitalisierten Psychiatrie gearbeitet: Vilém Flussers
Konzept der Black Box13 und Michel Foucaults Begriff der Heterotopie14 werden auf die
historischen und empirischen Phänomene von Psychophysik und B
ehaviorismus angewendet und es wird diskutiert, inwiefern sie sich als geeignet erweisen, um Versiegelungskontexte der digitalisierten Psychiatrie zu identifizieren und zu a
nalysieren.
Michels Foucaults Konzeption der Heterotopie und seine Darstellung relevanter
Charakteristika solcher Gegenorte sind Ausgangspunkt der Untersuchung. Im zweiten Schritt wird Vilém Flussers Entwurf der Black Box vorgestellt – in seinem Verständnis eine im Wesentlichen kybernetische Apparateprogrammierung. Die zur
Beschreibung von Heterotopie und Black Box herausgearbeiteten Begriffe werden
7 https://www.abilifymycite.com/ (Stand: 10. 12. 2019).
8 WHO 2016, 5.
9 WHO 2016, 27.
10 WHO 2016, 56.
11 Mucic/ Hilty 2016, 4.
12 Vgl. Latour 2002.
13 Flusser 1989.
14 Foucault 2005 [1984].
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im Weiteren als theoretische Werkzeuge an zwei grundlegenden Knotenpunkten genutzt: am 1879 von Wilhelm Wundt gegründeten Leipziger Institut für experimentelle
Psychologie und an der Schnittstelle zwischen Behaviorismus und Kybernetik, wie
sie 1943 in „Behavior, Purpose and Teleology“ von Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow verzeichnet wurde.
Abschließend wird diskutiert, mit welchen Begriffen sich das Black Box-artige
Anderswo der Psychiatrie in ihrer digitalisierten Version verstehen lässt.
Heterotopie
Die sich ausdifferenzierende Vielgestaltigkeit räumlicher Anordnungen, in denen
Gesellschaft seit der Moderne stattfindet, wird durch die Entwicklung von IKT noch
komplexer. So stellt sich mit Blick auf das Phänomen der Computerisierung samt ihrer
Vernetzung die Frage, wie diese Räume (begrifflich) zu fassen sind. Handelt es sich
bei den neu entstehenden digitalen Räumen um beliebig manipulierbare utopische
Landschaften? Können sich Bildschirminhalte in alles verwandeln, was die Fantasie
von User*innen zulässt? Eine solch emphatische Sicht ist mit dem von Howard Rheingold geprägten Begriff Informationscape verknüpft, der sich auf die bahnbrechende
Entwicklung des augmented window bezieht, eines erweiterten, magischen Fensters,
eines Neben- und Auseinanders von Einheiten eines neuen Raums, den Douglas C.
Engelbart 1968 während der Fall Joint Computer Conference in San Francisco eröffnete.15 Diese neue Virtualität steht am Anfang von inzwischen vollständig in den Alltag
integrierten und stets verfügbaren Miniaturen der Gegenwart.
Seit der amerikanische Schriftsteller William Gibson 1982 die Kurzgeschichte Burning Chrome veröffentlichte, wurde der Begriff des Cyberspace immer populärer, um
vereinnahmende Effekte von Verdatung zu beschreiben.
A graphic representation of data abstracted from banks of every computer in the human system,
the concept has been associated with notions of an all-encompassing digitisation of our existence, perception and awareness, often with dark socio-political overtones.16
15 Präsentiert wurden „Fenster“ auf einem Bildschirm, gesteuert von einer ebenfalls neuesten Entwicklung, der Maus. Die heute so selbstverständlich zur informationellen Wirklichkeit gehörende
Symbolverarbeitung, glich laut Rheingold einer fiktionalen Reise in bis dato ungekannte Welten: „The
symbolic domain, from minutiae to the grandest features, could be rearranged at will by the informationaut, who watched through his window while he navigated his vehicle and the audience witnessed
it all on the big screen. Informational features were reordered, juxtaposed, deleted, nested, linked,
chained, subdivided, inserted, revised, referenced, expanded, summarized – all with fingertip commands.“ Rheingold 1985, 190–191.
16 Lillemose/Kryger 2015.
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Erstmalig verwendet wurde der Begriff jedoch bereits zehn Jahre vor seiner Popularisierung als Name für ein Atelier, in dem es darum ging, über Design-Möglichkeiten
und Wirkungen im Zeitalter der Kybernetik zu reflektieren.17 Zugespitzt wird das Prinzip der Vereinnahmung durch umfangreiche (Selbst-)verdatung und das Internet der
Dinge bei Luciano Floridi, der meint, weit gefasst sei die Infosphäre „ein Begriff, der
sich synonym mit Wirklichkeit verwenden lässt, wenn wir Letztere informationell auffassen. In diesem Fall ließe sich sagen, was wirklich ist, ist informationell, und was
informationell ist, ist wirklich.“18
Um die Andersartigkeit des vernetzten Raums in den Blick zu nehmen, der als
Informationscape, Cyberspace, Infosphäre oder digitaler Raum gefasst werden kann,
scheint Michel Foucaults Konzept der Heterotopie als theoretisches Werkzeug geeignet. „Wir leben“, formuliert Foucault 1967 „im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.
Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden, das sich in
der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte
verbinden.“19
Diese Netzwerkhaftigkeit meint Foucault gegenwartsdiagnostisch und bezieht sie
nur an einer Stelle – und zwar eher beiläufig – auf moderne IKT.20 Entscheidend für
Foucaults Begriff der Heterotopie ist, dass sie – ganz im Gegensatz zur Utopie – im
Hier und Jetzt zu verorten ist. Laut erstem Grundsatz über Heterotopien gehören in
den Bereich des Anderswo der Abweichungsheterotopie etwa Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse und Altersheime, also Räume sowohl zur Versammlung
von Abweichungen und Abweichler*innen als auch zu ihrer Korrektur. Zweitens sei
es für Heterotopien charakteristisch, dass die Räume ihrer Funktion nach Transformationsprozessen unterzogen seien. Zwar führt Foucault als Beispiel für Funktionswandel die Ortsverlagerungen von Friedhöfen in den Städten des 19. Jahrhunderts
auf, doch würden sich zur Plausibilisierung des Funktionswandels auch Anstaltsorte eignen, beispielsweise mittelalterliche Klöster nach der Reformation. Das Kloster Breitenau in Hessen steht exemplarisch für einen solchen Funktionswandel. In
17 Lillemose/Kryger 2015.
18 Floridi 2015 [2014], 64.
19 Foucault 2005 [1984], 931. Ausführlich zur Genese von Foucaults Begriff der Heterotopie: Chlada
2005.
20 „Heute tritt die Lage an die Stelle der Ausdehnung, welche einst die Lokalisierung ersetzte. Die
Lage wird bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen, die man
formal als mathematische Reihen, Bäume oder Gitter beschreiben kann. Andererseits wissen wir, welche Bedeutung Probleme der Lage oder der Platzierung in der heutigen Technik haben. Man denke
etwa an die Speicherung von Information oder von Teilergebnissen einer Rechnung im Speicher einer
Maschine, an die zufallsbestimmte Zirkulation diskreter Elemente (zum Beispiel von Autos im Straßenverkehr oder von Tönen in einer Telefonleitung), an das Auffinden markierter oder codierter Elemente innerhalb einer Menge, die entweder eine Zufallsverteilung aufweist oder durch eindeutige
bzw. mehrdeutige Zuordnung geordnet ist.“ Foucault 2005 [1984], 932–933.
Heterotopie und Black Box
143
den Jahrhunderten nach seiner Auflösung als Schafstall, Kirche, Arbeitshaus, Konzentrationslager, Arbeitslager und Mädchenheim genutzt, werden die letzten psychiatrischen Einrichtungen auf dem Klostergelände gegenwärtig geschlossen. Drittens
zeichne Heterotopien ihre Multiplizität aus, ihre Vielgestaltigkeit. Foucault nennt als
Beispiel das Kino, auf dessen zweidimensionale Leinwand ein dreidimensionaler
Raum projiziert wird. Viertens gebe es etwas wie Heterotopien der Zeit – Orte, wo Zeit
gesammelt wird ‒ wie in einem Archiv oder einem Museum ‒ und Orte, wo Zeit sich
verflüchtigt ‒ wie auf Festen oder Jahrmärkten. Fünftens seien Heterotopien durch
Systeme von Öffnungen und Schließungen charakterisiert. Zugang sei an bestimmte
Konventionen geknüpft, wie – laut Foucault – das Ablegen der Kleidung im Falle der
Sauna. Schließlich zeichne es Heterotopien aus, dass sie zwischen den Polen des illusionären und des realen Raums changieren, dass also der illusionäre Raum gegen den
realen Raum in Stellung gebracht wird und ihn unterminiert. Foucault führt dafür das
Beispiel der Freudenhäuser auf.21
Die Erfordernisse zur Hervorbringung von Heterotopien liegen in Krisen oder Abweichungen. Sie sind Orte des Formens, des Geformtwerdens und des Sichformens.
Insofern ähneln sie dem Dispositiv-Konzept. Die netzwerkartigen Verknüpfungen von
Dispositiven – verstanden als strategische Antworten auf gesellschaftliche Notstände –
sind Verknüpfungen von Praktiken und Beziehungen. Die netzwerkartigen Verknüpfungen von Heterotopien sind solche von Räumen.22 Mit dem Heterotopie-Konzept, so
die vorläufige Annahme, lassen sich also die vielgestaltigen Verknüpfungen und multiplen Räume der digitalisierten Psychiatrie analytisch aufschließen/aufschlüsseln.
Black Boxes
„Wer oder was wurde in der Salpetrière den photographischen Bildern dienstbar gemacht?“23 Diese Gretchenfrage hinsichtlich des Anteils der Fotografie an der Herstellung einer psychischen Erkrankung stellt Georges Didi-Huberman in seiner umfangreichen Studie Erfindung der Hysterie. Ein Gegenstand der Untersuchung ist der
Einfluss der damals noch revolutionären Technologie auf psychiatrische Diagnostik
und Wissensproduktion in der Pariser Salpetrière, eine „Art weiblicher Hölle, eine
città dolorosa, viertausend Frauen, unheilbare oder verrückte, waren in sie eingeschlossen. Ein Albtraum in Paris, in nächster Nähe zu seiner ‚Belle Epoque‘“.24 Die
Fotografie war ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts vollständig in die klinische
Praxis der Salpetrière integriert, ein voll ausgestattetes Fotoatelier war eingerichtet,
21
22
23
24
Vgl. Ziemann 2017.
Vgl. Foucault 1978, 120 ff.
Didi-Huberman 1997, 58.
Didi-Huberman 1997, 8.
144
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inklusive einer Kamera mit Zeitschaltung und 12 Objektiven, die dazu dienten, einen
„großen, vollständigen und regelmäßigen hysterischen“ Anfall aufzunehmen und
zur Grundlage der Typisierung von Hysterie zu machen.25 Das Black Box-artige psychiatrische Anderswo war fortan auch jenseits der Salpetrière mit dem Fotoapparat,
der Black Box per se, verschränkt.26 Die von Didi-Huberman aufgeworfene Frage, wer
oder was in der Psychiatrie der Funktion der Fotografie unterworfen sei, führt zu Vilém Flussers Essay Für eine Philosophie der Fotografie, die durchaus auch als Philosophie seines Begriffs von Black Box gelesen werden kann.27 Flusser versteht das Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert als Zeitenwechsel hinsichtlich der Art und
Weise, wie Menschen kommunizieren, als einen Übergang von Schrift zu Bild. Der informationelle Umbruch, von ihm als „Universum der Technischen Bilder“ bezeichnet,
setzt laut Flusser früher an als in den Konzepten der Informationscape, des Cyberspace und der Infosphäre.28 Entscheidend sei, dass „die ‚Objektivität‘ der technischen
Bilder eine Täuschung ist“, dass hier also tendenziell das Risiko eines Auflösens der
Unterscheidung zwischen Abbild und Abgebildetem liege.29 Das traditionelle, das
gemalte Bild sei noch relativ leicht zu decodieren. Im Wesentlichen gehe es darum,
die Absicht des Malers zu entschlüsseln. Dies sei bei technischen Bildern deutlich
schwieriger:
Zwar schiebt sich auch bei ihnen ein Faktor zwischen sie und ihre Bedeutung, nämlich eine
Kamera und ein sie bedienender Mensch (zum Beispiel ein Fotograf), aber es sieht nicht so aus,
als würde dieser Komplex ‚Apparat/Operator‘ die Kette zwischen Bild und Bedeutung unterbrechen. Im Gegenteil: Die Bedeutung scheint auf der einen Seite (Input) hineinzufließen, um
auf der anderen Seite (Output) wieder herauszufließen, wobei der Ablauf selbst, das Geschehen
innerhalb des Komplexes verborgen bleibt: eine ‚Black Box‘ also.30
Zur Entlarvung der Täuschung durch technische Bilder ist der Blick in das Innere der
Black Box, des Apparates notwendig, wofür Flusser theoretisches Werkzeug in Form
der Fotometaphorik bereit hält. Eine Antwort auf die Frage, wer der Fotografie, den
technischen Bildern, dienstbar gemacht wird, zielt Flusser auf die Verschmelzung
von Apparat und Mensch ab:
Anders als der vom Werkzeug umgebene Handwerker und der an der Maschine stehende Arbeiter ist der Fotograf im Apparat drinnen und mit dem Apparat verflochten. Dies ist eine neuartige
Funktion, bei der der Mensch weder die Konstante noch die Variable ist, sondern in der Mensch
und Apparat zur Einheit verschwimmen.31
25
26
27
28
29
30
31
Didi-Hubermann 1997, 132–133.
Zu Medien und Psychiatrie vgl.: Stingelin 1988; Regener 1999; Regener 2010.
Flusser 1989.
Flusser 1989, 65.
Flusser 1989, 14.
Flusser 1989, 26.
Flusser 1989, 25–26.
Heterotopie und Black Box
145
Diese Verschmelzung liegt vor allem in der Mannigfaltigkeit der Black Box-Programme
begründet, die User*innen auf der Suche nach immer neuem Output immer neue Inputs eingeben lässt; ein unabschließbarer Vorgang. Die Inputs können als Einstellungen zweiter Ordnung aufgefasst werden, da ein Apparat nur insoweit eingestellt
werden kann, wie es bereits durchgeführte Voreinstellungen seitens des Apparateherstellers zulassen. Flusser bringt diesen Umstand auf die knappe Formel, Schwarz
und Weiß seien theoretische Begriffe. Dies gilt grundsätzlich für alle Farben. So bestimmt die Herstellerdefinition etwa der Farbe Gelb, in welchem Gelb ein abfotografiertes gelbes T-Shirt bei gleichen sekundären Einstellungen abgebildet werden kann.
Im Wesentlichen hält Flusser das Fotouniversum seit Beginn seiner Entwicklung für
digital – in seiner Sprache: für „mosaikförmig“32 –, da die Fotoproduktion darauf
hinauslaufe, einzelne Bildpunkte zu programmieren, aus denen dann die Fotografie
entstehe. Diese entspreche der Vergegenständlichung einer Assemblage aus Apparat,
Motiv, Fotograf, Chemie und Einstellungen.
Eine relevante Folge der scheinbaren Objektivität technischer Bilder ist somit,
dass sie Modell für Einstellungen und Verhalten werden. Insofern werden ihnen
gleichfalls die Betrachter*innen dienstbar gemacht. Was von der Bildebene ausgeht,
fasst Flusser im Kern als kybernetische Steuerung auf: Betrachter*innen bekommen
Feedbacks, erleben, erkennen und werten „die Welt in Funktion von Fotos“.33 Kritisch
gesehen heißt das für Flusser:
Nun ist diese Art von Dasein, in dem alles Erfahren, Erkennen, Werten und Handeln in punktartige Elemente (in ‚bits‘) zerlegt werden kann, bekannt: Es ist das Dasein von Robotern. Das Fotouniversum und alle apparatischen Universen robotisieren den Menschen und die Gesellschaft.34
Mit allen apparatischen Universen meint Flusser weitere Black Boxes, die nach dem
Prinzip der Ur-Black Box, dem Fotoapparat funktionieren. Diese verschränkten Black
Boxes, Super-Black Boxes, seien ein Charakteristikum der postindustriellen Gesellschaft, die im Modus dieser Apparate eingestellt wird. In Bezug auf die digitalisierte
Version der Psychiatrie wäre mit SuperBlack Box etwa eine Verschränkung aus Geräten, Programmen, Institutionen, User*innen samt ihrer Praktiken gemeint.
Während Foucaults Begriff der „Kritik“ auf die Rekonstruktion von Herstellungsprozessen, ihrer Genealogie und ihrer Folgen hinausläuft, zielt Flussers Begriff einer
„kritischen Praxis“ auf die Rekonstruktion von (Apparat-)Einstellungen. In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, inwiefern sich diese beiden Ansätze für die Rekon
struktion von Versiegelungskontexten der digitalen Psychiatrie aufeinander beziehen
lassen.
32 Flusser 1989, 64.
33 Flusser 1989.
34 Flusser 1989.
146
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Psychophysik, Behaviorismus, Kybernetik
Erst nachdem Wahrnehmungsprozesse so kalt und unmenschlich erforscht waren, als wären sie
technische Medien, stand der Konstruktion wirklicher Medien, die diese selbe Wahrnehmung
täuschen und/oder simulieren können, nichts mehr im Weg.35
Als prototypisch für den hier von Friedrich Kittler beschriebenen Raum, in dem sich
Voraussetzungen für die Herstellung „wirklicher Medien“ wie Telefon, Grammofon
und Phonograph manifestierten, kann das Institut für experimentelle Psychologie in
Leipzig gelten. In der Psychologie des 19. Jahrhunderts hatte sich ihr Gegenstandsbereich vom Ausdeuten der Seele hin zur Messung empirisch erfassbaren Einwirkens auf das Bewusstsein verschoben. Der Gründer des Leipziger Instituts, Wilhelm
Wundt, begriff diese Verschiebung als Streben nach dem naturwissenschaftlichen
Vorbild.36 Auf diesem Weg der Emanzipation der Psychologie als eigenständige
(Natur-)Wissenschaft folgte Wundt seinen Zeitgenossen Hermann von Helmholtz und
Gustav Theodor Fechner. Helmholtz hatte die Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Empfindung untersucht – etwa beim Farben- und Tiefensehen,37 Fechner
initiierte durch seine Psychophysik38 Verfahren zum Messen der Empfindung.39 Das
Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig wurde der Ort für umfangreiches
Vermessen der Wahrnehmung. Anlässlich einer Festrede zum 500-jährigen Bestehen
der Universität Leipzig stellte Wilhelm Wundt 1909 den Ehrengästen das Institut und
seine 30-jährige Geschichte vor.40 Der Gründer und Leiter des Instituts gab einen detaillierten Bericht über bauliche Bedingungen, Ausstattung der Räume, besondere
Messinstrumente sowie Arbeitsabläufe. Wundt beschreibt die räumliche Anordnung
des Instituts und die damit in Verbindung stehenden Praktiken. Im „Außen“ entsteht
ein netzwerkartig strukturierter Raum, der das Innen dekodieren soll:
Es bleibt schließlich noch zu bemerken, daß alle Räume des Instituts, die zu experimentellen
Arbeiten dienen, untereinander sowohl mit Leitungen für Starkstrom, wie mit solchen für Akkumulatoren und für die Meidinger-Batterie in Nr. 6 versehen sind. Eine solche allseitige Verbindung zum Behuf der Zuführung von Strömen und Kraftquellen, wie von Signalen und Telephonleitungen ist durch die besonderen Bedingungen des psychologischen Experiments geboten,
da dieses für viele Zwecke das Arbeiten der verschiedenen Teilnehmer einer Versuchsgruppe in
getrennten Räumen erforderlich macht. Ebenso ist in diesen Bedingungen die Teilung des Laboratoriums in eine verhältnismäßig große Zahl kleinerer Zimmer begründet, neben denen nur
wenige größere für spezielle räumlich ausgedehnte Versuchsanordnungen nötig sind. Überdies
35
36
37
38
39
40
Kittler 1997, 86.
Wundt 1983a, 2.
Von Helmholtz 1856; Rechenberger 1994.
Fechner 1860.
Eckart 2010, 56 ff.
Wundt 1983b; vgl. zur Geschichte des Instituts Lamberti 1995.
Heterotopie und Black Box
147
ist ein Zusammenarbeiten mehrerer unabhängiger Beobachter in einem und demselben Raum,
wie ein solches in physikalischen und chemischen Laboratorien in der Regel stattfinden kann,
hier durchgehend ausgeschlossen.41
Der Ort beinhaltete nicht nur Instrumente zur Quantifizierung des Tastens, des Hörens, des Riechens, des Schmeckens, des Sehens, des Zeitwahrnehmens, des Raumwahrnehmens, der Aufmerksamkeit und des Gefühls.42 Auch das Gebäude selbst
diente dem Experiment. Das Labor war eine Art programmierter Apparat mit dicken
Wänden und Matratzentüren zum Schallschutz, einem 37,10 m langen Flur, Dunkelkammern, einem von Elektromotoren bewegten Vorhang zum Verdunkeln der Oberlichter im Vorlesungssaal und genau angeordneten Arbeits- und Vorlesungsräumen.
Zum Messarsenal gehörten unter anderem Fallphonometer, Photometer, Druckwaagen für Tastversuche, Stimmgabelserien, Tonmesser, Obertonapparate, Apparate zur
Sonderung und zur Mischung der Farben des prismischen Spektrums und Apparate
zur grafischen Registrierung von Puls, Atmung und Volumenschwankungen infolge
veränderter Blutgefäßinnervation.43 Die Prämisse aller Messungen war, über die Kontrolle der Umweltreize und ihre gezielte und präzise Setzung Aufschluss über innere
Vorgänge, nämlich solche der Seele bekommen zu können:
Es wird eben auch festgestellt das Verhalten der Seele zu den äußeren Einwirkungen, und indem
man diese variirt, gelangt man zu den Gesetzen, denen das psychische Leben als solches unterworfen ist. Die Sinnesreize sind um es kurz auszudrücken, für uns nichts anderes als experimentelle Hülfsmittel. Indem wir die Sinnesreize mannichfach verändern und dabei fortwährend die
psychischen Erscheinungen studiren, bringen wir nur das Prinzip zur Anwendung, in welchem
das Wesen der experimentellen Methode besteht, „wir verändern, um mit Baco zu reden, die
Umstände, unter welchen Erscheinungen auftreten.“
Die Netzwerkartigkeit der Apparateanordnung lässt sich als Vorwegnahme des Internets der Dinge lesen, die schon ganz zu Beginn der Medienepoche der elektronischen
Medien möglichst diskrete Daten erfasste und miteinander verband. Das Leipziger
Institut war beides: Heterotopie und Black Box. Es wurde insofern zu einem Gegenort, als sich hier die experimentelle Psychologie – ganz nach dem Anspruch von
Wundt – als Naturwissenschaft emanzipieren konnte. Damit wurde es zu einem Ort
umfangreicher Wahrnehmungsvermessung und gleichzeitig auch der Vermessung
von Abweichungen. In Funktion der Vermessung überlagerten sich Räume. Es wurden Einstellungen erster und zweiter Ordnung programmiert und gemessen. Der Apparat Institut war eine mit weiteren Apparaten verschränkte SuperBlack Box und die
entstehende Einheit, in der Apparat und Mensch miteinander verschmolzen, kann
41 Wundt 1983b; diverse Artikel zu Messverfahren und den konkreten Abläufen in: Schumann 2004.
42 Wundt 1983b, 525.
43 Wundt 1983b, 519.
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als Herstellungsprozess der modernen Psychologie verstanden werden, die ohne programmierte Messapparate nicht denkbar wäre.
Die experimentelle Psychologie und Wundts Institut waren international und besonders in den Vereinigten Staaten sehr einflussreich. So wurde Wundts Labor etwa
an diversen amerikanischen Universitäten nachgebaut. Doch trotz aller Arbeit an
der Vermessung der Psyche und trotz des entscheidenden Beitrags zur Etablierung
der Psychologie als eigenständige Wissenschaft verlor die experimentelle Psychologie zu Beginn des 20 Jahrhunderts gegenüber der neu aufkommenden Strömung
des Behaviorismus an Bedeutung.44 Zwar beanspruchte die experimentelle Psychologie für ihre Forschung Objektivität, doch genau diese sprach der Behaviorismus ihr
ab.45 Gegenstand der Vermessung ist für den Behaviorismus nicht das Bewusstsein,
sondern das Verhalten von Versuchstieren und Proband*innen.46 Die Prämisse war
nicht nur die prinzipielle Vorhersagbarkeit von Verhalten, sondern gar die Programmierung von Kindern, die bei entsprechender Manipulation der Umweltreize in jedem nur denkbaren Beruf zu Spezialisten werden könnten. John B. Watson betont in
seiner behavioristischen Programmschrift den Vorzug der praktischen Anwendbarkeit der Psychologie, wie er sie versteht.47 Damit verschiebt sich nicht nur der Gegenstandsbereich dessen, was im psychologischen Labor gemessen wird, sondern auch
der Ort der Psychologie selbst. Der Begriff „Umwelt“ bezieht sich nun nicht mehr nur
auf die Bedingungen im Messraum, sondern auf die Umgebung des Menschen ganz
allgemein. Diese formbare Umgebung ist als Arrangement von Reizen operationalisierbar und formt ihrerseits die Praktiken derer, die auf diese Reize reagieren. Anders
gesagt: Es braucht keine Apparateverschränkung mehr, keine zu programmierende
Black Box, auf die Menschen dann reagieren, sondern Menschen werden selbst zur
Black Box, die aufgrund bestimmter Inputs bestimmte Outputs generieren.
Eine abermalige und ausgesprochen folgenreiche Verschiebung des Gegenstands
der (behavioristischen) Psychologie und Entstehungsbedingung für die Kybernetik
markiert das 1943 von Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow verfasste
44 Friedrich et al 1979, 52 ff.
45 „Objektivität war eines der Kriterien Wundts für das Experiment, und die Methode der Introspektion bestand ja gerade im Versuch, die subjektiven Äußerungen der ‚Versuchspersonen‘ zu verobjektivieren, indem man versuchte, die experimentellen Bedingungen, unter denen die Versuchspersonen
zur Mitteilung über ihre Empfindungen und Vorstellungen veanlasst wurden, zu verobjektivieren,
d. h. wiederholbar zu machen.“ Bruder 1982, 24.
46 Mills 1998; John Mills gibt in seiner Arbeit u. a. einen Überblick über diverse Richtungen des Behaviorismus.
47 „Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie
erziehe, und ich garantiere, daß ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in
irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne
Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren. […] Persönlichkeit ist nichts anderes als das Endprodukt unserer Gewohnheitssysteme.“ Watson
1968 [1923], 123.
Heterotopie und Black Box
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Papier „Behavior, Purpose and Teleology“. Rosenblueth et al. legten in ihrer Untersuchung die begrifflichen Grundlagen dafür, das Konzept Behavior sowohl auf Menschen als auch auf Maschinen anzuwenden – Maschinen wurden also selbst zum Gegenstand der behavioristischen Psychologie.48 Wie sie selbst ausführten, verfolgten
sie dazu die Absicht, zu klären, was unter behavioristischer Untersuchung von natural events zu verstehen sei und wie der Begriff Behavior klassifiziert werden könne.
Wie die Behavioristen des frühen 20. Jahrhunderts interessierten sie sich für die Beziehungen zwischen Input und Output und übergingen in ihrer Analyse die innere
Struktur der zu untersuchenden Gegenstände. Bei Mensch und Maschine interessierten sie sich für Output, der nicht eine direkte Übersetzung der „Input-Energie“ war,
sondern für Output, der im Inneren der (menschlichen und maschinenhaften) Black
Box verändert wurde (Active Behavior). Zentral war für Rosenblueth et al., dass das
Verhalten von Mensch und Maschine zielgerichtet sein kann und dass die Absicht des
Verhaltens durch Feedback49 kontrolliert wird – womit sie den Begriff Teleologie bestimmen. Das Ziel dieses Konzepts besteht in der Vorhersagbarkeit feedbackgesteuerten, zielgerichteten Verhaltens und der in den 1940er Jahren kriegsbedingte Zweck
war die Flugabwehr. Im Kapitel Kybernetik und Psychopathologie aus seiner 1948 erschienenen Schrift Kybernetik bezieht Wiener ausführlich Schlüsse aus der Nachrichtentechnik und der Maschinensteuerung auf psychische Störungen und argumentiert, dass gegenseitige Bezüge zum Verständnis beider Phänomene geeignet seien.50
Die Wirksamkeit, Wechselseitigkeit und Wirkmächtigkeit kybernetischer Steuerung
veränderte sich in ihrer Qualität durch die Einführung von Computerbildschirmen
als Feedbackoberfläche,51 die neben allen Möglichkeiten von Kommunikation und
(Selbst-)Behandlung der Gegenwart auch die psychiatrische bedingt.
Digitalisierte Psychiatrie
Die Landschaft der digitalisierten Psychiatrie ist nicht minder komplex und verschachtelt als die Psych-Landschaft vor ihrer Digitalisierung. Es handelt sich dabei um ein Netzwerk aus verschiedensten Institutionen, Programmen, Apparaten,
48 Rosenblueth/Wiener/Bigelow 1943.
49 Ausführlich zur Bedeutung von Feedback in Psychologie, Psychotherapie und Unternehmenskommunikation: Bröckling 2008, 347: „Sich selbst, ein Unternehmen oder die Gesellschaft als ganze
zu lenken heißt mehr denn je, Rückkopplungsschleifen zu installieren. Vielleicht finden sich die
Schaltpläne jener machine à gouverner, von der die frühen Kybernetiker träumten, gar nicht auf den
Platinen der Computer, sondern in den Trainingsmanualen der Gruppendynamiker und all den Zufriedenheitsbarometern, Evaluationsberichten und Rankinglisten, mit denen Evaluationsspezialisten
uns tagtäglich traktieren.“
50 Wiener 1963 [1948], 207–222. Canguilhem 2013 [1943], 271 ff. greift Wieners Argument in der 1966
erschienenen Neuauflage von Le normal et le pathologique auf. Kritisch dazu: Link 2006, 113.
51 Licklider 1973; Turkle 1984; Krassmann 2013.
150
Eckhard Geitz
Diskursen, Praktiken und User*innen. Dazu zählen auch – wie im vorangegangenen
Abschnitt vorgestellt – ihre technologischen Hervorbringungsbedingungen. Eine analytische Aufschlüsselung der vielgestaltigen Verknüpfungen und multiplen Räume
der digitalisierten Psychiatrie kann – folgt man Vilém Flussers Philosophie der Black
Box – beim technischen Bild, der Feedbackoberfläche, dem Monitor beginnen. Zugänge zur digitalisierten Psychiatrie führen in aller Regel über Bildschirme von
Computern oder den unterschiedlichsten Formen mobiler Endgeräte mit Internetzugang. Mobile Endgeräte können privat genutzte Smartphones oder Medizinprodukte
sein, sie können sich in Arztpraxen, Krankenhäusern oder überall dort befinden, wo
User*innen auf sie zugreifen. Die über die Endgeräte ansteuerbaren digitalen Räume
können von Krankenkassen zur Verfügung gestellt werden oder sie können von
Online-(Gesundheits-)Unternehmen kostenlos oder kostenpflichtig angeboten werden, wobei kostenlose Angebote in aller Regel mit der kommerziellen Nutzung von
User*innen-Daten einhergehen. Die über den Bildschirm ansteuerbaren Orte werden
meist als Smartphone-, Messenger- oder Webapps dargestellt – seien es Kanäle für
telepsychiatrische Sprechstunden, diagnostische Programme oder Programme der
(Selbst-)Behandlung. Die Websites oder Apps können entweder unmittelbar dem Bereich der digitalisierten Psychiatrie zugerechnet werden, nämlich dann, wenn ihre
Hauptfunktion in der psychiatrischen Internetintervention besteht. Oder es handelt
sich dabei um kommerzielle Messenger-Dienste, die therapeutisch genutzt werden.
In der Architektur digitaler psychiatrischer Räume vergegenständlichen sich unter anderem Diskurse der gesundheitspolitischen Versorgung – der Mangel an Behandlungsplätzen soll kompensiert werden, auf zeitliche Flexibilitätsansprüche der
User*innen soll reagiert werden, räumliche Distanzen sollen überwunden werden.
Aushandlungsprozesse zwischen (Berufs-)Verbänden, Gesetzgebern, Krankenkassen
oder Anbieter*innen von digitalen Produkten haben ebenfalls architektonische Resonanzen – etwa mit der Konsequenz, dass bestimmte Websites oder Apps (nur) unter
bestimmten Bedingungen als Medizinprodukt zertifiziert werden müssen. Insbesondere die Expertise von Softwareentwickler*innen ist grundlegend für die Gestaltung
jedes Raums der digitalisierten Psychiatrie – notwendigerweise synchronisiert durch
die Expertise von psychotherapeutischem Fachpersonal, eingebettet in die spezifischen Bedingungen, unter denen eine spezifische Konfiguration der digitalen Psychiatrie zustande kommt. Die Smartphone-App hat der Psychiatrie zu dienen. Gleichzeitig muss der Hersteller damit auch in der Wertsphäre der Ökonomie bestehen können
und gesetzlichen Vorgaben genüge tun. Diese grobe Skizze der SuperBlack Box der
digitalisierten Psychiatrie zeigt schematisch, wie vielfältig miteinander verflochten
ihre einzelnen Black Boxes sind. Es wird deutlich, wie an jedem Knotenpunkt des
Netzwerks ein Komplex aus (Apparate-)Einstellungen entsteht, der Ähnlichkeiten
mit dem Komplex aus Fotograf*in-Apparat-Motiv aufweist. Der Unterschied zum von
Didi-Hubermann beschriebenen Modus, in dem die Hysterie erfunden wurde, besteht
allerdings darin, dass die Bildfläche von mehreren Seiten angesteuert und manipuliert werden kann: von der therapeutischen Seite, von der User*innenseite, von der
Heterotopie und Black Box
151
technischen und wirtschaftlichen Seite. Die Frage danach, wer oder was den technischen Bildern, diesen Feedbackoberflächen, in einer digitalisierten Psychiatrie
dienstbar gemacht wird, ist also an jedem der hier skizzierten Netzwerkknotenpunkte
einzeln zu stellen und im Konkreten zu beantworten. Was sich so im Konkreten materialisiert, lässt sich als Heterotopie-Miniatur fassen. Der Raum für Abweichung konkretisiert sich auf (mobilen) Endgeräten an unbestimmten Orten.
In der miniaturisierten Abweichungsheterotopie kommt es dementsprechend
auch nicht mehr zu kollektiven Abweichungserfahrungen, sondern zu fragmentierten. So fragmentiert wie die Heterotopie-Miniaturen sind, haben sie jederzeit parallel
zu jeder denkbaren anderen Heterotopie auf einem Endgerät Platz – im Falle der so
genannten digitalen Phänotypisierung sogar vernetzt mit jedem anderen Bit der genutzten IKT, da hier das gesamte Kommunikationsverhalten von User*innen gescannt
und analysiert wird. Die Erscheinungsform der Heterotopie-Miniatur kann verstanden
werden als ist das interaktive, Bildpunkte umfassend verknüpfende technische Bild.
Hier vergegenständlicht sich die bereits erwähnte Verschränkung von Black Boxes –
etwa wenn User*innen per E-mail darüber informiert werden, dass ein neues Modul
ihrer kognitiv-behavioristischen online-Behandlung zur Verfügung steht, ein entsprechender Link angeklickt wird und im Rahmen des Moduls über weitere Verlinkungen
Videos mit therapeutischer Ansprache angesteuert werden können. Gleichzeitig ist
es denkbar, dass ein- und dieselbe Oberfläche eines Anbieters von Video-Telefonaten
für psychotherapeutische Gespräche und für die Kommunikation mit Freunden oder
Familie genutzt wird. Der heterotopische Funktionswandel bezieht sich hier also auf
den Kanal. Exemplarisch lässt sich dies am Problem des Schweigens verdeutlichen:
Während ein guter Freund einem kurzen Schweigen im Gespräch möglicherweise
keine Bedeutung beimisst, könnte dies im Rahmen einer psychotherapeutischen
Sitzung eventuell ganz anders gewertet werden. Dies kann brisant werden, weil bestimmte Anbieter Schweigen auf absolute informationelle Stille reduzieren, was beim
Gegenüber mitunter den Eindruck der Verbindungsstörung aufkommen lässt. Die
Interpretation von Schweigen ist also vom Kanal abhängig.
Die Zugänge zur Miniatur-Heterotopie der digitalisierten Psychiatrie, ihre Öffnungen und Schließungen sind so grundlegend wie die Frage, ob Internet-Zugang,
Endgerät und eine Einstellung zur Verfügung stehen, die den Eintritt überhaupt erlauben. Gleichzeitig sind sie so herausfordernd wie das Ablegen des Handtuchs in
der Sauna, denn reine Nacktheit mag schon anspruchsvoll sein, wenn man freiwillig
sämtliche Daten auf Endgeräten und in den Wolken zum diagnostischen Scan freigibt. Während jedoch das Allerinnerste in der Sauna verborgen bleiben kann, gehört
seine Erkundung zum Spektrum der Möglichkeiten der digitalisierten Psychiatrie. Im
Gegensatz zum Wundtschen Labor muss es hier nicht bei der Vermessung der Wahrnehmung bleiben, sondern es kann zu umfassenden Verhaltensrekonstruktionen, zu
Typisierungen und Diagnosen, zur Vorhersage, Behandlung und Kontrolle der Psyche
kommen.
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Eckhard Geitz
Fazit
Räume der psychiatrischen Landschaft fügten sich schon vor ihrer digitalen Erweiterung nicht in einfache Zeit- oder Raumstrukturen ein. Regelmäßigkeit des psychiatrischen Alltags oder unbestimmte Dauer des Aufenthalts im psychiatrischen Anderswo
können als exemplarisch für ein Dehnen oder ein Stauchen von Zeit verstanden werden. Die nach Foucault prototypische Abweichungsheterotopie kann vollständig gegenüber dem nicht-psychiatrischen Außen abgeschlossen sein – insbesondere dann,
wenn Aufenthalte unfreiwillig stattfinden, wie es etwa im Bereich der forensischen
Psychiatrie der Fall ist. Sie kann aber auch gegenüber dem nicht-psychiatrischen
Außen weit geöffnet werden, wie dies im Handeln psychiatrischer Ambulanzen geschieht, wo Klienten zu Hause aufgesucht werden. Der psychiatrische Raum kann der
Funktion dienen, Teilhabe zu ermöglichen aber auch der Funktion, das nicht-psychiatrische Außen zu verweigern. Der psychiatrische Raum, der sich dem Miteinander
zwischen Beschäftigten und Patient*innen verschrieb und der nicht eine Anstalt sein
sollte, in die eingesperrt wurde, sondern ein Ort des gemeinsamen Tuns mit flachen
Hierarchien zwischen allen, die an diesem Tun beteiligt sind, war vor der Reform der
Psychiatrie ein irrealer. Real wurde dieser Raum in Deutschland erst durch sozialpsychiatrische Praktiken seit den späten 1970er Jahren.52
Eine theoretische Möglichkeit dieses komplexe Bild aufzufalten und mit Foucault Funktionswandel, Multiplizität, zeitliche Brüche, und Modi der Öffnungen und
Schließungen sichtbar zu machen, ist sein Konzept der Heterotopie. Die hier genanten Begriffe sensibilisieren für einen theoretischen Zugang, der auch für Räume der
digitalisierten Psychiatrie nutzbar gemacht werden kann. Was im letzten Abschnitt
als digital-psychiatrische Miniatur-Heterotopie bezeichnet wurde, ist klein wie ein
Smartphone und gleichzeitig so komplex, dass eine nahezu unüberschaubare Vielzahl digitaler Räume mit unterschiedlichsten Funktionen angesteuert werden kann.
Das Heterotopie-Konzept kann hier als Ausgangspunkt betrachtet werden, von dem
aus methodologisch weiterzuarbeiten wäre. Der Zugang kann helfen zu erkennen,
welche unterschiedlich verschränkten Räume eine Miniatur-Heterotopie auf Basis
welcher Grundsätze konstituieren. Mit Flusser wäre zu fragen, ob diese verschränkten
Räume lediglich als Teil der einer SuperBlack Box zu verstehen wären und ob jede einzelne Bildfläche nur als Feedbacksystem im Sinne einer kybernetischen Steuerung zu
verstehen wäre oder ob User*innen selbstbestimmte Änderungen an den Apparate
einstellungen vornehmen können.
52 Vgl. Dörner et al. 2019.
Heterotopie und Black Box
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