Kritik der postkritischen Pädagogik
Hauke Brunkhorst
I
Es gab in den 1960er und 1970er Jahren eine explizit kritische Erziehungswissenschaft, die sich auch als emanzipatorische Pädagogik verstand
und Motive der Frankfurter Schule (»kritische Theorie«) pädagogisch
ausbuchstabiert hat. Klaus Mollenhauers »Polemische Skizzen«, die
er 1968 unter dem Titel »Erziehung und Emanzipation« publizierte,
sind immer noch einschlägig, aber auch die Arbeiten von Ilse Dahmer,
Heinz-Joachim Heydorn, Hans-Jochen Gamm und Gernot Koneffke
begraben die konservativ geprägte und faschistisch kontaminierte
Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und begründen eine
neue gesellschaftskritische Bildungstheorie (Mollenhauer 1968; Dahmer/Klafki 1968; Heydom 1995). Die von Eduard Bernstein bis Anton
Semjonowitsch Makarenko reichenden, in der Weimarer Republik
entstandenen linken, sozialistischen, psychoanalytischen und marxistischen Schulen der Sozialisationstheorie, der Erziehungswissenschaft
und -praxis werden wiederentdeckt, weiterentwickelt und neu vernetzt, nachdem sie 1933 unterdrückt und nach 1945 im Zeichen des
Antikommunismus verdrängt worden sind. Wilhelm Reich dringt in
die Oberstufen der Gymnasien und den Campus der Universitäten ein
und revolutioniert Sexualpolitik und Sexualpädagogik. Das Private –
»machtgeschützte Innerlichkeit« (Mann 1918/2001) – wird im Zeichen
der Frauenbewegung politisch und der Weiberrat des SDS befreit
die »sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen«
(Miemeister/Staadt 1980: 223f.). Die zeitgenössische antiautoritäre
178
Hauke Brunkhorst
Pädagogik von Alexander Sutherland Neill (Summerhill) bis zur Kinderladenbewegung kommt der kritischen Erziehungswissenschaft
ebenso entgegen wie der breite Diskurs um die Bildungs- und Hochschulreform, die insbesondere durch die SDS-Denkschrift von 1961:
Hochschule in der Demokratie vorangetrieben und zur wirkmächtigen Alternative der technokratischen Hochschulreform wurde. Nicht zuletzt
hat die von Basil Bernsteins linguistischen Forschungen ausgehende
Idee kompensatorischer Erziehung der wachsenden Kritik an der
Reproduktion der Klassengesellschaft durch das Schul- und Erziehungssystem den Rücken gestärkt und in den davon unabhängigen
Studien Pierre Bourdieus zum symbolischen Kapital eine späte, bis
heute reichende Fortsetzung erfahren. »Mehr Demokratie wagen«
(Willi Brandt) wurde 1969 zum politischen Programm, wurde mit
verschiedenen Varianten des Sozialismus verbunden, wurde zur Parole
umfassender Bildungsreformen (Gesamtschule, Gesamthochschule,
Drittelparität, Projektunterricht, aber auch in der Sozialpädagogik:
»Staffelberg«, Heimerziehung usw.). Und auch aus den Ländern des
globalen Südens kamen die Befreiungstheologie und die Pädagogik
der Unterdrückten (Paulo Freire) den emanzipatorischen Erziehungsprojekten der nördlichen Wohlstandsregionen entgegen.
In den 1970er und 80er Jahren setze dann eine die erste überlagernde, zweite Welle kritischer Erziehungswissenschaft ein, die sich am
französischen Macht-Wissensdiskurs Michel Foucaults, am kriminologisch-sozialpädagogischen Labelling-Approach, an Goffmans Studien
über Stigmatisierung und totale Institutionen orientierte, die zumeist
in der einen oder anderen Weise auch Erziehungs-, Sozialisationsund Disziplinierungsagenturen waren (Foucault 1976/1969; Goffmann
1961/1963). Hinzu kam ein breiter Diskurs über die von Jean Piaget
und Lawrence Kohlberg ausgehenden, von Rainer Döbert und Gertrud Nunner-Winkler auf deutsche Verhältnisse zugeschnittenen und
kritisch weiterentwickelten Theorien der kognitiv-moralischen Sozialisation und Erziehung, die Hoffnungen auf einen kräftigen Schub
postkonventioneller, also kritischer Grundorientierungen in spätkapitalistischen Gesellschaften weckten, zumal die breite Rezeption
dieser Theorien mit der seit Beginn der 1960er Jahre explosionsar-
Kritik der postkritischen Pädagogik
tigen, bis heute anhaltenden globalen Expansion des Erziehungsund Bildungssystems, dadurch verlängerter Jugend etc. zusammenfiel
(Döbert/Nunner-Winkler 1975; Garz 2006). Linke Politik, fast überall
motiviert durch die globale Bewegung der Studenten, der Frauen, der
Homosexuellen und der People of Color kam den emanzipatorischen,
jetzt auch häufig antipädagogisch radikalisierten Tendenzen der Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik entgegen (von Braunmühl
1975; vgl. Rutschky 1977). Der Tunix-Kongress wurde 1978 zum Fanal
einer neuen Praxis, die stark durch die französische Theorie, allen
voran den Poststrukturalismus, bestimmt war. Später kamen Louis
Althusser und seine Schüler, aber auch Jacques Lacan und Emmanuel Levinas hinzu, vom neuen gender-orientierten Feminismus und
Judith Butler gingen weitere starke Impulse aus. Aber immer noch
ging es um Kritik, ergänzt um Gegenwarts-Archäologie, fröhlichen
Positivismus, unentrinnbare Performanz und das Spiel diskursiver
Macht-Techniken. Die Kritik wurde immer reflexiver. Kritik der Kritik
der Kritik. Ad infinitum immer radikaler und subtiler – bis hin zur
Aufdeckung unserer postkolonial unaufgeklärten Mikroaggressionen.
Aber letztlich folgt die Erziehungswissenschaft in ihrer jeweiligen
Avantgarde der von Kant und Marx bis zu Max Horkheimers und
Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (1944) reichenden Spur
der Kritik. Selbst wenn sich die Spur des Menschen im Sand verlieren
sollte, wie Foucault es erwartete, vielleicht auch von der Wirkung
seiner und anderer posthumanistischer Schriften erhofft haben mag,
die Kritik bleibt. Hochschuldidaktisch war es die Zeit der autonomen
Tutorien. Nicht zufällig sah sich der späte Foucault denn auch in der
Tradition Immanuel Kants und der französischen Aufklärung und
in Übereinstimmung mit der von ihm spät rezipierten Dialektik der
Aufklärung, von der er selbst sagte, eine frühere Lektüre hätte ihm viel
Mühe erspart. Wichtig wurde auch die schon erwähnte Erweiterung
des Kapitalbegriffs ins symbolische, soziale und ästhetische, mit der
Bourdieu, an Claude Lévi-Strauss anschließend, aber nicht von ihm
abhängig, weit über Marx hinausgeht. Vom Kapital bei Bourdieu war
bald ähnlich ubiquitär die Rede wie von der Macht bei Foucault. Das
eine mal war die Hauptstoßrichtung der Ausschluss derer ganz unten,
179
180
Hauke Brunkhorst
das andere mal der Ausschluss derer am Rand, des infamen Menschen.
Aber immer noch Kritik, die der Pädagogik ein weiteres hoffnungsvolles – und was wäre Pädagogik ohne Hoffnung? – Programm nahelegte:
das der Vollinklusion.
Dann kam Niklas Luhmann und entfachte einen kurzen, heftigen
Begeisterungssturm unter den Erziehungswissenschaftler*innen. Er
sah die Dinge ähnlich wie Foucault, verzichtete aber auf die Autonomie
im Widerstand und die Selbstpraktiken des Subjekts: »Das Subjekt
ist kein Objekt, was soll es also in der Theorie!« (Luhmann 1973: 21;
Alvear Moreno 2020). Das einmal eingesehen, war das Subjekt vom
Alp, sich emanzipieren zu müssen, ein für alle Mal befreit: Die lebenslange Verurteilung zur Freiheit wurde von der höheren Instanz des
Beobachters zweiter Ordnung aufgehoben und in einen sich selbst
paradoxierenden Freispruch umgewandelt. Durch das System, das es
ist, war das frühere (alteuropäische) Subjekt auf bestem Weg in den
glücklichen Positivismus, den Foucault propagiert hat, aber nie erreichen wollte. Aus der Systemtheorie musste das frühere Subjekt jetzt
nur noch lernen, das System, das es ist, so zu beschreiben, das es seine
gesellschaftliche Funktion erfüllt, und: statt sich darein zu verzetteln,
den unerkennbaren blinden Fleck im eigenen Bewusstseinssystem zu
suchen, in nunmehr »abgeklärter Aufklärung« die Evolution machen
zu lassen und ihr nicht ins Handwerk zu pfuschen. Zwar weiß die
Evolution auch nicht, wo es langgeht, aber sie weiß doch besser als
der besserwisserische Mensch, wie man den jeweils nächsten Schritt
macht, ohne von der Überkomplexität der Umwelt sofort verschluckt
zu werden (Luhmann 1974 (1970): 67). So auch in der Pädagogik. Sie
ist unentrinnbar Macht-Technik, und ihre Rationalität lässt sich nur
steigern, wenn man sich nicht wie Foucault trotzig auf Gegen-Macht
versteift oder auf den verschlungenen Frankfurter Wegen ihrer technischen Vernunft zu entkommen sucht, sondern das System machen
lässt, sich seines Technologiedefizits bewusst wird und diesem das
kontrafaktische, aber funktionale, weil Komplexität reduzierende
Festhalten seiner Interaktionssysteme (Lehrer, Schüler) an ihren ersichtlich falschen Kausalplänen empfiehlt und die Emanzipation dem
naturwüchsigen, »unterschwelligen Chaos im Klassenzimmer« über-
Kritik der postkritischen Pädagogik
lässt. Das aber heißt nichts anderes, als das Resultat allen Unterrichts
dem sozialen Selektionsmechanismus zu überlassen, der gleich am ersten
Schultag damit beginnt, aus winzigen Unterschieden des Sitzfleisches,
der Konzentrationsfähigkeit und der Intelligenz Riesenunterschiede zu machen. Das genau ist die unhintergehbare gesellschaftliche
Rahmenbedingung: die Funktion der Schule und des gesamten Bildungssystems (Luhmann/Schorr 1979/1982: 11- 40; Luhmann 1992/93).
Der Umbau der naiven, aber falschen Kausalpläne in den Köpfen von
Lehrern und Schülern in reflexive »Technologieersatztechnologien«,
die nicht weniger falsch sind, machen dem Lehrsystem ein für alle Mal
klar, »[that] we have to come to terms, once and for all, with a society without human happiness and, of course, without taste, without
solidarity, without similarity of living conditions« (Luhmann/Schorr
1982; Luhmann 1997: 70). Aber auch das ist nur eine weitere, reflexive
Schleife der Kritik der Kritik, die immer Kritik ist, weiß sie es doch
besser, denn sie sieht, was du nicht siehst (Luhmann 1990: 228-234).
Zwar soziologisch abgeklärt, aber immer noch Aufklärung. Diesmal
sogar als »Hochform technokratischen Bewusstseins« (Foucault 1986:
178, 240; Habermas 1971: 145).
II
Aber all diese Versuche, Neuansätze, Radikalisierungen kritischer Pädagogik konnten – so mag es den angesichts der systemischen Selektionsmechanismen frustrierten Pädagogen nach Mollenhauer, Foucault,
Tunix, Antipädagogik, Paulo Freire, Bourdieu und Luhmann erschienen
sein – letztlich die Frage nicht beantworten, warum progressive Erziehung trotz der Vielfalt und Originalität ihrer vielen Varianten immer
wieder scheitert?
Die Erfahrung dieses Scheiterns – »Ja mach nur einen Plan!/[…]
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan/Gehn tun sie beide nicht.«
(Brecht) –, die Luhmann und Schorr in die pädagogischen Kausalpläne
einbauen wollten, führen um die Jahrtausendwende und in den ersten
beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts zur völligen Verdrängung der
181
182
Hauke Brunkhorst
Utopie durch die Dystopie. Die pädagogischen Optimisten wurden vor
das Gericht einer pessimistischen, mittlerweile spieltheoretisch, systemtheoretisch und poststrukturalistisch vergesellschafteten Sozialanthropologie gestellt, um, anders als in den 1960er Jahren, ihr Unvermögen kleinlaut einzugestehen (Habermas 1961: 251-278). Sie gestehen
teils aus Einsicht, teils aus Anpassung, dass ihnen misslungen sei, das
Unvernehmen vernehmlich zu machen. Sie bezichtigen sich selbst, die
polizeiliche nur durch eine emanzipatorische Vernehmung substituiert zu haben, die lediglich eine subtilere Form der exkludierenden Unterdrückung des Unvernehmens ist (Rancière 2002). Kritische Pädagogik, emanzipatorische Erziehung, Antipädagogik, Tunix, Selbsttechnik,
Vollinklusion – immer wieder endete der politische wie der pädagogische Versuch, das Unvernehmen in emanzipatorischer Absicht vernehmlich zu machen, in einer neuen Vernehmung.
Das war, so die Diagnose der postkritischen Pädagogik, eine Folge
der Bevormundung durch eine Kritik, die Kritikfähigkeit, Emanzipation, Mündigkeit, Autonomie durch pädagogischen Interventionismus,
also letztlich durch technische Herrschaft über Erziehungs- und Bildungsprozesse erreichen wollte (Hodgson et al. 2022: 23). Darauf
zielen die drei Einwände, also die (Post-)Kritik, mit der das Manifest
die kritische Pädagogik konfrontiert. Dem Educandus, -a, -um werde
von der kritischen Pädagogik 1. ein Mangel an kritischem Bewusstsein
unterstellt, der sie*ihn hindere, die Ideologie im eigenen Kopf zu
durchschauen, wodurch 2. die Ungleichheit, also die Klassengesellschaft im pädagogischen Mikrokosmos symbolisch reproduziert werde
– ob die Lehrer-/Erzieher*innen es nun wissen oder nicht, »sie tun
es« (vgl. Marx 1969: 88) und sie tun es, um 3. den latenten Hass der
schlechter Weggekommenen gegen die besser Weggekommenen manifest zu machen und in die richtige Richtung zu lenken.1 Auch noch die
Techniken der Gegenmacht, der Lebenskunst, der Kultur seiner selbst,
1
Nur mit sehr viel Nachsicht – principle of charity – kann man diese Kritik der
Kritik als Kritik der Kritik der Vernunft (Kant), der politischen Ökonomie (Marx)
oder der Frankfurter kritischen Theorie wiedererkennen, eher schon den Leninismus, zu dem sich die genannten drei Kritiken ihrerseits kritisch verhalten.
Kritik der postkritischen Pädagogik
der experimentellen Selbstpraktiken und der zugehörigen Hermeneutik
des Subjekts (Foucault 1985), der Sorge um sich und den eigenen Körper, des »Horchens auf eine Vernunft, die der natürlichen Ordnung«
vorausgeht und auf die »gesetzesfreie Allgemeinheit einer Ästhetik der
Existenz« gerichtet ist, bleiben als Reflexion, Kritik und Selbstkritik
bei aller Gesetzlosigkeit eine weitere Hochform technokratischen
Bewusstseins. Evident wird das in der (neoliberal anschluss- und globalisierungsfähigen) Substitution des soeben als herrschaftsfunktional
entlarvten Sprachspiel der Emanzipation durch das keineswegs minder
herrschaftsfunktionale des Empowerment (Somek 2013: 258-282).2 Was
tun, nachdem weder Kritik noch die vervielfachte und diversifizierte
Kritik der Kritik, weder Emanzipation noch Empowerment, weder Tun
noch Nichts-Tun die Herrschaftsverhältnisse dieser Welt in Politik und
Pädagogik grundstürzend erschüttert haben? Und was wäre Pädagogik
ohne Hoffnung auf Weltveränderung, also ohne die 11. Feuerbachthese,
die ja auch das Credo der postkritischen Pädagogik und einer ihrer
Heldinnen, Hannah Arendts, ist?
In diesem Augenblick der Krise der Kritik trat Rancière an die Stelle
von Kant, Marx, Adorno, Foucault, Bourdieu etc. Nur, was sich so spontan vollzieht wie der große Aufstand der Pariser Unterschichten im Juni
1848, kann sich überhaupt von Herrschaft, Heteronomie und Unmündigkeit befreien, weil nur so ein Aufstand, weil nur so eine Politik, weil
nur so eine Pädagogik frei ist von neuer Bevormundung, Besserwisserei
und der Autorität wohlwollender Kritiker, enthusiasmierter Befreier,
Emanzipateure, Fortschrittler etc. (vgl. Rancière 1991). Mit ihren Barrikaden verwandeln die Aufständischen, so Rancière, die »städtischen
2
In einer Veranstaltungsankündigung stellt der Bewegungsmelder Aachen die
Frage: »Queerfeminismus befindet sich – in Zeiten in denen Deutsche Bank,
Burger King und Ford einmal im Jahr spontan queer werden – zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und Vereinnahmung. Was bedeutet es, wenn wir
von Empowerment statt Emanzipation, von Beyoncé statt Audre Lorde sprechen, davon soziale Hierachien nicht abzuschaffen sondern zu diversifizieren.
Bedarf es wirklich nur eines #GirlBoss um unsere Welt zu verändern?« https://b
ewegungsmelder-aachen.de/events/queer-feminism-for-sale/ (5.9.2021).
183
184
Hauke Brunkhorst
Verkehrswege buchstäblich in öffentlichen Raum« und machen sichtbar, »was keinen Ort hatte, gesehen zu werden« (ebd.: 41; Sartre 1967:
273-280/389-388).3 Das ist das Paradigma der postkritischen Pädagogik. Indem sie durch ihre spontane, von keiner kritisch geschulten Parteipolizei angeführte, politische Aktion die offizielle Politik als polizeiliche
Ordnung der Ein- und Ausgrenzung kenntlich, sinnlich sicht- und hörbar machen, verwandeln sie die bis dahin unpolitischen Klassengegensätze in einen politischen Streit jenseits von Partei und Polizei. Das ist
das Fanal, das »Geschichtszeichen« des Juni 1848, eines exemplarischen,
aber erfolglosen, von der Polizei blutig geschlagenen Aufstands – »über
3000 Insurgenten wurden niedergemetzelt nach dem Siege, 15.000 ohne Urteil transportiert« (Marx 1985: 105).4 Aber so ein Aufstand »vergisst
sich nicht« und bleibt als »wiederholbares« Muster im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft haften: als Contra-Erinnerung, in Zukunft die
Gerechtigkeit nicht zu vergessen (Kant 1977: 357-361; Assmann o.J.: 103;
Boehm 2020: 89,42,59ff.).5 Damit wäre die Geburt der postkritischen
Pädagogik geschafft. Was bleibt, sind die Mühen der Ebene.
III
Die Ebene beginnt mit einem Manifest und fünf Grundsätzen. Manifeste sind spätestens seit Februar 1848, als das von Marx und Engels verfasste Manifest der kommunistischen Partei in London auf Deutsch
erscheint, der schriftlicher Ausdruck »revolutionärer, praktisch-kritischer Tätigkeit«, in denen eine Avantgarde sich selbst zur Spitze des
Fortschritts der Gesellschaft, der Kunst oder der Wissenschaft erklärt,
3
4
5
Mit Sartre könnte man auch von der spontanen Transformation einer seriellen
in eine fusionierende Gruppe – eine Art sozialer Klasse für sich – sprechen.
Mit »transportieren« meint Marx die Deportation auf eine lateinamerikanische
Gefangeneninsel im Südatlantik.
Zur Contra-Erinnerung: Jan Assmann; Zur prophetischen Erinnerung: Omri
Boehm.
Kritik der postkritischen Pädagogik
»ihre Anschauungsweisen, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegt«, die Aufhebung und Zerstörung einer »alt gewordenen Gestalt des Lebens« ankündigt und die Geburt einer »neuen Zeit« und eines neuen Bundes – sei es eines Gottesbundes, sei es
eines Bundes der Kommunisten – nicht prognostisch vorhersagt, sondern prophetisch, praktisch intervenierend »hervorsagt« (Marx/Engels
1990: 461; Hegel 1970: 28; Koch 1995: 256).6 Statt sie abzuwarten, ruft
das Manifest »die neue Zeit« aus, »vorwärts lebend« in eine offene und
unbekannte Zukunft: »Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre
Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« (Hegel 1970: 491; Kierkegaard 1941: 162; Marx/Engels 1990:
493).7 Eine Utopie, aber dem Anspruch nach eine reale.
Diesmal aber, 169 Jahre später, im Oktober 2017 ist das Manifest
ein Manifest für eine postkritische Pädagogik. Das lässt auf den ersten Blick
weder kritische Theorie und Praxis, noch Avantgarde und Fortschritt,
noch die Zerstörung einer alten und die Vorhersage einer neuen Gestalt
des Lebens erwarten (vgl. Tyson/Lewis 2017: 23-34). Also realpolitische
Dystopie?
Das Manifest erklärt sich in fünf Grundsätzen, unter denen die Autoren keine platonischen Ideen, sondern wie Marx und Engels die Anschauungen, Zwecke, Tendenzen pädagogischer – und wohl auch politischer – Post-Kritik verstehen. Aber die Erwartung, die Post-Kritik
als subjektlose Evolution, als Polizei ohne Politik auf der funktionalistischen Seite (Luhmann), oder aber als gesellschaftslose Praxis, als Politik
ohne Polizei auf der spontaneistischen Seite (Rancière) zu verstehen,
wird sofort enttäuscht.
Der erste Grundsatz übers Prinzipielle grenzt sich von der Postmoderne ab, indem er an universellen Prinzipien festhält, aber den Negativismus der Kritik überwinden möchte. Stattdessen verlangt er, in
affirmativer Attitüde nach Hoffnungszeichen in der bestehenden pädagogischen Praxis – eine »affirmative Haltung« unter »aktuellen Bedingungen« – zu suchen (Hodgson et al. 2022: 20). Das wollte Kant auch,
6
7
In der Reihenfolge der Zitate.
In der Reihenfolge der Zitate.
185
186
Hauke Brunkhorst
als er glaubte, in der Französischen Revolution habe sich ein wirklicher normativer Fortschritt ereignet, in dem er ein hoffnungsvolles Geschichtszeichen der beginnenden Verwirklichung der Vernunft gesehen
hat. Aber hier bezieht sich das Moment der Affirmation auf ein winziges Moment der damaligen Wirklichkeit, und das auch in erster Linie
als bleibende reale Möglichkeit gegenwärtiger Zukunft. Nicht anders
das kommunistische Manifest, das solche Hoffnung in der beginnenden Vereinigung der Arbeiter in Gewerkschaften und politischen Parteien zu erkennen glaubte – die zugehörigen Lernprozesse emanzipatorischer politischer Pädagogik eingeschlossen. Es geht also weder im
postkritischen Manifesto noch bei Kant und Marx um platonische Ideen oder Ideale (»nicht Normativität […] eines Ideals eines gegenwärtigen oder zukünftigen Zustands, an dem die gegenwärtigen Praktiken
beurteilt werden sollen« (ebd.: 20)), sondern um deren gesellschaftliche
Wirklichkeit, die nicht auf ein feststehendes Telos zuläuft, sondern in
praktisch-kritischer Tätigkeit vorwärts lebend gemacht werden muss.8
Andererseits soll die Normativität solcher Hoffnung nicht »prozeduraler« – also machbar und juristisch (polizeilich) anschlussfähig –, sondern prinzipieller Natur sein: grundsätzliche Normativität (»prinzipientreue[] Normativität«) (ebd.: 20) Was das heißt, scheint der zweite,
weniger progressivistische Grundsatz zu erklären.
Im zweiten Grundsatz lehnen die Autoren des Manifesto den Weg
von Marx und Engels ab, den Klassenkampf – oder strukturelle Konflikte – ins Zentrum post-kritischer Pädagogik zu rücken und setzen
stattdessen auf pädagogische Hermeneutik und Gemeinsamkeit: »[…] trotz
vieler Differenzen, welche uns voneinander trennen, einen Raum der
Gemeinsamkeiten gibt, der sich ausschließlich aus der Erfahrung (a
posteriori) ergibt« (ebd.: 21). Das, so scheint es, kommt Gadamers
»Rehabilitierung von Autorität und Tradition« näher als dem Vorschlag
8
Vgl. Kierkegaard 2003: 318: Dort heißt es über eine Vorlesung Schellings im WS
1843 in Berlin unter Anwesenheit fast aller Junghegelianer: »Ich bin so froh,
Schellings zweite Stunde gehört zu haben – unbeschreiblich. So habe ich denn
lange genug geseufzt und haben die Gedanken in mir geseufzt; als er das Wort
Wirklichkeit nannte.«
Kritik der postkritischen Pädagogik
von Marx, den »Alp aller toten Geschlechter, der auf dem Gehirne
der Lebenden lastet«, abzuschütteln, um die »eigene Geschichte […]
unter selbst gewählten Umständen« zu machen (Gadamer 1975: 261268; Marx: 96f.). Damit schloss Marx unmittelbar an die Idee einer
demokratischen Verfassung der Gesellschaft an, die spätestens seit
den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts (Haiti,
Nordamerika, Frankreich) den politischen und juristischen Diskurs
beherrschte und der entgegenstehenden Verfassungsrealität überall
widersprach. Verfassung heißt seitdem, einen reflexiven Schritt zurückzutreten, um die Umstände, unter denen »die Menschen« ihre
eigene Geschichte machen, aus »freien Stücken« selbst zu wählen
(Marx: 96f.). Genau das ist Autonomie. Jedenfalls für Kant, der diesen
Begriff in die Philosophie eingeführt hat. Kant hat sie als eigene und
dennoch allgemeine Gesetzgebung bestimmt, und zwar sowohl in der
Moral wie im Staatsrecht (Kant 1968/1977: 65,432; vgl. Tugendhat 2007:
129).
Der dritte Grundsatz zieht jedoch der pädagogischen Hermeneutik
postwendend den konservativen Zahn, um sie mit Rancières »Annahme der Gleichheit« zu egalisieren, und darin sehen die Autoren des Manifests den eigentlichen Wechsel von der kritischen zur postkritischen
Pädagogik, um sich sogleich zu versichern, das sei aber in keiner Weise anti-, sondern eben postkritisch (Hodgson et al. 2022: 21). Das 20.
Jahrhundert hat uns zwar mit einem immer noch nützlichen, »enormen und äußerst mächtigen kritischen Apparat[]« ausgestattet, aber
die immer tiefer dringende, entlarvende Kritik hat seine Kritiker die
affirmativen Aufgaben, zu »schützen und zu sorgen (vgl. Latour, Haraway)«, vergessen lassen (ebd.: 20). Statt sie als herrschaftsfunktionale
Einrichtungen i. S. einer Hermeneutik des Verdachts zu entlarven, sollten
wir i. S. einer Hermeneutik des Subjekts wieder darauf achten, was Erziehung, Aufwachsen, Schule und Schulung, Studieren, Denken und Praktizieren eigentlich sind und ihnen einen ermöglichenden Rahmen (Czejkowska 2022) schaffen, das zu werden, was sie von sich aus sein wollen.
Prinzipielle Normativität soll dafür sorgen, dass sie das auch können.
Wofür sorgt eine solche prinzipientreue Normativität? Wie
Agnieszka Czejkowska in ihrem Beitrag zu diesem Band m.E. wohl
187
188
Hauke Brunkhorst
zurecht vermutet, geht es den Autoren des Manifests »durchwegs klassisch um die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit, Aussagen über
Erziehung treffen zu können«, und das »umfasst eine wissenschaftliche
Fundierung pädagogischer Prozesse und den so wichtigen Bereich der
Kritik institutioneller Rahmenbedingungen dieser Prozesse« (Czejkowska 2022: 167). Principled normativity sorgt also durch die Kritik und
Bevormundung nicht des Educandus, -a, -um, sondern der institutionellen
Rahmenbedingungen, in die er*sie eingezwängt ist, dafür, dass er*sie
sich spontan so verhalten so verhalten kann, wie er*sie ist und sein will
und – das ist entscheidend – sich ihren*seinen »eigenen und dennoch
allgemeinen« (Kant) und deshalb gesetzgebenden Willen bilden kann.
Das ist politische Bildung at its best. Sie kritisiert und bevormundet
niemanden, ermöglicht, wenn die Kritik der Rahmenbedingungen
praktisch-tätig erfolgreich ist, die egalitäre Kritik, Bevormundung und
praktisch-tätige Erzeugung (Revision) der institutionellen Rahmenbedingungen
durch die, an die ihre Spielregeln und Normen adressiert sind: die
pädagogische Community als Realisierung von Autonomie.
Das aber impliziert, dass die kritische nicht in der postkritischen
Pädagogik verschwindet, sondern genau auf die höhere Stufe verschoben (aufgehoben) wird, wo Kant und Marx den modernen Begriff der
Kritik, und ihnen folgend, die kritische Theorie (Frankfurter Schule)
sie immer von vornherein lokalisiert haben: auf der reflexiven Stufe
der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Praxis, also auch
Erziehung und Sozialisation. Und nur auf dieser, auf die Totalität der
Gesellschaft zugreifenden Stufe kann Kritik überhaupt wirksam, radikal, progressiv, revolutionär sein. Aber nicht mehr, wie bei Kant, wenn
wir ihn neukantianisch (und damit wahrscheinlich falsch) verstehen,
als transzendentale Kritik von einem gesellschaftsexternen Gottesgesichtspunkt (Putnam) oder View from Nowhere (Nagel) aus, sondern wie
bei Marx als Gesellschaftstheorie mittenmang: im »Handgemenge«
(Marx 1972: 381).
Der vierte Grundsatz postuliert einen Wechsel der um der Erziehung
willen (ihrer Autonomie also) nunmehr nachhaltig dekonstruierten instrumentellen Erziehung des grausamen Optimismus, des »cruel optimism« der Vorstandsvorsitzenden, Generäle und Realpolitiker zuguns-
Kritik der postkritischen Pädagogik
ten gegenwärtiger Hoffnung – »hope in the present« – auf eine bessere Zukunft in einer globalen Rechtsgenossenschaft, die man sich am
besten mit Emerson und Rorty als linkes Projekt der »Partei der Hoffnung« vorstellt (Hodgson et al. 2022: 23; Rorty/Vetter 1999: 19). Das ist
die Partei der »gesellschaftlichen Hoffnung auf« eine »Great Community« (Dewey) »ohne Kasten, ohne Klassen, ohne Grausamkeit,« zu dem
Zweck geschaffen, »to expand the reference of us as far as we can, but of
us at our best« (Rorty 1999: XIII-XIV; Rorty 1993: 452). Diese große Gemeinschaft hat Dewey immer als große, demokratische Gemeinschaft
der lehrend Lernenden und lernend Lehrenden verstanden, also als vollständig demokratisierte Universität – ein Traum, der in den 1960er Jahren von Berkeley aus um die Welt ging, bevor er überall von der Polizei
(Rancière) blockiert wurde. Eine solche Partei der Hoffnung könnte sich
ohne Bevormundung ruhig als »Vorhut der menschlichen Geschichte«
verstehen, in deren Praxis sich »die Verheißung aller Zeiten zuerst erfüllt« und deren »Wesen« »unsere Existenz« ist, die »in der Zukunft
liegt« (Rorty 1998: 19,23,15,27). Eine solche Existenz, die alle »bestehenden Bezugssysteme sprengt« – nicht das imperiale, sondern Rortys utopisches Amerika, das es überall gibt – muss sich »die Maßstäbe erst
schaffen, nach denen sie beurteilt« wird (ebd.: 33). Das ist die gleichzeitig politische, gesellschaftliche und pädagogische Hoffnung, die der
vierte Grundsatz einer – und ich würde spätestens jetzt den Ausdruck
»postkritisch« fallenlassen, weil er genauso unglücklich und missverständlich ist wie derjenige der »Postmoderne« – kritischen Pädagogik,
die sich auf die höherstufige Kritik der institutionellen Rahmenbedingungen möglicher Erziehung (ganz i. S. von Kants grenzziehendem Gebrauch der Worte »Kritik« und »transzendental«) beschränkt und sich
direkt auf den fünften Grundsatz der Liebe zur Welt bezieht, der »love for
the world«: Der Liebe zur Welt, die alle in dem Augenblick zu gewinnen
haben, wenn sie ihre sichtbaren und unsichtbaren Fesseln verlieren.
189
190
Hauke Brunkhorst
IV
Was heißt hier Liebe (love for the world)? – Der Begriff, so wie ihn das
Manifest der Postkritik verwendet, hat religiöse Konnotationen, die auf
das Neue Testament, aber auch auf alle anderen Weltreligionen der Achsenzeit verweisen.
In seinem Plädoyer für die Vereinigung der alten Linken, die sich
der sozialen Gleichheit und der Emanzipation von Klassenherrschaft
verschrieben hat, mit der neuen Linken, deren Ziel die Befreiung von
Stigmatisierung, Sadismus und Diskriminierung ist, hat Richard Rorty zwei Bücher für die Lektüre der jungen Generation vorgeschlagen:
das Neue Testament der Liebe und das Kommunistische Manifest des Klassenkampfes. Das Neue Testament wegen dessen unüberbietbarer Darstellung der »Sehnsucht nach Brüderlichkeit« und das Kommunistischen
Manifest wegen seiner »klaren Einsichten in die neuesten Formen unserer Unmenschlichkeit im Umgang miteinander«, die ihre Leser »inspirieren und ermutigen,« sich – mit Kant – ihres eigenen Verstandes zu
bedienen, um sich aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« zu emanzipieren (Rorty 1998: 11,29; Kant 1977 : 53).
Der Mensch, der lernt, sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu emanzipieren, ist ein Subjekt »ohne anthropologische [oder
gattungsspezifische] Konstanten,« das, wie Rousseau schon gesehen
hat, nicht nicht lernen kann (Geyer 1997: 210; Rousseau 1984: 79-85;
Greenwood 2015). Außer biologischen Konstanten, die es mit allen
Säugetieren teilt, ist das menschliche Subjekt ein durch und durch
gesellschaftliches Wesen, und auch seine biologischen Konstanten sind
seit langem durch Sozialisationsprozesse epigenetisch überformt und
verändert, mittlerweile durch Artefakte jeder Art ergänzt, modifiziert,
substituiert (vgl. Jalonka/Lamb 2014; Moore 2015). Kurz: Der Mensch
ist ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, ein Wesen, das
sich nur in der Gesellschaft und durch Gesellschaft subjektivieren kann, in der
es sich als jemand erfährt, der*die für sein durch und durch gesellschaftliches Schicksal selbst verantwortlich ist, weil sie ihre »eigene
Geschichte machen« (Marx 1993/1955/1985: 6, 6, 96f.). Auf das Machen
kommt es an. Denn das Machen der eigenen Geschichte erlaubt den
Kritik der postkritischen Pädagogik
immer schon positiv oder negativ (konfligierend) kooperierenden
Akteuren den stets gegenwärtigen (»present«), konstituierenden, also weltverändernden und befreienden Zugriff auf die »unmittelbar vorhandenen,
gegebenen und überlieferten« Umstände, denen sie unterworfen sind
und die »wie ein Alp« auf ihrem Hirn lasten (Marx 1985: 96f.). Das
Subjekt ist auch noch als machtunterworfener, versklavter und infamer
Körper frei, »Nein« zu sagen und sich im äußersten Fall undienlich zu
machen (Dämann 2020; vgl. Habermas 1981: 445-452).9 Das ist auch die
auf Kant, Marx, Därmann, Adorno, Sartres Folteranalyse, Habermas,
Rancière usw. zurückgehende Prämisse des postkritischen Manifestos:
»At the very heart of a relationship that defines inequality (slavery),
Rancière finds a disavowed reliance upon the equality of intelligences;
for how can the slave carry out the master’s orders if he or she is not
already capable of thinking and speaking?« (Lewis 2017: 30; vgl. Rancière
2004).10 Kooperation ist für ein Wesen, das »nur in der Gesellschaft
sich vereinzeln kann«, unvermeidlich (Marx 1955: 6). Also ist das Subjekt
immer auch deshalb machtunterworfen, weil es trotz aller falschen und
repressiven »Seelsorger«, »Ärzte«, »Oberaufsichten«, »Gängelwägen«
und »Fußschellen«, die es einzwängen, überwachen, unterdrücken,
strafen, beherrschen letztlich doch als kooperativ handelndes Subjekt,
also selbstverschuldet in den Stand, den Staat, die Verfassung, kurz:
die institutionellen Rahmenbedingungen der Unmündigkeit geraten ist,
die es eben deshalb nur selbst ändern und in eine egalitäre Verfassung
der eigenen und dennoch allgemeinen, nämlich »mitgenossenschaftlichen« Selbstgesetzgebung verwandeln kann (Kant XI: 53f.; Kant 1977:
424). Das Subjekt selbst hat aus »Erziehung, Tradition, Gewohnheit die
Anforderungen« des Kapitals oder der Macht – also naturwüchsige gesellschaftliche Zwangsverhältnisse – »als selbstverständliche Naturgesetze
anerkannt« (Marx 1969: 765). Anerkennen aber kann man nur, was man
auch ablehnen kann. Die »schicksalsvollste Macht unseres modernen
Lebens: der Kapitalismus« (Weber), ist zwar ein ursächlich herrschaftlich
erzwungenes, objektives »Abhängigkeitsverhältnis«, das aber ohne ein
9
10
So zuletzt: Iris Därmann.
So zutreffend Lewis/vgl. Rancière.
191
192
Hauke Brunkhorst
änderbares, reziprok entgegenkommendes, subjektives »Abhängigkeitsgefühl« (Marx) nicht existieren kann (Weber 1978: 4). Dieses Gefühl
erzeugt Mutlosigkeit, die aber durch den »Mut,« sich seines »eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant), aufgehoben werden kann, um als Subjekt
der eigenen Geschichte »die Tradition aller toten Geschlechter,« die
»wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lastet«, abzuschütteln
(Marx 1969: 797; Kant 1977: 53; Marx 1985: 97). Nur deshalb kann das
vermeintlich postkritische Manifesto behaupten: »[…] pädagogische
Hoffnung richtet sich an die Möglichkeit der Erneuerung unserer gemeinsamen Welt« (Hodgson et al. 2022: 23). Nicht aus den Evangelien,
wohl aber aus dem Kommunistischen Manifest können die menschlichen
Subjekte die für solchen Mut »wichtige Lektion« über den modernen
Kapitalismus ohne Bevormundung, sondern einfach durch Lesen und
Diskutieren lernen, »dass der Sturz autoritärer Regierungen und die
Schaffung konstitutioneller Demokratien zur Sicherung von Gleichheit
und Anstand zwischen den Menschen nicht ausreichen« (Rorty 1998:
20). Und dass wir bei aller Liebe zur Welt die »Wahrheit« nicht länger
verleugnen sollten, dass »alle Geschichte immer noch die Geschichte
von Klassenkämpfen« und der moderne Staat nur ein Ausschuss ist,
»der die gemeinschaftlichen Interessen der ganzen Bourgeoisklasse
verwaltet« (ebd.: 20f.). Schließlich könnten die lernenden Akteure
unter günstigen Rahmenbedingungen durch Lektüre und Diskussion
selbst erkennen, dass »das Manifest« sich wegen seiner soziologischen
Einsichten und seiner moralischen Schärfe »doch noch besser als die
Evangelien zur Lektüre für die Junge Generation« eignet. Vergleichend
könnten sie lernen, dass dem Manifest die »erheblichen moralischen
Unschärfen« fehlen, die das Evangelium »aufgrund seiner Jenseitsorientierung« aufweist, weil »viele Passagen Sklavenhaltern den Eindruck
vermitteln«, »sie könnten getrost weiter die Peitsche schwingen,«
während andere Passagen »Reiche Glauben machen, sie dürften die
Armen getrost weiter hungern lassen. In den Himmel kämen sie
trotzdem, denn ihre Sünden würden ihnen vergeben, da sie ja Christus
als ihren Herrn anerkannt hätten« (ebd.: 25f.). Schließlich könnten sie
ohne jede Bevormundung selber lernen, aus der Tatsache der stalinistischen und inquisitorischen Verbrechen und der bürokratischen
Kritik der postkritischen Pädagogik
Herrschaft sowjetischer Nomenklaturen und katholischer Kleriker
nicht den Fehlschluss zu ziehen, die Inspirationskraft des Evangeliums
und des Kommunistischen Manifests würden »dadurch geschmälert, dass
Millionen Menschen von aufrichtigen, moralisch gefestigten Leuten
versklavt, gefoltert, in den Hungertod getrieben wurden, die sich zur
Rechtfertigung ihrer Taten auf Abschnitte aus einem dieser beiden
Texte beriefen« (ebd.: 16).
Nichts weiter müsste eine kritische Pädagogik tun, wenn sie ihre
Kritik nicht auf die Lernenden, zu denen sie selbst gehört, sondern auf
die institutionellen Rahmenbedingungen möglicher Lernprozesse richtet. Dazu aber würde auch eine Gesetzgebung – also Rancières Polizei
– gehören, die den marktkonformen Zustand eines Bildungssystems
überwindet, das aufgrund seiner Selektionsfunktion dafür sorgt, dass
»many great scientific minds, capable of contributing to the search for
a COVID-19 vaccine or a strategy to climate-change, are languishing in
slums« (Haider 2020). Genau diese Form der epigenetischen, normativen Beschränkung der evolutionären Mechanismen kommunikativer
Variation und sozialer Selektion durch Märkte und Klasseninteressen,
die es ermöglicht, das pädagogische Potential der Massendemokratie
auszuschöpfen, hat Dewey unter demokratischer Erziehung verstanden. Es wäre die wichtigste institutionelle Rahmenbedingung, die erfüllt sein muss, um autonome Lernprozesse zu ermöglichen.
Literatur
Alvear Moreno, Rafael (2020): Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer
soziologischen Anthropologie, Bielefeld: transcript.
Assmann, Jan (o.J.): Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel,
München: Siemens- Stiftung: 103.
Boehm, Omri (2020): Israel – eine Utopie. Berlin: Ullstein.
Braunmühl, Ekkehard (1975): Antipädagogik – Studien zur Abschaffung
der Erziehung. Weinheim: Beltz.
Czejkowska, Agnieszka (2022): »Tausende von Folianten stürzten mir
auf den Kopf«, in: Martin Bittner, Anke Wischmann (Hg.): Kritik
193
194
Hauke Brunkhorst
und Post-Kritik. Zur deutschsprachigen Rezeption des »Manifests
für eine Post-Kritische Pädagogik«. Bielefeld: transcipt Verlag: S.
161-174.
Dahmer, Ilse; Klafki, Wolfgang (1968): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ende ihrer Epoche, Weinheim: Beltz.
»Das Flugblatt des Weiberrats Frankfurt (1980)«, in: Miermeister, Jürgen/Staadt Jochen (Hg.): Provokationen, Neuwied: Luchterhand:
S. 223f.
Därmann, Iris (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische
Philosophie, Berlin: Matthes & Seitz.
Foucault, Michel (1985): »Hermeneutik des Subjekts«, in: Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Frankfurt: Materialis.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1969): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte
des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1986): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gadamer, Hans- Georg (1975/1960): Wahrheit und Methode, Tübingen:
Mohr.
Geyer, Paul (1997): Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Tübingen: Niemeyer.
Goffman, Erving (1961): Asylums: Essays on the social situation of mental patients and other inmates, New York: Anchor.
Goffman, Erving (1963): Stigma. Notes on the management of spoiled
identity, Englewood- Cliffs: Prentice-Hall.
Greenwood, Jennifer (2015): Becoming Human – The Ontogenesis,
Metaphysics and Expression of Human Emotionality, Cambridge
MA: MIT-Press.
Habermas, Jürgen (1961): »Pädagogischer Optimismus vor Gericht einer
pessimistischen Anthropologie«, in: Neue Sammlung 1: S. 251-278.
Habermas, Jürgen (1964): »Von der Schwierigkeit, Nein zu sagen« in:
Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a.M.: Suhrkamp: S. 445452.
Kritik der postkritischen Pädagogik
Habermas, Jürgen (1971): »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?«, in: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistetSystemforschung?,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp: S. 142-290.
Haider, Asad (2020): The Use of Free Speech in Society, 15. July 2020
comments, https://www.vesobooks.com/blogs/4793-the-use-of-fre
e-speech-in-society (6.9.2021).
Hegel, G.W.F. (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Hegel, G.W.F. (1970): Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Heydorn, Heinz- Joachim (1995): Ȇber den Widerspruch von Bildung
und Herrschaft«, in: Ders.: Werke, Bd. 3, Vaduz: Topos.
Hodgson, Naomi; Vlieghe, Joris; Zamojski, Piotr (2017): »Manifesto for
a Post-Critical Pedagogy«, in: Dies. (Hg.): Manifesto for a PostCritical Pedagogy. Earth: punctum.
Hodgson, Naomi; Vlieghe, Joris; Zamojski, Piotr (2022): »Manifest für
eine Post-Kritische Pädagogik«, in: Martin Bittner, Anke Wischmann (Hg.): Kritik und Post-Kritik. Zur deutschsprachigen Rezeption des »Manifests für eine Post-Kritische Pädagogik«. Bielefeld:
transcipt Verlag: S. 19-24.
Jablonka, Eva; Lamb, Marion J. (2014): Evolution in Four Dimensions
– Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation, Cambridge MA: MIT-Press.
Kant, Immanuel (1968): »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« in:
Werke VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1977): »Der Streit der Fakultäten«, in: Ders.: Werke XI,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 357-361.
Kant, Immanuel (1977): Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1977): »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung«,
in: Werke XI in 12 Bänden herausgegeben von Wilhelm Wieschedel,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 50-61.
Kierkegaard, Sören (1941): Tagebücher 1834-1855, Leipzig: Hegner.
195
196
Hauke Brunkhorst
Kierkegaard, Sören (2003): Die Tagebücher, Bd. 1, Grevenberg: Simmerath.
Koch, Klaus (1995): Propheten I, Stuttgart: Kohlhammer.
Lewis, Tyson E. (2017): »A Response to the »Manifesto for A Post-Critical
Pedagogy«, in: Naomi Hodgson, Joris Vlieghe, Piotr Zamojski (Hg.):
Manifesto for a Post-Critical Pedagogy, Earth: punctum: 23-34.
Luhmann, Niklas (1973): »Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems« in: Zeitschrift für Soziologie 1: 55-66.
Luhmann, Niklas (1974): »Soziologische Aufklärung« in: Soziologische
Aufklärung I, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas; Schorr, Karl-Eberhard (1979): Reflexionsprobleme im
Erziehungssystem, Stuttgart: Klett.
Luhmann, Niklas; Schorr, Karl-Eberhard (1982): »Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik«, in: Luhmann/Schorr (Hg.):
Technologie und Selbstreferenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 11-40.
Luhmann, Niklas (1992/93): Theorie der Gesellschaft, Vorlesungsmitschnitt WS Uni Bielefeld, Carl-Auer Systeme Verlag.
Luhmann, Niklas (1997): »Globalization or World Society: How to Conceive of Modern Society?«, in: International Review of Sociology
1/1997: 67-79.
Luhmann, Niklas (1990): »Ich sehe was, was Du nicht siehst«, in: Soziologische Aufklärung 5, Wiesbaden: S. 228-234.
Mann, Thomas (2001): Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt:
Fischer.
Marx, Karl (1969): Das Kapital I, Berlin: Dietz.
Marx, Karl (1985): »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« in: MEGA
I/11, Berlin: Dietz, S. 96-189.
Marx, Karl (1972): Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung,
MEW 1, Berlin: Dietz.
Marx, Karl (1993): »Thesen über Feuerbach« in: MEW 3, Berlin: Dietz.
Marx, Karl (1955): Grundrisse der Kritik der politschen Ökonomie, Berlin: Dietz.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1990): »Manifest der kommunistischen
Partei« in: MEW 4, Berlin: Dietz: 459-493.
Kritik der postkritischen Pädagogik
Mollenhauer, Klaus (1968): Erziehung und Emanzipation – Polemische
Skizzen, München: Juventa.
Moore, David S. (2015): The Developing Genome – An Introduction to
Behavioral Epigenetics. Oxford: Oxford University Press.
Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen: Politik und Philosophie,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Rancière, Jacques (1991): The Ignorant Schoolmaster, Stanford (CA):
Stanford University Press.
Rancière Jacques (2004): The Philosopher and His Poor, Durham: Duke
University Press.
Rorty, Richard (1998): Achieving our Country: Leftist Thought in
Twenty-Century America, Cambridge MA: Harvard University
Press, zit. n. d. deutschen Übersetzung von Hermann Vetter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Rorty, Richard (1999): Philosophy and Social Hope. London: Penguin.
Rorty, Richard (1993): »Putnam and the Relativist Menace«, in: Journal
of Philosophy 90 (9): S. 443-461.
Rorty, Richard (1998): Das kommunistische Manifest 150 Jahre danach.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Rousseau, Jean-Jacques (1984): »Diskurs über die Ungleichheit/Discours
sur l’inégalité«, in: Heinrich Meier (Hg.): Kritische Ausgabe des integralen Textes: Paderborn: Schöningh [UTB]: S. 79-85.
Rutschky, Katharina (1977): Schwarze Pädagogik, Berlin: Ullstein.
Sartre, Jean- Paul (1967): Kritik der dialektischen Vernunft – Theorie der
gesellschaftlichen Praxis. Reinbek: Rowohlt: 273-280,389-388.
Somek, Alexander (2013): »The Individualisation of Liberty: Europe’s
Move from Emancipation to Empowerment« in: Transnational Legal Theory 4: S. 258-282.
Tugendhat, Ernst (2007): Anthropologie statt Metaphysik, München:
Beck.
Weber, Max (1978): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr.
197