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Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] Selena Pastorino Die Rolle der Interpretation bei psycho-physiologischen Prozessen im Nachlass (1885-1886) ! Im Zeitraum zwischen Also sprach Zarathustra III und Jenseits von Gut und Böse bewertet Nietzsche rückschauend seine Werke und betrachtet sein Denken bzw. seine Faszination für die Wissenschaften und den Positivismus kritisch, was bekanntermaßen in dem Verfassen neuer Vorworte kulminiert, die den neuen Ausgaben seiner Schriften beigelegt wurden. In meinem Aufsatz werde ich versuchen, die Problematik der Interpretation und deren Bedeutung im Rahmen der philosophischen Überlegungen zu beleuchten, die Nietzsche zwischen 1885 und 1886 in seinen Notaten festhielt. Besonders berücksichtigt werden die Beiträge Nietzsches zur Kritik des Subjekts sowie seine Vorschläge. Mein Beitrag bezweckt zunächst, in der Mannigfaltigkeit der dekonstruktiven und konstruktiven Gedankengänge Nietzsches eine mögliche Orientierung zu bieten. Zweitens beabsichtigt meine Arbeit, den nietzscheschen Gedanken der Interpretation als Schlüssel zum Verständnis der ‚nach-metaphysischen‘ Dimension seiner Philosophie zu würdigen, woran sich drittens eine Untersuchung der Perspektiven anschließt, die eine solche philosophische Praxis der interdisziplinären Reflexion eröffnet. In dieser Sichtweise bietet die Philosophie des Geistes wegen ihres starken und nicht eindeutigen Verhältnisses zur Wissenschaft und des dichotomischen Charakters ihrer Grundfrage die Möglichkeit dar, beide Aspekte zu beleuchten. Nietzsches Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird folgendermaßen analysiert: Erstens wird in einem pars destruens seine Kritik in vier Bereichen zunehmender Radikalität gegliedert und vorgestellt: 1. das Subjekt als logischer Begriff; 2. die Erkenntnis und das Denken; 3. das Bewusstsein und die Sinneswahrnehmung; 4. die Einheit und Aktivität des Subjekts. Nietzsches Strategie der Dekonstruktion wird sich als eine reductio ad interpretationem aller Grundgewissheiten des Menschen erweisen, wobei die Worte ‚Interpretation‘, ‚Auslegung‘ und Ähnliches als Mittel zur ontologischen Destabilisierung der traditionellen Begriffe dienen. Zweitens wird Nietzsches pars construens als Versuch wiedergegeben, am Leitfaden der Komplexität des Leibes eine psycho-physiologische Einheit jenseits des metaphysischen Dualismus Geist-Leib zu gewinnen. Besonders berücksichtigt wird der berühmte Ausdruck ‚Wille zur Macht‘, der hier dem Wort ‚Interpretation‘ innerhalb der dekonstruktiven Strategie Nietzsches sowie der metaphysischen Tradition einen neuen Sinn gibt. Zum Schluss wird der mögliche Beitrag Nietzsches zur !1 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] gegenwärtigen philosophischen und wissenschaftlichen Forschung dadurch ermittelt, dass sein Denken der Interpretation im Rahmen des sogenannten Leib-Seele-Problems aktualisiert wird. ! 1. Pars destruens 1: Das Subjekt als logischer Begriff Die Methodologie seiner Kritik an Begriffen überhaupt zeigt sich sehr deutlich in einem Notat, in dem Nietzsche über eine von Philosophen noch nicht geahnte „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (NL, 40 [27], KSA, 11, 643) im Sinne einer Aufdeckung und neuen Abschätzung der Wertschätzungen spricht,1 die der Logik vorangehen. Einige Monate zuvor bestimmte er die Wertschätzungen als „die Folge unserer innersten Bedürfnisse“ (NL, 34 [86], KSA, 11, 448). Die Begriffe sind also letztendlich „von unserer Bedürftigkeit inspirirt“ und darauf ausgerichtet, dass unsere Werte in die Dinge hineininterpretiert werden (NL, 2 [77], KSA, 12, 97). Mit anderen Worten ist laut Nietzsche „das menschliche Begreifen […] zuletzt nur ein Auslegen nach uns und unseren Bedürfnissen“ (NL, 39 [14], KSA, 11, 624).2 Die begriffliche Sprache entspricht nicht der Realität: Vielmehr ist sie eine Erfindung, mit der der Mensch ein Mittel gewinnt, „sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben“ (NL, 34 [131], KSA, 11, 464). Paradoxerweise erzeugte eben jene von Plato und der metaphysischen Tradition zugegebene bzw. vorausgesetzte Spaltung zwischen der Realität und dem, was ihre sprachliche Entsprechung sein sollte, eine lange Verwechslung, nach der Worte nicht Zeichen für Dinge sind, sondern deren innerstes Wesen ausdrücken (NL, 38 [14], KSA, 11, 614). Jedoch sind Begriffe ‚bloß‘ „Zeichen zum Wiedererkennen“ (NL, 1 [50], KSA, 12, 22) und daher auch unfähig, ‚ewige Wahrheiten‘ über die begriffenen Dinge zu verkörpern: Dass die Menschen an die Ewigkeit dessen, was einige Begriffe ausdrücken, glauben, ist eine Folge des langen Sprachgebrauchs (NL, 1 [98], KSA, 12, 34). Laut Nietzsche sind auch die Begriffe nicht ewig bzw. nicht unveränderlich, sondern „geworden, viele […] noch werdend“ (NL, 38 [14], KSA, 11, 613), 1 Über die Entstehungsgeschichte des Denkens sprach Nietzsche zum ersten Mal in Menschliches, Allzumenschliches (MA, KSA, 2, 36-38; über die ‚Folgen‘ der Entstehungsgeschichte vgl. auch MA, KSA, 2, 38-40); vgl. NL, 23 [125], KSA, 8, 447-448. 2 Hier beleuchtet Nietzsche die ‚hundertfältige‘ Ausdeutbarkeit der Welt bezüglich seiner am Anfang des Heftes unter dem Namen ‚Wille zur Macht‘ vorgestellten ‚neuen Auslegung alles Geschehens‘ (vgl. NL, 39 [1], KSA, 11, 619). Besonders interessant scheint der Ausdruck „Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht“, der nicht nur im oben erwähnten Text, sondern auch in anderen Notaten mit Verweis auf die Problematik der angeblichen einzigen Interpretation der Welt nach der herrschenden Moral sowie in einem sonst schwierig zu interpretierenden Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse wieder auftaucht (vgl. NL, 39 [15], KSA, 11, 625-626; NL, 1 [110], KSA, 12, 36; JGB, KSA, 5, 56). Johann Figl hat den Ausdruck als anticartesianisch sehr gut erfasst, obwohl seine Analyse mit einer nicht ohne Weiteres vertretbaren Anklage auf den Nihilismus Nietzsches schließt (Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin - New York, 1982, v.a. 52-56). !2 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] „etwas Lebendiges, folglich auch etwas bald Wachsendes, bald Schwindendes“ (NL, 40 [51], KSA, 11, 645). Da das Bewusstsein der Mannigfaltigkeit im Denken und Sprechen erst vor Kurzem entstand, sind die allgemeinsten und falschesten Begriffe, d.h. diejenigen, die der Welt des Werdens am gründlichsten widersprechen, auch die ältesten (NL, 38 [14], KSA, 11, 613-614). Die erklärende Kraft und daher der hohe Wert, die die Menschen den Begriffen zuschreiben, läßt sich letztendlich aus ihrer Zweckmäßigkeit, d.h. aus ihrer Fähigkeit ableiten, eine sonst chaotische und unterschiedslose Welt nach zwei Grundsätzen des logischen Denkens, dem Satz der Identität und dem Glauben an ‚identische Fälle‘, zurechtzumachen.3 Die Grundfiktion, dass es „gleiche Dinge, gleiche Fälle giebt“ (NL, 35 [57], KSA, 11, 537), soll als eine physiologische Aktivität verstanden werden, etwa wie „die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amoebe“ (NL, 5 [65], KSA, 12, 209). Trotz ihrer Radikalität bedeutet die nietzschesche Kritik nicht eine völlige Ablehnung des ganzen menschlichen Begriffsapparats, denn durch die Enthüllung seines physiologischen Ursprungs wird seine Nützlichkeit offensichtlich.4 Nichtsdestoweniger sind laut Nietzsche die Begriffe, auch der des ,Subjekts‘, nichts anderes als „regulative Fiktion[en], mit deren Hülfe eine Art Beständigkeit, folglich ‚Erkennbarkeit‘ in eine Welt des Werdens hineingelegt, hineingedichtet wird“ (NL, 35 [35], KSA, 11, 526). Nietzsches Kritik am Subjekt als logischem Begriff bezweckt zunächst eine Entlarvung des Zirkelschlusses, in dem sich sowohl das cartesianische cogito als auch das metaphysische Denken überhaupt bewegt. Beide sind von einer reinen Anschauung weit entfernt,5 da sie den menschlichen Bedürfnissen sowie den in begrifflicher Sprache ausgearbeiteten logischen Schemata unterliegen. In der Absicht, sich von der Metaphysik zu befreien, setzt Nietzsche dem cartesianischen ‚Ich-denke‘ die Hypothese entgegen, dass erst das Denken das Ich setzt (NL, 35 [35], KSA, 11, 526),6 das daher wie alle anderen Dinge etwas Geschaffenes ist (NL, 2 [152], KSA, 12, 141). Infolgedessen ist die Annahme, dass zu jeder Tat ein Täter gehört, nichts 3 „Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den ‚Augenschein‘, daß es gleiche Dinge giebt“ (NL, 36 [23], KSA, 11, 561). Über den Glauben an identische Fälle und die Logik vgl.: NL, 40 [13], KSA, 11, 633-634; NL, 40 [15], KSA, 11, 634-635; NL, 40 [33], KSA, 11, 645. Über die Rolle des Gedächtnisses vgl.: u.a. NL, 34 [249], KSA, 11, 505; NL, 40 [34], KSA, 11, 645-646. 4 Die Begriffe sollten als lebenserhaltende Versuche verstanden werden, damit einerseits ihre Notwendigkeit und andererseits die Möglichkeit ihrer Neugestaltung erhalten werden können (vgl. NL, 35 [35, 36, 37], KSA, 11, 526-527; NL, 40 [4], KSA, 11, 630). 5 „In summa: es ist zu bezweifeln, daß ‚das Subjekt‘ sich selber beweisen kann – dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben und der fehlt!“ (NL, 40 [20], KSA, 11, 638). 6 Vgl. u.a. auch NL, 38 [3], KSA, 11, 597-598. !3 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] mehr als eine Mythologie (NL, 2 [78], KSA, 12, 98), eine Folge des zu überwindenden Glaubens an die Grammatik als „veritas aeterna“ (NL, 40 [20], KSA, 11, 637). In dieser Perspektive ist das Subjekt eine Ausdeutung (NL, 2 [147], KSA, 12, 139), und seine Hineindichtung in das Geschehen ist sogar ein Fehler (NL, 2 [142], KSA, 12, 137). Die psychologische Geschichte des Subjektbegriffs zeigt, dass es nur das letzte Ergebnis des Prozesses ist, welcher von der optischen Konstruktion eines ‚Ganzen‘ bis zur Unterscheidung zwischen Tun und Tuendem führt (NL, 2 [158], KSA, 12, 143). Da sich unser Denken einerseits nur in sprachlichen Formen vollzieht und da die Sprache andererseits gegenüber der Komplexität des Geschehens sehr begrenzt erscheint, sind die Begriffe, die die Welt des Werdens vereinfachen und zu Denkstrukturen zurechtmachen, Zeichen einer nicht weiter untersuchten Grenze, d.h. der perspektivischen Grenze unseres menschlichen Horizontes, die eben seiner Perspektivität wegen einen Zweifel über seine unbedingte Gültigkeit erweckt, gerade wenn es um unser ‚Sein‘ geht.7 ! Pars destruens 2: Die Erkenntnis und das Denken Nicht nur als Begriff, sondern auch als Synthesis der intellektuellen Begabungen des Menschen wird das Subjekt von Nietzsche als Ergebnis eines interpretatorischen Prozesses enthüllt: Nicht nur das ‚Ich-Denke‘ sondern auch ‚dass ich denke, weiß, verstehe‘ erweist sich als ein aus psychophysiologischen Bedürfnissen inspirierter Glaubenssatz. Die nietzschesche Analyse des Denkens als menschliches Vermögen steht in Zusammenhang mit seinen kritischen Überlegungen zur Möglichkeit der Erkenntnis, die schon nach der Kritik der Begrifflichkeit sehr begrenzt erscheint. Zunächst stellt Nietzsche die absolute Gültigkeit der Merkmale der menschlichen Erkenntnis in Frage, indem er einerseits den Ursprung des Glaubens im Kausalitätsprinzip in jener bereits als scheinbar und täuschend bewiesenen Trennung zwischen Tun und Tuendem erkennt (NL, 2 [139], KSA, 12, 136),8 und andererseits den Anthropozentrismus, der im Vertrauen des Menschen in seine erkennende Fähigkeit am Werk ist, beleuchtet (NL, 34 [89], KSA, 11, 449). Die Welt, wie die Menschen sie kennen, stellt sich als das Ergebnis jener schöpferischen Anpassung heraus, die das menschliche Verhältnis zur Welt überhaupt ermöglicht (NL, 40 [36], KSA, 11, 646). Die Erkenntnis ist daher kein Ziel des menschlichen Lebens, sondern eher eine Funktion des menschlichen Leibes 7 Vgl. NL, 1 [99], KSA, 12, 34; NL, 5 [3], KSA, 12, 185; NL, 2 [67], KSA, 12, 91; NL, 2 [91], KSA, 12, 106. 8 Vgl. NL, 1[37, 38, 39], KSA, 12, 19; NL, 2 [84], KSA, 12, 103-104; NL, 4 [8], KSA, 12, 182. Über die ‚Entstehungsgeschichte‘ des Kausalitätsprinzips aus menschlicher Bedürftigkeit vgl.: NL, 34 [52, 53, 118], KSA, 11, 436-437, 460; NL, 36 [28], KSA, 11, 562; NL, 1 [92], KSA, 12, 33; NL, 5 [9], KSA, 12, 187. !4 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] (NL, 36 [19], KSA, 11, 559-560). Die praktische Nützlichkeit der Erkenntnis für den Menschen hebt Nietzsche in seinen Überlegungen hervor,9 wobei er nur die Verabsolutierung des menschlichen Erkennens kritisiert: Da es keine Dinge an sich und daher kein absolutes Erkennen gibt, sondern der perspektivische, täuschende Charakter zur Existenz gehört (NL, 34 [120], KSA, 11, 460),10 kann die Erkenntnis keine Erklärung, sondern nur Auslegung sein (NL, 2 [86], KSA, 12, 104).11 Demzufolge ist auch das logische Denken, d.h. jenes Denken, das der vernünftigen Ordnung, die das Wesen der Welt ausmachen sollte, entspricht, nur eine regulative Fiktion bzw. eine Funktion des menschlichen Organismus (NL, 38 [2], KSA, 11, 597). Nach der ‚logischen‘ Auffassung wird das Denken als eine kausale Abfolge von Überlegungen verstanden. Diese traditionelle Vorstellung verliert dadurch an Gültigkeit, dass Nietzsche den unbewussten triebhaften Grund, der dem Auftauchen eines Gedankens im Bewusstsein vorangeht, sichtbar macht (NL, 1 [61], KSA, 12, 26): Jeder einzelne Gedanke erweist sich letztendlich als Ergebnis einer meist unbewussten interpretatorischen und somit fälschenden Aktivität (NL, 38 [1], KSA, 11, 595-596).12 ! Pars destruens 3: Das Bewusstsein und die Sinneswahrnehmung Die Betonung der aktiven Rolle eines unbewussten triebhaften Grundes bei menschlichen Tätigkeiten stellt auch den Wert des Bewusstseins radikal in Frage. Da Nietzsche die Leiblichkeit 9 „Erkenntniß ist Fälschung des Vielartigen und Unzählbaren zum Gleichen, Ähnlichen, Abzählbaren. Also ist Leben nur Vermöge eines solchen Fälschungs-Apparates möglich“ (vgl. das ganze Notat NL, 34 [252], KSA, 11, 506). 10 „[…] so wenig Ding an sich, so wenig ist ‚Erkenntniß an sich‘ noch erlaubt als Begriff“ (NL, 5 [14], KSA, 12, 189). Über die Kritik Nietzsches am Ding an sich bezüglich seiner Herkunft aus interpretatorischen bzw. fälschenden Prozessen vgl.: NL, 34 [28], KSA, 11, 429; NL, 40 [12], KSA, 11, 633; NL, 2 [85, 149, 150, 154], KSA, 12, 104, 140, 141-142; NL, 5 [11], KSA, 12, 188. Gegen die Verabsolutisierung der Erkenntnis vgl.: NL, 40 [30], KSA, 11, 644; NL, 5 [19], KSA, 12, 191-192; NL, 5 [36], KSA, 12, 197. Im Unterschied zu Kant leugnet Nietzsche die Möglichkeit, dass der Intellekt sich selbst kritisiert (vgl. u.a. NL, 2 [132], KSA, 12, 133). 11 „Das Verlangen nach ‚festen Thatsachen‘ − Erkenntnißtheorie wie viel Pessimismus ist darin!“ (NL, 3 [5], KSA, 12, 172). Über die Unmöglichkeit der Erkenntnis im traditionellen Sinne vgl. auch: NL, 2 [140], KSA, 12, 136; NL, 34 [61], KSA, 11, 439. Das, was den erkennenden Prozess ausmacht, ist das Zurückführen des Unbekannten auf Gewöhnliches (vgl. NL, 34 [244, 246], KSA, 11, 502-503; NL, 2 [132], KSA, 12, 133; NL, 5 [10], KSA, 12, 187-188). In mehreren Notaten taucht die Auslegung in Opposition zur Erkenntnis oder/und Erklärung auf (vgl. NL, 36 [34], KSA, 11, 564-565; NL, 2 [69, 70, 78, 82, 86], KSA, 12, 92, 98, 100-101, 104; vgl. auch die Rubrik NL, 5 [50], KSA, 12, 203, wo mehrere Notate, außer den schon erwähnten 2 [86], unter dem Stichwort „Auslegung, nicht Erklärung“ gesammelt werden: NL, 2 [91, 140, 142, 147], KSA, 12, 106, 136, 137, 139. Auf eine genaue Analyse der Texte muss hier leider verzichtet werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass Nietzsche nicht so sehr daran interessiert ist, bloß zu behaupten, dass die Erkenntnis keine Erklärung sondern nur eine Auslegung des Erkannten liefert. Vielmehr bezweckt er sozusagen eine sprachliche Korrektur, nach der man nicht mehr eine objektive bzw. erklärende Erkenntnis als möglich denken sollte, sondern eher alle bisher als erkennend gefassten Prozesse als interpretatorisch – d.h. schöpferisch sowie fälschend – neu denken sollte. 12 Vgl. auch NL, 34 [119], KSA, 11, 460. Über die Vergleichbarkeit des Denkens zur Aktivität der Organe vgl.: NL, 34 [124], KSA, 11, 462; NL, 35 [50], KSA, 11, 536. Über das Denken als eine Tätigkeit zweiten Ranges vgl.: NL, 40 [17], KSA, 11, 636; NL, 1 [36, 75], KSA, 12, 19, 29. !5 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] besonders berücksichtigt, könnte man vermuten, dass er die Sinneswahrnehmung höher als das (Selbst-)Bewusstsein ansetzte, so als ob er die Hierarchie jener metaphysischen Dichotomie von Geist und Leib bloß umkehrte. Die nietzschesche Dekonstruktion bezieht aber ebenso die Sinneswahrnehmung und insbesondere die Bewertung der bewussten Wahrnehmung mit ein: „Die Wahrnehmung der Sinne geschieht uns unbewußt: alles, was uns bewußt wird, sind schon bearbeitete Wahrnehmungen“ (NL, 34 [30], KSA, 11, 430). Die Bearbeitung vom Unbewussten zum Bewussten im Wahrnehmen beschreibt Nietzsche „als eine Art Abstraktion und Simplification, vergleichbar dem logischen Prozeß“ (NL, 34 [167], KSA, 11, 476), als eine Verallgemeinerung und Zurechtmachung (NL, 34 [187], KSA, 11, 484), als eine intellektuelle Auslegung von Rohmaterial (NL, 34 [55], KSA, 11, 436), in der ein Werturteil waltet, und zwar die „Lust an Einfachheit, Übersichtlichkeit, Regelmäßigkeit, Helligkeit“ (NL, 34 [49], KSA, 11, 435), die wiederum von einem physiologischen Bedürfnis geleitet wird, d.h. „von einem Willen zur Überwältigung, Assimilation, Ernährung“ (NL, 34 [55], KSA, 11, 437). Demzufolge kann Nietzsche behaupten: „wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist“ (NL, 2 [95], KSA, 12, 108). Da unsere Bedürfnisse und Werte sich im Verlauf der Zeit entwickelt haben, sollen die Sinneswahrnehmungen genauso wie Begriffe und Denkstrukturen als werdend verstanden werden (NL, 40 [32], KSA, 11, 40 [32]). Nicht nur das Bewusstwerden des Wahrnehmens, sondern auch das Selbst-Bewusstsein überhaupt erfährt eine starke Begrenzung seines Vermögens. Einerseits wird der ontologische Wert des Bewusstseins dadurch vermindert, dass der nominalistische Standpunkt es als ein bloßes Wort für uns enthüllt,13 das letztendlich eine Verdoppelung des Gehirns verursacht (NL, 34 [87], KSA, 11, 448). Andererseits stellt Nietzsche auch den praktischen Wert des Bewusstseins in Frage, indem er dessen Unschuld bzw. Ohnmacht „an allen wesentlichen Vorgängen unserer Erhaltung und unseres Wachsthums“ beleuchtet (NL, 36 [29], KSA, 11, 563). Außerdem sind schon in diesen Notaten einige Texte zu finden, in denen jene Sichtweise vorbereitet wird, die er unter dem Titel Vom „Genius der Gattung“ in der Fröhlichen Wissenschaft thematisiert (FW, KSA, 3, 590-593), 13 Über den Nominalismus Nietzsches, auch im Bezug auf die Problematik der Interpretation und der inneren Erfahrung, vgl. Günter Abel, Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Band II, Würzburg, 1985, 35-89. !6 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] und die den Phänomenalismus und Perspektivismus des Bewusstseins, die von der philosophischen Tradition laut Nietzsche noch nie erkannt wurden, ans Licht bringen will.14 Zusammenfassend läßt sich bemerken, dass die traditionelle Auffassung von Wahrnehmung als einer passiven Tätigkeit sowie von Bewusstsein als einer aktiven Funktion des Subjekts radikal kritisiert wird. Einerseits unterstreicht Nietzsche nämlich, dass etwas Aktives daran ist, „daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen“ (NL, 38 [10], KSA, 11, 609), wobei diese Aktivität eher als eine physiologische Einverleibung der Außenwelt, etwa wie bei Idioplasmen (NL, 2 [92], KSA, 12, 106-107), verstanden werden sollte. Andererseits ist Nietzsche weit davon entfernt, die Aktivität des Subjekts einfach positiv zu bewerten, weil das, was wir Bewusstsein und Geist nennen, nicht dem Subjekt, sondern einem nicht subjektiven Kampf dient (NL, 1 [124], KSA, 12, 40), und zwar dem Kampf „unserer Triebe und Zustände“ (NL, 1 [20], KSA, 12, 15).15 ! Pars destruens 4: Die Einheit und die Aktivität des Subjekts Nach der kritischen ‚Entstehungsgeschichte‘ Nietzsches hat der Glaube an die Einheit des Subjekts zumindest einen doppelten Ursprung. Einerseits scheint unsere Sprache, wie wir schon gesehen haben, unfähig, die Komplexität der Wirklichkeit zu fassen und auszudrücken, so dass wir keine Worte haben, „um das wirklich Vorhandene, nämlich die Intensitäts-grade auf dem Wege zum Individuum, zur ‚Person‘ zu bezeichnen“ (NL, 40 [8], KSA, 11, 631-632). Andererseits erweckt eben unser Körper den Eindruck, dass das Subjekt einheitlich sei (NL, 1 [72], KSA, 12, 29), obwohl es nichts anderes als eine Vielheit von Kräften ist, die man weder isolieren noch zählen kann (NL, 34 [123], KSA, 11, 461-462). Durch die menschliche Vereinfachung der Realität wird die 14 Außer in FW 354, wo die Unmöglichkeit des Bewusstseins unterstrichen wird, sich anders als in einer sprachlichen Form zu präsentieren, stellt Nietzsche den Phänomenalismus der inneren Welt in einem Notat von 1888 als chronologische Umdrehung von Ursache und Wirkung sehr deutlich dar (NL, 15 [90], KSA, 13, 458-460). Über eine gleiche „umgekehrte Zeitordnung“ hatte er zudem schon drei Jahre zuvor gesprochen (NL, 34 [54], KSA, 11, 437). Zu diesen zwei Merkmalen des Phänomenalismus nach Nietzsche vgl. Günter Abel, Nominalismus und Interpretation, 71-84; Ders., Bewusstsein − Sprache − Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes, in: Nietzsche-Studien, 30 (2001), 27-31. Der dem Glauben an Tatsachen und Dinge an sich entgegengesetzte Phänomenalismus taucht auch in zwei Notaten von 1885-1886 auf (vgl. NL, 2 [131], KSA, 12, 130, hier bezüglich der „Maske“, vgl. dazu auch NL, 2 [203], KSA, 12, 167; NL, 2 [184], KSA, 12, 158). Der Perspektivismus des Bewusstseins wird auch schon in diesen Notaten beleuchtet (vgl. NL, 5 [55], KSA, 12, 205; NL, 5 [68], KSA, 12, 210). 15 Vgl. auch NL, 39 [6], KSA, 11, 621. Interessanterweise spricht Nietzsche 1885 von einer vorbewussten intellektuellen Tätigkeit (vgl. NL, 40 [15], KSA, 11, 634-635). Mit Recht hat Paul Katsafanas klargestellt, dass es, trotz der scharfen Kritik Nietzsches, noch „legitimate ways to conceive of consciousness“ gibt: Da nicht nur triebhafte bzw. physiologische sondern auch ‚intellektuelle‘ unbewusste Tätigkeiten anzuerkennen sind, ist das Bewusstsein, zumindest bezüglich der Sinneswahrnehmung, als „classifying awareness“ von der bloßen unbewussten „discriminatory ability“ zu unterscheiden und näher bestimmbar (vgl. Paul Katsafanas, Nietzsche’s Theory of Mind: Consciousness and Conceptualization, in: European Journal of Philosophy, 13/1 (2005)). !7 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] Mannigfaltigkeit zur Einheit, nicht nur wenn es um ‚Objekte‘ geht, sondern auch wenn das ‚Subjekt‘ wahrgenommen wird. Nietzsche erklärt diese Fälschung dadurch, dass er jede Einheit als „Organisation und Zusammenspiel“ enthüllt, d.h. als Etwas, „das Eins bedeutet, aber nicht eins ist“ (NL, 2 [87], KSA, 12, 104). Wenn es daher eine Einheit im Menschen gibt, dann soll sie nicht im Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein gesucht werden, „sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit“ seines ganzen Organismus (NL, 34 [46], KSA, 11, 434). Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie Nietzsche seinen konstruktiven Vorschlag konsequent aus einer genaueren Betrachtung des Leibes ableitet. Die Kritik an der Einheit des Subjekts umfasst auch die Infragestellung seiner Aktivität. Den Menschen versteht Nietzsche nämlich als eine Vielheit von Subjekten bzw. Kräften: Er fällt den jeweils Herrschenden zum Opfer. Deshalb darf er sich nicht mehr für das Subjekt seiner Handlungen halten. Da nämlich die Worte „Organisation“ und „Zusammenspiel“ auf etwas viel Komplexeres verweisen als die Dichotomie von Einheit und Vielheit, sollte man dem Subjekt nicht mehr so leicht irgendeine Handlung zuschreiben. Nach der Kritik Nietzsches sollte das traditionelle Subjekt in Anführungszeichen gesetzt werden. Daher muss man sich sehr vorsichtig dem hier wiederkehrenden Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ nähern: Ein in Anführungszeichen gesetztes Subjekt kann weder handeln noch wollen. Demzufolge geht das Subjekt nicht dem Willen voran, sondern umgekehrt wird der Wille jeweils zum Subjekt. Sowohl in vielen nachgelassenen Notaten als auch in mehreren Aphorismen von Jenseits von Gut und Böse übt Nietzsche eine scharfe Kritik an der Auffassung des Willens als subjektiver Willensäußerung: Einerseits unterstreicht er die Vielheit der hier einbezogenen Empfindungen, die der Einheitlichkeit des Subjekts entgegenstehen;16 andererseits entlarvt er die psychologische Notwendigkeit des Menschen, sich für wirkend zu halten, denn erst nachdem er seinen Handlungen Absichtlichkeit zuspricht, darf er sich selbst von der Welt durch eine Grenze abtrennen. Eben diese Trennung sowie jeden metaphysischen Dualismus will Nietzsche mit seinen konstruktiven Vorschlägen überwinden, um – wie er 1887 schreibt − „die absolute Homogeneität in allem Geschehen zu zeigen“ (NL, 10 [154], KSA, 12, 542). ! ! ! 16 Vgl. u.a. NL, 38 [8], KSA, 11, 606-608; JGB, KSA, 5, 31-34. !8 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] 2. Pars construens: Am Leitfaden des Leibes Wie wir schon erwähnt haben, versucht Nietzsche, seine Überlegungen konsequent aus den Folgen seiner Dekonstruktion herauszuarbeiten. Bezüglich des Menschen nimmt er sich vor, ihn „am Leitfaden des Leibes“ zu erforschen (NL, 36 [35], KSA, 11, 565). Denn einerseits hält Nietzsche die Glaubwürdigkeit des Leibes für eine bessere methodologische Hypothese als diejenige der Seele bzw. des Geistes.17 Andererseits ist er davon überzeugt, man gewinne ausgehend von Leib und Physiologie „die richtige Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens“, wobei aber das Wichtigste ist, den Beherrscher und seine Untertanen als gleichartig, d.h. alle als fühlend, wollend und denkend, zu verstehen (NL, 40 [21], KSA, 11, 638-639). Wenn wir überhaupt von einer Einheit in uns sprechen können, dann sollten wir uns am Leib als Organisation und „Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthige[r] Intelligenzen“ orientieren: Der Leib ist aber ‚nur‘ „das beste Gleichniß“ vom Zusammenwirken der vielen kleinsten lebendigen Wesen, die unseren Leib konstituieren. Nietzsche bezeichnet alle diese Wesen auch als „Intelligenzen“, was uns die Richtung seines Vorschlags verrät. Um die metaphysische Dichotomie Leib-Seele zu überwinden, schlägt Nietzsche vor, den Organismus Mensch als eine Vielheit von nur gradunterschiedlichen Wesen zu verstehen, die in gleicher Weise operieren – das „selbe Auswählen und Vorlegen von Erlebnissen, dieses Abstrahiren und Zusammendenken, dieses Wollen, diese Zurückübersetzung des immer sehr unbestimmten Wollens in bestimmte Thätigkeit“. Das, was wir ‚Intellekt‘ im eminenten Sinne nennen, wäre „eine regierende Vielheit und Aristokratie, [welche] nur eine Auswahl von Erlebnissen vorgelegt bekommt, dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse“ (NL, 37 [4], KSA, 11, 577-578), damit er weiter regieren kann. Diese Operation, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielt, könnte mit dem Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ begriffen werden.18 Unter diesem „nicht ungefährlichen Titel“ versteht Nietzsche den „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens […] billigerweise nur vorläufig und versucherisch, nur vorbereitend und vorfragend, nur ‚vorspielend‘“ (NL, 40 [50], KSA, 11, 653), mit dem es ihm m.E. gelungen ist, einen Weg zur Überwindung der unfruchtbaren Kategorien bzw. Dualismen des metaphysischen Denkens aufzuzeigen. Durch die Hypothese des Willens zur Macht 17 „Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung“ (NL, 5 [56], KSA, 12, 205-206). Über die Glaubwürdigkeit des Leibes vgl.: NL, 36 [36], KSA, 11, 565-566; NL, 39 [18], KSA, 11, 627; NL, 40 [15], KSA, 11, 635; NL, 2 [91, 102], KSA, 12, 106, 112. 18 Sowie die vielen Wesen als Wille zur Macht (im Plural) bezeichnet werden können (vgl. NL, 1 [58], KSA, 12, 25). !9 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] konnte Nietzsche die gesuchte Homogenität in allem Geschehen zumindest denkbar machen.19 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Leib/Seele bzw. Leib/Geist Problem knüpft Nietzsche direkt an die Folgen seiner Kritik an, indem er die Wertschätzungen bzw. die Bedürftigkeit, auf das sich Alles in uns zurückführen lässt, als auf den Willen zur Macht reduzierbar denkt, der sich daher als „das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen“, erweist (NL, 40 [61], KSA, 11, 661). Die Reduktion scheint theoretisch überzeugend, weil der Wille zur Macht einerseits als eine physiologische Tätigkeit, etwa wie die Assimilation oder die Ernährung,20 und andererseits als ein interpretatorischer Prozess beschrieben wird.21 Der Wille zur Macht, so Nietzsche, „interpretiert“ und ist als Interpretation eigentlich „nur ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“, ein Mittel, das der organische Prozess fortwährend voraussetzt (NL, 2 [148], KSA, 12, 139-140). Aus Nietzsches Sicht ist das Interpretieren nicht eine Tätigkeit, die aus einem Interpreten bis zu einem Intepretierten geht, sondern es hat selbst Dasein, „aber nicht als ein ‚Sein‘, sondern als ein Prozeß, ein Werden […] als ein Affekt“ (NL, 2 [151], KSA, 12, 140). Die Interpretation steht nicht im Widerspruch zur Welt des Werdens, sondern der Charakter des Geschehens zeigt sich an ihr (NL, 1 [115], KSA, 12, 38).22 Nietzsche bleibt diesem Gedanken verpflichtet und ist bezüglich der Folgen seiner Dekonstruktion konsequent: Weit entfernt von der Zweideutigkeit der vielen kritischen sprachlichen Techniken23 stellt sich die unter dem Namen der Interpretation gefundene terminologische Homogenität als ein fester Ausgangspunkt zu einer möglichen, vorschlagenden, versuchsweisen Rekonstruktion dar.24 ! ! 19 Leider kann hier auf den nietzscheschen Versuch zur Überwindung der Scheidung zwischen Organischem und Unorganischem lediglich hingewiesen werden. Vgl. dazu: NL, 34 [247], KSA, 11, 504; NL, 35 [53, 58, 59], KSA, 11, 536, 537-538; NL, 36 [20-23], KSA, 11, 560-561; NL, 43 [2], KSA, 11, 701-702; NL, 1 [28, 105, 124, 128], KSA, 12, 16-17, 35-36, 40, 41. 20 Vgl. u.a. NL, 40 [7], KSA, 11, 631; NL, 2 [76], KSA, 12, 96-97. 21 Über den Willen zur Macht vgl. auch NL, 34 [208], KSA, 11, 492; NL, 35 [68], KSA, 11, 540; NL, 38 [8, 12], KSA, 11, 608-609, 610-611; NL, 40 [37], KSA, 11, 646-647; NL, 1 [57-59], KSA, 12, 24-25; NL, 2 [63], KSA, 12, 89. 22 Noch besser ist es, wenn wir den perspektivischen Charakter aller Interpretation und daher die Möglichkeit unzähliger Auslegungen im Gegensatz zu einem Prinzip der Wahrheit beachten (vgl. u.a. NL, 1 [120], KSA, 12, 39). 23 Ich verweise auf die ausführliche Analyse von Ruediger Hermann Grimm, der drei „linguistic techniques“ ermittelt, die Nietzsche oft gebraucht: „a) presupposing that position which is being argued against; b) the deliberate use of contradiction and paradox, and c) the non-conceptual use of termini“ (Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche’s Theory of Knowledge, Berlin, 1977, 117 ff.). 24 Über die Interpretation als gemeinsamer Punkt der destruktiven und der konstruktiven Strategie Nietzsches vgl. Günter Figal, Nietzsches Philosophie der Interpretation, in: Nietzsche-Studien, 29 (2000), v.a. 7 ff. !10 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] 3. Am Leitfaden des Leib-Seele-Problems: Bedeutung des nietzscheschen Denkens der Interpretation Der nietzschesche Gedanke der Interpretation hat sich als möglicher Ausweg von Dualismen, Transzendenz und Absolutismus erwiesen. Diese drei Aspekte machen das Denkparadigma der menschlichen Rationalität überhaupt sowie das der Metaphysik insbesondere aus. Zudem stellen sie eine große Gefahr für die Wissenschaft dar. Obwohl Nietzsche die wissenschaftliche Literatur seiner Zeit gründlich las und die Strenge, Disziplin, Redlichkeit und experimentelle Praxis der wissenschaftlichen Methode sehr hoch schätzte, hat er zugleich Vorbehalte gegen das menschliche Vertrauen in die Wissenschaften und ihre Resultate geäußert.25 Kurz gefasst erweist sich die Wissenschaft letztendlich als eine Interpretation, welche, falls sie sich als Erklärung der Welt ausrichten möchte, in jenen Absolutismus gerät, der von Metaphysik, Moral und Religion zu Unrecht in Anspruch genommen wurde. In Bezug auf die Wissenschaft liegt Nietzsches Standpunkt jenseits der extremen Alternativen bzw. Gefahren der Wissenschaftsphilosophie, d.h. jenseits sowohl der unbedingten Unterstützung der wissenschaftlichen Resultate als auch einer vernichtenden Kritik zu Gunsten irgendeiner höheren Instanz (z.B. Transzendenz, Seele, Gott). In dieser Perspektive zeichnet sich das Verhältnis Nietzsches zu den Wissenschaften als ein Beispiel des Philosophierens ‚mit der Wissenschaft‘ ab, das sich von einer gewissen Routine der Wissenschaftsphilosophie unterscheidet. Betrachten wir nun die Grundfrage der heutigen Geistphilosophie, das sogenannte LeibSeele-Problem. Die Positionen der Philosophen lassen sich auf zwei Grundbehauptungen zurückführen, die eben den zwei oben erwähnten Extremen entsprechen: Einerseits behaupten die monistischen Materialisten, dass sich alle mentalen Prozesse und Zustände im Gehirn abspielen; andererseits glaubt der dualistische Mentalismus, dass mentale Prozesse und Zustände nicht auf physiologische bzw. zerebrale Prozesse und Zustände zu reduzieren sind. Da beide Standpunkte Schwierigkeiten und Begrenzungen mit sich bringen, scheint das Leib-Seele-Problem wesentlich aporetisch zu sein.26 Aus Nietzsches Sicht ist die Frage und deren Stellung fragwürdig. Es gibt nämlich kein Leib-Seele-Problem, außer man nimmt den Leib-Seele-Dualismus an.27 Im Rahmen der Vorschläge Nietzsches löst sich dieser grundlegende Dualismus auf: Physische und mentale 25 Vgl. Helmut Heit, Günter Abel, Marco Brusotti (Hgg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin, 2012. 26 Darüber vgl. Günter Abel, Bewusstsein − Sprache − Natur, 3-6. 27 Vgl. Abraham Olivier, Nietzsche and Neurology, in: Nietzsche-Studien, 32 (2003), 137. !11 Pastorino – Die Rolle der Interpretation [draft] Phänomene teilen, dass sie beide in der Machtorganisation des Leibes als interpretative Prozesse ‚zusammenspielen‘. Eher als dem Geist entgegengesetzt zu sein, zeigt der Leib in allen seinen kleinsten Bestandteilen jene Eigenschaften, die wir gewöhnlich dem Mentalen zuschreiben, und die Nietzsche unter dem Titel ‚Interpretation‘ subsumiert.28 Aus der Perspektive Nietzsches ist der Unterschied zwischen Geist und Leib daher weder ‚wesentlich‘, wie die mentalistischen Dualisten behaupten, noch ‚scheinbar‘, wie die materialistischen Monisten glauben. Es geht vielmehr um einen graduellen Unterschied, der sich der dynamischen, kontinuistichen und a-dualistischen Auffassung, die Nietzsche vorschlägt, sehr gut anpassen lässt.29 Der Ansatzpunkt zur Überwindung der Dichotomie von Monismus und Mentalismus kommt in den Worten Günter Abels sehr gut zum Ausdruck: „Wir haben Bewußtsein, Geist und Denken nicht vermittels, sondern kraft der Zeichenund Interpretationsprozesse“.30 Aus der Sicht von Nietzsches Vorschlag ist die Interpretation immer Kondition, niemals Option.31 Wird zum Schluss der mögliche Beitrag einer solchen Denkweise zur heutigen Forschung ermessen, dann müssen wir zumindest zweierlei anerkennen: Einerseits ist diese experimentierende Philosophie, die Abraham Olivier sehr glücklich „hermeneutic physiology“ nannte,32 in der Lage, ein konstruktives Zwiegespräch mit den Wissenschaften zu halten und ‚mit‘ ihnen zu arbeiten. Andererseits stellt sich Nietzsches Bestreben, die Überwindung von Dualismus und Monismus, als eine Schule zur Schaffung eines neuen Vokabulars dar, durch das sich die Philosophie von metaphysischen Resten befreit, die das Denken in Philosophie sowie Wissenschaft bisher und immer noch fesseln. 28 Vgl. Ebd., 134. 29 Nach der ausführlichen Analyse Abels ermöglichen diese drei Aspekte der Philosophie Nietzsches sowie die Fassung der Einheit als Organisation bzw. Organismus, eine Alternative zur traditionellen Denkweise zu schaffen (vgl. Günter Abel, Bewusstsein − Sprache − Natur, 6-37). Über den A-Dualismus, d.h. über das Streben Nietzsches, zu philosophischen Alternativen jenseits Dualismus und Monismus zu gelangen vgl.: Ebd., 6-7, Manuel Dries, Toward Adualism: Becoming and Nihilism in Nietzsche’s Philosophy, in Ders. (Hg.), Nietzsche on Time and History, Berlin, 2008, 113-145; Peter Poellner, Phenomenology and Science in Nietzsche, in: Keith Ansell Pearson (Hg.), A companion to Nietzsche, Oxford, 2006, 304 ff. 30 Günter Abel, Bewusstsein − Sprache − Natur, 39. 31 Vgl. ebd., 39 ff. 32 Abraham Olivier, Nietzsche and Neurology, 133. !12