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Grażyna Jurewicz / Marie Schröder (Hrsg.) Jüdische Leben erzählen Neofelis Inhalt 7 Grażyna Jurewicz / Marie Schröder Jüdische Leben erzählen Einleitung 25 Beatrix Borchard Storytelling oder ‚Lücken markieren‘? Joseph und Amalie Joachim – Nachdenken über den Umgang mit biographischem Material 55 Verena Dohrn Die Kahans aus Baku Familienbiographie als literarisches Verfahren 83 Claudia Willms Geschichtsschreibung von den Rändern? Franz Oppenheimer aus der Perspektive der kulturanthropologischen Biographieforschung 109 Stefanie Mahrer Salman Schocken Eine biographische Annäherung an einen Unnahbaren 131 Katharina Prager Auto/Biographische Auseinandersetzungen mit (jüdischen) Leben der (Wiener) Moderne 155 Philipp Lenhard Die Tücken des Archivs Zur Biographie Friedrich Pollocks 173 Efrat Gal-Ed Niemandssprache Zum biographischen Textverfahren 193 Jacques Picard Von Uhren, Puppen und Menschen Probleme des biographischen Erzählens im Zeichen der Schoah 217 Christina Pareigis Shamanistic Voyages Rückblick auf die Entstehung einer intellektuellen Biographie 239 Stephan Braese Hildesheimer ‚biographieren‘ Werkstatt – Expedition – Labor 261 Alfred Gall „Ich gehöre nirgendwo hin, denn ich bin anderswoher“ Biographie und Science-Fiction bei Stanisław Lem 285 Abbildungsverzeichnis 287 Personenregister Efrat Gal-Ed Niemandssprache Zum biographischen Textverfahren Über den Biographierten Itzik Manger, einer der bedeutendsten Dichter jiddischer Sprache im 20. Jahrhundert, wurde 1901 im multiethnischen Czernowitz, Hauptstadt der k. u. k. Provinz Bukowina, geboren und starb 1969 in Gedera, Israel. Er besuchte zunächst die traditionelle jüdische Schule (chejder), danach die deutsche Volksschule und das K. K. III. Staats-Gymnasium, das er bereits in der ersten Klasse verließ. Seine breiten Kenntnisse der deutschen Literatur und der Weltliteratur, die er in deutscher Übersetzung las, eignete er sich als Autodidakt während seiner Schneiderlehre an. Der Schaffensprozess des jungen Dichters zeugt von der Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen seiner kulturellen Heterogenität zu klären, zwischen Paradigmen der jiddischen Lebenswelt und des Europäischen Gegensatz und Vereinbarkeit, Verflechtung und Divergenz auszuloten und die eigenen Übergänge zu finden.1 Die Verschränkung des Lokalen und des Europäischen wird ihm zum bewussten Verfahren, die Inszenierung des lokalen Jiddischen zum poetischen Mittel.2 Bereits in seinem Frühwerk dominiert das Genre der Ballade. 1 Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, S. 169–170. 2 Vgl. Efrat Gal-Ed: The Local and the European. Itzik Manger and His Autumn Landscape. In: Prooftexts 31,1–2 (2011), S. 31–59. 173 Diese Kunstform in der noch jungen modernen jiddischen Literatur zu etablieren, gehörte zu seinem künstlerischen Programm. Sein 1929 in Bukarest erschienener, erster Gedichtband ‫דאך‬ ַ ‫[ שטערן אויֿפן‬Sterne auf dem Dach] umfasst 24 Titel, die als Balladen ausgewiesen sind. Wenn Manger auch nicht der einzige jiddische Dichter war, der Balladen schrieb, so galt er im jiddischen Kulturraum der Zwischenkriegszeit als der jiddische Balladendichter schlechthin. Mangers innovativer Umgang mit Stoffen der jüdischen Tradition, deren Inhalte er entnationalisierte und ins Universelle transponierte, charakterisiert sein mittleres Werk, das 1933–1938 in Warschau publiziert wurde. Sein poetisches Verfahren synthetisiert „Versatzstücke aus jüdischer Überlieferung, meist subversiv frei abgewandelt mit Realitätspartikeln sowie Formelementen und Motiven abendländischer Lyrik“3 und fügt sie zu einer poetischen Einheit zusammen. Dazu gehören die 1935 veröffentlichten ‫[ חומש־לידער‬Fünfbuch-Lieder], deren Radikalität einen Skandal auslöste.4 Chumesch-lid [Fünfbuch-Lied bzw. Bibelgedicht] ist Mangers Wortschöpfung und bezeichnet ein Gedicht, das auf einen Stoff aus dem Pentateuch zurückgreift, diesen nicht nachahmend wiedergibt, sondern in die eigene Gegenwart versetzt und um die nicht erzählte Geschichte erweitert. Im biblischen Stoff erkannte Manger das dramatische Potenzial, das sich aus säkularer Perspektive gestalten ließ: quälender Konflikt, innere Zerrissenheit, tragisches Moment. Im Bibelgedicht kamen das Partikulare und das Universale gleichermaßen zum Ausdruck. 1938 wurde Manger aufgrund der sich verschärfenden antisemitischen Gesetzgebung der rumänischen Regierung die Staatsangehörigkeit aberkannt. Der nun Staatenlose wurde von der polnischen Regierung aus Warschau ausgewiesen. „Die erste Station seines Exils war Paris, den Krieg überlebte er in London. Seinem Publikum begegnete er wieder zunächst in Montreal, dann in New York und Tel-Aviv.“5 Mit der Vernichtung der osteuropäischen Judenheit durch die Nationalsozialisten sind Mangers heimische Welt und ihre Jiddisch-Sprechenden unwiederbringlich verlorengegangen. Der Mensch Itzik Manger überlebte im Exil, der Dichter kaum. Er blieb entwurzelt, ohne Aussicht auf Rückkehr in die Welt, der seine Dichtung 3 Gal-Ed: Niemandssprache, S. 278. 4 Vgl. ebd., S. 320–324. 5 Ebd., S. 15. 174 Gal-Ed ■ Niemandssprache entsprang. Im erzwungenen Leben in der Fremde, ohne den Horizont der Zugehörigkeit – Sprache, Menschen und Geographie – erstickte sein Gedicht.6 Im Londoner Exil erschien 1942 der Gedichtband ‫דאך‬ ַ ‫וואלקנס איבערן‬ ָ [Wolken über dem Dach] und 1948 ‫מאנגער זינגט‬ ַ ‫נאטע‬ ָ ‫שנײדער־געזעלן‬ ַ ‫[ דער‬Der Schneidergeselle Notte Manger singt]. In New York wurde 1952 die umfassende Gedichtsammlung ‫לאדע‬ ַ ‫בא‬ ַ ‫[ ליד און‬Gedichte und Balladen] und 1967 der letzte Gedichtband ‫[ שטערן אין שטויב‬Sterne im Staub] publiziert. Beide Bände enthalten nur wenige neue Gedichte, das Spätwerk fällt schmal aus. Manger genoss vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Beliebtheit beim jiddischen Publikum. 1958 wurde er während seines ersten Israelbesuchs als Held der jiddischen Kulturwelt gefeiert. 1963 erhielt er in New York den zum ersten Mal verliehenen Leivick-Preis.7 Seit 1965 wurde das am HamamTheater (Jaffa) auf Jiddisch aufgeführte Musical ‫[ המגילה‬Die Schriftrolle], eine Adaption von Mangers 1936 in Warschau publizierten ‫[ די מגילה־לידער‬Die Esterrolle-Lieder], ein großer Erfolg für das bis dahin in Israel verfemte Jiddische. Das Hamam-Theater, das sonst mit seinem „aufmüpfigen, sozialkritischen Programm für eine säkulare, vergangenheitsfreie, zeitgemäße israelische Kultur“ stand, holte mit diesem Musical „die abgelehnte schmerzliche Vergangenheit ins kollektive Bewußtsein israelischer Gegenwartskultur zurück“.8 1968 ging das Ensemble auf Tournee in Süd- und Nordamerika und trat auch am Broadway erfolgreich auf. 1965 reiste Manger nach Israel und erlebte einige Festvorstellungen, zu denen prominente Persönlichkeiten aus Kunst und Politik kamen. Wenige Tage später erlitt er den ersten Schlaganfall. Ab 1966 war er im Sanatorium in Gedera untergebracht, wo er 1969 starb. Hunderte gaben ihm das letzte Geleit. Einfache Leute, Kulturschaffende und Politiker,9 darunter Staatspräsident Zalman Shazar und Golda Meir, die wenige Wochen später Ministerpräsidentin werden sollte. 6 Ebd., S. 16. 7 Nach dem Dichter H. Leivick (Leivick Halpern) benannt. 8 Gal-Ed: Niemandssprache, S. 686–687. 9 Im vorliegenden Text wird aus sprachsystematischen Gründen das grammatische Maskulinum auch im herkömmlichen generisch-inklusiven Sinn benutzt, also auf Personen jeglicher Geschlechtsidentität bezogen. 175 Der Anstoß Bis zum Sommer 2003 hatte ich weder den Wunsch noch die Vorstellung gehegt, jemals eine Biographie zu schreiben. Doch als ich dann in jenem Sommer vier Wochen lang in der Nationalbibliothek in Jerusalem für das Nachwort zu der von mir übersetzten und herausgegebenen Gedichtsammlung Dunkelgold von Itzik Manger forschte,10 traf ich auf eine Fülle von Lebenszeugnissen, die ein bislang wenig kritisch erforschtes Einzelschicksal und ein noch ungeborgenes Kapitel jiddischer Kulturgeschichte erzählten. Gleich am ersten Tag meines Forschungsaufenthalts erhielt ich den Schlüssel zu einem Raum, den man hebräisch ‫ חדר־מאנגר‬und jiddisch ‫מאנגער־צימער‬ ַ [Manger-Zimmer] nannte. (Abb. 1) Hier war das gesamte Manger-Archiv untergebracht. 1970 hatten die Witwe des Dichters, Ghenya Nadir, und seine Schwester, Schejndl Manger-Glusman, das Geld des ersten Manger-Preises11 der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem für die Einrichtung eines Raums gespendet, in welchem sein Nachlass als Grundstock eines auszubauenden Archivs untergebracht werden sollte. Shalom Rosenfeld, renommierter Journalist und Treuhänder des Verstorbenen, gelang es mit großem Erfolg, weltweit Dokumente von und über Manger zu sammeln: Zahlreiche Freunde und Bekannte schenkten dem Archiv, was sie vom Dichter aufbewahrt hatten. Dass mir in jenem Sommer die damaligen Archivleiter Rafael Weiser und Rivka Plesser ihr Vertrauen schenkten und das Privileg gaben, im MangerZimmer zu arbeiten, „ermöglichte mir eine vom Bibliothekskatalog unabhängige, systematische Sichtung der gesamten Archiv-Bestände, darunter zahlreicher Dokumente, die zu diesem Zeitpunkt und teilweise bis heute nicht katalogisiert worden sind“12. Von morgens bis abends habe ich frei und ungestört Handschriften, Typoskripte, Notizbücher, Briefe, Erstausgaben, Rezensionen, Plakate, Pässe und Fotos gesichtet, ohne sie einzeln bestellen zu müssen. Ich war vom Reichtum der Materialien verblüfft und konnte nicht fassen, dass dieser Schatz von der Forschung kaum ausgewertet worden war, weder hinsichtlich des Werks noch im Hinblick auf die Lebensgeschichte. Als ich dies einem Jerusalemer Jiddisten gegenüber äußerte, erwiderte dieser prompt, 10 Vgl. Itzik Manger: Dunkelgold. Gedichte. Jiddisch und deutsch, aus d. Jidd. u. hrsg. v. Efrat Gal-Ed. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2004. Eine revidierte und erweiterte Neuauflage erschien 2016. 11 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 708–711. 12 Ebd., S. 711. Ein Beispiel für ein nicht katalogisiertes Autograph ist der im Epilog zitierte Vierzeiler, vgl. ebd., S. 712–713. 176 Gal-Ed ■ Niemandssprache Abb. 1: Das ehemalige Manger-Zimmer in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, Jerusalem. „schreibe Du doch die Biographie“. Ich wehrte ab, doch die Sache ließ mir keine Ruhe, und nach einigem Erwägen erkundigte ich mich beim Verlag, ob nach der Gedichtanthologie Interesse an einer Biographie des Dichters bestehe. Die Antwort war positiv, und ein Projekt, dessen Ausmaß ich nicht ahnte, nahm seinen Anfang. 2011, nach einer grundlegenden institutionellen Umgestaltung,13 wurde das Manger-Zimmer aufgelöst und seine Bestände ausgelagert. Ohne das Privileg, darin zu arbeiten, wäre Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter nicht zustande gekommen. 13 Die Jüdische National- und Universitätsbibliothek wurde zu The National Library of Israel. 177 Material und Stoff Dunkelgold ging in den Druck, und im Frühjahr 2004 reiste ich erneut zu einem langen Forschungsaufenthalt nach Jerusalem. Im Herbst folgte eine Forschungsreise nach New York, 2005 nach London, Czernowitz und Warschau und 2006 wieder nach Jerusalem. Dort befinden sich im Manger-Archiv die meisten Manuskripte und Typoskripte seines gesamten Schaffens (1918–1967). Zahlreiche Dokumente der polnischen Periode, von Rochl Auerbach (Oyerbakh), Mitarbeiterin des Ringelblum-Archivs, im Warschauer Getto gerettet, sind im Żydowski Instytut Historyczny [Jüdisches Historisches Institut] in Warschau untergebracht. In der Nationalbibliothek, den Zionist Archives und in Yad Vashem (alle in Jerusalem) sowie im YIVO Institute for Jewish Research und den Archives of the Jewish Labor Committee (beide in New York) liegen die Nachlässe von über dreißig Adressaten Mangers, darunter Dichter, Schriftsteller, Zeitungsredakteure und Kulturaktivisten. Weitere Dokumente konnte ich im Archiwum Akt Nowych [Zentralarchiv für Moderne Akten], Warschau, und im Gebietsarchiv Czernowitz finden.14 Auf der Suche nach Spuren und Indizien von Manger und Personen, die in seiner Lebensgeschichte eine Rolle gespielt hatten, ergänzte ich die Archivforschung durch Lektüre der zeitgenössischen jiddischen Presse und Interviews mit Zeitzeugen. Die Forschung für eine Biographie hört nicht auf, wenn das Schreiben beginnt. Sie bleibt Teil des gesamten Schreibprozesses, da immer wieder neue oder zuvor übersehene kleine und große Lücken und kontextualisierende Aspekte auftauchen, denen nachgegangen werden muss. Nicht selten wird bei der ersten Durchsicht manches Detail oder Thema als nebensächlich, gar irrelevant erachtet, das sich erst während des Schreibens als bedeutsam erweist. So musste ich trotz längerer Forschungsaufenthalte in Jerusalem die Recherche in der Nationalbibliothek bis 2015 wiederholt aufnehmen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer Archive, etwa in New York und Warschau, war ich für ihre Hilfestellung auch nach meiner Forschungsarbeit vor Ort unendlich dankbar. Die Erträge beliefen sich auf knapp 10.000 überwiegend eingescannte Bildund Textdokumente und um die 550 bibliographische Datensätze. Die Erfassung des digitalen und analogen Materials in einer Datenbank sowie dessen Durchsicht und Auswertung nahmen ein knappes Jahr in Anspruch. In 14 Für eine vollständige Liste der Archive vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 28; für eine ausführliche Beschreibung der Materialien vgl. ebd., S. 17–18. 178 Gal-Ed ■ Niemandssprache diesem Prozess zeichneten sich bereits Struktur, Themen und Schwerpunkte der Biographie ab; und es drängte sich die Frage nach einem geeigneten Textverfahren für eine Lebensgeschichte auf, deren Lebenswelten nicht länger existieren, auch nicht in kollektiven Gedächtnissen, nichtjüdischen wie jüdischen gleichermaßen. Wie sollte ein Einzelschicksal dargestellt werden, wenn dem Lesepublikum die Bezugspunkte für dessen kulturgeschichtlichen Kontext fehlen? Das Dilemma Im Fall der Lebensgeschichte von Itzik Manger handelt es sich überwiegend um das jüdische Osteuropa mit seinen rumänischen, galizischen, polnischen und baltischen Landschaften, in denen sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine jiddisch-säkulare Kultur entfaltet hatte.15 Manger war am Aufbau der jiddischen Kulturbewegung im Rumänien und Polen der Zwischenkriegszeit maßgeblich beteiligt. Diese Kulturräume mitsamt ihren Lebenswelten wurden vernichtet und mit ihnen der dazugehörende Wissensvorrat. Was weiß man heute über die jiddischen Kulturzentren in Czernowitz, Warschau, Krakau, Wilna, Riga oder Kaunas vor deren Vernichtung? Kennen wir die Lebensbedingungen, Denkfiguren und Konzepte, Horizonte und Grenzen der Kulturentwürfe jiddischer Intellektueller, Künstler und Kulturaktivisten der Zwischenkriegszeit? Wie vertraut sind uns ihre Selbstbilder und Selbstverständnisse, Argumente und Widersprüche, die Diskurse um ihre Minoritätskultur, welche unter verschiedenen Hegemonialkulturen im beständigen Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem lebte? Auf welche Weise brachten das Adoptierte, Transformierte und Diverse kulturgenerierende Handlungsketten hervor, die nach dem Ersten Weltkrieg auf eine „Zugehörigkeit zur Welt“16, wie es Manger formulierte, zielten? Es war eine Zugehörigkeit, die mit der Teilhabe der zuvor ausgegrenzten jüdischen Minderheiten an einem neuen Europa beginnen sollte. Diese Fragen treffen gleichermaßen auf die von Migranten aufgebauten jiddischen Kulturzentren in den Amerikas der Zwischen- und Nachkriegszeit zu, etwa in Montreal, Buenos Aires oder New York.17 Die in unseren kollektiven Gedächtnissen 15 Vgl. ebd., S. 15–16. 16 Zit. n. ebd., S. 41. 17 Einige dieser jiddischen Kulturräume waren zum Zeitpunkt meiner Schreibphase teilweise bereits erforscht. 179 abwesende und daher unbekannte Zeit- und Kulturgeschichte und das damit einhergehende Fehlen eines Bezugsrahmens machten es bei einer Biographie über Manger notwendig, Lebens- und Kulturgeschichte zu rekonstruieren.18 Geschichten erzählen ist bekanntlich eine kulturelle Universalie,19 der Mensch gilt als homo narrans. Wie aber sollte ich den genannten Komplexitäten gerecht werden? Ich stand vor einem Haufen von Fragmenten und Scherben: vor Wort-, Ton- und Bilddokumenten, die nach einer Erzählweise verlangten, in der das Fehlende mitspricht, und welche, bei aller Vertrautheit mit dem gefundenen Material – die oft eine Vertrautheit mit dem Protagonisten und seinen Mitmenschen vortäuscht – den Unterschied zwischen Bericht und Kommentar möglichst markieren sollte. Eine von fiktionalen Elementen freie Rekonstruktion also, welche Spuren und Indizien, aber ebenso durch Flucht, Exil und Schoah entstandene Lücken sichtbar macht. Eine Darstellungsweise, welche die vorgefundenen Fragmente nachzeichnet, Schauplätze, Personen und Konstellationen sowie die Korrespondenzen im historischen und kulturellen Kontext erscheinen lässt und dabei nicht verhüllt, dass die Wahl der Stoffelemente und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, nur eine mögliche Erzählweise ist. Mangers Leben im Rahmen der Zeit- und Kulturgeschichte als getrennte Komponenten hintereinander zu erzählen, hätte nicht nur längere Unterbrechungen des jeweiligen Erzählstrangs zur Folge gehabt, sondern auch die Konturen der Verflechtung beider aufgeweicht. Beide Geschichten parallel zu erzählen, versprach zwar, neben den individuellen Lebenswegen die kollektiven Lebenssituationen und damit das Einzelschicksal und dessen Bezugsrahmen auf einer Buchseite vor Augen zu führen, erforderte allerdings eine ungewohnte Seitengestaltung, welche die geneigten Leserinnen und Leser als befremdlich, sogar beschwerlich empfinden könnten. Im Vertrauen auf die Offenheit der Lesenden entschied ich mich für Letzteres. Dieses Verfahren versprach, der nötigen simultanen Vermittlung eines Einzelschicksals und seiner Kulturgeschichte am besten gerecht zu werden. 18 Zu meiner Beschäftigung mit theoretischen Schriften zur Biographik und Kulturgeschichte in dieser Phase gehörten u. a. Carlo Ginzburg: Holzaugen. Über Nähe und Distanz, aus d. Ital. v. Renate Heimbucher. Berlin: Wagenbach 1999; ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus d. Ital. v. Gisela Bonz / Karl F. Hauber. Berlin: Wagenbach 1995; Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart: Metzler 2002. 19 Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: Fischer 2012, S. 10. 180 Gal-Ed ■ Niemandssprache Meine Wahl machte die typographische Gestaltung zum integralen Teil des biographischen Verfahrens; die praktische Umsetzung hieß, inhaltlich wie visuell gestaltend zu schreiben, so schrieb ich das Buch in einem Layout-Programm. Das Verfahren Als Vorbild dienten mir Gestaltungsmodi jüdischer Kommentarliteratur, wie sie in mittelalterlichen Handschriften und in Drucken aus dem 16. Jahrhundert überliefert sind, etwa Talmudausgaben und biblia rabbinica.20 (Abb. 2) Das Merkmal dieser Seitenausstattung ist das Nebeneinander einzelner Textstränge bei prägnanter graphischer Distinktion. Dieses Design akzentuiert die Zusammengehörigkeit der Texte, die wiederum durch ungleiche Schriftarten und -größen klar voneinander abgegrenzt sind. Zugleich bringt es einen vielstimmigen hypertextuellen Diskurs von Gelehrten unterschiedlicher Orte und Zeiten auf einer Seite zusammen. Für die von mir intendierte Bild- und Textpolyphonie diente der Talmud als Modell: Auf Seitenmitte steht der Haupttext (eine Stelle aus der Mischnah mit dem darauffolgenden kommentierenden Diskurs der Talmudgelehrten), um ihn herum, in einer anderen, kleiner gesetzten Schrift, stehen Erörterungen und Auslegungen aus späteren Jahrhunderten. Jede Seite sieht anders aus, entwickelt sich als selbständige Entität mit einem zentralen Teil und mit umgebenden Textfeldern. Das polyphone Buch bewahrt die Eigenständigkeit der verschiedenen Stimmen, läßt Parallelen und Dissonanzen zu[.]21 Diese Formgebung erlaubte mir, sowohl Erzählpassagen chronologisch aus Bild- und Textdokumenten zu entwickeln als auch – in einem umgebenden Text – kulturelle, politische, literarische und soziale Felder zu skizzieren, den Blick auf das Verhältnis von Legende und Lebensumständen, von Werk und Lebensentwurf zu richten. Die Lücken in der Lebenslandschaft bleiben offen; doch wird die Gestalt des Dichters in ihren Beziehungsgeflechten und ihrer Mitwelt sichtbar. 20 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 21–25. 21 Ebd., S. 27. 181 Abb. 2 Talmud Bavli: Masekhet Zevahim. 3. Druck. Venedig: Bomberg 1548, Bl. 2a. Diese typographische Gestaltung veranschaulicht die Interdependenz von Text (Einzelschicksal) und Kontext (Kulturgeschichte), von Leben und Kulturraum. Zugleich erlaubt sie, Spuren, Indizien und deren Analyse visuell zueinander in Beziehung zu setzen.22 Wer die Biographie aufschlägt, findet sich vor einer Seite mit zwei parallel laufenden Textsträngen, ‚Stimmen‘: (Abb. 3) In der inneren, in Antiqua gesetzten Spalte steht die erste, in der umgebenden, in serifenloser Schrift gesetzten Spalte die zweite Stimme der Biographie. Sie gehören zusammen. Die erste erzählt aus dem gefundenen Material schöpfend; die zweite interpretiert, liefert Hintergrund und Kontext, flicht kapitelübergreifende Themen und weitere Personengeschichten ein. Wenn es auch kein Erzählen ohne Deutung gibt, so bewahrt doch die Zweistimmigkeit den Unterschied zwischen Vorgefundenem und Herausgefundenem, Dokumenten und Kommentar.23 22 Gal-Ed: Niemandssprache, S. 27. 23 Ebd. 182 Gal-Ed ■ Niemandssprache Czernowitz  In den Städten. Frühwerk (  –  ) Gruppenbild. Vier jiddische Dichter sitzen um einen Tisch und schauen in die Kamera. Der bemalte Hintergrund mit Ranken und Fenstermotiv verleiht der Szene eine harmonischfreundliche Note. Der weiße Tisch, um den sich die vier gruppieren, ist zu klein, um allen Platz zu gewähren, aber seine Helle schafft Kontrast zu dem Dunkel der Anzüge und der Kulissenwand, korrespondiert mit dem Weiß von Stühlen und Hemden und läßt an Sommer denken. Mit den hier Versammelten ist das Bild jiddischer Dichter in Rumänien fast vollständig. Die vier lächeln ernst unter dem Gewicht der Gruppenbildung. Zwei sitzen gerade, es sind die beiden älteren, die jüngeren neigen sich in ihre Richtung. Sternberg, dandyhaft, die Hände über einem Spazierstock gefaltet, zeigt sich feinsinnig-distanziert, in sich ruhend ; Steinbarg, im helleren Streifenanzug, wirkt humorvoll, pragmatisch, in sich verankert und hält die Hände fest geflochten, als bremse er eine Bewegung, die gleich woanders weitergehen will ; Altman, ebenfalls im dreiteiligen Anzug, neigt sich lächelnd zu Steinbarg, in der Gewißheit seiner Zugehörigkeit ; Manger, in rumänischer Militäruniform mit hohen Stiefeln, Koppel und Bajonett, ist der jüngste, erscheint jünglingshaft, will dazugehören, lehnt sich auf Czernowitz Durch den Anschluß der Bukowina an Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg verschlechterte sich die Lage der Nichtrumänen ( 60 % der Bevölkerung ) radikal, denn die Maßnahmen zur Rumänisierung bedeuteten politische, wirtschaftliche und kulturelle Diskriminierung.1 Mit dem Verlust der Anbindung an Österreich waren den Juden in Czernowitz Fundament und Umfeld ihrer transkulturellen Orientierung entzogen.2 Um die politische Gleichstellung gebracht, begannen sie erneut den Kampf um das Bürgerrecht ; an kulturelle Autonomie war nicht mehr zu denken. In den Worten des Historikers Hermann Sternberg ist der durch den massiven politischen Rückschritt ausgelöste Schmerz noch hörbar : In der Bukowina lebten 40 % Ruthenen, 35 % Rumänen, 10 % Juden, 6 % Deutsche, 5 % Ungarn, 4 % Polen und andere Nationalitäten, aber in Czernowitz lagen die Dinge anders. In der Stadt sprachen alle deutsch, nicht nur die Juden, und die Vorstädte waren überwiegend ruthenisch. Ohne Übergang war nunmehr die Sprache der öffentlichen Kundmachungen ausschließlich Rumänisch, selbst die Firmenschilder wurden zwangsweise romanisiert. Private Ankündigungen, wie Plakate oder Todesanzeigen, mußten zweisprachig erscheinen, wobei der rumänische Text an erster Stelle zu stehen hatte, auch wenn die Ankündigung durchaus nicht für Rumänen be- Die literarische Gruppe  [ Fensterscheiben ], Czernowitz  ( v. l. n. r.) : Itzik Manger, Mojsche Altman, Elieser Steinbarg, Jankew Sternberg (   :  ) 1 Für Literatur zu Czernowitz in der Zwischenkriegszeit siehe oben Anmerkung 1, S. 57 ; speziell Sternberg 1962 : 39 – 47 ; Schaary 2004 : 147 – 174 ; sowie Marten-Finnis / Jastal 2003 ; Yavetz 2007. Zur Rumänisierung der Bukowina siehe Schaary 1996 : 213 – 217 ; Hausleitner 2001 ( passim ) und Hausleitner 2002. 2 Dennoch richteten sich Czernowitzer jüdische Bildungsbürger weiterhin an der deutschen Kultur aus ( vgl. Schaary 2004 : 256 ff ). Abb. 3: Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, S. 124–125. 03.indd 124 2015.11.15 18:28 03.indd 125 2015.11.15 18:28 Das mag zunächst gewöhnungsbedürftig wirken, doch – so die Rückmeldungen – finden Lesende schnell eigene Gänge durch die Textpassagen. Die narrativen und diskursiv-argumentativen Textsegmente können hintereinander oder im Wechsel miteinander gelesen werden. In dieser offenen Textgestalt lassen sich Untereinheiten der Erzählsequenzen auf immer andere Weise verknüpfen, Ereignisse und Episoden unterschiedlich zueinander in Beziehung setzen. Die gewählte Lesart bestimmt Erzählstränge und verschränkt sie zu einer Biographie, die erst im Leseprozess erscheint. Aus Fotografien und Stimmen, Details und Gesamtbildern, dargestellten Sachverhalten und atmosphärischen Klängen entsteht im individuellen Leseverfahren ein narratives Gewebe, das mehr als die Summe der einzelnen Komponenten festhält. 183 Ein kommentiertes Beispiel Wie lässt sich eine biographische Konstellation eruieren? Im Versuch, den Schauplatz eines Ereignisses zu ermitteln, einem Zusammenhang auf die Spur zu kommen, findet sich die Biographin in der Rolle des Detektivs, allerdings ohne Navigationssystem und Kleinkameras. Meine Neugierde auf das Ereignis hinter dem Dokument, auf Schauplatz und Konstellation wurde beispielsweise von einer Zeichnung in einer Zeitschrift geweckt. Wir sehen eine Bleistiftzeichnung. (Abb. 4) Die Warschauer jiddische Wochenschrift Literarische bleter, in der Zwischenkriegszeit eine der angesehensten jiddischen Bühnen weltweit, bringt am 21. März 1930 vier Gedichte Mangers begleitet von diesem Porträt. Die Bildlegende unter der Zeichnung lautet: „Itzik Manger / gezeichnet von Ber Horowitz“. Die Abbildung ist klein und grob gerastert, dennoch lässt sich erkennen, dass die Zeichnung mit „24. November 1929“ datiert ist, und dass um sie herum von unterschiedlicher Hand kleine Sprüche notiert wurden. Ein Gruppendokument also, das ein Ereignis festhält. Ich stelle es mir folgendermaßen vor: An einem Sonntag, dem 24. November 1929, finden sich einige jiddische Schriftsteller mit Manger in einem Warschauer Lokal ein. Unter ihnen ist Ber Horowitz, Dichter, Zeichner und Mangers Freund. Man trinkt und tauscht sich aus. Im Lauf des Abends entsteht spontan ein gemeinsames Blatt: Horowitz zeichnet ein Porträt von Manger, die anderen fügen um die Zeichnung herum je einen Spruch hinzu. Stimmt meine Vermutung? Sind Horowitz und Manger befreundet? Wer sind die anderen Personen? Fand das Treffen tatsächlich in Warschau statt? Wie sich aus Korrespondenz und Pressemitteilungen eruieren lässt,24 standen der 1895 in Majdan (Ostgalizien) geborene Dichter, Erzähler und Zeichner Ber Horowitz und Itzik Manger kurz vor einer gemeinsamen Reise nach Wilna, wo sie vier Tage später tatsächlich ankamen. Die zwei hatten sich während Mangers erstem Besuch in Wilna im März 1929 angefreundet. Sie teilten Kindheitserinnerungen an die Karpaten, eine gemeinsame Liebe für das jiddische Volkslied und ein künstlerisches Interesse an der Gestalt des Bescht. Horowitz war von Mangers Verbundenheit mit der rumänischen Landschaft, dem rumänischen Volkslied, von seiner Biographie und von seinen Gedichten angerührt und beeindruckt. Der große, breitschultrige, blonde Dichter mit dem schallenden Lachen teilte mit Manger das Künstlerselbstbild des Bohemiens 24 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 203, Anm. 11. 184 Gal-Ed ■ Niemandssprache Abb. 4 Literarische bleter, 21.03.1930, S. 223. und jene Unruhe, die ihn nirgends auf Dauer bleiben ließ. Er hatte den Freund am 7. März 1929 in einem Gedicht porträtiert, das bereits zwei Wochen später in den Literarische bleter erschienen war und die Begegnung zweier Wahlverwandter festhält.25 Zurück zur Zeichnung. Unten rechts lese ich: ‫ א‬/ ‫אנ’ אינדיאנער ֿפון בוקארעסט‬ ‫ סעגאלאוויטש‬.‫ ז‬/ ‫ טרינק ווייטער מאנגער‬/ ‫ טרינקט מער ווי ער עסט‬/ ... ‫שטערן־ֿפאנגער‬ [Ein Indianer aus Bukarest / ein Sternen-Fänger … / trinkt mehr als er isst / trink weiter Manger / S. Segalovitsh].26 Zu dieser Zeit war Sussman Segalovitsh (Zusman Segalowitch), 1884 in Białystok geboren, Dichter, Romancier und Journalist, ein populärer Erzähler und eine prominente 25 Ebd., S. 203, 205. 26 Alle Übersetzungen aus dem Jiddischen E. G. 185 Gestalt im jiddisch-literarischen Warschau. Er war Vorsitzender der Warschauer Zweigstelle des jiddischen P.E.N.-Clubs und des jiddischen Schriftstellerverbands.27 Oben links lese ich: ‫ צו פרייען זיך‬/ ‫ֿפון בוקארעסט קיין ווארשע איז געקומען א דיכטער‬ ‫ קאטלער‬/ ‫ ממני יאסל‬/ ‫נאר ער איז נעבעך ניכטער‬ ָ / ‫[ און טרינקען‬Von Bukarest nach Warschau kam ein Dichter / um sich zu freuen und zu trinken / doch er ist leider nüchtern / von mir Jossl / Kotler]. Kann das sein? Der 1896 in Troyanets (Volhynia) geborene Jossl Cutler (Yosl Kotler), Satiriker, Zeichner, Karikaturist, Stückeschreiber und Puppenspieler, lebte bereits seit 1911 in New York. War er etwa gerade in Europa auf Tournee? Allein in der Wochenschrift Literarische bleter finden sich zwischen Oktober 1929 und März 1930 mehrere Berichte über das Künstlerpaar Yosl Cutler und Zuni Maud und deren 1925 an der Lower East Side gegründetes jiddisches Marionettentheater Modicut. Nach Auftritten in England, Frankreich und Belgien traten die beiden auch im Warschauer Schriftstellerverband an der Tłomackie 13 mit großem Erfolg auf. Die Presse beziffert 200 ausverkaufte Vorstellungen. Unten links erkenne ich Mangers Handschrift: ‫ אפשר קענסט‬/ ‫טייערער בער‬ ‫ מאנגער‬.‫ י‬/ ‫ איך קוק און קוק און ווייס ניט ווער‬/ ‫[ זאגן ווער ס’איז אדער‬Lieber Ber / vielleicht kannst du sagen, wer das ist, ansonsten / schau ich und schau und weiß nicht wer / J. Manger]. Und auf der rechten Seite fügt er hinzu: ‫ דו קענסט ניט טרינקן און דו קענסט ניט‬/ !‫ אויֿפן ֿפייער זאלסטו ברענען‬,‫ ווארשע‬,‫ווארשע‬ ‫ איציק מאנגער‬/ !!!‫[ ט[רענע]ן‬Warschau, Warschau, du sollst im Feuer brennen! / Du kannst nicht trinken und kannst nicht [ficken]!!! / Itzik Manger]. An dieser Stelle hat die Redaktion der Wochenschrift die mittleren Buchstaben des vulgären ‫[ טרענען‬wörtlich ‚trennen‘, vulgär ‚ficken‘] ausradiert. Mangers Feststellung zu Warschau wird von einem anderen bekräftigt, dessen Unterschrift ich nicht entziffern kann: ‫ ווי איך בין‬,‫ אמת‬/ ‫ס’איז א ֿפאקט — נישט קיין ליד‬ ‫[ א ייד‬Es ist ein Fakt – kein Gedicht / so wahr ich Jude bin]. Oben rechts steht eine leserliche Unterschrift, die ich jedoch zunächst nicht zuordnen kann: ‫זאגט אייך לעוו ניאק‬ ָ ‫ ַאזוי‬/ ‫קאק‬ ַ ‫[ גלייבט ס’איז אלץ ווארט ַא‬Glaubt, ein jedes Wort ist Kacke, / so sagt euch Lew Niak]. Ein Gruppenbild, das der Autor und Fotograf Alter Kacyzne im Dezember 1929 gemacht hatte und das ich in einem Artikel von Edward Portnoy entdecke,28 hilft mir weiter: Es hält Schriftsteller und Künstler fest, die damals im 27 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 201, Anm. 6. 28 Vgl. Edward Portnoy: Modicut Puppet Theatre. Modernism, Satire, and Yiddish Culture. In: The Drama Review 43,3 (1999), S. 115–134. 186 Gal-Ed ■ Niemandssprache Lokal des Schriftstellerverbands ein- und ausgingen. Der Ort war nicht nur Treffpunkt der jiddischen Schriftsteller und Journalisten, die in Warschau lebten oder die Stadt besuchten, sondern auch anderer Kulturaktivisten und Liebhaber jiddischer Kunst und Literatur. Im Zentrum des erwähnten Gruppenbilds sind Maud und Cutler zu sehen, umgeben von Perle, Segalowitch, Manger, Frydman, Ravitch, Zak, Horowitz, S. Liwniak und Kacyzne. Manger war im November 1929 zum zweiten Mal nach Warschau gekommen und hielt sich ebenfalls gern im Verbandslokal auf, wo er Warschauer Kollegen und Gastkünstlern begegnete. Zwischen seinen Besuchen erschien in Bukarest sein erster Gedichtband ‫דאך‬ ַ ‫[ שטערן אויֿפן‬Sterne auf dem Dach] und es gelang ihm, vier Nummern der eigenen kleinen Zeitschrift ‫געציילטע ווערטער‬ [Einige Worte] in Czernowitz herauszugeben. Er war also auch im jiddischen Warschau kein Unbekannter mehr. Sein Dichterfreund Horowitz porträtierte ihn nun zum zweiten Mal, diesmal nicht in einem Gedicht, sondern in einer Zeichnung, einer liebevollen Karikatur mit großer Realitätsnähe: [D]er schielende Blick, die hohe Stirn, der lange Hals, das dreieckige Gesicht. Dabei verspottet Horowitz Manger nicht; er mag den Mann, den er zeichnet, sieht ihn, aber verklärt ihn nicht. Er zeigt das Disproportionale in Manger – viel Kopf, wenig Körper –, das Vogelhafte, das Ausgezehrte. Der Hut sieht seltsam aus, zu groß, das Gesicht verlebt. Doch je länger man schaut, desto mehr tritt der Hut zurück, treten Haar, Stirn, Wangen und Augen hervor. Die Augen muten traurig an, sie bringen Nachdenklichkeit und Ferne ins Bild, lassen das Lächeln defensiv erscheinen. Horowitz übertreibt den Hut und die Spitzen des Revers, so daß die Jacke wie ein Frack aussieht, als sei Mangers Erscheinungsbild etwas überzogen. Das Gesicht aber karikiert er nicht. Manger wirkt würdevoll, der Zeichner bleibt ihm gewogen.29 Itzik Manger ist zu diesem Zeitpunkt erst 28 Jahre alt. Er stammt aus Rumänien, einem Land, dessen jiddisch-literarisches Feld in Warschau wenig bekannt ist. Dieses Gruppendokument hält ein Ereignis fest, bei dem der junge Dichter unter älteren, ausschließlich männlichen, teilweise bereits renommierten Kollegen in Warschau, der europäischen Metropole der jiddischen Kultur, im Mittelpunkt steht. Derart dargestellt zu werden, wird ihm geschmeichelt haben. Vielleicht war das ein Grund, weshalb er der Redaktion anstelle einer Fotografie die Porträtzeichnung als passendes Dichterbild zu seinen Gedichten einreichte. Denn das Gruppendokument mit dem Hinweis auf 29 Gal-Ed: Niemandssprache, S. 206. 187 Bleistiftzeichnung – Mangers Warschau  Warschau : Fast ein Glück I ( 1928 – 1938 ) Bleistiftzeichnung An einem Sonntag, dem 4. November 1929, finden sich in einem Warschauer Lokal einige jiddische Schriftsteller mit Manger zusammen.1 Unter ihnen ist Ber Horowitz, Dichter, Zeichner und Mangers Freund.2 Man trinkt und tauscht sich aus. Im Lauf des Abends entsteht spontan ein gemeinsames Blatt : Horowitz zeichnet ein Porträt von Manger, die anderen fügen um die Zeichnung herum je ei1 Manger kam Mitte November 1929 wieder nach Warschau, für etwa einen Monat (Manger an Reisen, 19. November 1929, yivo, rg 223 / 35 ), doch diesmal blieb er. 2 Siehe Foto S. 186. Die Freundschaft begann wahrscheinlich im März 1929, während Mangers ersten Besuchs in Wilna. Es ist nicht überliefert, wie lange sie währte. Ber Horowitz ( Majdan, Ostgalizien, 1895 – Stanislau 1942 ) wuchs in den karpatischen Bergen auf, erhielt eine jüdisch-traditionelle Erziehung von Privatlehrern, besuchte parallel die ukrainische Dorfschule und anschließend ein polnisches Gymnasium. 1914 wurde er zur k. u. k. Armee eingezogen, verschiedenenorts eingesetzt und schließlich in Wien stationiert, wo er das Medizinstudium aufnahm. Der polyglotte Horowitz begann bereits als Soldat jiddische Gedichte zu schreiben, darunter Gedichte über den Krieg und dessen Sinnlosigkeit. In Wien schloß er sich dem literarischen Zirkel um Mojsche Zylburg, Awrom Mojsche Fuchs und Melech Ravitch an. In seinem 1919 erschienenen ersten Gedichtband, ‫ֿפון מיין היים אין די בערג‬ [ Von meiner Heimat in den Bergen ], schlug Horowitz einen in der jiddischen Lyrik neuen Ton an und wurde für die Direktheit, Natürlichkeit und Schlichtheit seiner Sprache von der Kritik gelobt. Seit Mitte der 1920 er Jahre lebte Horowitz wieder in Polen. Er übersetzte Theaterstücke und Gedichte ins Jiddische, veröffentlichte eigene Gedichte und Erzählungen (darunter über den Baal-Schem-Tow und den karpatischen Räuber und Volkshelden Oleksa Dovbus ), zeichnete, malte und war zeitweilig auch als Schullehrer für jiddische Literatur tätig. Im Oktober 1942, während der deutschen Besatzung von Stanislau, wurde Ber Horowitz ermordet. Siehe Ravitch 1945 : 62 ff und 1975 : 158 – 163 ; Jizchok TurkowGrudberg 1964 : 70 ff ; Bolbecher und Kaiser 2000 : 323 f ; Cohen 2008 . 1 und die genannte Literatur. Itzik Manger, gezeichnet von Ber Horowitz,  , . März  ( NLI ) Mangers Warschau Die Stadt verkörpert jenes Polen, das Manger Ende 1928 zum ersten Mal bereiste, alsbald zu seiner Wahlheimat machte, aus der er im Frühjahr 1938 ausgewiesen wurde. Anfang der 50er Jahre wird er in New York Jankew Pat rückblikkend erzählen, daß diese zehn Jahre in Polen seine » schönsten « gewesen seien. Dort sei sein Selbstbewußtsein gewachsen; dort sei er als jiddischer Dichter » einem lebendigen jüdischen Volk zugehörig « gewesen. In diesem Umfeld sei ihm das Jüdische in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen begegnet: im Jiddisch sprechenden einfachen Menschen, im Arbeiter oder im Polnisch sprechenden Assimilierten. In Polen seien seine meisten Werke erschienen, und Tausende junge jiddische Menschen hätten ihm » begeistert und verliebt zugehört «. Anerkennung bekam Manger nicht nur von der Jugend; der bund, dem er sehr nahestand, ehrte ihn 1937 mit seinem Literaturpreis. » Ich fühlte mich dort wie ein Prinz, trotz ausgetretener Schuhe und mit nur 20 Złoty die Woche. « Ein Bild des Glücks.1 Ein paar Jahre später schrieb er etwas nüchterner in einem autobiographischen Text : » Warschau wurde mein wahres Zuhause. Ich gewann die Städte und Städtchen 1 Pat 1954 : 187 f. Abb. 5: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 196–197. 04_Teil-1.indd 196 2015.11.15 18:32 04_Teil-1.indd 197 2015.11.15 18:32 den alkoholisierten Künstler und den gereimten,30 mitunter derben Sprüchen bezeugte das Wunschbild eines großstädtischen, unbürgerlichen, reisenden poète maudit im Kreis seiner ihn bewundernden Freunde. Mit diesem Gruppendokument beginnt das Kapitel „Warschau: Fast ein Glück I (1928–1938)“. (Abb. 5) Die Abbildung befindet sich auf der linken Seite. Sie dient weder der Illustration noch der Ergänzung, sondern liefert das Ereignis, das die Erzählung in diesem Kapitel motiviert. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite steht der zentral positionierte Text der Lebensgeschichte. Er setzt sich aus der Beschreibung des abgebildeten Dokuments (was ich sehe), dessen Inhalt (was ich lese), aus ergänzenden Details zu den Akteuren und aus den daraus gewonnenen Beobachtungen und Erkenntnissen (was ich verstehe) zusammen. Dieser Textteil ist durchgehend in der Gegenwartsform geschrieben und hebt sich visuell vom umgebenden Textsegment ab, weil er in Antiqua gesetzt ist. Der umgebende Text – in serifenloser Schrift gesetzt 30 So reimt beispielsweise manger auf fanger, trenen auf brenen, yid auf lid und nikhter auf dikhter. 188 Gal-Ed ■ Niemandssprache und in der Vergangenheitsform geschrieben – widmet sich dem Bezugsrahmen, behandelt Kulturentwurf und ideologischen Diskurs, Kultureinrichtungen und Personengeschichten, Literatur- und Theaterszene sowie deren historische Hintergründe und ökonomische Bedingungen. Das erste Warschauer Kapitel beginnt also mit der Abbildung, dem Unterkapitel „Bleistiftzeichnung“, in dem diese nahe betrachtet wird, ergänzt von kontextualisierenden Einzelheiten in den Fußnoten, und dem parallel verlaufenden Unterkapitel „Mangers Warschau“, in welchem Hintergrund und Gegenwart des von Manger erlebten jiddischen Kulturraums mit den ihm eigenen Bedingungen, Anforderungen und Denkmodalitäten rekonstruiert werden. In der ersten Textspalte ist der Blick auf Handlungen des Protagonisten gerichtet, in der zweiten auf Aspekte des soziokulturellen Raums, in dem er agiert. Dieses lange Unterkapitel umgibt mehrere Unterkapitel der inneren Spalte. Drei Varianten Das simultane Textverfahren lässt sich in verschiedenen Funktionen und Spielarten einsetzen und kommt in Niemandssprache auf unterschiedliche Weise zur Anwendung. Aus der Fülle der Varianten seien hier in Kürze drei Beispiele angeführt. Gegen Ende des ersten Warschauer Kapitels wird Mangers poetisches Verfahren in dieser Schaffensphase anhand einer von mir analysierten Ballade veranschaulicht.31 An dieser Stelle fungieren beide Textsegmente ganz traditionell als Text und Kommentar: Der Text, hier das Gedicht, steht jiddisch und deutsch im Zentrum, umgeben von seiner Interpretation. (Abb. 6) Im zweiten Beispiel dient die Anwendung simultaner Erzählstränge der angereicherten Darstellung einer Person, die im Leben Mangers und zugleich jenseits davon Bedeutsames geleistet hat: Rochl Auerbach (Oyerbakh), Mangers Warschauer Lebensgefährtin. Ihr werden im zweiten Warschauer Kapitel zwei Unterkapitel gewidmet:32 Im biographischen Segment wird aufgrund ihrer gewichtigen Rolle in dieser Lebensphase Mangers die Geschichte der Beziehung erzählt; im kulturhistorischen Segment wird Auerbachs Lebensgeschichte geschildert, war sie doch als Übersetzerin, mehrsprachige Journalistin und Autorin eine eigenständige Stimme im jüdischen Warschau der 31 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 278–285. 32 Vgl. ebd., S. 302–310. 189 Die Ballade vom Podelojer Rabbi – Alltägliche Epiphanie zu Podu Iloaiei Warschau : Fast ein Glück I (  –  )  ‫דעלא יער רב‬ ָ ‫ּפא‬ ָ ‫לא דע פּון דעם‬ ַ ‫ּבא‬ ַ ‫די‬ Alltägliche Epiphanie zu Podu Iloaiei Die Ballade entstand 1930, wurde am 9. Mai 1930 in ‫דעלאי‬ ָ ‫ּפא‬ ָ ‫דער ַאלטער רב פּון‬ : ‫געזאגט ַאזוי‬ ָ ‫פארקנייטשט דעם שטערן אּון‬ ַ ‫האט‬ ָ literarische bleter erstveröffent.‫נאכט‬ ַ ‫„ פון ַאלע וועגן גענענט די‬ licht und 1933 in den Band Later” ? ‫רּבראכט‬ ַ ‫פא‬ ַ ‫טאג‬ ָ ‫ דעם‬,‫ ייד‬,‫האסטּו‬ ָ ‫וואס‬ ָ ‫מיט‬ ne im Wind aufgenommen.1 Sie veranschaulicht Mangers moder,‫מיט שטילע הענט צינדט ער ָאן ַא ליכט‬ nistisches, nahezu postmodernes ,‫באלויכטן זיין מיד געזיכט‬ ַ ‫שארף‬ ַ ‫ווערט‬ synthetisches Verfahren, das Ver‫אּון ּביי יעדן ריר פּון זיינע הענט‬ satzstücke aus jüdischer Überlie: ‫שאטנס אויף די ווענט‬ ָ ‫ציטערן די‬ ferung, meist subversiv frei ab‫געקלאגט‬ ָ ‫ געדאגהט אּון‬,‫געדאוונט‬ ַ „ gewandelt mit Realitätspartikeln .” ‫געזאגט‬ ָ ‫אויף גלות השכינה אּון ּתהלים‬ sowie Formelementen und Mo: ‫פארקלעמט‬ ַ ‫הארץ ווערט שווער אּון‬ ַ ‫אּון וויי ! זיין‬ tiven abendländischer Lyrik zu .‫פארשעמט‬ ַ ‫מיטוואך‬ ָ ‫מיט צער דעם הייליקן‬ einer poetischen Einheit zusammenfügt. Ein Realitätspartikel in dieser Ballade ist der jiddische Name des im Kreis Jassy liegenden Schtetls Podeloj, rumänisch Podul-Iloaiei bzw. Podu Iloaiei.2 Laut Volkszählungen aus den 1830 ern bildeten › Untertanenjuden ‹ etwa die Hälfte seiner Einwohner.3 Ob Manger das Schtetl je gesehen hat, ist nicht überliefert, doch hat er mit Sicherheit davon gehört, denn seine Freunde Ssimche und Itzik Schwarz stammten aus diesem für die Moldauregion typischen Schtetl.4 Die Wahl des unbekannten Podeloj als Wohnsitz eines außergewöhnlichen Rebben teilt die Leserschaft der Ballade in zwei Gruppen : Die wenigen Leser, die den Ortsnamen kannten, werden seine Nennung als privaten Witz empfunden, die meisten jedoch den Ort für eine Erfindung gehalten haben.5 Für die Kenner von Podu Iloaiei verankert der Ortsname die Ballade in der Flußlandschaft des Bahlui und evoziert ihr Lokalkolorit. Ein weiteres Realitätspartikel ist der Umstand, daß es in Podu Iloaiei neben dem amtierenden Rabbiner einen chassidischen Rebben gab und daß der historische Konflikt zwischen Chassidim und Mitnagdim [ Gegnern ] in diesem Schtetl einem pragmatischen Zusammenleben, einer versöhnlichen Haltung gewichen war. Jedenfalls amtierte als Gemeinderabbiner Uri [ Ira ] Landmann ( 1838 – 1916 ), der für seine Gelehrsamkeit, Weisheit und Bescheidenheit bekannte Enkel des Zaddiks aus Strelisk [ Strzeliska ]. Im Alter distanzierte er sich vom Chassidismus, und in seinen letzten Lebensjahren erblindete er.6 Diese Spannung deutet Manger an, dennoch handelt die Ballade fun dem podelojer row keineswegs von einer historischen Gestalt. 1 LiW : 69 – 71. Kurz vor Erscheinen des Bands veröffentlichte Manger das Gedicht auch in der Tageszeitung hajnt, 115, 19. Mai 1933 : 6. Zur Geschichte dieses Schtetls siehe Schwarz-Kara 1997. Ibid. : 46. 1862 wurde eine jüdische Gemeinde in Podu Iloaiei gegründet, 1910 lebten im Schtetl 1895 Juden, die 65 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, ein Rabbinat, sechs Synagogen und ein reges Gemeindeleben unterhielten ( ibid.: 53 ). 4 Ibid. : 45 und siehe oben Anmerkung 7, S. 133. 5 Zur zweiten Gruppe gehört David Roskies, der irrtümlich feststellte : » There is, to begin with, no such place as › Podeloy ‹ and there was never, to end with, a rabbi who refused to recite the final confession for the reasons given. « ( 1995 : 240 ) 6 Schwarz-Kara 1997 : 66, 74 f. 2 3  Die Ballade vom Podelojer Rabbi Manger nennt zwar seinen Protagonisten row [ Rabbiner ], zeichnet jedoch einen chassidischen Der alte Rabbi aus Podeloj Rebben. Das einsilbige row wählrunzelte die Stirn und sprach also : »Von allen Wegen naht die Nacht. te er wahrscheinlich aus rhythmiWie hast du, Mensch, den Tag verbracht ? « schen Gründen.7 Manger verfährt in diesem GeEr entzündet mit stiller Hand ein Licht, dicht transtextuell, zitiert häufig es beleuchtet scharf sein müdes Gesicht, beiläufig aus der religiösen Tradiund mit jeder Regung seiner Hand tion technische Termini wie » Exil zittern die Schatten an der Wand : der Schechinah «,8 » Psalmen spre» Hab gebetet, mir Sorgen gemacht und geklagt chen «,9 » sajdene shupize « und über die verbannte Schechinah und Psalmen gesagt.« » schtrajml «,10 » Lobpreisen des Doch weh ihm ! Bedrückt und schwer wird sein Herz : Schöpfers « und » SündenbekenntDen heiligen Mittwoch mit Kummer entweiht. nis «.11 Er flicht Ideen und Bräuche ein, die auf chassidische Praxis verweisen : Gebot der Freude, Ekstase als Mittel der mystischen Erfahrung, ritueller Tanz. Mit den zitierten Begriffen und Bräuchen evoziert er eine vertraut erscheinende jüdische Gestalt, deren Verhalten jedoch von der religiösen Norm radikal abweicht.12 7 Meine Übersetzung von row als › Rabbi ‹ ist ein unbefriedigender Kompromiß. Zum Konflikt siehe Dan 2007 : 121 – 124. 8 goless haschchine ( jidd. ). schěchinah ( hebr. ), › Einwohnung ‹ Gottes, göttliche Gegenwart, bezeichnet die weibliche Manifestation Gottes in der Welt. Sie geht mit Israel in die Verbannung ( Bawli, měgillah 29 a; Sohar, iii : 17 a-b ). Neben dem Bild der schěchinah als höchster Mutter, die aus Mitleid ihren Kindern ins Exil folgt, findet sich in der kabbalistischen Literatur das Motiv der von ihrem Mann vertriebenen Frau ( Tishby 1971, i : 228 f ). In der lurianischen Kabbala symbolisiert die verbannte schěchinah den Stand der Dinge in einer Welt, in der nichts mehr an seinem richtigen Platz ist, und die Vermischung ihrer Funken mit dem Unreinen ( qělippah, hebr., › Schale ‹ ). » Die Erlösung der schěchina aus ihrem Exil und Leiden und ihre Wiedervereinigung mit ihrem Mann ist der Hauptzweck vieler kabbalistischer Rituale. « ( Dan 2007 : 66 ). Siehe Scholem 1967 ( Index » Exil der Schechina « ), 1977 : 135 – 191 ; Tishby 1971, i : 219 – 263, ii : 263 f. 9 tilim sogn ( jidd. ), seit dem Mittelalter wird, abgesehen von der vielfachen Verwendung der Psalmen in der Liturgie, allwöchentlich das ganze Buch der Psalmen ( Gemeinde und Vorbeter im versweisen Wechsel ) rezitiert. In vielen osteuropäischen Gemeinden gab es › Psalmen-Gruppen ‹, deren Mitglieder vor Tagesanbruch gemeinsam die Tagespsalmen rezitierten. 10 Chassidim tragen am Schabbat und an Festtagen seidene Kaftane und runde Hüte mit Fellkrempe ( oft Zobelschwänze ). 11 wide ( jidd. ), widduj ( hebr. ) bedeutet Sündenbekenntnis und bezeichnet ein Gebet, in dem ein Sterbender absichtliche, unbewußte oder erzwungenermaßen begangene Verfehlungen aufzählt. » Dem Erkrankten und Todgeweihten sagt man › Bekenne ! ‹. « ( Bawli, schabbat 32 a ) Ein Bekenntnis der Vergehen in alphabetischer Reihenfolge ( für jeden Buchstaben des hebräischen Alphabets wird ein Vergehen genannt ) wurde unter dem Einfluß der lurianischen Kabbala und des von ihr besonders geschärften Sündenbewußtseins Teil des täglichen Morgengebets ( Elbogen 2 1987 ). widduj wird an Jom Kippur mehrfach gesprochen, jedoch nicht am Schabbat und an Festtagen. 12 Auch andere moderne jiddische Dichter bedienen sich, in unterschiedlicher Radikalität, einer von gängiger Konvention abweichenden hebräischen und jiddischen Idiomatik, etwa M. L. Halpern und Jankew Glatstein ( vgl. Finkins Kapitel » Jewish Discourse And Modern Yiddish Poetry «, 2010 : 49 – 80 ). Abb. 6: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 278–279. 04_Teil-1.indd 278 2015.11.15 18:33 04_Teil-1.indd 279 2015.11.15 18:33 Zwischenkriegszeit, später Leiterin der Volksküche im Warschauer Ghetto und deren Chronistin, Mitarbeiterin am jüdisch-historischen Institut im Nachkriegswarschau und schließlich ab 1954 als Leiterin des Tel Aviver Büros von Yad Vashem für den Aufbau der Abteilung für Augenzeugenbefragung verantwortlich. (Abb. 7) Die zweite Textspalte hat nicht nur eine ergänzende Rolle, indem sie beispielsweise relevante kulturgeschichtliche Aspekte und Perspektiven, Lebensgeschichten anderer Personen, Analyse, Kommentar und Interpretation vermittelt, sondern kann, wie im dritten Beispiel, auch narratologisch fungieren: Im Kapitel „Zwischen den Welten. Vogelfrei (1938–1940)“ etwa dient sie der multiperspektivischen Gestaltung einer für Manger dramatischen Lebensphase.33 Hier wird von Mangers verzweifelter Suche nach einem Zufluchtsort und seiner durch Ausbürgerung und Flucht entstandenen Notlage in Paris, Marseille, Algier, Tunis und Liverpool berichtet. Sein Schicksal beschäftigte viele: 33 Vgl. Gal-Ed: Niemandssprache, S. 379–429. 190 Gal-Ed ■ Niemandssprache  Rochl Auerbach – Rachel Auerbach (Rochl Ojerbach) Warschau : Fast ein Glück II (  –  ) Rochl Auerbach ist Mangers Lebensgefährtin Rachel Auerbach ( Rochl Ojerbach ) » Wenn die Monographie seit seiner Rückkehr von der Reise ins Baltikum zu Itzik Manger [ … ] einmal ge1933 und bis zu seiner Ausweisung aus Polen schrieben wird, dann wird darin im April 1938.40 Seit wann sie sich kannten, ist ein Kapitel über Rochl Auerbach nicht überliefert, im frühesten erhalten gebliestehen «, erklärte Melech Ravitch, benen Brief Auerbachs an Manger ( Przemyśl, der langjährige Freund der bei4. Oktober 1932 ) bedankt sie sich für seine Foden, bereits 1938.3 » Ich wurde tografie und für seine positive Rückmeldung zu am 18. Dezember 1903 im Dorf einer ihrer kürzlich veröffentlichten ErzählunŁanowce [ Lanivtsi ], Bezirk Borgen.41 Diese Beziehung wirkt auf den Dichter szczów, Galizien geboren. 1913 zutiefst inspirierend. Gleich im ersten Jahr seibeendete ich die Volksschule, im nes Zusammenlebens mit Auerbach entstehen Mai 1921 machte ich als externe Gedichte für drei Gedichtsammlungen, die ab Schülerin der 8. Klasse am Realgymnasium in Lemberg [ Lwów ] 1935 erscheinen werden : Fünfbuch-Lieder, Völdas Abitur. « 4 1921 – 1927 stuker singen und Dämmerung im Spiegel.42 dierte Auerbach an der LemberIn dieser Liebe scheint sich Manger zu verger Universität Philosophie und ändern. Seine Freunde sagen, daß Rochl schön, Geschichte und belegte Lehrvergütig, warmherzig, mütterlich sei und bemüht, anstaltungen in Psychologie und etwas Disziplin in das Leben des Bohemiens zu Anthropologie. bringen, daß sie sogar die nicht seltenen AusBereits 1925 begann sie Artikel in der Lemberger polnisch-jüdi40 Die Zäsur werden die beiden unterschiedlich setzen, schen Zeitung Chwila [ Moment ] ich übernehme hier Auerbachs Perspektive ( Auerbach an zu veröffentlichen. 1927 wurde Ravitch, London, 16. September 1945, ra 4 /v ). sie Redakteurin der jiddischen Ta41 ma 4 : 113. Das ungezwungene Erzählen, der herzliche geszeitung der najer morgn [ Der Ton sprechen für eine bereits etablierte Freundschaft. neue Morgen ]. 42 Die Fünfbuch-Lieder läßt Manger im Frühjahr 1935 drukZusammen mit Mendl Nayken und teilt auf der letzten Seite des Buchs mit, daß Völker singen und Dämmerung im Spiegel zum Druck bereit seigreshl [ Max Neugröschel ], Ber en. Tatsächlich begann er seit dem Frühjahr 1934 Gedichte Shnaper, Rochl Korn, Nochem dieser beiden Sammlungen in Zeitungen und Zeitschriften Bomse, Jissroel Aszendorf und zu veröffentlichen. Kaum waren die Fünfbuch-Lieder erschieBer Horowitz gründete sie 1929 nen, war das Manuskript der Esterrolle-Lieder ( siehe unten zuschtajer [ Beitrag ], ein MonatsS. 328 – 330 ) fertiggestellt ( Manger nach Hause, Warschau, heft für Literatur, Kunst und Kul30. Mai 1935, ma 4 : 853 ). tur, dessen Redaktion in ihrem Haus untergebracht war und das bereits nach der dritten Nummer eingestellt wurde.5 Der Versuch, ein jiddisches Kulturzentrum in Lemberg zu etablieren, blieb kurzlebig, da alle Protagonisten Lemberg bald verließen. 1932 heirateten Rochl Auerbach und Ber Shnaper und lebten in Auerbachs Haus in Lemberg. Die erhoffte Entfaltung des jiddischen Kulturlebens kam nicht zustande, der Publizistin und dem Dichter wurde das Leben in der Provinz zunehmend eng, so zogen sie noch vor Ende 3 Ravitch 1947 : 90. Zu Auerbach siehe Ravitch 1947 : 90 – 93 und 1958 : 44 f ; Kermish 1977 ; Sadan 1977 und 1979 ; Friedman-Cohen 2005 ; Kassow 2008 ; Cohen 2008. 4 Auerbach: Curriculum Vitae, London, 14. September 1945 ( aa p 16 ). Die meisten biographischen Angaben sind diesem Dokument entnommen. 5 Über zuschtajer siehe Friedman-Cohen 2007.  1932 nach Warschau, wo sich ihre Wege bald trennten.6 In Warschau begann Rochl Auerbach zunächst als Stipendiatin des Schriftstellerverbands an einer Studie zur Psychologie von Druckfehlern zu arbeiten und entwickelte sich als Journalistin und Publizistin weiter. Sie schrieb für die jiddische und die polnischjüdische Presse. Sie veröffentlichte bis 1939 auf jiddisch und polnisch um die hundert Beiträge zu literarischen, wissenschaftlichen und sozialen Themen sowie Interviews, Reiseberichte, Rezensionen und Reportagen.7 Sie interessierte sich für jiddische und polnische Literatur, insbesondere für Dichterinnen, schrieb über Kunst, Theater, Psychoanalyse, Erziehung und Folklore. Zeitgleich übersetzte Auerbach ins Jiddische und ins Polnische. Gedichte Dwojre Vogels übersetzte sie aus dem Deutschen ins Jiddische und Gedichte Mangers ins Polnische.8 Sie übersetzte auch Prosa, darunter Romane und Erzählungen von Jissroel Jeschue Singer, Dowid Bergelson, Rochl Auerbach, 1938 (   /  ) Joschue Perle und Zusman SegaAuerbach verschickte das Foto am . September  an lowitch. Ab 1934 übersetzte sie Melech Ravitch, » den König aller Könige «. Melech Ravitchs » Reisebriefe « ins Polnische, die vier Jahre lang wöchentlich in der naje folksszajtung und in Nasz Przegląd erschienen. Aus dem Deutschen 6 Auerbach an Ravitch, Lemberg, 11. Mai 1932, sowie undatierter Brief, ra 4 / i. Eine kritische Bilanz des jiddischen Kulturlebens in Galizien zieht Auerbach in ihrem Artikel » doss jidische galizje « ( 1932 ). Ein gehässiger Brief Ber Shnapers an » Madame Manger « läßt vermuten, daß sie ihn verlassen hat ( aa p 16 / 2 ). 7 Vgl. Friedman-Cohen 2007. Auerbachs jiddische Artikel erschienen in hajnt, der moment, nfz, lb und forojss, die polnischen in Nowe Słowo, Chwila, Nasz Przegląd und Nowy Dziennik u. a. Für eine partielle Liste ihrer jiddischen Artikel siehe Index to Yiddish Periodicals der Hebräischen Universität Jerusalem ( http:// yiddish-periodicals.huji.ac.il/ ). 8 Rochl Auerbach und Dwojre Vogel waren seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Lemberg befreundet. Vogels Wechsel vom Deutschen zum Jiddischen soll auf Auerbachs Einfluß zurückgehen. Laut Dov Sadan hat Auerbach, die Bruno Schulz ’ Briefe an Vogel kannte, Schulz ’ besondere Erzählstimme erkannt und ihn angeregt, die Passagen über seinen Vater und das Milieu seiner Kindheit zu einem literarischen Ganzen auszubauen. Auf diese Anregung hin sollen die Zimtläden entstanden sein ( Sadan 1977 : 17 und 1979 : 218 ). Abb. 7: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 302–303. 04_Teil-2.indd 302 2015.11.15 18:37 04_Teil-2.indd 303 2015.11.15 18:37 Freunde, Verwandte, Kollegen, Mitglieder der rumänischen, französischen und jiddischen P.E.N.-Clubs, Kulturaktivisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Politiker setzten sich auf unterschiedliche Weise für Manger ein. Viele unter ihnen kannten ihn persönlich, anderen war er nur über sein Werk bekannt, einige wußten lediglich, daß ihre Intervention einem in Paris gestrandeten jiddischen Dichter galt. In dieser Bemühung, Manger zu helfen, wurden zahlreiche Briefe zwischen Paris, Warschau, Bukarest, Czernowitz und New York gewechselt. Schon die wenigen erhalten gebliebenen Briefe werfen ein Licht auf Mangers Drama in den Jahren 1938–1940 und auf die Anstrengungen seiner Verbündeten, ihm trotz seiner kränkenden Ausbrüche zu helfen.34 Der erste, den Stationen der Flucht entlang strukturierte Erzählstrang besteht aus verknüpften Motiven und Handlungselementen seiner Odyssee. Die zweite Textspalte, ausschließlich aus knapp eingeführten Briefzitaten komponiert, bildet einen unmittelbaren Resonanzraum zum erzählten Geschehen. 34 Vgl. ebd., S. 379. 191 Paris – Briefwechsel – Auerbach an Ravitch  Zwischen den Welten. Vogelfrei (  –  ) Paris Eine Momentaufnahme neben der Brasserie du Sentier, vermutlich rue de Réaumur, etwa zwanzig Minuten Fußweg vom Hôtel du Marais an der rue des Commines, wo Manger nach seiner Ankunft am Abend des 2. April  abgestiegen war. Auf der Rückseite des Fotos notiert er » Juli  « und den Namen der modisch elegant gekleideten, dezent lächelnden jungen Frau. Zwei jüdische Emigranten in Paris ? Welchen Anlaß die Fotografie festhält, läßt sich nicht mehr eruieren, auch nicht, wer Lea Ritterband ist und in welcher Beziehung sie zu Manger steht. Ist sie » seine Freundin «, deren » schickes Äußeres in scharfem Kontrast zur ungepflegten Erscheinung des Dichters « steht ?  Sie schaut direkt in die Kamera, doch wirkt sie zurückhaltend. Er schaut an der Kamera vorbei und sieht trotz seines Lächelns unfroh aus, wirkt mitgenommen.  An das ungleiche Paar erinnert sich Natan Hendel, damals Pariser Korrespondent der erez-israelischen Tageszeitung Davar und Mitglied des überparteilichen zionistischen Komitees, das jüdischen Flüchtlingen half, nach Palästina einzuwandern ( Hendel  ). Briefwechsel Mangers Geschick, genauer seine Ausbürgerung und die sich daraus ergebende Notlage, beschäftigte viele. Freunde, Verwandte, Kollegen, Mitglieder der rumänischen, französischen und jiddischen P. E. N. - Clubs, Kulturaktivisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Politiker setzten sich auf unterschiedliche Weise für Manger ein. Viele unter ihnen kannten ihn persönlich, anderen war er nur über sein Werk bekannt, einige wußten lediglich, daß ihre Intervention einem in Paris gestrandeten jiddischen Dichter galt. In dieser Bemühung, Manger zu helfen, wurden zahlreiche Briefe zwischen Paris, Warschau, Bukarest, Czernowitz und New York gewechselt. Schon die wenigen erhalten gebliebenen Briefe werfen ein Licht auf Mangers Drama in den Jahren 1938 – 1942 und auf die Anstrengungen seiner Verbündeten, ihm trotz seiner kränkenden Ausbrüche zu helfen.1 Rochl Auerbach an Melech Ravitch Auerbach und Ravitch verband eine langjährige Freundschaft. Auerbachs Briefe und die Durchschläge von Ravitchs schreibmaschinengeschriebenen Briefen von 1918 bis 1961 sind im Ravitch-Archiv aufbewahrt.2 Als Auerbach am 7. September 1938 von Warschau aus den Freund in New York über Mangers Lage in Paris unterrichtete, 1 Die meisten Briefdokumente befinden sich im Ravitch-Archiv. Ravitchs Postkarten und Briefe an Itzik Manger bzw. Rochl Auerbach sind erhalten, sofern er Durchschläge angefertigt hat. Ich bringe hier nur einige Beispiele aus dem Briefwechsel, zitiere relevante Passagen und einzelne Briefe in voller Länge. Die chronologische Abfolge und die sich daraus ergebenden unvermeidlichen Wiederholungen gewähren Einblicke in die Dynamik des Prozesses. Der Verständlichkeit halber habe ich in den Übersetzungen stillschweigend Satzzeichen ergänzt. 2 Ein Teil der Korrespondenz gilt der gemeinsamen Arbeit : Ab 1934 übersetzte Auerbach Melech Ravitchs » Reisebriefe « ins Polnische für die Zeitung Nasz Przegląd. Itzik Manger mit Lea Ritterband, Paris, Juli 1939 ( ) Abb. 8: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 378–379. 05.indd 378 2015.11.15 18:49 05.indd 379 2015.11.15 18:49 Die in der ersten Person sprechenden Briefe vermitteln Handlungen und Perspektiven der Schreibenden, zeugen von der physischen und seelischen Not des Dichters, von der Anteilnahme und Hilfestellung der Freunde und führen die oft unüberwindbaren Hürden vor Augen, mit welchen jüdische Flüchtlinge im vom Nationalsozialismus bedrohten Europa konfrontiert waren, und deren ausweglose Lage. (Abb. 8) Es gibt keine Vermittlung ohne perspektivierende Deutung, doch sucht die an diesen Beispielen dargestellte mehrstimmige Erzählgestalt die Sichtbarkeit der Verwerfungslinien zwischen dem gefundenen Material und den gewonnenen Erkenntnissen, zwischen betrachtetem Dokument und rekonstruierendem Kommentar zu wahren. Die Seitenausstattung führt die Erzählsegmente zusammen, doch nimmt die Erzählung erst im Lesevorgang ihren Lauf. 192 Gal-Ed ■ Niemandssprache Abbildungsverzeichnis Beatrix Borchard: Storytelling oder ‚Lücken markieren‘? S. 31: S. 51: Berliner Postkarte mit Joseph Joachim, 1897. Original, Privatbesitz Göttingen. © Beatrix Borchard. Joseph und Amalie Joachim, J. C. Schaarwächter, Berlin, ca. 1873. Originalfotografie, Privatbesitz London. © Beatrix Borchard. Verena Dohrn: Die Kahans aus Baku S. 56: S. 61: S. 73: Malka und Chaim Kahan zur Goldenen Hochzeit im Schmuckrahmen, BezalelWerkstätten, Jerusalem 1914. © Ittai Gavrieli. Familie Kahan inmitten der NITAG-Belegschaft anlässlich der Einweihung der neuen Büroräume, Berlin-Schöneberg 1927. Originalfotografie, Jüdisches Museum Berlin, Archiv Haimi-Cohen (Haimi-Cohen 2, Mp. 10, MG_2501). © Jonah Gavrieli. Das Berliner Zimmer in der einstigen 10-Zimmerwohnung der Kahans, Schlüterstraße 36, Berlin-Charlottenburg, im Umbau, 2011. © Verena Dohrn. Claudia Willms: Geschichtsschreibung von den Rändern? S. 86: Franz Oppenheimer, ca. 1928. Originalfotografie, Schenkung von Frank Lenart. © Claudia Willms. Stefanie Mahrer: Salman Schocken S. 113: Wladimir Sagal: Portraitzeichnung Salman Schocken, Zürich 1947. Original, Nachlass von Wladimir Sagal. © Nina Zafran-Sagal. Katharina Prager: Auto/Biographische Auseinandersetzungen mit (jüdischen) Leben der (Wiener) Moderne S. 137: Die Familie Viertel in Kalifornien, auf Friedrich Wilhelm Murnaus Yacht, ca. 1928. Originalfotografie, Wienbibliothek im Rathaus, Sammlung Franz Glück (ZPH 1443). © Familie Viertel. Philipp Lenhard: Die Tücken des Archivs S. 158: Friedrich Pollock am Schreibtisch, ca. 1931. Originalfotografie, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Archivzentrum (MHA XXIV, 102). © Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Efrat Gal-Ed: Niemandssprache S. 177: Das ehemalige Manger-Zimmer in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, Jerusalem. Originalfotografie, The National Library of Israel, Itzik Manger Archive (ARC. 4° 1357). © The National Library of Israel, Jerusalem. S. 182: Talmud Bavli: Masekhet Zevahim. 3. Druck. Venedig: Bomberg 1548, Bl. 2a. Digitalisiert durch die Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, 2019 (urn:nbn:de: hebis:30:1-157844). S. 183: Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, S. 124–125. © Suhrkamp Verlag. S. 185: Literarische bleter, 21.03.1930, S. 223. Digitalisiert durch The National Library of Israel, Jerusalem. S. 188: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 196–197. © Suhrkamp Verlag. S. 190: Ebd., S. 278–279. © Suhrkamp Verlag. S. 191: Ebd., S. 302–303. © Suhrkamp Verlag. 285 S. 192: Gal-Ed: Niemandssprache, S. 378–379. © Suhrkamp Verlag. Jacques Picard: Von Uhren, Puppen und Menschen S. 195: Simche Schwarz: Alphabeth der Erinnerung, um 1970, Reliefplastik. Fotografie, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. © Jacques Picard. S. 213: Simche Schwarz und Ruth Schwarz-Hepner 1951 in Tel Aviv, mit einigen der von Simche Schwarz und Marc Chagall geschaffenen Puppen. Originalfotografie, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. © Jacques Picard. Christina Pareigis: Shamanistic Voyages S. 227: Dokumente aus dem Susan Taubes-Archiv in den Räumen des Zentrums für Literaturund Kulturforschung Berlin, 2012. Foto: Sophie Bengelsdorf. © Christina Pareigis. Stephan Braese: Hildesheimer ‚biographieren‘ S. 243: Tafel am Wohnhaus von Wolfgang und Silvia Hildesheimer in Poschiavo, Graubünden, 2014. Foto & © Stephan Braese. S. 255: Wolfgang Hildesheimer, Nürnberg, ca. 1947/1948. Originalfotografie, Privatbesitz. © Christa Geitner-Vanriet, Inge Thurner. S. 256: Wolfgang Hildesheimer mit Rasha und Walid Khalidi, ca. 1945/1946. Reproduktion der Originalfotografie, Wolfgang Hildesheimer Archiv (WHA 1437_01). © Akademie der Künste, Berlin. Alfred Gall: „Ich gehöre nirgendwo hin, denn ich bin anderswoher“ S. 276: Stanisław Lem mit Rakete, 1966. Originalfotografie, Archiv der Familie Lem. © Tomasz Lem. 286 Abbildungsverzeichnis Der Band wurde aus der Ausstattung der Juniorprofessur für Jüdische Religions- und Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas (16.–20. Jahrhundert) am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam finanziert. Die Mittel stammten aus dem Hochschulpakt 2020. Klimaneutral gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 Neofelis Verlag GmbH, Berlin www.neofelis-verlag.de This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License. Umschlaggestaltung: Marija Skara Lektorat & Satz: Neofelis Verlag (nw / mn) Druck: PRESSEL Digitaler Produktionsdruck, Remshalden ISBN (Print): 978-3-95808-429-2 ISBN (PDF): 978-3-95808-480-3 DOI: https://doi.org/10.52007/9783958084803