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Boysen, Sigrid: Die postkoloniale Konstellation, Natürliche Ressourcen
und das Völkerrecht der Moderne. Jus Publicum, Bd. 296, Tübingen: Mohr
Siebeck, 2021. ISBN 978-3-16-157565-5. XI, 382 S. € 99,Der Postkolonialismus ist ein Narrativ und Erklärungsansatz, der im
Mainstream der internationalen umweltrechtlichen Literatur, zumal in der
deutschsprachigen, bislang wenig Beachtung gefunden hat.1 Das Verhältnis
zwischen globalem Süden und globalem Norden wird jedoch zunehmend
virulent.2 Die Klimadebatte und die Frage der Verantwortlichkeit des globalen Nordens für klimabedingte Umweltzerstörungen in den Ländern des
globalen Südens macht dies besonders deutlich. Die Aussicht auf eine Aufarbeitung der Epoche des Kolonialismus, ein Blick auf das internationale
Umwelt- und Wirtschaftsrecht dieser Zeit sowie eine Betrachtung der
Implikationen des Postkolonialismus für die Gegenwart sind Anlässe genug, „Die postkoloniale Konstellation“ von Sigrid Boysen zur Hand zu
nehmen.
Mit dem Blick auf die koloniale Vergangenheit wichtiger Bereiche des
internationalen Rechts hat die Autorin Gewaltiges vor. Sie beabsichtigt nicht
weniger, als das gegenwärtige, internationale Umweltrecht sowie ausgewählte
Teile des internationalen Wirtschaftsrechts – einschließlich des herrschenden
neoliberalen Wirtschaftsverständnisses –, einer Systemkritik zu unterziehen,
da diese bis aufs Engste miteinander verwoben seien: Beide Gebiete seien
durch ihre imperialen Wurzeln, ihre ökonomischen Versprechen und ihre
instrumentell-ökonomische Rationalität geprägt (S. 30). Dies lasse sich bereits anhand der dem Umwelt- und Wirtschaftsrecht zugrundeliegenden
Basisnarrative „Wachstum“ und „Entwicklung“ feststellen (S. 30). Eine Lö1 Für die Rezeption im allgemeinen Völkerrecht siehe das Werk von Philipp Dann, etwa:
Jochen v. Bernstorff/Philipp Dann, The Battle for International Law: South-North Perspectives
on the Decolonization Era (The History and Theory of International Law), 1. Aufl., Oxford:
Oxford University Press 2019); Philipp Dann/Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorien,
Recht und Rechtswissenschaft. Einleitung in den Schwerpunkt, KJ 45 (2012), 127-130; Philipp
Dann, Entwicklungsverwaltungsrecht: Theorie und Dogmatik des Rechts der Entwicklungszusammenarbeit, untersucht am Beispiel der Weltbank, der EU und der Bundesrepublik
Deutschland (zugl.: Frankfurt am Main, Univ. Habil.-Schrift 2010. Jus Publicum Bd. 212),
Tübingen: Mohr Siebeck 2012. In Teilen weist auch Joachim Radkau, Natur und Macht: Eine
Weltgeschichte der Umwelt, 2. Aufl., München: C. H. Beck 2012, auf die kolonialen Ursprünge
umweltvölkerrechtlicher Regelungen hin. Für die internationale Literatur vgl.: Shawkat Alam
u. a., International Environmental Law and the Global South, Cambridge: Cambridge University Press 2015.
2 Alam u. a. (Fn. 1), Introduction, 1 ff. Melanie Jean Murcott, Transformative Environmental Constitutionalism, Leiden: Brill 2022.
DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725
ZaöRV 82 (2022), 725-732
https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20
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sung sieht Boysen in einem reformierten, konstitutionalistischen Verständnis
des Völkerrechts, in dem die Ambivalenzen und Kontroversen über die
zentralen Prinzipien des Umweltvölker- und Wirtschaftsrechts ausgetragen
werden können (S. 311 ff.). Wie ein solcher Ansatz das dem Investitionsschutz zugrundeliegende neoliberale Wirtschaftsverständnis überwinden,
oder wie das internationale Wirtschaftsrecht insgesamt transformiert werden
kann, wird aber lediglich angedeutet (S. 77 ff.).
Die Untersuchung gliedert sich in vier wesentliche und gleich große
Teile: Im ersten Teil wird die besondere postkoloniale Sichtweise auf das
internationale Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrecht vorgestellt und entwickelt (S. 1 ff.). Der zweite Teil entfaltet sodann spezifische Kernregelungen des internationalen Umweltrechts und zeigt ihre koloniale Herkunft auf (S. 111 ff.). Im dritten Teil geht Boysen auf die Verknüpfung
umweltvölkerrechtlicher und wirtschaftspolitischer Instrumente ein und
diskutiert die in diversen umweltvölkerrechtlichen Instrumenten enthaltenen Handelsbeschränkungen und marktbasierten Regelungsinstrumente
(S. 199 ff.). Im vierten und Schlussteil des Buches erläutert die Autorin
wesentliche Schwachstellen der zuvor vorgestellten Paradigmen und eröffnet, wie eine „andere Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts die zuvor
identifizierten Schwierigkeiten überwinden könne (S. 291 ff., dazu auch
weiter unten).
Die seitens der Autorin gewählte Perspektive ist verdienstvoll und ebenso
lesens- wie beachtenswert. Boysens Buch kann wichtige, im Kolonialismus
wurzelnde Zusammenhänge aufdecken, die das Gebiet des internationalen
Umwelt- und Wirtschaftsrechts zweifelsohne geprägt haben. Und bereits
das ist, angesichts der Tatsache, dass dies insgesamt viel zu selten geschieht,
ein nicht zu unterschätzender Beitrag. Die Probleme eines postkolonialen
Ansatzes sind allerdings nicht unbekannt und daher auch im Hinblick auf
die Thesen Boysens relevant. Kann ein postkolonialer Ansatz auf der einen
Seite z. B. geschichtliche Abläufe, Abhängigkeiten, und notorische Ungerechtigkeiten sichtbar machen und dabei auch Verursacher und Betroffene
identifizieren, läuft er auf der anderen Seite Gefahr, vereinfachend auf die
komplexen Entwicklungen – hier des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts – zu blicken, und zwar in einer Art und Weise, die sowohl die
eigentlich Betroffenen, Ursachen und Wirkungen pauschalisiert betrachtet,3
als auch interessante und wichtige Entwicklungen der heutigen Zeit außer
Acht lässt.
3 Margaret Kohn/Kavita Reddy, “Colonialism”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy
(Summer 2022 Edition); Edward N. Zalta (ed.), URL = <https://plato.stanford.edu/archives/
sum2022/entries/colonialism/>, Rn. 5.
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DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725
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An dieser Problematik ändert auch die von Boysen zu Anfang der Untersuchung geäußerte Einschränkung nichts, der gewählte Ansatz wolle zunächst die dem gegenwärtigen internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrecht
zugrundeliegenden „Ambivalenzen“ (S. 17) und „Unsichtbarkeiten“ (S. 105)
exponieren, um darauf aufbauend eigene Lösungen anzubieten. Lässt bereits
die Kritik Fragestellungen unbeantwortet, können diese auch im Rahmen
von späteren Lösungsvorschlägen nicht adressiert werden.
Zwei Auslassungen, welche das postkoloniale Narrativ nicht zu erfassen
mag, seien hier herausgegriffen. Erstens: Die postkoloniale Perspektive
nimmt hauptsächlich das Verhältnis der ehemaligen europäischen Kolonialstaaten zu den ehemaligen Kolonien in den Blick. Zumeist fällt damit die
Rolle nicht-westlicher Kolonialstaaten, insbesondere Japans, unter den
Tisch. Boysens Buch ist hier keine Ausnahme. Ihr Blick ist, zumal durch
die im Schlussteil des Buchs diskutierte konstitutionelle These, vorwiegend
westeuropäisch. Zweitens: Durch die geografische Konzentration ihrer
Ausführungen auf Westeuropa schließt das postkoloniale Narrativ von
jeher wirtschaftsstarke und mächtige Länder wie Russland und China aus
der Erzählung aus, die bereits zu Kolonialzeiten Weltmächte waren, sich
aber nicht durch diese besondere Art des Imperialismus auszeichneten.
Zwar ist der Fokus auf westeuropäische Staaten bzgl. vieler Aspekte der
Kolonialdebatte angebracht – etwa, wenn der Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der historischen Ungerechtigkeiten liegt oder spezifisch koloniale
Zusammenhänge betrachtet werden sollen. Hier sei nur die problematische
Historie des Gebietsschutzes durch Nationalparks genannt, welcher –
jedenfalls im heutigen Afrika – ursprünglich allein den Erhalt bestimmter
Arten zum Zweck hatte und sich sogar explizit gegen dort lebende, indigene Gemeinschaften richtete4 (vgl. Boysen S. 46). In einer großangelegten
Aufarbeitung der Historie des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts kann der Beitrag Chinas und Russlands aber nicht ausgelassen
werden. Denn auch sie waren an der Entstehung dieses Rechtsgebiets
beteiligt.
Außerdem vermag das Buch aufgrund seiner spezifischen Perspektive nur
in begrenztem Umfang auf die gegenwärtigen, neokolonialen Einflusslinien
und Machtbereiche einzugehen, die sich nicht entlang der ehemaligen Koloniallinien entwickelt haben, aber für das aktuelle Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrecht und auch im Kontext der gegenwärtigen Nord-Süd Beziehungen
von großer Relevanz sind. Hier sei nur auf derzeit dominante Akteure des
4 Raf de Bont, “Primitives” and Protected Areas: International Conservation and the
“Naturalization” of Indigenous People, ca. 1910-1975,’ Journal of the History of Ideas 76
(2015), 215-236.
DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725
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auch im Buch näher diskutierten internationalen Investitionsschutzrechts
(S. 132 ff.) verwiesen: Blickt man auf in den vergangenen Jahren neu abgeschlossene bilaterale Investitionsschutzabkommen (BITs), an denen ein Staat
des globalen Südens beteiligt ist, findet man auf der anderen Seite sehr häufig
Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland, China oder die
Türkei.5
Die der Perspektive geschuldeten Problematiken schmälern dennoch nicht
den Ertrag des postkolonialen Blicks auf die Entwicklung des internationalen
Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrechts. So eröffnet die Autorin im ersten Teil
des Buches z. B. einen Blick auf postkoloniale Ansichten auf die Natur (S. 33)
und die Perspektiven anfänglicher umweltrechtlicher Regulierung (S. 43 ff.:
Nützlichkeit der Tier- und Pflanzenwelt für den Menschen, der Mensch als
Teil oder Hindernis bei Schutzgebietskonzepten) und die dahinterliegenden
Interessens- und Einflusskonstellationen, welche sich besonders in frühen
umweltvölkerrechtlichen Abkommen nachweisen lassen. Obwohl hier bisweilen die Konvention zum Schutz wildlebender Tiere, Vögel und Fische in
Afrika von 1900 als „the world‘s first environmental agreement“ (S. 47)
firmiert, steht diese Feststellung auch bei Boysen zu Recht in Anführungsstrichen. Denn sowohl die Oregon Database of International Environmental
Agreements6 als auch die Sammlung von Simma et al. „International Protection of the Environment“7 weisen auf zahlreiche frühere, multilaterale
Vereinbarungen hin.
In diesem historischen Teil entwickelt Boysen die zentrale These des
Buches: Der Ressourcenabbau während des Kolonialismus habe zur Herausbildung eines Umweltrechts geführt, das eine nachhaltige Bewirtschaftung nahelegte (S. 53) – sodass die Verfügbarkeit von Ressourcen am Markt
wie zu Kolonialzeiten jederzeit sichergestellt war. So waren Umwelt- und
Wirtschaftsinteressen von Anfang an miteinander verbunden. Dieses Zusammenspiel wird an dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung (S. 66 ff.)
besonders deutlich. Die geistige Urheberin des Prinzips, Gro Harlem
Brundtlandt, wollte gerade nicht, dass Umweltschutz ökonomische Entwicklung unmöglich macht. Weiter entwickelt wird die besondere Verbindung zwischen Umwelt und Wirtschaft dann anhand des Grundsatzes der
souveränen Herrschaft über natürliche Ressourcen (S. 70). Nach Boysen
steht ihm die Gemeinwohlorientierung des Umweltvölkerrechts gegenüber
5 Siehe etwa die Übersicht unter <https://investmentpolicy.unctad.org/international-invest
ment-agreements>, zuletzt aufgerufen am 14.7.2022.
6 <https://iea.uoregon.edu>, zuletzt aufgerufen am 14.7.2022.
7 Bernd Rüster/Bruno Simma, International Protection of the Environment, (Dobbs Ferry
NY: Oceana Publications Inc. 1975).
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(S. 17, 64, 92 ff. u. a.), zu der die Autorin in einem weiten Sinn auch das
Narrativ des Anthropozän zählt (S. 101 f.).
Der zweite Teil des Buches widmet sich der Verbindung umwelt- und
wirtschaftsvölkerrechtlicher Instrumente, welche bislang lediglich getrennt
und nicht als miteinander verbunden betrachtet wurden (S. 112). Hierdurch
perpetuiere sich die postkoloniale Ordnung und insbesondere deren inhärente Ungleichheiten. Diese These entfaltet Boysen wiederum entlang zentraler
Prinzipien des Umweltvölkerrechts, wie etwa des Grundsatzes der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (S. 128) oder der Prinzipien
des internationalen Investitionsschutzes (S. 139 ff.). Sie konstatiert, die Differenzierung zwischen dem „politischen“ und dem „ökonomischen“ Bereich
verstelle den Blick auf spezifische Gleichheitsfragen, die gerade im Verhältnis
des globalen Nordens zum globalen Süden von großer Relevanz bleiben
(S. 144). Dies könne auch anhand der in den Gebieten des Umweltvölkerrechts dominanten, internationalen Prinzipien, wie etwa dem Grundsatz der
Souveränität über natürliche Ressourcen, weiter entfaltet werden. Auch Prinzipien, welche Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit ansprechen, wie das des
gemeinsamen Erbes der Menschheit (S. 167 ff.) oder der gemeinsamen Sorge
(S. 184), drückten dies aus.
Die Gegenüberstellung und das In-Beziehung-Setzen der umweltvölkerrechtlichen Prinzipien im Rahmen der Diskussionen dieses Teils überzeugt
nicht immer. Hat das Prinzip der souveränen Herrschaft über natürliche
Ressourcen an Bedeutung eingebüßt, weil Prinzipien wie das des gemeinsamen Erbes oder der gemeinsamen Sorge der Menschheit etabliert wurden?
Dies wäre allein dann zutreffend, wenn die Prinzipien einen gleichen Anspruch auf Geltung erhöben oder hätten. Das Prinzip des gemeinsamen Erbes
hat allerdings – wie Boysen auch selbst feststellt (S. 168) – einen sehr beschränkten Wirkungskreis, da sich gerade kein Konsens für seine Übertragung in andere Bereiche des Umweltvölkerrechts fand. Konsequent findet es
nur im Kontext des Meeresboden- und Weltraumregimes Anwendung. Boysens prinzipienorientierte Diskussion scheint dennoch von einer Gleichrangigkeit und/oder Gleichwertigkeit auszugehen. Diesen Eindruck verstärkt
auch die von ihr im letzten Teil favorisierte konstitutionalistische Sicht auf
das Völkerrecht (S. 291 ff.), welche ja ebenfalls auf einen prinzipienbasierten
Ansatz setzt. Außerdem zeigt sich bei der Diskussion des Beispiels des
internationalen Regimes über den Meeresboden (S. 176 ff.), dass neokolonialistische Einflüsse bei der Diskussion institutionalisierter Gerechtigkeitsregime zumindest mitbedacht werden müssten. Denn die jüngst von der
internationalen Meeresbodenbehörde vergebenen Konzessionen zum Rohstoffabbau in der Tiefsee gingen mit Russland und China auch an zwei Player,
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die gerade nicht den Kolonialherren aus dem globalen Norden zugerechnet
werden können.
Im dritten Teil des Buches widmet sich Boysen der weiteren Verknüpfung
von umweltvölkerrechtlichen mit wirtschaftlichen Regelungsinstrumenten.
„[D]as Umschlagen von einem liberalen Paradigma der Unterscheidung von
Politik und Ökonomie in ein neoliberales Paradigma der Hegemonie ökonomischer Imperative […] [sei auf keinem Feld] […[ so sichtbar wie hier.“
(S. 201). Bei den in diesem Kapitel besprochenen Regelungsansätzen – insbesondere Handelsbeschränkungen, oder auch das System des prior and
informed consent (PIC) – ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Regelungen wirtschaftsbezogen und eng mit Historien verknüpft sind, die einen
starken postkolonialen Bezug haben. Insbesondere bei den Regelungen des
Nagoya und Cartagena Protokolls, die im Kontext der so genannten Saatendebatte verhandelt wurden, die u. a. die Zulässigkeit der Patentierung von
Saatgut und das geistige Eigentum an vorhandenen und neuen Saaten kontrovers diskutierte, ist das mehr als offensichtlich. Auf diese Debatte nimmt
auch Boysen Bezug (S. 216-218). Im Buch werden diese Zusammenhänge nun
klar benannt.
Die Kritik, die Regelungen drückten allesamt die Hegemonie ökonomischer Imperative aus, legt allerdings nahe, dass handels- und wirtschaftsbezogene Beschränkungen nun abgeschafft oder zumindest reformiert werden
müssten, um dem Vorwurf der postkolonialen Herrschaft begegnen zu können. Dies erschwert zumindest Erwägungen und Betrachtungen, welche auf
die konkrete Wirkweise einzelner Regelungen gerichtet sind. Denn basierend
auf der derzeitigen Ordnung kann auch der pragmatische Standpunkt eingenommen werden, dass die problematische Historie der derzeitigen Ordnung
jedenfalls dort hingenommen werden kann, wo handels- und wirtschaftsbezogene Regelungen des internationalen Umweltrechts im konkreten Fall
zu den erwünschten Regelungserfolgen (und gleichermaßen für Gerechtigkeit
im Nord-Süd Kontext) führen. Für ein solch – zumindest in der Theorie –
funktionierendes Regime kann auf das Emissionshandelsregime (S. 226) verwiesen werden. Boysen spricht es zusammen mit den weiteren Ausgleichsund Complianceregelungen des Kyotoprotokolls an, auf dessen Grundlage
das Regime ursprünglich errichtet wurde (ibid.). Dem nunmehr unter dem
Klimarahmenübereinkommen und dem Abkommen von Paris geltenden Europäischen Emissionshandel8 wird theoretisch eine große Wirksamkeit attestiert, da es sich dabei um ein Regime handelte, welches einen Großteil der
8 Eingeführt durch RL 2003/87/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.
2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der RL 96/61/EG des Rates, ABl. L 275/32.
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Wirtschaftsteilnehmer umfasst und bei diesen starke Anreize für Einsparungen setzt.9 Dass das Regime geraume Zeit nicht erfolgreich war, lag daran,
dass man sich innerhalb der Europäischen Union auf politischer Ebene lange
nicht auf weitere Verknappungen der Zertifikate einigen konnte.10 Erst in den
letzten Jahren wurden die Verknappungen neu geregelt und das Regime auf
weitere Bereiche, wie etwa den Luftverkehr, ausgedehnt.11 Mittlerweile hat
sich ein einigermaßen realistischer Marktpreis pro Tonne CO2 entwickelt.
Zukünftig müssen noch weitere Kosten einbezogen werden.12 Letztendlich
war es also nicht die handelsbezogene Regelung, sondern der mangelnde
politische Wille zu ihrem konsequenten Einsatz, welcher das Regime lange
als ineffektiv dastehen ließ. Da das System allein auf den europäischen Markt
abstellt, sich entsprechend ausschließlich auf die Marktteilnehmer dieses
Marktes bezieht, dort eine Reduktion der Emissionen und allenfalls unter
den Marktteilnehmern die Generierung von Einkünften zum Ausgleich von
Emissionen bezweckt, ist es nicht darauf ausgelegt, über die Emissionsreduktion hinaus Verteilungsgerechtigkeit mit dem globalen Süden herzustellen.
Diese müssen flankierende, andere Maßnahmen, z. B. Ausgleichszahlungen
aus den erwirtschafteten Einnahmen, erreichen. Und hier zeigt Boysen richtig
auf, dass der ursprüngliche Mechanismus des Kyoto-Protokolls verbesserungswürdig war (ibid.).
Boysens Werk bleibt bei postkolonialer Kritik nicht stehen. Lösungen aufzuzeigen versucht sie im Schlussteil des Buches (ab S. 291 ff.), indem sie die
zuvor kritisierte These des Konstitutionalismus nutzt, um darzulegen, dass
bestimmte grundlegende Normen der Völkerrechtsordnung auch Dreh- und
Angelpunkt von Kontestationen (zwischen Staaten des globalen Nordens
und Südens) über ebenjene Normen sein können (S. 319). Das transnationale
Umwelt- und Wirtschaftsrecht biete so den notwendigen Raum, um die
zwangsläufigen Konflikte über die Geltung bestimmender Prinzipien auszufechten.
Alles in allem stellt Boysens „postkoloniale Konstellation“ daher einen
wahrhaft reichen, wichtigen und verdienstvollen Beitrag zur Aufklärung
der postkolonialen Genese und „Genealogie“ (S. 30) der Regelungen des
9 Stefano Clò, The Effectiveness of the EU Emissions Trading Scheme, Climate Policy 9
(2009), 227-241.
10 Sabine Gores/Jakob Graichen, Ansätze zur Bewertung und Darstellung der nationalen
Emissionsentwicklung unter Berücksichtigung des EU-ETS, Climate Change 8 (2017), 1 ff.
11 RL 2018/410/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.3.2018 zur Änderung der RL 2003/87/EG zwecks Unterstützung kosteneffizienter Emissionsreduktionen und
zur Förderung von Investitionen mit geringem CO2-Ausstoß und des Beschlusses (EU) 2015/
1814, ABl. L 76/3.
12 Ottmar Edenhofer, Die nächste Generation zahlt den Preis, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 1.8.2022.
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internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts dar. Das Werk leistet einen
wertvollen Beitrag dazu, Widersprüche und Verschränkungen im aktuellen
internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrecht zu entlarven. Dass hier einige kontroverse Punkte herausgegriffen wurden, zeigt lediglich, wie wichtig der Diskussionsbeitrag insgesamt ist, den Boysen mit ihrem Werk vorgelegt hat.
Birgit Peters, Trier
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DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725
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