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Buchbesprechungen Boysen, Sigrid: Die postkoloniale Konstellation, Natürliche Ressourcen und das Völkerrecht der Moderne. Jus Publicum, Bd. 296, Tübingen: Mohr Siebeck, 2021. ISBN 978-3-16-157565-5. XI, 382 S. € 99,Der Postkolonialismus ist ein Narrativ und Erklärungsansatz, der im Mainstream der internationalen umweltrechtlichen Literatur, zumal in der deutschsprachigen, bislang wenig Beachtung gefunden hat.1 Das Verhältnis zwischen globalem Süden und globalem Norden wird jedoch zunehmend virulent.2 Die Klimadebatte und die Frage der Verantwortlichkeit des globalen Nordens für klimabedingte Umweltzerstörungen in den Ländern des globalen Südens macht dies besonders deutlich. Die Aussicht auf eine Aufarbeitung der Epoche des Kolonialismus, ein Blick auf das internationale Umwelt- und Wirtschaftsrecht dieser Zeit sowie eine Betrachtung der Implikationen des Postkolonialismus für die Gegenwart sind Anlässe genug, „Die postkoloniale Konstellation“ von Sigrid Boysen zur Hand zu nehmen. Mit dem Blick auf die koloniale Vergangenheit wichtiger Bereiche des internationalen Rechts hat die Autorin Gewaltiges vor. Sie beabsichtigt nicht weniger, als das gegenwärtige, internationale Umweltrecht sowie ausgewählte Teile des internationalen Wirtschaftsrechts – einschließlich des herrschenden neoliberalen Wirtschaftsverständnisses –, einer Systemkritik zu unterziehen, da diese bis aufs Engste miteinander verwoben seien: Beide Gebiete seien durch ihre imperialen Wurzeln, ihre ökonomischen Versprechen und ihre instrumentell-ökonomische Rationalität geprägt (S. 30). Dies lasse sich bereits anhand der dem Umwelt- und Wirtschaftsrecht zugrundeliegenden Basisnarrative „Wachstum“ und „Entwicklung“ feststellen (S. 30). Eine Lö1 Für die Rezeption im allgemeinen Völkerrecht siehe das Werk von Philipp Dann, etwa: Jochen v. Bernstorff/Philipp Dann, The Battle for International Law: South-North Perspectives on the Decolonization Era (The History and Theory of International Law), 1. Aufl., Oxford: Oxford University Press 2019); Philipp Dann/Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft. Einleitung in den Schwerpunkt, KJ 45 (2012), 127-130; Philipp Dann, Entwicklungsverwaltungsrecht: Theorie und Dogmatik des Rechts der Entwicklungszusammenarbeit, untersucht am Beispiel der Weltbank, der EU und der Bundesrepublik Deutschland (zugl.: Frankfurt am Main, Univ. Habil.-Schrift 2010. Jus Publicum Bd. 212), Tübingen: Mohr Siebeck 2012. In Teilen weist auch Joachim Radkau, Natur und Macht: Eine Weltgeschichte der Umwelt, 2. Aufl., München: C. H. Beck 2012, auf die kolonialen Ursprünge umweltvölkerrechtlicher Regelungen hin. Für die internationale Literatur vgl.: Shawkat Alam u. a., International Environmental Law and the Global South, Cambridge: Cambridge University Press 2015. 2 Alam u. a. (Fn. 1), Introduction, 1 ff. Melanie Jean Murcott, Transformative Environmental Constitutionalism, Leiden: Brill 2022. DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 ZaöRV 82 (2022), 725-732 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb 726 Literatur sung sieht Boysen in einem reformierten, konstitutionalistischen Verständnis des Völkerrechts, in dem die Ambivalenzen und Kontroversen über die zentralen Prinzipien des Umweltvölker- und Wirtschaftsrechts ausgetragen werden können (S. 311 ff.). Wie ein solcher Ansatz das dem Investitionsschutz zugrundeliegende neoliberale Wirtschaftsverständnis überwinden, oder wie das internationale Wirtschaftsrecht insgesamt transformiert werden kann, wird aber lediglich angedeutet (S. 77 ff.). Die Untersuchung gliedert sich in vier wesentliche und gleich große Teile: Im ersten Teil wird die besondere postkoloniale Sichtweise auf das internationale Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrecht vorgestellt und entwickelt (S. 1 ff.). Der zweite Teil entfaltet sodann spezifische Kernregelungen des internationalen Umweltrechts und zeigt ihre koloniale Herkunft auf (S. 111 ff.). Im dritten Teil geht Boysen auf die Verknüpfung umweltvölkerrechtlicher und wirtschaftspolitischer Instrumente ein und diskutiert die in diversen umweltvölkerrechtlichen Instrumenten enthaltenen Handelsbeschränkungen und marktbasierten Regelungsinstrumente (S. 199 ff.). Im vierten und Schlussteil des Buches erläutert die Autorin wesentliche Schwachstellen der zuvor vorgestellten Paradigmen und eröffnet, wie eine „andere Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts die zuvor identifizierten Schwierigkeiten überwinden könne (S. 291 ff., dazu auch weiter unten). Die seitens der Autorin gewählte Perspektive ist verdienstvoll und ebenso lesens- wie beachtenswert. Boysens Buch kann wichtige, im Kolonialismus wurzelnde Zusammenhänge aufdecken, die das Gebiet des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts zweifelsohne geprägt haben. Und bereits das ist, angesichts der Tatsache, dass dies insgesamt viel zu selten geschieht, ein nicht zu unterschätzender Beitrag. Die Probleme eines postkolonialen Ansatzes sind allerdings nicht unbekannt und daher auch im Hinblick auf die Thesen Boysens relevant. Kann ein postkolonialer Ansatz auf der einen Seite z. B. geschichtliche Abläufe, Abhängigkeiten, und notorische Ungerechtigkeiten sichtbar machen und dabei auch Verursacher und Betroffene identifizieren, läuft er auf der anderen Seite Gefahr, vereinfachend auf die komplexen Entwicklungen – hier des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts – zu blicken, und zwar in einer Art und Weise, die sowohl die eigentlich Betroffenen, Ursachen und Wirkungen pauschalisiert betrachtet,3 als auch interessante und wichtige Entwicklungen der heutigen Zeit außer Acht lässt. 3 Margaret Kohn/Kavita Reddy, “Colonialism”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2022 Edition); Edward N. Zalta (ed.), URL = <https://plato.stanford.edu/archives/ sum2022/entries/colonialism/>, Rn. 5. ZaöRV 82 (2022) DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb Buchbesprechungen 727 An dieser Problematik ändert auch die von Boysen zu Anfang der Untersuchung geäußerte Einschränkung nichts, der gewählte Ansatz wolle zunächst die dem gegenwärtigen internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrecht zugrundeliegenden „Ambivalenzen“ (S. 17) und „Unsichtbarkeiten“ (S. 105) exponieren, um darauf aufbauend eigene Lösungen anzubieten. Lässt bereits die Kritik Fragestellungen unbeantwortet, können diese auch im Rahmen von späteren Lösungsvorschlägen nicht adressiert werden. Zwei Auslassungen, welche das postkoloniale Narrativ nicht zu erfassen mag, seien hier herausgegriffen. Erstens: Die postkoloniale Perspektive nimmt hauptsächlich das Verhältnis der ehemaligen europäischen Kolonialstaaten zu den ehemaligen Kolonien in den Blick. Zumeist fällt damit die Rolle nicht-westlicher Kolonialstaaten, insbesondere Japans, unter den Tisch. Boysens Buch ist hier keine Ausnahme. Ihr Blick ist, zumal durch die im Schlussteil des Buchs diskutierte konstitutionelle These, vorwiegend westeuropäisch. Zweitens: Durch die geografische Konzentration ihrer Ausführungen auf Westeuropa schließt das postkoloniale Narrativ von jeher wirtschaftsstarke und mächtige Länder wie Russland und China aus der Erzählung aus, die bereits zu Kolonialzeiten Weltmächte waren, sich aber nicht durch diese besondere Art des Imperialismus auszeichneten. Zwar ist der Fokus auf westeuropäische Staaten bzgl. vieler Aspekte der Kolonialdebatte angebracht – etwa, wenn der Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der historischen Ungerechtigkeiten liegt oder spezifisch koloniale Zusammenhänge betrachtet werden sollen. Hier sei nur die problematische Historie des Gebietsschutzes durch Nationalparks genannt, welcher – jedenfalls im heutigen Afrika – ursprünglich allein den Erhalt bestimmter Arten zum Zweck hatte und sich sogar explizit gegen dort lebende, indigene Gemeinschaften richtete4 (vgl. Boysen S. 46). In einer großangelegten Aufarbeitung der Historie des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts kann der Beitrag Chinas und Russlands aber nicht ausgelassen werden. Denn auch sie waren an der Entstehung dieses Rechtsgebiets beteiligt. Außerdem vermag das Buch aufgrund seiner spezifischen Perspektive nur in begrenztem Umfang auf die gegenwärtigen, neokolonialen Einflusslinien und Machtbereiche einzugehen, die sich nicht entlang der ehemaligen Koloniallinien entwickelt haben, aber für das aktuelle Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrecht und auch im Kontext der gegenwärtigen Nord-Süd Beziehungen von großer Relevanz sind. Hier sei nur auf derzeit dominante Akteure des 4 Raf de Bont, “Primitives” and Protected Areas: International Conservation and the “Naturalization” of Indigenous People, ca. 1910-1975,’ Journal of the History of Ideas 76 (2015), 215-236. DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb ZaöRV 82 (2022) 728 Literatur auch im Buch näher diskutierten internationalen Investitionsschutzrechts (S. 132 ff.) verwiesen: Blickt man auf in den vergangenen Jahren neu abgeschlossene bilaterale Investitionsschutzabkommen (BITs), an denen ein Staat des globalen Südens beteiligt ist, findet man auf der anderen Seite sehr häufig Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland, China oder die Türkei.5 Die der Perspektive geschuldeten Problematiken schmälern dennoch nicht den Ertrag des postkolonialen Blicks auf die Entwicklung des internationalen Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrechts. So eröffnet die Autorin im ersten Teil des Buches z. B. einen Blick auf postkoloniale Ansichten auf die Natur (S. 33) und die Perspektiven anfänglicher umweltrechtlicher Regulierung (S. 43 ff.: Nützlichkeit der Tier- und Pflanzenwelt für den Menschen, der Mensch als Teil oder Hindernis bei Schutzgebietskonzepten) und die dahinterliegenden Interessens- und Einflusskonstellationen, welche sich besonders in frühen umweltvölkerrechtlichen Abkommen nachweisen lassen. Obwohl hier bisweilen die Konvention zum Schutz wildlebender Tiere, Vögel und Fische in Afrika von 1900 als „the world‘s first environmental agreement“ (S. 47) firmiert, steht diese Feststellung auch bei Boysen zu Recht in Anführungsstrichen. Denn sowohl die Oregon Database of International Environmental Agreements6 als auch die Sammlung von Simma et al. „International Protection of the Environment“7 weisen auf zahlreiche frühere, multilaterale Vereinbarungen hin. In diesem historischen Teil entwickelt Boysen die zentrale These des Buches: Der Ressourcenabbau während des Kolonialismus habe zur Herausbildung eines Umweltrechts geführt, das eine nachhaltige Bewirtschaftung nahelegte (S. 53) – sodass die Verfügbarkeit von Ressourcen am Markt wie zu Kolonialzeiten jederzeit sichergestellt war. So waren Umwelt- und Wirtschaftsinteressen von Anfang an miteinander verbunden. Dieses Zusammenspiel wird an dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung (S. 66 ff.) besonders deutlich. Die geistige Urheberin des Prinzips, Gro Harlem Brundtlandt, wollte gerade nicht, dass Umweltschutz ökonomische Entwicklung unmöglich macht. Weiter entwickelt wird die besondere Verbindung zwischen Umwelt und Wirtschaft dann anhand des Grundsatzes der souveränen Herrschaft über natürliche Ressourcen (S. 70). Nach Boysen steht ihm die Gemeinwohlorientierung des Umweltvölkerrechts gegenüber 5 Siehe etwa die Übersicht unter <https://investmentpolicy.unctad.org/international-invest ment-agreements>, zuletzt aufgerufen am 14.7.2022. 6 <https://iea.uoregon.edu>, zuletzt aufgerufen am 14.7.2022. 7 Bernd Rüster/Bruno Simma, International Protection of the Environment, (Dobbs Ferry NY: Oceana Publications Inc. 1975). ZaöRV 82 (2022) DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb Buchbesprechungen 729 (S. 17, 64, 92 ff. u. a.), zu der die Autorin in einem weiten Sinn auch das Narrativ des Anthropozän zählt (S. 101 f.). Der zweite Teil des Buches widmet sich der Verbindung umwelt- und wirtschaftsvölkerrechtlicher Instrumente, welche bislang lediglich getrennt und nicht als miteinander verbunden betrachtet wurden (S. 112). Hierdurch perpetuiere sich die postkoloniale Ordnung und insbesondere deren inhärente Ungleichheiten. Diese These entfaltet Boysen wiederum entlang zentraler Prinzipien des Umweltvölkerrechts, wie etwa des Grundsatzes der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (S. 128) oder der Prinzipien des internationalen Investitionsschutzes (S. 139 ff.). Sie konstatiert, die Differenzierung zwischen dem „politischen“ und dem „ökonomischen“ Bereich verstelle den Blick auf spezifische Gleichheitsfragen, die gerade im Verhältnis des globalen Nordens zum globalen Süden von großer Relevanz bleiben (S. 144). Dies könne auch anhand der in den Gebieten des Umweltvölkerrechts dominanten, internationalen Prinzipien, wie etwa dem Grundsatz der Souveränität über natürliche Ressourcen, weiter entfaltet werden. Auch Prinzipien, welche Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit ansprechen, wie das des gemeinsamen Erbes der Menschheit (S. 167 ff.) oder der gemeinsamen Sorge (S. 184), drückten dies aus. Die Gegenüberstellung und das In-Beziehung-Setzen der umweltvölkerrechtlichen Prinzipien im Rahmen der Diskussionen dieses Teils überzeugt nicht immer. Hat das Prinzip der souveränen Herrschaft über natürliche Ressourcen an Bedeutung eingebüßt, weil Prinzipien wie das des gemeinsamen Erbes oder der gemeinsamen Sorge der Menschheit etabliert wurden? Dies wäre allein dann zutreffend, wenn die Prinzipien einen gleichen Anspruch auf Geltung erhöben oder hätten. Das Prinzip des gemeinsamen Erbes hat allerdings – wie Boysen auch selbst feststellt (S. 168) – einen sehr beschränkten Wirkungskreis, da sich gerade kein Konsens für seine Übertragung in andere Bereiche des Umweltvölkerrechts fand. Konsequent findet es nur im Kontext des Meeresboden- und Weltraumregimes Anwendung. Boysens prinzipienorientierte Diskussion scheint dennoch von einer Gleichrangigkeit und/oder Gleichwertigkeit auszugehen. Diesen Eindruck verstärkt auch die von ihr im letzten Teil favorisierte konstitutionalistische Sicht auf das Völkerrecht (S. 291 ff.), welche ja ebenfalls auf einen prinzipienbasierten Ansatz setzt. Außerdem zeigt sich bei der Diskussion des Beispiels des internationalen Regimes über den Meeresboden (S. 176 ff.), dass neokolonialistische Einflüsse bei der Diskussion institutionalisierter Gerechtigkeitsregime zumindest mitbedacht werden müssten. Denn die jüngst von der internationalen Meeresbodenbehörde vergebenen Konzessionen zum Rohstoffabbau in der Tiefsee gingen mit Russland und China auch an zwei Player, DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb ZaöRV 82 (2022) 730 Literatur die gerade nicht den Kolonialherren aus dem globalen Norden zugerechnet werden können. Im dritten Teil des Buches widmet sich Boysen der weiteren Verknüpfung von umweltvölkerrechtlichen mit wirtschaftlichen Regelungsinstrumenten. „[D]as Umschlagen von einem liberalen Paradigma der Unterscheidung von Politik und Ökonomie in ein neoliberales Paradigma der Hegemonie ökonomischer Imperative […] [sei auf keinem Feld] […[ so sichtbar wie hier.“ (S. 201). Bei den in diesem Kapitel besprochenen Regelungsansätzen – insbesondere Handelsbeschränkungen, oder auch das System des prior and informed consent (PIC) – ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Regelungen wirtschaftsbezogen und eng mit Historien verknüpft sind, die einen starken postkolonialen Bezug haben. Insbesondere bei den Regelungen des Nagoya und Cartagena Protokolls, die im Kontext der so genannten Saatendebatte verhandelt wurden, die u. a. die Zulässigkeit der Patentierung von Saatgut und das geistige Eigentum an vorhandenen und neuen Saaten kontrovers diskutierte, ist das mehr als offensichtlich. Auf diese Debatte nimmt auch Boysen Bezug (S. 216-218). Im Buch werden diese Zusammenhänge nun klar benannt. Die Kritik, die Regelungen drückten allesamt die Hegemonie ökonomischer Imperative aus, legt allerdings nahe, dass handels- und wirtschaftsbezogene Beschränkungen nun abgeschafft oder zumindest reformiert werden müssten, um dem Vorwurf der postkolonialen Herrschaft begegnen zu können. Dies erschwert zumindest Erwägungen und Betrachtungen, welche auf die konkrete Wirkweise einzelner Regelungen gerichtet sind. Denn basierend auf der derzeitigen Ordnung kann auch der pragmatische Standpunkt eingenommen werden, dass die problematische Historie der derzeitigen Ordnung jedenfalls dort hingenommen werden kann, wo handels- und wirtschaftsbezogene Regelungen des internationalen Umweltrechts im konkreten Fall zu den erwünschten Regelungserfolgen (und gleichermaßen für Gerechtigkeit im Nord-Süd Kontext) führen. Für ein solch – zumindest in der Theorie – funktionierendes Regime kann auf das Emissionshandelsregime (S. 226) verwiesen werden. Boysen spricht es zusammen mit den weiteren Ausgleichsund Complianceregelungen des Kyotoprotokolls an, auf dessen Grundlage das Regime ursprünglich errichtet wurde (ibid.). Dem nunmehr unter dem Klimarahmenübereinkommen und dem Abkommen von Paris geltenden Europäischen Emissionshandel8 wird theoretisch eine große Wirksamkeit attestiert, da es sich dabei um ein Regime handelte, welches einen Großteil der 8 Eingeführt durch RL 2003/87/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10. 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der RL 96/61/EG des Rates, ABl. L 275/32. ZaöRV 82 (2022) DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb Buchbesprechungen 731 Wirtschaftsteilnehmer umfasst und bei diesen starke Anreize für Einsparungen setzt.9 Dass das Regime geraume Zeit nicht erfolgreich war, lag daran, dass man sich innerhalb der Europäischen Union auf politischer Ebene lange nicht auf weitere Verknappungen der Zertifikate einigen konnte.10 Erst in den letzten Jahren wurden die Verknappungen neu geregelt und das Regime auf weitere Bereiche, wie etwa den Luftverkehr, ausgedehnt.11 Mittlerweile hat sich ein einigermaßen realistischer Marktpreis pro Tonne CO2 entwickelt. Zukünftig müssen noch weitere Kosten einbezogen werden.12 Letztendlich war es also nicht die handelsbezogene Regelung, sondern der mangelnde politische Wille zu ihrem konsequenten Einsatz, welcher das Regime lange als ineffektiv dastehen ließ. Da das System allein auf den europäischen Markt abstellt, sich entsprechend ausschließlich auf die Marktteilnehmer dieses Marktes bezieht, dort eine Reduktion der Emissionen und allenfalls unter den Marktteilnehmern die Generierung von Einkünften zum Ausgleich von Emissionen bezweckt, ist es nicht darauf ausgelegt, über die Emissionsreduktion hinaus Verteilungsgerechtigkeit mit dem globalen Süden herzustellen. Diese müssen flankierende, andere Maßnahmen, z. B. Ausgleichszahlungen aus den erwirtschafteten Einnahmen, erreichen. Und hier zeigt Boysen richtig auf, dass der ursprüngliche Mechanismus des Kyoto-Protokolls verbesserungswürdig war (ibid.). Boysens Werk bleibt bei postkolonialer Kritik nicht stehen. Lösungen aufzuzeigen versucht sie im Schlussteil des Buches (ab S. 291 ff.), indem sie die zuvor kritisierte These des Konstitutionalismus nutzt, um darzulegen, dass bestimmte grundlegende Normen der Völkerrechtsordnung auch Dreh- und Angelpunkt von Kontestationen (zwischen Staaten des globalen Nordens und Südens) über ebenjene Normen sein können (S. 319). Das transnationale Umwelt- und Wirtschaftsrecht biete so den notwendigen Raum, um die zwangsläufigen Konflikte über die Geltung bestimmender Prinzipien auszufechten. Alles in allem stellt Boysens „postkoloniale Konstellation“ daher einen wahrhaft reichen, wichtigen und verdienstvollen Beitrag zur Aufklärung der postkolonialen Genese und „Genealogie“ (S. 30) der Regelungen des 9 Stefano Clò, The Effectiveness of the EU Emissions Trading Scheme, Climate Policy 9 (2009), 227-241. 10 Sabine Gores/Jakob Graichen, Ansätze zur Bewertung und Darstellung der nationalen Emissionsentwicklung unter Berücksichtigung des EU-ETS, Climate Change 8 (2017), 1 ff. 11 RL 2018/410/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.3.2018 zur Änderung der RL 2003/87/EG zwecks Unterstützung kosteneffizienter Emissionsreduktionen und zur Förderung von Investitionen mit geringem CO2-Ausstoß und des Beschlusses (EU) 2015/ 1814, ABl. L 76/3. 12 Ottmar Edenhofer, Die nächste Generation zahlt den Preis, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.8.2022. DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb ZaöRV 82 (2022) 732 Literatur internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrechts dar. Das Werk leistet einen wertvollen Beitrag dazu, Widersprüche und Verschränkungen im aktuellen internationalen Umwelt- und Wirtschaftsrecht zu entlarven. Dass hier einige kontroverse Punkte herausgegriffen wurden, zeigt lediglich, wie wichtig der Diskussionsbeitrag insgesamt ist, den Boysen mit ihrem Werk vorgelegt hat. Birgit Peters, Trier ZaöRV 82 (2022) DOI 10.17104/0044-2348-2022-3-725 https://doi.org/10.17104/0044-2348-2022-3-725, am 16.10.2023, 09:27:20 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb