Sprach- und Schriftkämpfe:
Serbien, Belarus, Ukraine
Prof. Dr. Daniel Bunčić
Ringvorlesung Macht: Konfigurationen in Gegenwart und Geschichte | 22.05.2023
Gliederung
1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten
2. Serbien: ćirilica vs. latinica
3. Belarus: kirylica vs. lacinka
und Russisch vs. Belarussisch
4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch
5. Fazit
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Französische Soziolinguistik
Pierre Bourdieu (* 1930, † 2002)
Le fétichisme de la langue (1975)
Language and symbolic power (1991):
“legitimate language”
kulturelles Kapital
hegemoniale Gruppe überträgt ihre Sicht der Welt auf andere Gruppen
Louis-Jean Calvet (* 1942; Aix-en-Provence)
»Glottophagie« (Langue et colonialisme:
petit traité de glottophagie, 1974)
Galaxien der Sprachen und Schriften
(Pour une écologie des langues du monde, 1999)
Markt der Sprachen (z. B. 2021)
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Calvets « galaxie des langues »
Hyperzentrale Sprache (≙ Zentrum des Galaxis):
Englisch
Superzentrale Sprachen (≙ Sterne): Arabisch, Russisch,
Swahili, Französisch, Hindi, Malaiisch, Spanisch,
Portugiesisch, Chinesisch…
Zentrale Sprachen (≙ Planeten): z. B. Wolof, Bambara,
Quechua, Tschechisch, Armenisch…
Periphere Sprachen (≙ Monde): z. B. Diola, Dogon, Kawki,
Slovakisch, Kurdisch…
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Calvets « galaxie des écritures »
Auf der dritten Ebene sind hier keine Schriften, sondern
Schriftsysteme.
Konsequenter: z. B. armenische, georgische Schrift im Orbit der
superzentralen Schrift Kyrillisch
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1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten
2. Serbien: ćirilica vs. latinica
3. Belarus: kirylica vs. lacinka
und Russisch vs. Belarussisch
4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch
5. Fazit
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Kyrillisch
bis ins 15. Jh. keine lateinische Schrift
für serbokroatische Varietäten
in Serbien und Bosnien nur Kyrillisch
in Kroatien Kyrillisch und Glagolitisch
Beispiele:
Inschrift von Temnić (Serbien, um 1000)
Urkunde des Bans Kulin (Bosnien, 1189)
Statut von Poljica (Dalmatien, 1440)
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Vuks Sprachreform
Vuk St. Karadžić reformiert ab
1814 das Serbische:
Abschaffung von 〈й〉, 〈я〉, 〈ю〉, 〈э〉;
〈ы〉, 〈ъ〉, 〈ь〉
Schreibung von [j] durch 〈j〉
Einführung von 〈њ〉 /ɲ/, 〈љ〉 /ʎ/, 〈ћ〉 /t͡ɕ/,
〈ђ〉 /d͡ʑ/, 〈џ〉 /d͡ʒ/
dadurch sehr flache Orthographie
großer Widerstand der Kirche gegen
›katholisches‹ 〈j〉, daher erst in
den 1860er Jahren durchgesetzt
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Einführung des Lateinischen
bei den Kroaten (= Katholiken):
ab dem 15. Jh.
latinaši (Stadtpriester) vs. glagoljaši (Landpriester)
bis zum 18. Jh. Verdrängung des Kyrillischen
Das Glagolitische hält sich bis ins 20. Jh.
bei den Bosniaken (= Muslimen)
bis ins 19. Jh. Kyrillisch (und Arabisch) als eigene Schrift
ab 1878 auch Lateinisch, verdrängt zunehmend das Kyrillische
bei den Serben (= Orthodoxen)
bis 1918 nur sehr sporadische lateinschriftliche Texte
im Ersten Jugoslavien ca. 10 % der serbischen Bücher lateinisch
im Zweiten Jugoslavien bis zu ⅔
heute ca. 40 %
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Einführung des Lateinischen für das Serbische
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Einführung des Lateinischen für das Serbische
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Aus dem Zweiten Jugoslavien: dumme Miliz
Zašto idu uvijek zajedno
dva milicajca?
Зато што један зна латиницу,
а други ћирилицу
и тако могу све прочитати.
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Heute im Serbischen: Bigraphismus
Jeder beherrscht beide Schriften.
Man kann alles in jeder Schrift schreiben.
Man schreibt alles in nur einer Schrift.
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Heute im Serbischen: Bigraphismus
Schriften transportieren verschiedene Werte:
Kyrillisch: Tradition, Heimat, Serbentum, Langsamkeit
Lateinisch:Moderne, Welt, Jugoslavien, Schnelligkeit
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Heute im Serbischen: Bigraphismus
raznorečie ‘Heteroglossie’
nach Bachtin ([1935] 1975; vgl. Bender 2008: 91)
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1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten
2. Serbien: ćirilica vs. latinica
3. Belarus: kirylica vs. lacinka
und Russisch vs. Belarussisch
4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch
5. Fazit
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Die Wochenzeitung Naša Niva (1906—)
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Weitere Entwicklung
1912 wurde die Finanzierung der doppelten Ausgabe unmöglich.
öffentliche Diskussion mit den Leserïnnen
Entscheidung: ab 2./15.11.1912 nur noch kyrillisch
Bücher erschienen weiterhin auch lateinisch.
in den 1920er/30er Jahren kam die lateinische Schrift außer Gebrauch.
• Im polnischen Teil von Belarus bevorzugte die Regierung die lateinische
Schrift.
• Während des Zweiten Weltkriegs führten die deutschen Besatzer die
lateinische Schrift kurzzeitig wieder ein (vgl. Antipova 2012).
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«Baranavickaja hazeta» № 86, 16.09.1942, 2
Weitere Entwicklung
1912 wurde die Finanzierung der doppelten Ausgabe unmöglich.
öffentliche Diskussion mit den Leserïnnen
Entscheidung: ab 2./15.11.1912 nur noch kyrillisch
Bücher erschienen weiterhin auch lateinisch.
in den 1920er/30er Jahren kam die lateinische Schrift außer Gebrauch.
• Im polnischen Teil von Belarus bevorzugte die Regierung die lateinische
Schrift.
• Während des Zweiten Weltkriegs führten die deutschen Besatzer die
lateinische Schrift kurzzeitig wieder ein (vgl. Antipova 2012).
• seit der Perestrojka einzelne Versuche, die lateinische Schrift
wiederzubeleben
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«Naša Niva», 02.03.2007, 12−13
Die belarussische Orthographiereform von 1933
Beschlossen vom
Sovet narodnych komissarov der BSSR
(→ »narkamaŭka«) am 26.08.1933
lateinisches Alphabet schon nicht mehr erwähnt
u. a. Russifizierung in Phonetik und Morphologie:
mitalëhija → mifalohija ‘Mythologie’, vgl. russ. mifolohija
kljasa f. → klas m. ‘Klasse’, vgl. russ. klass m.
Mensk → Minsk, vgl. russ. Minsk
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Folgen der Reform
seit der Perestrojka wieder Texte in Taraškevica auch in Belarus
Wahl der Orthographie hängt von Schreibenden und intendiertem Publikum
ab
hoher symbolischer Wert:
Narkamaŭka – sowjetisch, aber auch modern
Taraškevica – demokratisch, aber auch altmodisch
⇒ Biorthographismus
Am 04.12.2008 wechselte Naša niva nach langer Diskussion zur »SchulOrthographie«.
Seitdem existiert die Taraškevica praktisch nur noch im Internet.
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Zustand heute
Zum zweiten Mal hat der »Osten« sich durchgesetzt:
Die »orthodoxe« kyrillische Schrift hat sich gegen
die »katholische« Lateinschrift durchgesetzt.
Die »kommunistische« Narkamaŭka hat
die »demokratische« Taraškevica verdrängt.
Jetzt ist der Konflikt auf die Sprachen übergegangen:
Russisch = »Osten«, sowjetisches Erbe, Lukašėnka
Belarussisch = »Westen«, Demokratie, Opposition
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Belarussisch vs. Russisch in Belarus
Lukašėnka oszilliert zwischen Anlehnung an
Russland und Betonung der Eigenständigkeit.
spricht fast nur Russisch
hat Kampagnen zur Stärkung des Belarussischen
gestartet und Reden auf Belarussisch gehalten
aus Sicht der Macht zwei Sorten Belarussisch:
gutes Belarussisch in der Folklore, in
geisteswissenschaftlichen Texten etc.
böses Belarussisch als Signal der demokratischen
Opposition in politischen Texten, Presseberichten
etc.
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1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten
2. Serbien: ćirilica vs. latinica
3. Belarus: kirylica vs. lacinka
und Russisch vs. Belarussisch
4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch
5. Fazit
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Sprachenpolitik der Teilungsmächte
1720 Erlass des Heiligen Synods unter Vorsitz Peters I.: Sprache der in der
Kiewer Höhlenklosterdruckerei und in Černihiv gedruckten Bücher darf
nicht von der der Moskauer Synodaldruckerei abweichen.
Nach den polnischen ›Teilungen‹ ist Österreich zunächst sehr restriktiv.
Druck von Büchern auf Ukrainisch nicht möglich (Zensur)
Einfuhr ukrainischer Bücher aus Russland verboten
1830/31 Novemberaufstand im russischen Polen
gewaltsam niedergeschlagen
Aufhebung der polnischen Verfassung, Verbannung von 80.000 Polen nach Sibirien
1848 Revolution in Europa: Sprachenpolitik Österreichs wird liberaler
Druck von Büchern auf Ukrainisch erlaubt
Einführung ukrainischer Schulen
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Die Ukraine in Russland und Österreich-Ungarn
Die Autonomie der Kosaken in Russland wird immer mehr
aufgehoben.
Die Ukraine wird zu einem integralen Teil des Russischen
Reiches.
Das intellektuelle Leben spielt sich auf Russisch ab und
zieht Ukrainer in die Hauptstadt St. Petersburg.
z. B. Mykola Hoholʹ alias Nikolaj Gogolʹ
Galizien innerhalb Österreichs ist vielsprachig:
Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, Latein, Jiddisch, Armenisch
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Sprachenpolitik im Russischen Reich
1863 Januaraufstand im
russischen Polen
1863 geheimes ValuevZirkular: auf ›Kleinrussisch‹
nur noch Belletristik (als
Dialektliteratur), keine Schulund Sachbücher mehr
1876 Emser Ukaz: Es dürfen
keine Bücher auf ›Klein- oder
Weißrussisch‹ gedruckt oder
(z. B. aus Galizien) eingeführt
werden.
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Sprachenpolitik im Russischen Reich
Danach wird Lemberg (in Galizien, Österreich) zum Zentrum der ukrainischen
Kultur.
Russische Revolution von 1905
Oktober-Manifest (17.10.1905) verkündete Meinungsfreiheit.
Auch die spätere Rücknahme eines Teils der Freiheiten berührt nicht die Möglichkeit, in allen
Sprachen Texte zu publizieren.
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Gründung der Ukraine
Nach der Oktoberrevolution herrscht Bürgerkrieg in
der Ukraine.
Am 7./20. November 1917 ruft die Centralʹna Rada unter
Mychajlo Hruševsʹkyj in Kiew die Ukrainische Volksrepublik (Ukraïnsʹka Narodna Respublika, UNR) aus.
Am 12./25. Dezember 1917 rufen die Bolschewiken in
Charkiv die Ukrainische Räterepublik (Ukraïnsʹka
Narodna Respublika Rad) aus.
benutzt auch diverse andere Namen, darunter verwirrenderweise
auch UNR
nennt sich ab 1919 Ukrainische SSR (ukr. Ukraïnsʹka Radjansʹka
Socialistyčna Respublika, URSR)
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Gründung der Ukraine
Die Centralʹna Rada schließt einen Separatfrieden mit den
Mittelmächten, kooperiert jedoch letztlich wenig mit diesen.
Daher lösen diese 1918 die Centralʹna Rada auf und errichten
am 14. April 1918 das Hetmanat unter Hetman (hetʹman)
Pavlo Skoropadsʹkyj.
Die Ukrainische Volksrepublik wird am 14. Dezember 1918
wiederhergestellt.
Im Februar 1920 erobert die Rote Armee die letzten von der
Ukrainischen Volksrepublik kontrollierten Gebiete.
1922 Gründung der Sowjetunion, mit der Ukrainischen SSR
als Teilrepublik
1945 wird die Ukraine dennoch neben der Sowjetunion (!) und Belarus
Gründungsmitglied der UNO.
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Sowjetische Sprachenpolitik
anfangs sehr liberale Sprachenpolitik
Kontext: Weltrevolution
Sprachenausbau (jazykovoe stroitel’stvo):
Schaffung neuer Alphabete, meist auf lateinischer
Grundlage
aktive Unterstützung der Sprachen und Kulturen
der im Zarenreich kulturell unterdrückten Völker
bis 1932 Grundschulunterricht in 80 Sprachen
Eine Kommission des Bildungsministeriums soll
eine lateinische Orthographie fürs Russische
erarbeiten.
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Wende der sowjetischen Sprachenpolitik
Richtungswechsel in den 1930er Jahren: Kommunismus in einem Land
Das Russische als De-facto-Staatssprache setzt sich in mehr und mehr Bereichen durch.
Entfernung ›ausländischer‹ westlicher Amtssprachen (z.B. Jiddisch, Polnisch, Finnisch, Deutsch)
Ausbau des Bildungssystems gestoppt:
nur in Baschkirien und Tatarstan nicht-russische Mittelschulen
keine nicht-russischen Universitäten geschaffen
1938 Einführung von Russischunterricht als Pflichtfach ab der 1. Klasse an sämtlichen
Schulen
›Russifizierte‹ Neukodifizierungen zahlreicher Sprachen
Die 1930 veröffentlichten Vorschläge zur Latinisierung des Russischen bleiben ohne jede
Reaktion.
Umstellung fast aller Sprachen auf kyrillische Schrift
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Ukrainische Orthographie in der Sowjetunion
Kodifizierung 1918/19: Holovni pravyla ukraïnsʹkoho pravopysu
erstes umfangreiches Regelwerk: »Charkiver Rechtschreibung« (1928)
1933 russifizierte Orthographie:
〈ґ〉 abgeschafft
Gen. Sg. i-Stämme: bez sovisty → bez sovisti ‘gewissenlos’ (vgl. russ. bez
sovesti)
holodivka → holodovka ‘Hungerstreik’ (vgl. russ. golodovka)
Eigennamen: Berestja → Brest, Rivne → Rovno
Gräzismen: Ateny → Afiny ‘Athen’ (vgl. russ. Afiny)
westliche Fremdwörter: varijant → variant ‘Variante’ (vgl. russ. variant),
ljampa → lampa ‘Lampe’ (vgl. russ. lampa)
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Unabhängigkeit
1989 wurde Russisch als zweite Amtssprache der Ukrainischen
SSR abgeschafft, so dass Ukrainisch zur alleinigen
Amtssprache wurde.
Das Russische behielt seinen Status als Alltagssprache in weiten
Teilen der Ukraine, darunter Kiew.
Auf der Krim war daneben von Anfang an auch Russisch Amtssprache
der (Autonomen) Republik Krim.
Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991
1. Dezember 1991 Referendum (90% für die Unabhängigkeit)
und erste Präsidentschaftswahl (Leonid Kravčuk)
Ende Dezember 1991 wird die Sowjetunion aufgelöst.
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Ukrainische Orthographie seit der Wende
1989/90 Orthographie modifiziert
〈ґ〉 wieder eingeführt (wenn auch nicht an allen Stellen, an denen es
ursprünglich vorkam)
andere sowjetische Änderungen größtenteils belassen
2019 neue Orthographie mit mehr Übernahmen aus der ›klassischen‹
Orthographie
〈ґ〉 fakultativ in deutlich mehr Lehnwörtern, z. B. Hegelʹ neben Hehelʹ, Georg
neben Heorh
Zulassung der Endung -y in den i-Stämmen: bez sovisty neben bez sovisti
griechisches Theta wird konsequent durch 〈т〉 statt 〈ф〉 wiedergeben: bisher
schon antolóhija, teórija, ortodóks, jetzt auch katédra neben káfedra, etér neben
efír ‘Äther’, mit neben mif ‘Mythos’, Atény neben Afíny
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»Alltagssprachen« in der Ukraine
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Sprachkompetenz der Ukrainerïnnen
repräsentative Umfrage des Centr Razumkova von 2002:
Які мови Ви знаєте, тобто, якими мовами Ви можете
спілкуватися?
russ.
ukr.
engl.
span.
dt.
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frz.
sonst.
Jüngste Ereignisse
2004 Orange Revolution (Pomarančeva Revoljucija)
2013/2014 Euromaidan (Jevromajdan)
Februar/März 2014 russische Annexion der Krim
April 2014 Ausrufung der Volksrepubliken Donecʹk und Luhansʹk
1954, zum 300. Jahrestag der Unterstellung der Kosaken unter den Zaren, hatte Nikita Chruščëv
dafür gesorgt, dass die RSFSR der Ukrainischen SSR die Krim schenkt.
Russland versuchte die Reintegration der Krim in die Russische Föderation durch ein nach der
Besetzung der Krim durchgeführtes, nicht unabhängig beobachtetes Referendum zu
legitimieren.
seitdem Krieg (vijna) in der Ostukraine
13.000 Tote
2,3 Millionen geflohen
24. Februar 2022 Invasion (vtorhnennja) der russischen Armee
viele weitere Tote und Zerstörungen
allein in Deutschland bereits über 1 Mio. Geflüchtete
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Russisch als Minderheitssprache?
vgl. Calvet (1999): Russisch ist
»superzentral«, Ukrainisch in der
russischen Peripherie.
Der russischsprachige Markt ist
immer mächtiger als der
ukrainischsprachige (Kulyk 2014:
234).
Aber: Es hilft den
Russischsprecherïnnen in der
Ukraine nicht, dass Russland ein
großes Land ist.
Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023
Mädchen, rutsch mal,
du (unter)drückst mich!
Wenn du
Russisch reden
willst, geh
nach Russland!
Das ukrainische Sprachengesetz von 2012
Sprachengesetz von 1989 und Verfassungsartikel von 1996 waren
mehrdeutig und sahen keine Sanktionen vor.
Folge: Jeder durfte im Prinzip alles, konnte aber nichts einklagen.
Nicht einmal staatliche Bedienstete waren verpflichtet, das Ukrainische zu
verwenden.
Auch Juščenko hat daran nichts geändert (vgl. Kulyk 2010: 397).
Allerdings wurde während seiner Regierungszeit die Einhaltung der
bestehenden Regelungen für landesweite Medien überwacht.
2005 wurden 13 verschiedene Entwürfe für ein Sprachengesetz in die
Verchovna Rada eingebracht.
»Die Debatte wurde ohne Angabe von Gründen abgesetzt.« (Kulyk 2010: 398).
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Das ukrainische Sprachengesetz von 2012
2012 Gesetz »Über Fragen der staatlichen Sprachenpolitik«
In Regionen, in denen mindestens 10 % eine andere Sprache als Muttersprache sprechen als
Ukrainisch, wird diese Amtssprache.
Dadurch wurde u. a. Russisch in der östlichen und südlichen Ukraine zur Amts- und geschützten
Minderheitensprache.
»Das Gesetz war trotz massiver Proteste der Hüter der ukrainischen Sprache und unter
Missachtung der Geschäftsordnung des Parlaments verabschiedet worden und wurde schlagartig
zu einem Symbol der antidemokratischen Politik des Janukovyč-Regimes.« (Kulyk 2014: 228)
Ungarisch Rumänisch
(Zakarpats’ka
oblast’)
(Černivec’ka
oblast’,
Bukowina/
Bessarabien)
Russisch
Russisch und
Krimtatarisch
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Das ukrainische Sprachengesetz von 2012
Am 23.02.2014 beschloss das Parlament die Abschaffung
des Gesetzes.
Die proeuropäischen Politiker »wollten ihren Wählern wohl auf
ähnliche Weise demonstrieren, dass sie sich um die ukrainische
Sprache bemühen, wie Viktor Janukovyč zwei Jahre zuvor mit einem
Sprachengesetz unter Beweis zu stellen versucht hatte,
dass er sich um die Bedeutung des
Russischen kümmert.« (Kulyk 2014: 228)
Übergangspräsident Oleksandr
Turčynov unterzeichnete nicht.
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Das ukrainische Sprachengesetz von 2012
Turčynov und Porošenko erklärten, dass sie der
Abschaffung des Sprachengesetzes erst zustimmen, wenn
das Parlament ein neues Gesetz als Ersatz vorlegt.
Anfang März 2014 wurde eine Kommission zur
Ausarbeitung eines neuen Sprachengesetzes eingesetzt.
Ab Februar 2015 wurde das Gesetz vom
Verfassungsgericht untersucht.
Am 28. Februar 2018 erklärte das Verfassungsgericht das
Gesetz für verfassungswidrig, so dass es damit außer Kraft
trat.
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Das ukrainische Sprachengesetz von 2019
Im Herbst 2018 wurde ein neues Sprachengesetz in die Verchovna Rada eingebracht: »Zur
Sicherstellung des Funktionierens des Ukrainischen als Staatssprache«
am 25.04.2019 mit großer Mehrheit verabschiedet, seit Juli 2019 in Kraft
führt das Amt einer Staatssprachenschutzbeauftragten (derzeit Taras Kreminʹ) und eine
Nationale Kommission für die Staatssprachenstandards ein, die dem Bildungsministerium
unterstellt ist
macht in vielen Bereichen die ukrainische Sprache als »Sprache der interethnischen
Kommunikation« verpflichtend und ihre Beherrschung zur Voraussetzung für viele Ämter
Zeitungen und Zeitschriften müssen ggf. neben anderssprachigen Auflagen immer auch eine
ukrainische Auflage drucken.
Die Zahl der ukrainischsprachigen Medien muss an jedem Kiosk und in jedem Buchladen
mindestens 50 % betragen.
Ausnahmen gelten für autochthone Minderheiten wie die Krimtataren und für Medien, die
sich an Ausländerïnnen richten.
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Änderung der Einstellungen zu den Sprachen
In der Orangen Revolution und auf
dem Euromaidan wurde viel Russisch
gesprochen.
Ebenso benutzten Anhänger
Janukovyčs auch das Ukrainische.
Zumindest Kenntnis des Ukrainischen
wurde aber zum Bestandteil der nationalen
Identität.
2022 Schibboleth (Richter 12, 5–6) zum
Erkennen russischer Spione:
paljanycja [palʲaˈnɪt͡sʲa] (nicht [pəlʲɪˈnʲit͡sə])
Immer mehr Ukrainerïnnen wechseln
auch im Alltag zum Ukrainischen.
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1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten
2. Serbien: ćirilica vs. latinica
3. Belarus: kirylica vs. lacinka
und Russisch vs. Belarussisch
4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch
5. Fazit
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48
Fazit
In Kroatien, Bosnien und Serbien setzte sich im Laufe der Zeit
die hyperzentrale lateinische Schrift mehr und mehr durch.
Der Bigraphismus in Serbien ist stabil.
In Belarus setzt
die Sowjetmacht die kyrillische Schrift durch
Lukašėnkas Macht die Narkamaŭka durch
Lukašėnkas und Putins Macht die russische Sprache durch
In der Ukraine erzeugt die russische Gewalt Gegengewalt, die
auch zu einem Aufschwung der ukrainischen Sprache zulasten
der russischen führt.
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49
Хвала на пажњи.
Hvala na pažnji.
Dziakuj za ŭwahu.
Дзякуй за ўвагу.
Спасибо за внимание.
Дякую за увагу.
Спасибо за внимание.
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http://daniel.buncic.de/
https://uni.koeln/TGY45
daniel.buncic@uni-koeln.de
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Zitierte Literatur
Antipova, Anastasia. 2012. Nationalsozialistische Sprachpolitik in Weißruthenien. In
Reichskommissariat Ostland: Tatort und Erinnerungsobjekt. Hg. Sebastian Lehmann, Robert
Bohn. Paderborn et al.: Schöningh. 189−208.
Bachtin, Michail Michajlovič. 1975. Slovo v romane [1934−1935]. In Voprosy literatury i ėstetiky:
Issledovanija raznych let. Moskva: Chudožestvennaja literatura. 71−232.
Bender, Margaret. 2008. Indexicality, voice, and context in the distribution of Cherokee scripts.
International Journal of the Sociology of Language 192. 91−103.
Bourdieu, Pierre. 1991. Language and symbolic power. Cambridge: Polity.
Bunčić, Daniel et al. 2016. Biscriptality: A sociolinguistic typology. Heidelberg: Winter.
Calvet, Louis-Jean. 1999. Pour une écologie des langues du monde. Paris.
Kulyk, Volodymyr. 2010. Gespaltene Zungen: Sprache und Sprachenpolitik in der Ukraine.
Osteuropa 60(2−4). 391−402.
Kulyk, Volodymyr. 2014. Einheit und Identität: Sprachenpolitik nach dem Majdan. Osteuropa
64(5−6). 227−237.
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