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Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine

2023

Abstract

Heute im Serbischen: Bigraphismus  Jeder beherrscht beide Schriften.  Man kann alles in jeder Schrift schreiben.  Man schreibt alles in nur einer Schrift.

Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine Prof. Dr. Daniel Bunčić Ringvorlesung Macht: Konfigurationen in Gegenwart und Geschichte | 22.05.2023 Gliederung 1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten 2. Serbien: ćirilica vs. latinica 3. Belarus: kirylica vs. lacinka und Russisch vs. Belarussisch 4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch 5. Fazit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 2 Französische Soziolinguistik  Pierre Bourdieu (* 1930, † 2002)  Le fétichisme de la langue (1975)  Language and symbolic power (1991):  “legitimate language”  kulturelles Kapital  hegemoniale Gruppe überträgt ihre Sicht der Welt auf andere Gruppen  Louis-Jean Calvet (* 1942; Aix-en-Provence)  »Glottophagie« (Langue et colonialisme: petit traité de glottophagie, 1974)  Galaxien der Sprachen und Schriften (Pour une écologie des langues du monde, 1999)  Markt der Sprachen (z. B. 2021) Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 3 Calvets « galaxie des langues »  Hyperzentrale Sprache (≙ Zentrum des Galaxis): Englisch  Superzentrale Sprachen (≙ Sterne): Arabisch, Russisch, Swahili, Französisch, Hindi, Malaiisch, Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch…  Zentrale Sprachen (≙ Planeten): z. B. Wolof, Bambara, Quechua, Tschechisch, Armenisch…  Periphere Sprachen (≙ Monde): z. B. Diola, Dogon, Kawki, Slovakisch, Kurdisch… Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 4 Calvets « galaxie des écritures »  Auf der dritten Ebene sind hier keine Schriften, sondern Schriftsysteme.  Konsequenter: z. B. armenische, georgische Schrift im Orbit der superzentralen Schrift Kyrillisch Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 5 1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten 2. Serbien: ćirilica vs. latinica 3. Belarus: kirylica vs. lacinka und Russisch vs. Belarussisch 4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch 5. Fazit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 6 Kyrillisch  bis ins 15. Jh. keine lateinische Schrift für serbokroatische Varietäten  in Serbien und Bosnien nur Kyrillisch  in Kroatien Kyrillisch und Glagolitisch  Beispiele:  Inschrift von Temnić (Serbien, um 1000)  Urkunde des Bans Kulin (Bosnien, 1189)  Statut von Poljica (Dalmatien, 1440) Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 7 Vuks Sprachreform  Vuk St. Karadžić reformiert ab 1814 das Serbische:  Abschaffung von 〈й〉, 〈я〉, 〈ю〉, 〈э〉; 〈ы〉, 〈ъ〉, 〈ь〉  Schreibung von [j] durch 〈j〉  Einführung von 〈њ〉 /ɲ/, 〈љ〉 /ʎ/, 〈ћ〉 /t͡ɕ/, 〈ђ〉 /d͡ʑ/, 〈џ〉 /d͡ʒ/  dadurch sehr flache Orthographie  großer Widerstand der Kirche gegen ›katholisches‹ 〈j〉, daher erst in den 1860er Jahren durchgesetzt Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 8 Einführung des Lateinischen  bei den Kroaten (= Katholiken):     ab dem 15. Jh. latinaši (Stadtpriester) vs. glagoljaši (Landpriester) bis zum 18. Jh. Verdrängung des Kyrillischen Das Glagolitische hält sich bis ins 20. Jh.  bei den Bosniaken (= Muslimen)  bis ins 19. Jh. Kyrillisch (und Arabisch) als eigene Schrift  ab 1878 auch Lateinisch, verdrängt zunehmend das Kyrillische  bei den Serben (= Orthodoxen)     bis 1918 nur sehr sporadische lateinschriftliche Texte im Ersten Jugoslavien ca. 10 % der serbischen Bücher lateinisch im Zweiten Jugoslavien bis zu ⅔ heute ca. 40 % Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 9 Einführung des Lateinischen für das Serbische Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 10 Einführung des Lateinischen für das Serbische Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 11 Aus dem Zweiten Jugoslavien: dumme Miliz Zašto idu uvijek zajedno dva milicajca? Зато што један зна латиницу, а други ћирилицу и тако могу све прочитати. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 12 Heute im Serbischen: Bigraphismus  Jeder beherrscht beide Schriften.  Man kann alles in jeder Schrift schreiben.  Man schreibt alles in nur einer Schrift. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 13 Heute im Serbischen: Bigraphismus  Schriften transportieren verschiedene Werte:  Kyrillisch: Tradition, Heimat, Serbentum, Langsamkeit  Lateinisch:Moderne, Welt, Jugoslavien, Schnelligkeit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 14 Heute im Serbischen: Bigraphismus  raznorečie ‘Heteroglossie’ nach Bachtin ([1935] 1975; vgl. Bender 2008: 91) Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 15 1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten 2. Serbien: ćirilica vs. latinica 3. Belarus: kirylica vs. lacinka und Russisch vs. Belarussisch 4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch 5. Fazit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 16 Die Wochenzeitung Naša Niva (1906—) 17 Weitere Entwicklung  1912 wurde die Finanzierung der doppelten Ausgabe unmöglich.  öffentliche Diskussion mit den Leserïnnen  Entscheidung: ab 2./15.11.1912 nur noch kyrillisch  Bücher erschienen weiterhin auch lateinisch.  in den 1920er/30er Jahren kam die lateinische Schrift außer Gebrauch. • Im polnischen Teil von Belarus bevorzugte die Regierung die lateinische Schrift. • Während des Zweiten Weltkriegs führten die deutschen Besatzer die lateinische Schrift kurzzeitig wieder ein (vgl. Antipova 2012). Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 18 19 «Baranavickaja hazeta» № 86, 16.09.1942, 2 Weitere Entwicklung  1912 wurde die Finanzierung der doppelten Ausgabe unmöglich.  öffentliche Diskussion mit den Leserïnnen  Entscheidung: ab 2./15.11.1912 nur noch kyrillisch  Bücher erschienen weiterhin auch lateinisch.  in den 1920er/30er Jahren kam die lateinische Schrift außer Gebrauch. • Im polnischen Teil von Belarus bevorzugte die Regierung die lateinische Schrift. • Während des Zweiten Weltkriegs führten die deutschen Besatzer die lateinische Schrift kurzzeitig wieder ein (vgl. Antipova 2012). • seit der Perestrojka einzelne Versuche, die lateinische Schrift wiederzubeleben Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 20 «Naša Niva», 02.03.2007, 12−13 Die belarussische Orthographiereform von 1933  Beschlossen vom Sovet narodnych komissarov der BSSR (→ »narkamaŭka«) am 26.08.1933  lateinisches Alphabet schon nicht mehr erwähnt  u. a. Russifizierung in Phonetik und Morphologie:  mitalëhija → mifalohija ‘Mythologie’, vgl. russ. mifolohija  kljasa f. → klas m. ‘Klasse’, vgl. russ. klass m.  Mensk → Minsk, vgl. russ. Minsk Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 22 Folgen der Reform  seit der Perestrojka wieder Texte in Taraškevica auch in Belarus  Wahl der Orthographie hängt von Schreibenden und intendiertem Publikum ab  hoher symbolischer Wert:  Narkamaŭka – sowjetisch, aber auch modern  Taraškevica – demokratisch, aber auch altmodisch ⇒ Biorthographismus  Am 04.12.2008 wechselte Naša niva nach langer Diskussion zur »SchulOrthographie«. Seitdem existiert die Taraškevica praktisch nur noch im Internet.  Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 23 Zustand heute  Zum zweiten Mal hat der »Osten« sich durchgesetzt:  Die »orthodoxe« kyrillische Schrift hat sich gegen die »katholische« Lateinschrift durchgesetzt.  Die »kommunistische« Narkamaŭka hat die »demokratische« Taraškevica verdrängt.  Jetzt ist der Konflikt auf die Sprachen übergegangen:  Russisch = »Osten«, sowjetisches Erbe, Lukašėnka  Belarussisch = »Westen«, Demokratie, Opposition Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 24 Belarussisch vs. Russisch in Belarus  Lukašėnka oszilliert zwischen Anlehnung an Russland und Betonung der Eigenständigkeit.  spricht fast nur Russisch  hat Kampagnen zur Stärkung des Belarussischen gestartet und Reden auf Belarussisch gehalten  aus Sicht der Macht zwei Sorten Belarussisch:  gutes Belarussisch in der Folklore, in geisteswissenschaftlichen Texten etc.  böses Belarussisch als Signal der demokratischen Opposition in politischen Texten, Presseberichten etc. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 25 1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten 2. Serbien: ćirilica vs. latinica 3. Belarus: kirylica vs. lacinka und Russisch vs. Belarussisch 4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch 5. Fazit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 26 Sprachenpolitik der Teilungsmächte  1720 Erlass des Heiligen Synods unter Vorsitz Peters I.: Sprache der in der Kiewer Höhlenklosterdruckerei und in Černihiv gedruckten Bücher darf nicht von der der Moskauer Synodaldruckerei abweichen.  Nach den polnischen ›Teilungen‹ ist Österreich zunächst sehr restriktiv.  Druck von Büchern auf Ukrainisch nicht möglich (Zensur)  Einfuhr ukrainischer Bücher aus Russland verboten  1830/31 Novemberaufstand im russischen Polen  gewaltsam niedergeschlagen  Aufhebung der polnischen Verfassung, Verbannung von 80.000 Polen nach Sibirien  1848 Revolution in Europa: Sprachenpolitik Österreichs wird liberaler  Druck von Büchern auf Ukrainisch erlaubt  Einführung ukrainischer Schulen Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Die Ukraine in Russland und Österreich-Ungarn  Die Autonomie der Kosaken in Russland wird immer mehr aufgehoben.  Die Ukraine wird zu einem integralen Teil des Russischen Reiches.  Das intellektuelle Leben spielt sich auf Russisch ab und zieht Ukrainer in die Hauptstadt St. Petersburg.  z. B. Mykola Hoholʹ alias Nikolaj Gogolʹ  Galizien innerhalb Österreichs ist vielsprachig: Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, Latein, Jiddisch, Armenisch Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 28 Sprachenpolitik im Russischen Reich  1863 Januaraufstand im russischen Polen  1863 geheimes ValuevZirkular: auf ›Kleinrussisch‹ nur noch Belletristik (als Dialektliteratur), keine Schulund Sachbücher mehr  1876 Emser Ukaz: Es dürfen keine Bücher auf ›Klein- oder Weißrussisch‹ gedruckt oder (z. B. aus Galizien) eingeführt werden. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Sprachenpolitik im Russischen Reich   Danach wird Lemberg (in Galizien, Österreich) zum Zentrum der ukrainischen Kultur. Russische Revolution von 1905   Oktober-Manifest (17.10.1905) verkündete Meinungsfreiheit. Auch die spätere Rücknahme eines Teils der Freiheiten berührt nicht die Möglichkeit, in allen Sprachen Texte zu publizieren. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Gründung der Ukraine  Nach der Oktoberrevolution herrscht Bürgerkrieg in der Ukraine.  Am 7./20. November 1917 ruft die Centralʹna Rada unter Mychajlo Hruševsʹkyj in Kiew die Ukrainische Volksrepublik (Ukraïnsʹka Narodna Respublika, UNR) aus.  Am 12./25. Dezember 1917 rufen die Bolschewiken in Charkiv die Ukrainische Räterepublik (Ukraïnsʹka Narodna Respublika Rad) aus.  benutzt auch diverse andere Namen, darunter verwirrenderweise auch UNR  nennt sich ab 1919 Ukrainische SSR (ukr. Ukraïnsʹka Radjansʹka Socialistyčna Respublika, URSR) Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 31 Gründung der Ukraine  Die Centralʹna Rada schließt einen Separatfrieden mit den Mittelmächten, kooperiert jedoch letztlich wenig mit diesen.  Daher lösen diese 1918 die Centralʹna Rada auf und errichten am 14. April 1918 das Hetmanat unter Hetman (hetʹman) Pavlo Skoropadsʹkyj.  Die Ukrainische Volksrepublik wird am 14. Dezember 1918 wiederhergestellt.  Im Februar 1920 erobert die Rote Armee die letzten von der Ukrainischen Volksrepublik kontrollierten Gebiete.  1922 Gründung der Sowjetunion, mit der Ukrainischen SSR als Teilrepublik  1945 wird die Ukraine dennoch neben der Sowjetunion (!) und Belarus Gründungsmitglied der UNO. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 32 Sowjetische Sprachenpolitik  anfangs sehr liberale Sprachenpolitik  Kontext: Weltrevolution  Sprachenausbau (jazykovoe stroitel’stvo):  Schaffung neuer Alphabete, meist auf lateinischer Grundlage  aktive Unterstützung der Sprachen und Kulturen der im Zarenreich kulturell unterdrückten Völker  bis 1932 Grundschulunterricht in 80 Sprachen  Eine Kommission des Bildungsministeriums soll eine lateinische Orthographie fürs Russische erarbeiten. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Wende der sowjetischen Sprachenpolitik  Richtungswechsel in den 1930er Jahren: Kommunismus in einem Land  Das Russische als De-facto-Staatssprache setzt sich in mehr und mehr Bereichen durch.  Entfernung ›ausländischer‹ westlicher Amtssprachen (z.B. Jiddisch, Polnisch, Finnisch, Deutsch)  Ausbau des Bildungssystems gestoppt:  nur in Baschkirien und Tatarstan nicht-russische Mittelschulen  keine nicht-russischen Universitäten geschaffen  1938 Einführung von Russischunterricht als Pflichtfach ab der 1. Klasse an sämtlichen Schulen  ›Russifizierte‹ Neukodifizierungen zahlreicher Sprachen  Die 1930 veröffentlichten Vorschläge zur Latinisierung des Russischen bleiben ohne jede Reaktion.  Umstellung fast aller Sprachen auf kyrillische Schrift Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Ukrainische Orthographie in der Sowjetunion  Kodifizierung 1918/19: Holovni pravyla ukraïnsʹkoho pravopysu  erstes umfangreiches Regelwerk: »Charkiver Rechtschreibung« (1928)  1933 russifizierte Orthographie:  〈ґ〉 abgeschafft  Gen. Sg. i-Stämme: bez sovisty → bez sovisti ‘gewissenlos’ (vgl. russ. bez sovesti)  holodivka → holodovka ‘Hungerstreik’ (vgl. russ. golodovka)  Eigennamen: Berestja → Brest, Rivne → Rovno  Gräzismen: Ateny → Afiny ‘Athen’ (vgl. russ. Afiny)  westliche Fremdwörter: varijant → variant ‘Variante’ (vgl. russ. variant), ljampa → lampa ‘Lampe’ (vgl. russ. lampa) Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Unabhängigkeit  1989 wurde Russisch als zweite Amtssprache der Ukrainischen SSR abgeschafft, so dass Ukrainisch zur alleinigen Amtssprache wurde.  Das Russische behielt seinen Status als Alltagssprache in weiten Teilen der Ukraine, darunter Kiew.  Auf der Krim war daneben von Anfang an auch Russisch Amtssprache der (Autonomen) Republik Krim.  Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991  1. Dezember 1991 Referendum (90% für die Unabhängigkeit) und erste Präsidentschaftswahl (Leonid Kravčuk)  Ende Dezember 1991 wird die Sowjetunion aufgelöst. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 36 Ukrainische Orthographie seit der Wende  1989/90 Orthographie modifiziert  〈ґ〉 wieder eingeführt (wenn auch nicht an allen Stellen, an denen es ursprünglich vorkam)  andere sowjetische Änderungen größtenteils belassen  2019 neue Orthographie mit mehr Übernahmen aus der ›klassischen‹ Orthographie  〈ґ〉 fakultativ in deutlich mehr Lehnwörtern, z. B. Hegelʹ neben Hehelʹ, Georg neben Heorh  Zulassung der Endung -y in den i-Stämmen: bez sovisty neben bez sovisti  griechisches Theta wird konsequent durch 〈т〉 statt 〈ф〉 wiedergeben: bisher schon antolóhija, teórija, ortodóks, jetzt auch katédra neben káfedra, etér neben efír ‘Äther’, mit neben mif ‘Mythos’, Atény neben Afíny Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 »Alltagssprachen« in der Ukraine Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Sprachkompetenz der Ukrainerïnnen  repräsentative Umfrage des Centr Razumkova von 2002:  Які мови Ви знаєте, тобто, якими мовами Ви можете спілкуватися? russ. ukr. engl. span. dt. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 frz. sonst. Jüngste Ereignisse    2004 Orange Revolution (Pomarančeva Revoljucija) 2013/2014 Euromaidan (Jevromajdan) Februar/März 2014 russische Annexion der Krim    April 2014 Ausrufung der Volksrepubliken Donecʹk und Luhansʹk     1954, zum 300. Jahrestag der Unterstellung der Kosaken unter den Zaren, hatte Nikita Chruščëv dafür gesorgt, dass die RSFSR der Ukrainischen SSR die Krim schenkt. Russland versuchte die Reintegration der Krim in die Russische Föderation durch ein nach der Besetzung der Krim durchgeführtes, nicht unabhängig beobachtetes Referendum zu legitimieren. seitdem Krieg (vijna) in der Ostukraine 13.000 Tote 2,3 Millionen geflohen 24. Februar 2022 Invasion (vtorhnennja) der russischen Armee   viele weitere Tote und Zerstörungen allein in Deutschland bereits über 1 Mio. Geflüchtete Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 40 Russisch als Minderheitssprache?  vgl. Calvet (1999): Russisch ist »superzentral«, Ukrainisch in der russischen Peripherie.  Der russischsprachige Markt ist immer mächtiger als der ukrainischsprachige (Kulyk 2014: 234).  Aber: Es hilft den Russischsprecherïnnen in der Ukraine nicht, dass Russland ein großes Land ist. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Mädchen, rutsch mal, du (unter)drückst mich! Wenn du Russisch reden willst, geh nach Russland! Das ukrainische Sprachengesetz von 2012  Sprachengesetz von 1989 und Verfassungsartikel von 1996 waren mehrdeutig und sahen keine Sanktionen vor.  Folge: Jeder durfte im Prinzip alles, konnte aber nichts einklagen.  Nicht einmal staatliche Bedienstete waren verpflichtet, das Ukrainische zu verwenden.  Auch Juščenko hat daran nichts geändert (vgl. Kulyk 2010: 397).  Allerdings wurde während seiner Regierungszeit die Einhaltung der bestehenden Regelungen für landesweite Medien überwacht.  2005 wurden 13 verschiedene Entwürfe für ein Sprachengesetz in die Verchovna Rada eingebracht.  »Die Debatte wurde ohne Angabe von Gründen abgesetzt.« (Kulyk 2010: 398). Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Das ukrainische Sprachengesetz von 2012  2012 Gesetz »Über Fragen der staatlichen Sprachenpolitik«    In Regionen, in denen mindestens 10 % eine andere Sprache als Muttersprache sprechen als Ukrainisch, wird diese Amtssprache. Dadurch wurde u. a. Russisch in der östlichen und südlichen Ukraine zur Amts- und geschützten Minderheitensprache. »Das Gesetz war trotz massiver Proteste der Hüter der ukrainischen Sprache und unter Missachtung der Geschäftsordnung des Parlaments verabschiedet worden und wurde schlagartig zu einem Symbol der antidemokratischen Politik des Janukovyč-Regimes.« (Kulyk 2014: 228) Ungarisch Rumänisch (Zakarpats’ka oblast’) (Černivec’ka oblast’, Bukowina/ Bessarabien) Russisch Russisch und Krimtatarisch Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Das ukrainische Sprachengesetz von 2012  Am 23.02.2014 beschloss das Parlament die Abschaffung des Gesetzes.  Die proeuropäischen Politiker »wollten ihren Wählern wohl auf ähnliche Weise demonstrieren, dass sie sich um die ukrainische Sprache bemühen, wie Viktor Janukovyč zwei Jahre zuvor mit einem Sprachengesetz unter Beweis zu stellen versucht hatte, dass er sich um die Bedeutung des Russischen kümmert.« (Kulyk 2014: 228)  Übergangspräsident Oleksandr Turčynov unterzeichnete nicht. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Das ukrainische Sprachengesetz von 2012  Turčynov und Porošenko erklärten, dass sie der Abschaffung des Sprachengesetzes erst zustimmen, wenn das Parlament ein neues Gesetz als Ersatz vorlegt.  Anfang März 2014 wurde eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Sprachengesetzes eingesetzt.  Ab Februar 2015 wurde das Gesetz vom Verfassungsgericht untersucht.  Am 28. Februar 2018 erklärte das Verfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig, so dass es damit außer Kraft trat. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 Das ukrainische Sprachengesetz von 2019        Im Herbst 2018 wurde ein neues Sprachengesetz in die Verchovna Rada eingebracht: »Zur Sicherstellung des Funktionierens des Ukrainischen als Staatssprache« am 25.04.2019 mit großer Mehrheit verabschiedet, seit Juli 2019 in Kraft führt das Amt einer Staatssprachenschutzbeauftragten (derzeit Taras Kreminʹ) und eine Nationale Kommission für die Staatssprachenstandards ein, die dem Bildungsministerium unterstellt ist macht in vielen Bereichen die ukrainische Sprache als »Sprache der interethnischen Kommunikation« verpflichtend und ihre Beherrschung zur Voraussetzung für viele Ämter Zeitungen und Zeitschriften müssen ggf. neben anderssprachigen Auflagen immer auch eine ukrainische Auflage drucken. Die Zahl der ukrainischsprachigen Medien muss an jedem Kiosk und in jedem Buchladen mindestens 50 % betragen. Ausnahmen gelten für autochthone Minderheiten wie die Krimtataren und für Medien, die sich an Ausländerïnnen richten. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 46 Änderung der Einstellungen zu den Sprachen      In der Orangen Revolution und auf dem Euromaidan wurde viel Russisch gesprochen. Ebenso benutzten Anhänger Janukovyčs auch das Ukrainische. Zumindest Kenntnis des Ukrainischen wurde aber zum Bestandteil der nationalen Identität. 2022 Schibboleth (Richter 12, 5–6) zum Erkennen russischer Spione: paljanycja [palʲaˈnɪt͡sʲa] (nicht [pəlʲɪˈnʲit͡sə]) Immer mehr Ukrainerïnnen wechseln auch im Alltag zum Ukrainischen. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 47 1. Theorie: Macht von Sprachen und Varietäten 2. Serbien: ćirilica vs. latinica 3. Belarus: kirylica vs. lacinka und Russisch vs. Belarussisch 4. Ukraine: Russisch vs. Ukrainisch 5. Fazit Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 48 Fazit  In Kroatien, Bosnien und Serbien setzte sich im Laufe der Zeit die hyperzentrale lateinische Schrift mehr und mehr durch.  Der Bigraphismus in Serbien ist stabil.  In Belarus setzt  die Sowjetmacht die kyrillische Schrift durch  Lukašėnkas Macht die Narkamaŭka durch  Lukašėnkas und Putins Macht die russische Sprache durch  In der Ukraine erzeugt die russische Gewalt Gegengewalt, die auch zu einem Aufschwung der ukrainischen Sprache zulasten der russischen führt. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 49 Хвала на пажњи. Hvala na pažnji. Dziakuj za ŭwahu. Дзякуй за ўвагу. Спасибо за внимание. Дякую за увагу. Спасибо за внимание. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 http://daniel.buncic.de/ https://uni.koeln/TGY45 daniel.buncic@uni-koeln.de 50 Zitierte Literatur Antipova, Anastasia. 2012. Nationalsozialistische Sprachpolitik in Weißruthenien. In Reichskommissariat Ostland: Tatort und Erinnerungsobjekt. Hg. Sebastian Lehmann, Robert Bohn. Paderborn et al.: Schöningh. 189−208. Bachtin, Michail Michajlovič. 1975. Slovo v romane [1934−1935]. In Voprosy literatury i ėstetiky: Issledovanija raznych let. Moskva: Chudožestvennaja literatura. 71−232. Bender, Margaret. 2008. Indexicality, voice, and context in the distribution of Cherokee scripts. International Journal of the Sociology of Language 192. 91−103. Bourdieu, Pierre. 1991. Language and symbolic power. Cambridge: Polity. Bunčić, Daniel et al. 2016. Biscriptality: A sociolinguistic typology. Heidelberg: Winter. Calvet, Louis-Jean. 1999. Pour une écologie des langues du monde. Paris. Kulyk, Volodymyr. 2010. Gespaltene Zungen: Sprache und Sprachenpolitik in der Ukraine. Osteuropa 60(2−4). 391−402. Kulyk, Volodymyr. 2014. Einheit und Identität: Sprachenpolitik nach dem Majdan. Osteuropa 64(5−6). 227−237. Daniel Bunčić | Sprach- und Schriftkämpfe: Serbien, Belarus, Ukraine | 22.05.2023 51