ISSN 0027- 4054
MUSEUM HELVETICUM
Schweizerische Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft
Revue suisse pour l’étude de l’antiquité classique
Rivista svizzera di filologia classica
SCHWABE VERLAG BASEL
Mus. Helv.
Vol. 71
Fasc.
2
p. 129–256
Dezember 2014
M USE UM H E LVETI CU M
Herausgegeben von – édité par – edito a cura di
Association Suisse pour l’Etude de l’Antiquité
Membres du comité:
Jens Bartels, Zürich – David Bouvier, Lausanne – Laure Chappuis-Sandoz, Neuchâtel –
Henriette Harich-Schwarzbauer, Basel – Orlando Poltera, Fribourg – Pierre Sánchez, Genève –
Thomas Späth, Bern (président)
Redaktion – rédaction – redazione
Thomas Schmidt – Stefan Rebenich – Danielle Van Mal-Maeder – Martin Guggisberg
INHALT – SOMMAIRE – INDICE
Andreas Victor Walser: Roe v. Hippocrates. Die Antike vor dem Obersten
Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Jan Rothkamm: Cicero’s Orientalising Rhetoric of Law in the De legibus . . . . . . .
155
Maurizio Colombo: Il genuinus sermo di Valentiniano I: la Pannonica lingua
e le altre lingue di sostrato nell’Europa continentale della Tarda Antichità . . .
172
Michael Charles: Elephants in Vegetius’ Epitoma Rei Militaris (3.24.5–16) . . . . .
189
Lambert Ferreres: À propos du substantif arentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204
Gérard Freyburger: Les Metageintia – réflexions sur 35 ans d’histoire . . . . . . . . . .
206
Buchbesprechungen – Comptes rendus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Les manuscrits destinés à la revue doivent être adressés à M. Thomas Schmidt, Institut du
Monde antique et byzantin, Université de Fribourg, Rue Pierre-Aeby 16, CH-1700 Fribourg
(thomas.schmidt@unifr.ch), ou à M. Stefan Rebenich, Universität Bern, Historisches Institut,
Alte Geschichte, Unitobler, Länggassstrasse 49, CH-3000 Bern 9 (stefan.rebenich@hist.unibe.ch),
ou à Mme Danielle Van Mal-Maeder, Université de Lausanne, Faculté des Lettres, Quartier
UNIL-Dorigny, Bâtiment Anthropole, CH-1015 Lausanne (danielle. vanmal-maeder@unil.ch).
Rédacteur responsable pour les comptes rendus: M. Thomas Schmidt, à lequel doivent être
également envoyés les exemplaires pour comptes rendus. Rédacteur responsable du bulletin
archéologique: M. Martin Guggisberg, Departement Altertumswissenschaften, Klassische
Archäologie, Petersgraben 51, CH-4051 Basel (Martin-A.Guggisberg@unibas.ch).
Directives pour les auteurs (pour la rédaction des manuscrits): voir sous www.schwabe.ch sous
«Zeitschriften» puis sous «Museum Helveticum».
Chaque auteur d’un travail original (à l’exception des comptes rendus) recevra gratuitement
un document PDF de son article.
Roe v. Hippocrates
Die Antike vor dem Obersten Gerichtshof
der Vereinigten Staaten von Amerika*
Von Andreas Victor Walser, München
Abstract: Der Beitrag fragt nach der Bedeutung und Funktion der Bezüge auf
die Antike in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten
Staaten von Amerika. Ausgangspunkt sind die zahlreichen Bezüge auf die Alte
Welt in der von Justice Harry A. Blackmun verfassten Begründung des Entscheids im berühmten und bis heute kontrovers diskutierten Abtreibungsprozess
Roe v. Wade von 1973, durch den die Abtreibung in den USA legalisiert wurde.
Wie die Analyse zeigt, wird darin auf die Antike rekurriert, um der restriktiven
modernen Haltung, deren Ausdruck die kategorischen Verbote sind, eine legitime liberale Alternative gegenüberzustellen. Restriktive Gesetze, die den
Schwangerschaftsabbruch verbieten, werden gerade vor dem Hintergrund der
antiken Verhältnisse nicht als die Regel, sondern als die erklärungsbedürftige
Ausnahme dargestellt. Damit tritt die Entscheidungsbegründung nicht zuletzt
auch historischen Argumenten entgegen, die in zeitgenössischen politischen
Debatten gegen die Abtreibung geäußert wurden. Besonders ausführlich setzte
sich Blackmun während der mündlichen Verhandlung und in der Entscheidungsbegründung mit dem Abtreibungsverbot auseinander, das im Hippokratischen
Eid enthalten ist. Seine eingehende Diskussion wurde von juristischer Seite als
für den Fall irrelevant vehement kritisiert. In ihr kommt jedoch Blackmuns
Besorgnis zum Ausdruck, dass die Aufhebung der gesetzlichen Abtreibungsverbote bedeutungslos bliebe, wenn die Berufsethik Ärztinnen und Ärzten nach
wie vor verböte, Schwangerschaften abzubrechen.
I. Einleitung
«Greek and Roman law afforded little protection to the unborn. If abortion was
prosecuted in some places, it seems to have been based on a concept of a violation of the father’s right to his offspring. Ancient religion did not bar abortion».1
*
Die hier vorgelegten Überlegungen wurden in Vorträgen an den Universitäten Mainz und
München und am Mahindra Humanities Center der Harvard University vorgestellt. Für
hilfreiche Hinweise danke ich Stefan Rebenich. – Verweise auf die Urteile des Obersten
Gerichtshofs erfolgen nach dem in der amerikanischen Rechtswissenschaft gebräuchlichen
Abkürzungsschema, wonach an erster Stelle die Bandnummer der mit U. S. abgekürzten
United States Reports, dann die Seitenzahl, auf der die Entscheidungsbegründung beginnt, genannt wird. Die Angabe bestimmter Seiten innerhalb der Begründung folgt – allenfalls nach
Nennung des Jahres, in der die Entscheidung gefällt wurde – anschliessend. Für die übrigen
Quellen- und Literaturnachweise indet das übliche Zitiersystem Anwendung.
Museum Helveticum 71 (2014) 129–154
130
Andreas Victor Walser
Diese Beobachtungen zur Abtreibung in der antiken Welt sind nicht einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Thematik entnommen, sondern sind Teil
der Begründung des Urteils des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten
von Amerika im Fall Roe v. Wade.2 In diesem Urteil räumte das Gericht der
Mutter das Recht ein, selbst über die Fortführung oder den Abbruch einer
Schwangerschaft zu entscheiden. Abtreibungsgesetze, die die Durchführung
einer Abtreibung nur zur Rettung des Lebens der Mutter erlaubten, erklärte das
Gericht für verfassungswidrig. Trotz aller Kritik, auf die das Urteil seit seiner
Bekanntgabe stieß, bleibt Roe v. Wade bis heute für die Gesetzeslage in den Vereinigten Staaten bestimmend: Die Mutter entscheidet frei darüber, eine Schwangerschaft fortzuführen oder abzubrechen. 3
Für die Frage, ob die amerikanische Verfassung ein Recht auf «Abtreibung
auf Verlangen» garantiert,4 scheint die antike Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch zunächst wenig relevant. Umso überraschender ist es, dass es das Gericht nicht bei den einleitend zitierten Sätze belässt, sondern mit diesen vielmehr
eine sich über mehrere Seiten erstreckende weitläuige und gelehrte Diskussion
über die Abtreibungsfrage in der Antike eröffnet.
Am Beispiel der Urteilsbegründung in Roe v. Wade soll den Bezügen auf die
Antike in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Folgenden nachgegangen werden. In dieser exemplarischen Analyse soll untersucht werden,
welche Funktion der Bezug auf die griechische und römische Geschichte oder
1
2
3
4
410 U. S. 113 (1973) 130.
430 U. S. 113 (1973).
Das in Roe etablierte Recht auf Abtreibung wurde von einer knappen Mehrheit des – in sich
tief gespaltenen – Gerichts zuletzt in Planned Parenthood v. Casey (505 U. S. 833 [1992]) im
Grundsatz bestätigt. Abweichend von Roe erklärten die Richter staatliche Regelungen für den
Schwangerschaftsabbruch in jeder Phase der Schwangerschaft für zulässig, sofern sie keine
unzumutbare Belastung («undue burden») für die Mutter darstellen. Zuletzt hat das Gericht
in Gonzales v. Carhart (550 U. S. 124 [2006]) ein absolutes Verbot bestimmter Abtreibungsmethoden für zulässig erklärt. Vgl. zur Entwicklung der Abtreibungskontroverse seit 1973 etwa
D. J. Garrow, Liberty and Sexuality. The Right to Privacy and the Making of Roe v. Wade.
Updated with a New Epilogue (Berkeley u.a. 1998) 600–739 und N. E. Hull – P. C. Hoffer, Roe
v. Wade. The Abortion Rights Controversy in American History. (Landmark Law Cases &
American Society) (Lawrence, Kansas 2001) 180–271. Einblick in die laufenden Debatten geben aus konträrer Perspektive die Websites der National Abortion Rights Action League
(NARAL) (http://www.prochoiceamerica.org) und des National Right to Life Commitee
(NRLC) (http://www.nrlc.org).
Chief Justice Burger hat diese Frage in seiner concurrence zu Doe v. Bolton (410 U. S. 179, 208)
ausdrücklich verneint: «Plainly, the Court today rejects any claim that the Constitution requires
abortions on demand.» «Abortion on demand» war eine Kampfparole der Abtreibungsgegner,
die von Präsident Richard Nixon aufgegriffen wurde, als er die Liberalisierungen der Abtreibungspraxis in den Kliniken der Armee rückgängig machte (R. Nixon, Statement About Policy
on Abortions at Military Hospitals in the United States, April 3, 1971; vgl. L. Greenhouse, Becoming Justice Blackmun. Harry Blackmun’s Supreme Court Journey [New York 2005] 83f.).
Burgers Feststellung, die die Tragweite von Roe unterschätzte oder bewusst zu minimieren
versuchte, war offensichtlich gerade an Nixon gerichtet, dessen enger politischer Vertrauter
Burger war.
Roe v. Hippocrates
131
auf antike Autoren in der Rechtsprechung hat und welche Rolle der Antike in
der Argumentationsstrategie zukommt. Sie soll nicht nur dazu beitragen, die
Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in einem ‹landmark case› besser zu
verstehen, sondern auch ermöglichen, erste Schlüsse zu ziehen hinsichtlich der
Relevanz der Antike für eine Institution, die die amerikanische Gesellschaft
entscheidend prägt. 5 Eine ganz knappe Übersicht über die Funktion und
Arbeitsweise des U. S. Supreme Court sind der Analyse vorangestellt.
II. Der Oberste Gerichtshof und die Interpretation der Verfassung
Die Verfassung der Vereinigten Staaten sieht unter Article III einen «supreme
Court» vor, dessen richterliche Gewalt sich auf «all Cases, in Law and Equity,
arising under this Constitution, the Laws of the United States, and Treaties
made, or which shall be made, under their Authority» erstreckt. Die Bundesrichter sollen ihr Amt «during good Behaviour», d.h. auf Lebenszeit ausüben. Bei
seiner Einrichtung 1789 waren sechs Richter vorgesehen, später wurde ihre Zahl
erhöht und ist seit 1869 auf neun festgelegt.6 A. de Tocqueville stellte fest: «Le
juge américain ressemble donc parfaitement aux magistrats des autres nations.
Cependant il es revêtu d’un immense pouvoir politique.»7 Worauf diese außerordentlich Machtfülle beruht, erkannte der scharfsichtige Beobachter
Tocqueville klar: «[L]es Américains ont reconnu aux juges le droit de fonder
leurs arrêts sur la constitution plutôt que sur les lois. En d’autres termes, ils leur
ont permis de ne point appliquer les lois qui leur paraîtraient inconstitution5
6
7
Mit Rekursen auf die Antike in Nordamerika hat sich die Forschung seit der Mitte des 20. Jh.
intensiv beschäftigt, wobei sich der Fokus vor allem auf das 18. und 19. Jh. und besonders auf
die Revolutionsepoche gerichtet hat. Einen konzisen Überblick über Entwicklung und Stand
der Forschung, der auch die Literatur erschließt, bieten U. Niggemann – K. Rufing, «Einführung», in: dies. (Hrsg.), Antike als Modell in Nordamerika. Konstruktion und Verargumentierung 1763–1809. HZ Beih. 55 (München 2011) 5–22. Studien, die sich mit der Rolle der Antike
vor dem Supreme Court beschäftigen und auf die hier aufgebaut werden könnte, fehlen bislang
jedoch weitgehend: Auf die Bedeutung des Römischen Rechts in der Rechtsprechung im
20. Jh. beschränkt ist die Studie von S. J. Astorino, «Roman Law in American Law: Twentieth
Century Cases of the Supreme Court», Duquesne Law Review 40 (2002) 627–653. L. A. Ruprecht, Was Greek Thought Religious? On the Use and Abuse of Hellenism from Rome to
Romanticism (New York 2002) hat sich im einleitenden Kapitel seiner Studie mit «The View
of the Courts» beschäftigt und dabei ganz oberlächlich Roe v. Wade diskutiert. Zu Ruprechts
Untersuchung im Allgemeinen vgl. die vernichtende Kritik von S. Goldhill, International
Journal of the Classical Tradition 10 (2002) 299–302. Auf die Diskussion des Hippokratischen
Eides ist N. D. Hunter, «Justice Blackmun, Abortion, and the Myth of Medical Independence»,
Brooklyn Law Review 72 (2006) 175–178 eingegangen (vgl. unten Anm. 63).
Eine konzise Skizze der Geschichte des Supreme Court bieten etwa W. M. Wiecek – M. L. Benedict – M. I. Urofsky – S. L. Wasby, «History of the Court», in: K. L. Hall (Hrsg.), The Oxford
Companion to the Supreme Court of the United States. 2nd. Ed. (Oxford 2005) 432–465 (mit
weiterer Literatur).
A. de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (Paris 1835) Bd. I Kap. VI, zitiert nach der
19. Aul. (Paris 1864) 166.
132
Andreas Victor Walser
nelles.» Diese Kompetenz zur richterlichen Nachprüfung («judicial review»)
und die daraus abgeleitete Vollmacht, Gesetze ebenso wie Handlungen der
Exekutive für nichtig zu erklären, ist in der Verfassung nicht explizit vorgesehen,
sondern wurde vom Gericht selbst daraus abgeleitet. In der bahnbrechenden
Entscheidung Marbury v. Madison hielt der Chief Justice John Marshall 1803
fest: «It is emphatically the province and duty of the judicial department to say
what the law is.» Wenn nun ein Gesetz nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs in einem Konlikt zur Verfassung stehe, so seien die Richter durch ihren Eid
auf die Verfassung verplichtet, das Gesetz für ungültig zu erklären.9
Die Rolle der obersten Bundesrichter als letzte Autorität in der Auslegung
sowohl der von der Legislative erlassenen Gesetze als auch – und vorrangig – des
Verfassungstextes ist längst unumstritten. Hingegen herrschte und herrscht
keine Einigkeit darüber, an welchen methodischen Grundsätzen sich die Richter bei der Interpretation der Verfassung orientieren sollen.10 Besteht ihre Aufgabe in erster Linie darin, historisch die ursprüngliche Bedeutung («original
meaning») zu ergründen und sind nur jene Interpretationen der unveränderlichen Verfassung zulässig, die nachweislich den ursprünglichen Intentionen
(«original intent») der Gründerväter entsprechen? Oder haben es die Richter
mit einer «living constitution» zu tun, und besteht ihre Aufgabe gerade darin,
die Verfassung am Leben zu erhalten, indem sie ihre Auslegung an die sich
ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen? Sollen sie die Bestimmungen der Verfassung sinngemäß auch auf Situationen anwenden, die weit außerhalb der Vorstellungswelt der Founding Fathers liegen? Hat sich die Verfassungsinterpretation strikt am Wortlaut der Verfassung zu orientieren oder sollen
vielmehr die bestimmten Anordnungen zugrunde liegenden Ideen handlungsleitend sein? Die einzelnen Richter haben diese Fragen je nach doktrinärer oder
ideologischer Auffassung stets sehr unterschiedlich beantwortet, und gerade bei
den wichtigsten Fällen ist das Gericht nicht selten tief gespalten. Das alle
nachgeordneten Instanzen bindende Urteil des Gerichts kommt durch einen
Mehrheitsentscheid der Richter zustande. Während es in den ersten Jahren des
Bestehens des Gerichts üblich war, dass alle Richter «seriatim» zum Fall schriftlich Stellung nahmen, war es bis 1835 die Regel geworden, dass das Urteil des
Gerichts von einem Richter in einer von ihm in aller Regel namentlich unterzeichneten opinion of the court begründet und erklärt wird. Den übrigen Rich8
8
9
10
Ebd. (Hervorhebungen im Original).
5 U. S. (1 Cranch) 137 (1803), 177f., das berühmt gewordene Zitat ebd. 177. Alexander Hamilton hatte im Federalist No. 78, June 14, 1788, noch mit Verweis auf Montesquieu festgehalten:
«[T]he judiciary is beyond comparison the weakest of the three departments of power». Vgl.
J. Lepore, «Benched. The Supreme Court and the Struggle for Judicial Independence», The
New Yorker, June 18 (2012) 77–82.
Vgl. zu dieser Thematik, die hier nur umrissen werden kann, etwa Ph. Bobbit – M. A. Graber,
«Constitutional Interpretation», in: Hall, a. O. (wie Anm. 6) 211–219 (mit weiterer Literatur)
oder die klassische Übersicht von L. H. Tribe, American Constitutional Law (3New York 1999)
30–89.
Roe v. Hippocrates
133
tern steht es stets frei, ihre eigene Sicht des Falles in einer separaten Begründung
darzulegen, sei es als concurring opinion, wenn der Richter das Mehrheitsurteil
grundsätzlich teilt, es aber ergänzen oder anders begründen möchte, sei es als
dissenting opinion, wenn die Auffassung eines Richters von derjenigen der
Mehrheit abweicht.
III. Roe v. Wade
Als der Oberste Gerichtshof am 22. Januar 1973 sein Urteil in Roe v. Wade bekannt gab, hatten sich die Richter über mehr als zwei Jahre hinweg intensiv mit
dem Fall beschäftigt. Ausgangspunkt des Prozesses war die zu Beginn des Jahres
1970 eingereichte Klage einer jungen, unverheirateten Frau, die im Prozess unter
dem Pseudonym «Jane Roe» erscheint, gegen den Bundesstaat Texas, vertreten
durch den District Attorney Henry Wade. Roe war schwanger, jedoch nicht
gewillt, die Schwangerschaft fortzusetzen und wollte deshalb von einem «kompetenten, lizensierten Arzt unter sicheren klinischen Bedingungen» eine Abtreibung vornehmen lassen. Eine Abtreibung erlaubten die Gesetze von Texas – wie
diejenigen vieler anderer Bundesstaaten – jedoch nur, wenn sie notwendig war,
um das Leben der Mutter zu retten. Wurde in anderen Fällen ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen, blieb die Mutter selbst zwar stralos, wer die Abtreibung jedoch vornahm, wurde mit Freiheitsentzug von mindestens zwei und
nicht mehr als fünf Jahren bestraft.11 Roe reichte die Klage für sich selbst «und
alle anderen Frauen in ähnlicher Situation» ein.12
«Jane Roe» hieß mit bürgerlichem Namen Norma McCorvey. Sie war 1969,
im Alter von 20 Jahren, zum dritten Mal schwanger geworden. Ein erstes Kind
aus einer kurzen Ehe lebte bei McCorveys Mutter, das zweite war zur Adoption
freigegeben worden. Als sie schwanger wurde, arbeitete McCorvey als Kellnerin
in einer Bar und hatte keine eigene Wohnung. Da sie eine Abtreibung wünschte,
riet ihr ein Arzt, diese in Kalifornien oder New York vornehmen zu lassen, wo
der Schwangerschaftsabbruch legalisiert war, doch fehlte ihr das Geld für die
Reise. Ein Anwalt, mit dem sie sich in Verbindung setzte, um die Möglichkeit
einer Freigabe zur Adoption abzuklären, vermittelte McCorvey schließlich an
die Anwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington, die einen Prozess gegen
die texanischen Gesetze anstrengen wollten und dafür eine geeignete Klägerin
suchten. McCorvey willigte ein.13
11
12
13
410 U. S. 113, 117f.
410 U. S. 113, 120. Neben Jane Roe traten ein Arzt und ein verheiratetes Ehepaar als Kläger
auf, denen das Gericht jedoch kein legal standing (Klagerecht) zuerkannte (s.u.).
Zur für den Entscheid weitgehend irrelevanten Vorgeschichte des Falles und zur Person
McCorveys vgl. ausführlich M. Faux, Roe v. Wade. The Untold Story of the Landmark Supreme
Court Decision that Made Abortion Legal. Updated Ed. (New York 2001) 3–41, die jedoch in
Einzelheiten etwa zur Person McCorveys anhand von Garrow, a. O. (wie Anm. 3) 402–406;
600–602 zu korrigieren ist. McCorvey bekehrte sich 1995 zum evangelikalen Christentum,
134
Andreas Victor Walser
McCorveys Kind war längst geboren und zur Adoption freigegeben, als der
Fall 1971 schließlich den Obersten Gerichtshof erreichte und am 13. Dezember
mündlich verhandelt wurde. Unmittelbar im Anschluss an die Anhörung in Roe
v. Wade fand die mündliche Verhandlung im Fall Doe v. Bolton statt, einem
weiteren Abtreibungsfall: Im Namen einer unter dem Pseudonym «Mary Doe»
erscheinenden 22 Jahre alten verheirateten Frau war eine Klage gegen den
Staatsanwalt Arthur K. Bolton als Vertreter des Bundesstaates Georgia erhoben
worden. Als sie die Klage eingereicht hatte, war Doe in der neunten Woche
schwanger. Auch ihr war verboten, legal eine Abtreibung vornehmen zu lassen,
obwohl die liberaleren Gesetze Georgias Abtreibungen nicht nur zur Rettung
des Lebens der Mutter erlaubten, sondern auch dann, wenn ihre Gesundheit
schwer und dauerhaft geschädigt würde, wenn mit schweren Behinderungen des
Kindes gerechnet werden musste oder wenn das Kind bei einer Vergewaltigung
gezeugt worden war. Das Gericht behandelte Roe v. Wade und Doe v. Bolton
stets zusammen, wobei Roe schließlich die Rolle des «lead case» zugewiesen
wurde, in dem die Grundsatzfragen geklärt werden sollten.14
Bei der drei Tage nach den Anhörungen stattindenden privaten Sitzung
sprach sich eine klare Mehrheit des Supreme Court, der zu diesem Zeitpunkt
wegen Vakanzen nur aus sieben Richtern gebildet wurde, dafür aus, die texanischen Abtreibungsgesetze für verfassungswidrig zu erklären. Die Ausarbeitung
des Mehrheitsentscheides wurde daraufhin Justice Harry A. Blackmun (1904–
1999) übertragen.15 Blackmun war erst 1971 auf den Vorschlag von Präsident
14
15
trat später in die Katholische Kirche ein und engagiert sich seither als Abtreibungsgegnerin.
Am 13. Juli 2009 wurde McCorvey verhaftet, weil sie die Anhörung vor dem Senate Judicial
Committee im Rahmen der Bestätigung von Sonja Sotomayor als Oberste Bundesrichterin
mit Zwischenrufen gegen die Abtreibung störte. Der Staatsanwalt Henry Wade, gegen den
sich die Klage nominell richtete, war nicht persönlich in das Verfahren involviert, gab auf Anfrage jedoch an, dass er selbst in der Abtreibungsfrage keine klare Meinung habe, den
Schwangerschaftsabbruch in manchen Fällen aber sicherlich für gerechtfertigt halte (Garrow
ebd. 602).
Doe v. Bolton (410 U. S. 179 [1973]). Wie «Jane Roe» Norma McCorvey engagiert sich heute
auch Sandra Cano, deren Name sich hinter dem Pseudonym «Mary Doe» verbirgt, im Kampf
gegen die Abtreibung. Mit der Begründung, dass sie von ihrer Anwältin getäuscht worden sei
und nicht gewusst habe, dass der Prozess in ihrem Namen geführt worden sei, verlangte sie
2006 erfolglos eine Wiedereröffnung ihres Falles. Canos erschütternde Biographie ist dargestellt bei G. White, «Roe v. Wade role just a page in rocky life story», The Atlanta Journal–
Constitution, 22. Januar 2003, 1A.
Zur Person Blackmuns vgl. Greenhouse, a. O. (wie Anm. 4). Die Auswertung von Blackmuns
Nachlass zeigte, dass er vor allem in späteren Jahren die Ausarbeitung seiner Urteilsbegründungen in unüblich hohem Masse seinen Law Clerks – Assistenten, die unmittelbar nach Abschluss des Studiums für ein Jahr die Richter in ihrer Arbeit unterstützen – überlassen hatte.
Schon an der Ausarbeitung von Roe hatten seine Clerks wesentlichen Anteil; die hier vor allem
interessierenden historischen Partien wurden von Blackmun wohl aber weitgehend eigenständig verfasst. Vgl. zur im Folgenden nicht weiter diskutierten Frage der Autorschaft besonders
D. J. Garrow, «The Brains Behind Blackmun», Legal Affairs, May–June (2005) 26–34, ebd. 28–
30 zu Roe.
Roe v. Hippocrates
135
Richard Nixon an den Obersten Gerichtshof berufen worden. Zuvor war er in
den 50er Jahren auch als «resident counsel» in der berühmten Mayo-Klinik in
Rochester, Minnesota, tätig gewesen, und sein daraus resultierendes Interesse
an medizinischen Fragen schien ihn für die Abfassung der Urteilsbegründung
zu prädestinieren. Blackmun schlug in einem ersten Entwurf vor, die texanischen
Gesetze lediglich als «zu vage» zu verwerfen und damit eine direkte Stellungnahme zur Abtreibungsfrage zu vermeiden. Damit stieß er jedoch auf wenig Zustimmung bei seinen Kollegen, die darauf insistierten, dass die Begründung eine
klare Antwort auf die Frage geben müsse, ob die Verfassung ein Recht auf die
freie Entscheidung über die Fortführung der Schwangerschaft gewähre oder
nicht.16 Da Blackmun auch mehrere Monate später noch viele Fragen offen sah
und zur Ausarbeitung der Entscheidung mehr Zeit benötigte, entschied sich das
Gericht im Frühjahr 1972 zum ungewöhnlichen Schritt, den Fall in der nächsten
Gerichtsperiode vor dem nun wieder vollzähligen Richtergremium erneut mündlich zu verhandeln und die Bekanntgabe des Urteils zu vertagen. Blackmun
nutzte den anschließenden verhandlungsfreien Sommer zum intensiven Studium
der Abtreibungsproblematik. Während eines rund zweiwöchigen Aufenthalts in
der Bibliothek der Mayo-Klinik widmete sich Blackmun, wie er sich später erinnerte, in erster Linie dem Studium der Geschichte der Abtreibung.17 Nach dem
«Reargument» des Falles am 11. Oktober 1972, auf das noch zurückzukommen
sein wird, ließ sich das Gericht noch einmal über drei Monate Zeit bis Blackmuns Entscheidungsbegründung als opinion of the court, zusammen mit –
hier nicht interessierenden – concurring opinions von CJ. Warren E. Burger,
J. William O. Douglas und J. Potter Stewart und dissents von J. Byron R. White
und J. William Rhenquist bekannt gegeben wurden.
Blackmun beginnt seine Entscheidungsbegründung in Teil I mit einer Vorstellung der texanischen Abtreibungsgesetze. In Teil II zeichnet er nach, wie der
Fall in den Vorinstanzen beurteilt wurde. Teil III problematisiert die Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofes, Teil IV klärt prozedurale Fragen.18
16
17
18
Die Debatten innerhalb des Gerichts, die zur Entscheidung führten, und Blackmuns Arbeit
an der Begründung sind auf der Basis von Archivmaterialien und Interviews bei Garrow, a. O.
(wie Anm. 3) 528–587 im Detail nachgezeichnet.
Im Rahmen des «Harry A. Blackmun Oral History Projects» führte Harold H. Koh 1994 und
1995 mit Blackmun nach seinem Rücktritt Interviews über sein Leben und seine Karriere als
Richter. Die insgesamt gegen 38 Stunden dauernden Videoaufzeichnungen der Interviews, in
denen Roe und Doe ausführlich diskutiert werden, sind zusammen mit einem 510 Seiten
umfassendes Transcript (The Justice Harry A. Blackmun oral history project, Interviews with
Justice Blackmun conducted by Professor Harold Hongjuh Koh, 1994–1995), auf das im Folgenden jeweils allein verwiesen wird, als Teil der Harry A. Blackmun Papers auf der Webseite
der Library of Congress verfügbar (http://www.loc.gov/rr/mss/blackmun [abgerufen am
17.5.2013]. Teil der Videoaufzeichnungen und als Appendix auch im Transkript enthalten ist
ein Vortrag Blackmuns «on Roe v. Wade». Zu Blackmuns Studium in der Bibliothek der MayoKlinik siehe das Transcript S. 197f. und 490.
Insbesondere ging es um die Frage des Standing to Sue (Zur Standing-Doktrin vgl. knapp
M. V. Tushnet, «Standing to Sue», in: Hall, a. O. [wie Anm. 6] 956–959). In Roe v. Wade blieb
136
Andreas Victor Walser
Mit Abschnitt V eröffnet Blackmun die Diskussion der Sache selbst, indem
er feststellt, dass die Klage gegen die texanischen Gesetze unter Berufung auf
ein individuelles Recht, «die Beendigung der Schwangerschaft zu wählen»,
erfolge, das durch unterschiedliche Bestimmungen der amerikanischen Verfassung garantiert sei. Blackmun führt dies jedoch nicht weiter aus, sondern
fährt fort:
Before addressing this claim, we feel it desirable briely to survey, in several aspects,
the history of abortion, for such insight as that history may afford us, and then to
examine the state purposes and interests behind the criminal abortion laws.19
Der hier angekündigten, keineswegs knappen Diskussion der historischen
Aspekte ist der lange Abschnitt VI gewidmet. Dabei nimmt der erste Absatz
bereits ein Ergebnis vorweg, indem festgehalten wird, dass die restriktiven Abtreibungsgesetze entgegen verbreiteter Meinung verhältnismäßig jungen Datums
seien: «Those laws, generally proscribing abortion or its attempt at any time
during pregnancy except when necessary to preserve the pregnant woman’s life,
are not of ancient or even of common-law origin.» Dies wird in den folgenden
Abschnitten ausgeführt, zunächst mit Blick auf die antiken Verhältnisse:
1. Ancient attitudes. These are not capable of precise determination. We are told
that at the time of the Persian Empire abortifacients were known and that criminal abortions were severely punished. We are also told, however, that abortion was
practiced in Greek times as well as in the Roman Era, and that “it was resorted to
without scruple.” The Ephesian, Soranos, often described as the greatest of the
ancient gynecologists, appears to have been generally opposed to Rome’s prevailing free-abortion practices. He found it necessary to think irst of the life of the
mother, and he resorted to abortion when, upon this standard, he felt the procedure advisable. Greek and Roman law afforded little protection to the unborn. If
abortion was prosecuted in some places, it seems to have been based on a concept
of a violation of the father’s right to his offspring. Ancient religion did not bar
abortion.20
Blackmuns an den Anfang gestellte Bemerkung zur Situation im Perserreich ist
beinahe wörtlich aus der Medizingeschichte von A. Castiglioni21 übernommen.
Die Beobachtung, dass im Persischen Reicht die «Abtreibung streng bestraft
wurde», bleibt unkommentiert, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie der vor-
19
20
21
irrelevant, dass nach Ansicht der Richter nur Jane Roe, nicht jedoch die Nebenkläger standing
hatten. Texas hatte argumentiert, dass auch Jane Roe über kein standing verfüge, da sie ja inzwischen – über zwei Jahre nach Einreichung der Klage – nicht mehr schwanger sein könne –
eine Argumentation, der der Oberste Gerichtshof nicht folgen mochte.
430 U. S. 113, 129.
Ebd. 130 (ohne die Fussnoten des Originals).
A. Castiglioni, Storia della medicina (Milano 1927; 4. Aul. 1947); Blackmun verweist auf die
englische Ausgabe A History of Medicine. 2nd ed. (New York 1947).
Roe v. Hippocrates
137
angestellten Feststellung, dass Abtreibungsverbote erst rezenten Datums seien,
grundsätzlich widerspricht. Ihr wird jedoch entgegengehalten, dass die Abtreibung sowohl in griechischer wie auch in römischer Zeit praktiziert wurde. Der
in dieser grundsätzlichen Form noch wenig spektakuläre Befund wird gestützt
durch Verweise auf eine ganze Reihe von vornehmlich medizinhistorischen und
rechtsgeschichtlichen, jedoch nicht im engeren Sinne altertumswissenschaftlichen Studien.22 Die Prüfung der angegebenen Literatur zeigt rasch, dass die
Aussage fast wortwörtlich aus der 1943 publizierten Untersuchung des Medizinhistorikers Ludwig Edelstein zum Hippokratischen Eid entlehnt ist.23 Dieser
Vorlage entnimmt der Richter im Anschluss nicht nur als Zitat die – nicht ganz
unproblematische – Feststellung, dass von der Abtreibung «ohne Skrupel Gebrauch gemacht wurde», sondern folgt ihr auch im Rest des Abschnitts sehr eng.
Blackmun setzt dabei freilich durchaus eigene Akzente: Dies zeigt sich gerade
in den wiederum teilweise wörtlich übernommenen Ausführungen zum berühmten ephesischen Arzt Soranos (um 100 n. Chr.). Blackmun betont, Soranos habe
die ansonsten «herrschende freie Abtreibungspraxis» («prevailing free-abortion
practices») seiner Zeit offenbar abgelehnt. Soranos hätte es nämlich als notwendig erachtet, dem Leben der Mutter Priorität einzuräumen. Welcher Gegensatz
oder auch nur logische Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Abtreibung
und dem Schutz der Mutter – bei Soranos oder sonst – bestehen soll, geht aus
Blackmuns Darstellung nicht unmittelbar hervor. Tatsächlich ist die Gegenüberstellung bei Soranos eine etwas andere: Gemäß den Ausführungen des ephesischen Arztes, die Edelstein korrekt nachgezeichnet hatte, gab es unter den Ärzten seiner Zeit tatsächlich Streit über die Abtreibung, doch plädierte keine der
maßgeblichen Strömungen für «free-abortion practices». Die eine Gruppe von
Ärzten lehnte unter Berufung auf Hippokrates (s.u.) die Abtreibung ganz prinzipiell ab. Die andere, der sich Soranos selbst anschloss, 24 vertrat eine zwar
22
23
24
Zitiert werden J. V. Ricci, The Genealogy of Gynaecology. History of the development of
gynaecology throughout the ages, 1000 B.C.–1800 A.D. 2nd ed. (Philadelphia 1950) 52, 84, 113,
149; L. Lader, Abortion (Boston 1966) 75–77; K. R. Niswander, «Medical Abortion Practices
in the United States», in: D. T. Smith, Abortion and the Law (Cleveland 1967) 37, 38–40;
G. L. Williams, The Sanctity of Life and the Criminal Law (New York 1957) 148; J. T. Noonan,
«An Almost Absolute Value in History», in: ders., The Morality of Abortion (Cambridge,
MA 1970) 1, 3–7; E. Quay, «Justiiable Abortion – Medical and Legal Foundations (pt. 2)»,
Georgetown Law Journal 49 (1961) 395, 406–422. Mit Lawrence Lader und John T. Noonan
erscheinen hier zwei Autoren, die als federführende Aktivisten – ersterer der Befürworter des
Rechts auf Abtreibung, letzterer als dessen Gegner – politisch aktiv waren. Vgl. zu ihnen
Garrow, a. O. (wie Anm. 3), Index s.v.
«Abortion was practiced in Greek times no less than in the Roman era, and it was resorted to
without scruple»; L. Edelstein, The Hippocratic Oath: Text, Translation and Interpretation,
Supplements to the Bulletin of the History of Medicine 1 (Baltimore 1943), hier und im Folgenden zitiert nach L. Edelstein, Ancient Medicine. Selected Papers of Ludwig Edelstein. Owsei Temkin – C. Lilian Temkin (Hrsg.) (Baltimore – London 1987) 3–63, das Zitat 13.
Edelsteins Behauptung ebd.: «Soranus ... had little patience with these colleagues of his (sc. den
grundsätzlichen Abtreibungsgegnern)» ist allerdings überzogen.
138
Andreas Victor Walser
differenziertere, aber noch immer restriktive Haltung. Diese Ärzte nahmen
Abtreibungen vor, wenn aus medizinischer Sicht bei einer Entbindung große
Gefahren drohten, etwa weil die Gebärmutter zu klein war, den voll entwickelten Fötus zu fassen, oder am Muttermund Knoten und Risse sichtbar wurden.25
Auch diese Ärzte lehnten die Verabreichung von Abtreibungsmitteln jedoch
ab, wenn die Abtreibung lediglich das unerwünschte Ergebnis eines Ehebruchs
aus der Welt schaffen sollte oder aus kosmetischen Gründen, um der Schönheit
willen, gewünscht wurde.
Überraschend knapp wird danach die Rechtslage dargestellt, und auch hier
gibt der Jurist Blackmun beinahe Wort für Wort die Sicht des Medizinhistorikers Edelstein wieder.26 Worauf die Einschätzung, dass man in der Abtreibung
eine Beschneidung der Rechte des Vaters gesehen habe, beruht, geht weder aus
den Ausführungen Blackmuns noch aus Edelsteins Studie hervor, auch wenn in
letzterer ausgewählte Quellen und einschlägige Sekundärliteratur genannt
werden.27 Gerade die wichtigste Stütze für die vorgebrachte Sicht blieb auch bei
Edelstein unerwähnt: Septimius Severus und Caracalla verfügten in einem
Reskript, das in die Digesten Eingang fand, dass eine Frau, die absichtlich eine
abortio bei sich vornahm, mit dem Exil bestraft werden sollte. Es sei nämlich
unangebracht, so die Begründung, dass eine Frau ihren Ehemann ungestraft um
seine Kinder bringe.28 Nicht registriert hatte Edelstein – und damit auch nicht
Blackmun –, weshalb das römische Recht die Abtreibung nicht grundsätzlich bestrafte: Die römischen Juristen betrachteten das ungeborene Kind als Teil der
Mutter und bis zur Geburt nicht als eigenständige Person.29 Obwohl sich Blackmun später eben mit der Frage nach dem «Beginn des Lebens» und dem «Personenstatus» des ungeborenen Kindes auseinandersetzt und dort auch erneut
25
26
27
28
29
Sor. Gyn. 1, 20 (ed. Burguière – Gourevitch).
Edelstein, a. O. (wie Anm. 23) 15f.: «Nor did Greek or Roman law protect the unborn child.
If, in certain cities, abortion was prosecuted, it was because the father’s right to his offspring
had been violated by the mother’s action. Ancient religion did not proscribe suicide. ... Likewise it remained indifferent to foeticide.» Von der kurz zuvor erschienen rechtshistorischen
Untersuchung von Enzo Nardi, Procurato aborto nel mondo greco romano (Mailand 1971) hat
Blackmun offenbar keine Kenntnis genommen. Die antike Rechtslage wurde zuletzt ausführlich diskutiert von K. A. Kapparis, Abortion in the Ancient World (London 2002) 167–194.
Als Quellen genannt sind Lysias, Fragment X (Gernet/p. 333 Thalheim) und Cicero, Pro
Cluentio 11, 32, von der genannten Sekundärliteratur ist am wichtigsten die Studie von
F.-J. Dölger, «Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die Fruchtabtreibung in der
Bewertung der heidnischen und christlichen Antike», Antike und Christentum 4 (1933) 1–51;
der wichtige Beitrag von R. Crahay, «Les moralistes anciens et l’avortement», AC 10 (1942)
9–23 erschien wohl zu spät, um von Edelstein rezipiert zu werden.
Marcian. (1 reg.) Dig. 47, 11, 4: Divus Severus et Antoninus rescripserunt eam, quae data opera
abegit, a praeside in temporale exilium dandam: indignum enim videri potest impune eam
maritum liberis fraudasse. Auf die Stelle wird schon etwa bei H. J. Roby, «Abortio, Abortus»,
in: W. Smith (Hrsg.), A Dictionary of Greek and Roman Antiquities (31890) verwiesen.
Ulp. (24 ed.) Dig. 25, 4, 1, 1: Partus enim antequam edatur, mulieris portio es vel viscerum.;
Papin. (19 quaest.) Dig. 39, 2, 9, 1: ... quia partus nondum editus homo non recte fuisse dicitur.
Roe v. Hippocrates
139
auf die Antike rekurriert wird (s.u.), scheint ihn die Position des römischen
Rechts nicht weiter zu interessieren. Der Abschnitt endet mit der lapidaren Feststellung, dass die antike Religion die Abtreibung nicht verboten habe. Auch
wenn sich zumindest in einem Falle ein religiös motiviertes Abtreibungsverbot
nachweisen lässt, 31 ist diese auch wieder Edelstein geschuldete Beobachtung im
Wesentlichen zutreffend – jedenfalls dann, wenn man das Christentum nicht als
antike Religion betrachten will.
«What then of the famous Oath that has stood so long as the ethical guide
of the medical profession?» Diese Frage steht am Anfang des nächsten
Abschnitts, den Blackmun allein der Analyse des Hippokratischen Eides
widmet. Auf diesen Eid, der die Verabreichung von Abtreibungsmitteln
ausdrücklich versagt, hatte Blackmun während der zweiten dreißigminütigen
Anhörung zu Roe v. Wade auch Sarah Weddington, die Anwältin von «Jane
Roe», angesprochen:32
30
Justice Blackmun: Now you referred a little bit to history. And let me ask you
a question.
Mrs. Weddington: Okay.
Justice Blackmun: – based on history. You’re familiar with the Hippocratic
oath?
Mrs. Weddington: I am.
Justice Blackmun: I think I may have missed it, but I ind no reference to it in
this – in your brief, or in the voluminous briefs that we’re overwhelmed with here.
Do you have any comment about the Hippocratic oath?
Mrs. Weddington: I think two things could be said. The irst would be that
situations and understandings change.
(...)
Justice Blackmun: Tell me why you didn’t discuss the Hippocratic oath.
30
31
32
410 U. S. 113, 160.
Ein ethisch motiviertes Abtreibungsverbot enthält eine um 100 v. Chr. zu datierende Kultsatzung aus Lydien: W. Dittenberger, Sylloge Inscriptionum Graecarum, 3. Aul. (Leipzig 1910)
Nr. 985; F. Sokolowski, Lois sacrées de l’Asie Mineure (Paris 1955) Nr. 20 Z. 20; vgl. O. Weinreich, «Stiftung und Kultsatzung eines Privatheiligtums in Philadelpheia in Lydien», in: SB der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften 16 (1919) 56; zuletzt mit Kommentar und Übersetzung Kapparis, a. O. (wie Anm. 26) 214–218, dessen These einer Abhängigkeit der Kultsatzung vom Hippokratischen Eid und/oder gar der demosthenischen Rede «Gegen Neaira»
freilich nicht überzeugt. Edelstein, a. O. (wie Anm. 23) 16 Anm. 32 hat die Inschrift zwar
bemerkt, datiert sie jedoch irrtümlich ins 1. Jh. n. Chr. und ignoriert sie deshalb als späte
Innovation. Von diesem – singulären – Abtreibungsverbot zu unterscheiden sind häuigere Vorschriften, wonach eine Abtreibung zur kultischen Verunreinigung führt. Eine solche Verunreinigung hatte jedoch auch eine normale Geburt zur Folge, und zwischen einer Abtreibung
und einer Fehlgeburt wird in den Kultsatzungen in der Regel nicht unterschieden; vgl. mit
weiterer Literatur Kapparis ebd. 169–174.
Für Tonaufnahmen und Transkripte des Oral Argument und Reargument von Roe v. Wade
siehe The Oyez Project, Roe v. Wade, 410 U. S. 113 (1973), abrufbar unter: http://oyez.org/
cases/1970–1979/1971/1971_70_18 (abgerufen am 15.5.2013).
140
Andreas Victor Walser
Mrs. Weddington: Okay. I guess it was – okay – in part, because the Hippocratic oath – we discussed basically the constitutional protection we felt the
woman to have. The Hippocratic oath does not pertain to that. (...) And then we
discuss the vagueness jurisdiction. It seemed to us that the fact that the medical
profession at one time had adopted the Hippocratic oath does not weigh upon the
fundamental constitutional rights involved. It is a guide for physicians, but the
outstanding organizations of the medical profession have, in fact, adopted a position that says the doctor and the patient should be able to make the decision for
themselves in this kind of situation.
Justice Blackmun: Of course, it’s the only deinitive statement of ethics of the
medical profession. I take it from what you said that your... you didn’t even footnote it, because it’s old? That’s about, really, what you’re saying?
Mrs. Weddington: Well, I guess it is old. And not that it’s out of date, but that
it seemed to us that it was not pertinent to the argument we were making.
Blackmun wechselte daraufhin das Thema, doch war Weddington offenbar klar
geworden, dass der Eid – «the only deinitive statement of ethics of the medical
profession» –, in den Augen des Richters von großer Bedeutung war. Weddington nutzte deshalb eigens die wenigen Minuten, die ihr nach dem Plädoyer der
Gegenpartei für eine Replik blieben, um auf den Eid zurückzukommen. Sie
unterstrich, dass der Eid aus einer Zeit stamme, in der die Abtreibung für die
Gesundheit der Frau sehr gefährlich gewesen sei. Im übrigen gehe es dem Eid
ja wohl um den Schutz des Lebens. Und damit – so kam Weddington auf die
Kritik an den texanischen Gesetzen zurück, die sie als «unconstitutional vague»
einstufte – , stelle sich auch hier die Frage, was Leben in diesem Kontext bedeute.
Hier iel ihr indes Blackmun erneut ins Wort und stellte lapidar fest: «Well, the
Hippocratic oath went directly and speciically to abortive procedures. However
life was deined.»
Auch in der unmittelbar folgenden erneuten Anhörung im zweiten Abtreibungsfall Doe v. Bolton33 äußerte Blackmun gegenüber der Advokatin der
Kläger, Margie Pitt Hames, seine Verwunderung darüber, dass der Hippokratische Eid in den schriftlichen Eingaben noch nicht einmal in den Fußnoten
erwähnt werde. Hames bezog in ihrer Antwort sehr viel deutlicher Stellung als
Weddington:
«I do not consider it medically relevant and I understand that medical schools are
not now using it and that the Oath also forbids the treatment of kidney stones, and
so that is an example of its relevance to today.»
Blackmun hielt diesem kaum verhohlenen Sarkasmus entgegen, dass der Eid
seiner Erfahrung nach nicht nur nach wie vor Verwendung inde, sondern dass
er über Jahrhunderte «the deinitive statement of medical ethics» gewesen
33
Zum Oral Reargument vgl. The Oyez Project, Doe v. Bolton, 410 U. S. 179 (1973) abrufbar
unter: http://oyez.org/cases/1970–1979/1971/1971_70_40 (abgerufen am 15.5.2013).
Roe v. Hippocrates
141
sei. Die Passage des Eides, die die Abtreibung betrifft, verlas er nun zwei Mal
wörtlich nach unterschiedlichen Übersetzungen. Hames beharrte jedoch unbeirrt darauf, dass der Eid, der heute ja auch keine Verwendung mehr inde, für
den Schwangerschaftsabbruch in der heutigen Zeit, wo eine Abtreibung ein kurzer, ungefährlicher Eingriff sei, belanglos sei.
Diesen Austausch mit Hames über den Hippokratischen Eid – und nur
diesen – gab Blackmun im Detail wieder, als er über 20 Jahre später gefragt
wurde, woran er sich im Rückblick auf die Anhörungen in den Abtreibungsfällen noch erinnere. Dabei stufte er die Diskussion allerdings als «nicht besonders hilfreich» ein. «One thing disturbed me. I asked Miss Hames, ‹What about
the Hippocratic Oath?› and her response was, ‹Well, it’s irrelevant.›» Auch jetzt
betonte er noch einmal: «So far as I was concerned, it had not reached the stage
of irrelevancy.»35 Er war offensichtlich nicht bereit, das Problem des Abtreibungsverbots im Hippokratischen Eid allein deshalb vom Tisch zu wischen,
«weil der Eid alt ist».
In seiner Entscheidungsbegründung unterstreicht Blackmun dann auch
zunächst die Bedeutung des Hippokrates und zitiert dann die relevante Bestimmung des Eides. Wie schon während der mündlichen Verhandlung führt er zwei
etwas variierende Übersetzungen an und zeigt damit Sensibilität für die
Schwierigkeiten, die der Eidtext im Original bietet, fügt aber zugleich an, dass
der Inhalt auf jeden Fall klar sei. Diese Einschätzung erweist sich bei näherem
Hinsehen als zu optimistisch. Das Abtreibungsverbot lautet im Wortlaut:
«Ebenso werde ich keiner Frau ein abtreibendes Pessar geben.»36 Es ist noch
immer umstritten, ob damit – dem Wortlaut exakt folgend – nur die Abtreibung
mittels eines πεσσός, wohl eines vaginal zu benutzenden, mit Pharmaka bestrichenen Tampons ausgeschlossen werden soll, chirurgische oder orale Abtreibungspraktiken jedoch nicht, oder ob in der Bestimmung ein grundsätzliches
Abtreibungsverbot zu sehen ist. 37 Blackmun geht in seiner anschließenden
Analyse jedenfalls von letzterer Interpretation aus:
34
34
35
36
37
Noch Kapparis, a. O. (wie Anm. 26) 76 spricht vom «universal respect and appeal that the Oath
has enjoyed through the centuries, and still enjoys today»; dessen Vorschriften «can not be
ignored by anyone who aspires to exercise medicine for the beneit of humanity.»
Blackmun, a. O. (wie Anm. 17) 194. Das Ergebnis der Diskussion war für ihn unbefriedigend:
«I got nowhere with my inquiry.» (ebd. 489). Blackmuns Rückblick verdeutlicht vor allem die
Faszination, die der Eid auf ihn ausübte. Im Detail sind seine Erinnerungen fehlerhaft: Anders
als Blackmun meint, brachte er den Eid nicht in der ersten Anhörung, sondern im Reargument
zur Sprache. Er hatte sich also schon in den Monaten zuvor, und nicht erst nach dieser Diskussion, intensiv mit dem Eid auseinandergesetzt und war auf die Studie Edelsteins bereits
gestoßen, die für ihn die Lösung brachte (ebd. 490; s.u.).
Hippokr. Opera (ed. Heiberg) I 1, p.4 1, 3: ὁμοίως δὲ οὐδὲ γυναικὶ πεσσὸν φθόριον δώσω.
An ein Verbot lediglich bestimmter Praktiken denken etwa J. M. Riddle, Contraception and
Abortion from the Ancient World to the Renaissance (Cambridge, MA 1992) 7–10; H. King,
«Abtreibung», Der Neue Pauly 1 (1996) 41. Im Kontext der ethischen Vorschriften des Eides
scheint die Interpretation im Sinne eines absoluten Verbots sehr viel wahrscheinlicher (so auch
V. Nutton, Ancient Medicine [London – New York 2004] 337 Anm. 90). Auf jeden Fall versteht
142
Andreas Victor Walser
Although the Oath is not mentioned in any of the principal briefs in this case or in
Doe v. Bolton (...) it represents the apex of the development of strict ethical
concepts in medicine, and its inluence endures to this day. Why did not the
authority of Hippocrates dissuade abortion practice in his time and that of Rome?
The late Dr. Edelstein provides us with a theory: The Oath was not uncontested
even in Hippocrates’ day; only the Pythagorean school of philosophers frowned
upon the related act of suicide. Most Greek thinkers, on the other hand, commended abortion, at least prior to viability. See Plato, Republic, V, 461; Aristotle,
Politics, VII, 1335b 25. For the Pythagoreans, however, it was a matter of dogma.
For them the embryo was animate from the moment of conception, and abortion
meant destruction of a living being. The abortion clause of the Oath, therefore,
«echoes Pythagorean doctrines,» and «[i]n no other stratum of Greek opinion
were such views held or proposed in the same spirit of uncompromising
austerity.»38
Dr. Edelstein then concludes that the Oath originated in a group representing
only a small segment of Greek opinion and that it certainly was not accepted by
all ancient physicians. He points out that medical writings down to Galen
(A. D. 130–200) «give evidence of the violation of almost every one of its injunctions.» But with the end of antiquity a decided change took place. Resistance
against suicide and against abortion became common. The Oath came to be
popular. The emerging teachings of Christianity were in agreement with the
Pythagorean ethic. The Oath «became the nucleus of all medical ethics» and «was
applauded as the embodiment of truth.» Thus, suggests Dr. Edelstein, it is
«a Pythagorean manifesto and not the expression of an absolute standard of
medical conduct.»
This, it seems to us, is a satisfactory and acceptable explanation of the Hippocratic Oath’s apparent rigidity. It enables us to understand, in historical context, a
long-accepted and revered statement of medical ethics. 39
Wie in den vorangehenden Abschnitten übernimmt Blackmun, diesmal ganz
explizit, die Interpretation und Argumentation von Ludwig Edelstein. Blackmun kann aus der Übernahme in zweifacher Hinsicht argumentativen Gewinn
38
39
Sor. Gyn. 1, 60 den Eid dahingehend, zitiert allerdings mit οὐ δώσω δὲ οὐδενὶ φθόριον auch
eine umfassendere Version des Abtreibungsverbotes; Ähnliches gilt für Scrib. Larg. Praef. 5,
20–23; eine Übersicht über die unterschiedlichen Interpretationen bietet Kapparis, a. O.
(wie Anm. 26) 66–76. Wie weit die Interpretationen des Eides in der Forschung auseinandergehen, legt Th. Rütten, «Medizinethische Themen in den deontologischen Schriften des Corpus Hippocraticum», in: H. Flashar – J. Jouanna (Hrsg.), Médicine et morale dans l’antiquité,
Entretiens Fondation Hardt 43 (Genf 1996) 92f. dar und stellt fest: «Es ist interessant zu beobachten, wie parallel zum Wandel der öffentlichen Meinung zum Schwangerschaftsabbruch
die Stimmen derjenigen lauter werden, die den Satz des Eides im Sinne eines partiellen,
weniger moralisch als medizinisch motivierten Abtreibungsverbotes verstehen.»
Diese und alle folgenden wörtlichen Zitate innerhalb des Urteils sind Edelstein, a. O. (wie
Anm. 23) entnommen.
430 U. S. 113, 131f. (ohne die Anmerkungen).
Roe v. Hippocrates
143
erzielen. Zunächst wird die zu Beginn des Abschnitts gestellte Frage, wieso der
Hippokratische Eid die Abtreibungspraxis in der Antike nicht stärker einschränkte, beantwortet: Wenn der Eid nur ein pythagoreisches Manifest ist und
nicht die Sicht der Mehrheit der antiken Ärzte widerspiegelt, braucht der scheinbare Widerspruch zwischen den Vorschriften des Eides und der offenbar geübten Praxis nicht zu erstaunen. Zweifellos wichtiger noch als diese Einsicht,
die prinzipiell nur von historischem Interesse ist, sind die Folgen, die sich aus
dieser Deutung für das Verständnis des Eides in einem modernen Kontext ergeben können. Durch die konsequente Historisierung verliert der Eid seine Verbindlichkeit, da er auch in der Antike nicht den «absolute standard of medical
conduct» zum Ausdruck brachte. Das kategorische Abtreibungsverbot muss
demnach nicht als hippokratisches Vermächtnis im engeren Sinne verstanden
werden, das als solches die gesamte Ärzteschaft bindet. Vielmehr kann es als
die Erindung einer Ärztesekte aufgefasst werden, deren Sicht sich letztlich zufällig aufgrund ihrer Übereinstimmung mit der christlichen Lehre durchsetzte
und nicht, weil sie den «absoluten Standard des medizinischen Verhaltens» repräsentiert hätte.40 Wenn der Eid und damit dessen Abtreibungsverbot missachtet werden darf, dann nicht einfach deshalb, weil der Eid alt ist. Roes Klage
gegen Hippokrates ist deshalb Recht zu geben – so die implizite Schlussfolgerung –, weil dessen «long-accepted and revered statement of medical ethics»
eine Stellung erlangt hat, die es nicht verdient. Diese ist als Ergebnis eines historischen Prozesses zwar erklärbar, aber nichtsdestoweniger ungerechtfertigt,
da sie das Ergebnis eines philosophisch-religiösen und nicht medizinischen Diskurses ist.
Edelsteins Studie, auf die er während des Studienaufenthaltes in der MayoKlinik gestoßen war, lieferte Blackmun, wie er später ausführte, eine «deinitive Antwort» auf die Frage, wie das Abtreibungsverbot einzuschätzen sei.41 In
seiner Urteilsbegründung bezeichnet Blackmun das von ihm herangezogene
Erklärungsmodell Edelsteins noch vorsichtiger als «a theory». Was ist von dieser Theorie zu halten? Sie eingehend zu würdigen ist hier nicht der Ort, doch
sind einige Beobachtungen zu ihrer Rezeption in der Forschung dennoch angezeigt. Anfänglich verschiedentlich positiv aufgenommen,42 wurden auch schon
früh kritische Stimmen gegen Edelsteins Studie laut, die die Zuweisung des Eides an eine pythagoreische Ärztegilde in Zweifel zogen.43 W. Burkert konstatierte in seinen Pythagorasstudien von 1962, also zehn Jahre vor Roe v. Wade:
«Die Einordnung des ›Eides‹ als ›a pyhtagorean document‹ durch Edelstein ...
40
41
42
43
Vgl. die wichtigen Überlegungen zu den Folgen, die sich aus Edelsteins Interpretation des
Eides geben, bei Rütten, a. O. (wie Anm. 37) 98.
Blackmun, a. O. (wie Anm. 17) 490.
Vgl. die Rezensionen von W. H. S. Jones, ClR 59 (1945) 14f.; E. L. Minar, in: AJPh 66 (1945)
105–108; H. Diller, Gnomon 22 (1950) 70–74.
Z. B. O. Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides (Basel
1945) 130f.; K. Deichgräber, Der hippokratische Eid (Stuttgart 1955) 40.
144
Andreas Victor Walser
ist doch etwas kurzschlüssig.» 44 Schon 1978, also nur fünf Jahre nach der Entscheidung in Roe, erachteten G. Harig und J. Kolletsch eine Auseinandersetzung mit Edelsteins Interpretation des Eides als überlüssig, «da seine Ergebnisse inzwischen als weitgehend überholt betrachtet werden dürfen.» 45 Trotz
der Ablehnung durch führende Spezialisten fand Edelsteins Interpretation
aber nicht nur Eingang in eine der wichtigsten Entscheidungsbegründungen
des Obersten Gerichtshofs, sondern vermag sich als vermeintliche communis
opinio bis heute einen Platz in medizinhistorischen Lehrbüchern zu sichern.46
Für Blackmuns Argumentation ist die Frage, ob der Eid tatsächlich auf der
pythagoreischen Ethik basiert, letztlich nicht entscheidend. Zentral ist jedoch
die These, dass der Eid nicht weit geteilte ethische Prinzipien der hippokratischen Mediziner repräsentiert, sondern lediglich die Sicht einer – wie auch immer zu deinierenden – esoterischen Randgruppe. Ob dies tatsächlich zutrifft,
ist in der Forschung noch heute umstritten.47 Immerhin ist festzuhalten, dass
die Ausführungen des Soranos zeigen, dass gerade in der Bewertung der Abtreibungsthematik sehr wohl unterschiedliche Positionen innerhalb der antiken
Ärzteschaft existierten.
Blackmuns Ausführungen zum Schwangerschaftsabbruch in der Antike
enden zunächst mit den zitierten Ausführungen zum Hippokratischen Eid. Die
spätantik-christlichen Stellungnahmen zur Thematik werden über das im
Kontext des Eides Gesagte hinaus nicht weiter relektiert. Sie werden in späteren Abschnitten im Zusammenhang mit dem kanonischen Recht gestreift, zur
«Antike» gehören sie für Blackmun aber offenbar nicht.48
Im Anschluss an seine Ausführungen zu den antiken Verhältnissen diskutiert Blackmun den Status der Abtreibungsfrage im Common Law. Das Common
Law bestrafte die Abtreibung nicht, sofern sie vor dem «quickening» – der ersten
bemerkbaren eigenen Bewegung des Foetus – erfolgte. Dem lagen, wie Blackmun ausführt, aus der philosophischen und rechtlichen Tradition entnommene
Konzepte darüber zugrunde, wann der Fötus zum beseelten Menschen wurde
und wann das Leben begann. Im frühen englischen Recht habe ein loser Konsens bestanden, dass dies irgendwann zwischen der Empfängnis und der Geburt
44
45
46
47
48
W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon (Nürnberg 1962) 273 Anm. 104.
G. Harig – J. Kollesch, «Der hippokratische Eid. Zur Entstehung der antiken medizinischen
Deontologie», Philologus 122 (1978), 160. Kapparis’ Behauptung (a. O. [wie Anm. 26] 66):
«It was only recently that Edelstein’s thesis was seriously questioned in a study by C. Lichtenthaeler published in 1984» ist offensichtlich falsch.
Vgl. Rütten, a. O. (wie Anm. 37) 69f. mit den Nachweisen in Anm. 9.
Vgl. dazu v. a. die genannten Studien von Rütten, a. O. (wie Anm. 37) und Harig – Kolletsch,
a. O. (wie Anm. 45).
Eine – auch für die vorchristliche Antike – zuverlässige Zusammenstellung des Materials bietet J. H. Waszink, RAC 1 (1950) 55–60; vgl. jetzt etwa P. Gray, «Abortion, Infanticide, and the
Social Rhetoric of the Apocalypse of Peter», Journal of Early Christian Studies 9 (2001) 313–
337 mit der in Anm. 14 genannten Literatur.
Roe v. Hippocrates
145
geschah. Diese Ausführungen ergänzt Blackmun in einer langen Fußnote, die
wieder fast ausschließlich den antiken Auffassungen gewidmet ist:
Early philosophers believed that the embryo or fetus did not become formed and
begin to live until at least 40 days after conception for a male, and 80 to 90 days for
a female. See, for example, Aristotle, Hist. Anim. 7.3.583b; Gen. Anim. 2.3.736,
2.5.741; Hippocrates, Lib. de Nat. Puer., No. 10.49 Aristotle’s thinking derived from
his three-stage theory of life (…). This theory, together with the 40/80 day view,
came to be accepted by early Christian thinkers.
The theological debate was relected in the writings of St. Augustine, who
made a distinction between embryo inanimatus, not yet endowed with a soul, and
embryo animatus. (…) At one point, however, he expressed the view that human
powers cannot determine the point during fetal development at which the critical
change occurs. See Augustine, De Origine Animae 4.4 (...).
Later, Augustine on abortion was incorporated by Gratian into the Decretum,
published about 1140. Decretum Magistri Gratiani 2.32.2.7 to 2.32.2.10 (...) This
Decretal and the Decretals that followed were recognized as the deinitive body
of canon law until the new Code of 1917. (...)50
Diese konzise, im Gegensatz zu den übrigen Ausführungen zur Antike mit
Quellenverweisen geradezu gespickte Diskussion zielt offensichtlich darauf ab,
die antiken Wurzeln der bis ins 20. Jh. gültigen Position des Kanonischen Rechts
historisch zu ergründen. 51 Sie stützt damit die zu Beginn formulierte Sicht, dass
strikte Abtreibungsverbote in historischer Perspektive eine vergleichsweise
junge Innovation sind. Zumindest oberlächlich ergibt sich aber auch ein Widerspruch, der nicht aufgelöst wird: Mit Edelstein hatte Blackmun zuvor den Erfolg
des Hippokratischen Eides mit der Konvergenz der darin enthaltenen ethischen
Prinzipien mit jenen des Christentums erklärt. Hier nun aber wird die christliche
Rechtstradition auf Aristoteles zurückgeführt, der gegenüber der Abtreibung
in einem frühen Stadium im Gegensatz zum Eid eine indifferente Position
einnahm.
Nach dem Common Law analysiert Blackmun die Sicht des Schwangerschaftsabbruchs im English Statutory Law und schließlich im früheren American Law. Keiner dieser drei Bereiche wird auch nur annähernd so ausführlich
diskutiert wie die Antike. Der Abschnitt VI, der der Betrachtung der Abtreibungsfrage in historischer Perspektive gewidmet ist, endet schließlich mit einer
in die Gegenwart führenden Diskussion der Positionen der American Medical
Association and der American Public Health Association.
49
50
51
Die Stellenangabe ist unklar. Gemeint sein dürfte de natura pueri 18 (7, 498–500).
410 U. S. 113, 133f. Anm. 22 (geringfügig gekürzt und ohne die Verweise auf die Sekundärliteratur).
Es ist mir nicht gelungen zu eruieren, ob sich Blackmun auch hier wieder direkt auf eine
Vorlage stützt – wie zu vermuten ist – und welche das wäre.
146
Andreas Victor Walser
Abschnitt VII der Entscheidungsbegründung identiiziert den Schutz der
Gesundheit der Mutter und den Schutz des ungeborenen Kindes als legitime
Interessen des Staates. Diesen Interessen des Staates steht jedoch das in Abschnitt VIII beleuchtete verfassungsmässige Recht auf Privacy gegenüber, ein
Recht, das die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch mit einschließt.
Die Interessen des Staates und das Recht auf Privacy müssen gegeneinander
abgewogen werden.
Noch in der direkten Auseinandersetzung mit den Argumenten der Parteivertreter bedient sich Blackmun hier der Antike: Der Staat Texas hatte seine
rigiden Abtreibungsgesetze mit dem Argument verteidigt, dass der Embryo oder
Foetus im Sinne der Verfassung als Person gelten müsse und dass das Leben mit
der Empfängnis beginne. Folglich müsse es dem Staat erlaubt sein, dieses Leben
zu schützen. Blackmun legt zunächst dar, dass gemäß dem Sprachgebrauch der
Verfassung und den früheren Entscheidungen des Gerichts das Wort «person»,
wie es im 14. Amendment erscheint, das ungeborene Kind nicht einschließe. Gegenüber der Frage, wann das Leben beginnt, beharrt das Gericht dezidiert auf
einem agnostischen Standpunkt:
We need not resolve the dificult question of when life begins. When those trained
in the respective disciplines of medicine, philosophy, and theology are unable to
arrive at any consensus, the judiciary, at this point in the development of man’s
knowledge, is not in a position to speculate as to the answer. 52
Es müsse genügen, fährt Blackmun fort, die große Divergenz bezüglich dieser
Frage zu registrieren. Stets habe die Sicht, dass das Leben erst mit der Geburt
beginnt, viele Vertreter gefunden. So seien die griechischen Stoiker vom Beginn
des Lebens erst bei der Geburt ausgegangen. Noch einmal wird auch die aristotelische Theorie einer «mediate animation» als Basis der lange vorherrschenden
Sicht der katholischen Kirche angeführt. 53
Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen wird am Anfang von Abschnitt IX gezogen: Texas stehe es nicht zu, sich eine bestimmte Theorie über den
Beginn des Lebens zu eigen zu machen und auf dieser Basis die Rechte der Mutter zu übergehen. Vielmehr seien während allen Phasen der Schwangerschaft die
Rechte der Mutter und die Interessen des Staates abzuwägen. Daraus folgen die
konkreten Anordnungen des Gerichts: Bis zum Ende des ersten Schwangerschaftstrimesters, wenn die Abtreibung die Gesundheit der Mutter kaum gefährdet, obliegt die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch dem behandelnden Arzt und der Mutter und sind dem Staat regulierende Eingriffe verboten.
Im zweiten Schwangerschaftstrimester kann der Staat die Abtreibung zum Schutz
der Gesundheit der Mutter zwar regulieren, aber nicht verbieten. Erst mit Beginn
52
53
403 U. S. 113, 159.
Ebd. 160. Dass auch das römische Recht das ungeborene Kind bis zur Geburt nicht als menschliches Lebewesen betrachtete, bleibt, wie bereits bemerkt, etwas überraschend unerwähnt.
Roe v. Hippocrates
147
des letzten Trimesters, wenn die «viability» des Foetus gegeben ist, d.h. wenn er
auch außerhalb des Körpers der Mutter lebensfähig ist, überwiegen die Interessen Staates am potentiellen Leben gegenüber den Rechten der Mutter. Selbst ein
Verbot der Abtreibung ist deshalb in dieser Phase der Schwangerschaft zulässig,
solange Ausnahmen zum Schutz der Gesundheit der Mutter möglich bleiben.
Bemerkenswert ist, dass Blackmun in einem früheren Entwurf der Fristenregelung noch dafür plädierte, das Recht auf Abtreibung nur bis zum Ende des
ersten Trimesters zu schützen. Mit der Wahl dieses arbiträren Zeitpunktes hatte
sich Blackmun zumindest implizit das «aristotelische Modell» des Beginns des
Lebens um den 40. Tag der Schwangerschaft zu eigen gemacht. Erst auf Anregung eines Richterkollegen wurde der Schutz des Rechts auf das gesamte
zweite Trimester ausgeweitet. 54
Abschnitt X fasst diese Regelungen noch einmal knapp zusammen, Abschnitt XI hält abschließend fest, dass die texanischen Gesetze damit natürlich
als Ganzes fallen müssten.
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Roe v. Wade stiess nicht nur auf die
voraussehbare Ablehnung der erklärten Abtreibungsgegner, sondern auch schon
bald auf Kritik von rechtswissenschaftlicher Seite. Besondere Beachtung fand
ein schon im April 1973 veröffentlichter langer Aufsatz von J. H. Ely, der die Legalisierung der Abtreibung zwar grundsätzlich begrüßte, zugleich aber die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in seiner Begründung als vollkommen
ungenügend abkanzelte. 55 Roe v. Wade sei «a very bad decision», da es dem
Gericht nicht gelungen sei, sein Urteil aus der Verfassung herzuleiten. Was
Blackmuns Entscheidungsbegründung biete, sei mit Blick auf die Verfassung
weitgehend irrelevant. In einer Fußnote führt Ely aus:56
The opinion does contain a lengthy survey of «historical attitudes» toward abortion, culminating in a discussion of the positions of the American Medical
54
55
56
Vgl. D. J. Garrow, «The Accidental Jurist», The New Republic, June 27 (2005) 38: «The most
fascinating and unanswerable question about the making of Roe v. Wade is to what extent, if
any, the subsequent political controversy over the ruling would have been less intense, or would
even have abated, had the Court stuck with Blackmun’s initial inclination to protect fully only
irst-trimester abortions.»
J. H. Ely, «The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade», Yale Law Journal, 82
(1973) 920–949. Elys Kritik von Roe v. Wade wurde als «perhaps the most famous and inluential legal analysis of the .. decade» bezeichnet (vgl. Garrow, a. O. [wie Anm. 3] 609). Während
Blackmuns Richterkollegen seine Entscheidungsbegründung jedenfalls in ihren bekannt gewordenen Stellungnahmen sehr hoch einschätzten, hatte George Frampton, der als Blackmuns
Clerk intensiv an der Opinion gearbeitet hatte, ihre Schwächen klar bereits erkannt. In einem
Memorandum (zit. bei Garrow, a. O. [wie Anm. 15] 29) an Blackmun hielt er fest: «Since the
opinion does use this right [of privacy] throughout, and since it is a new application of it, I think
considerable explanation is required in addition to what the circulated draft contained – which
was little more than one sentence plus a string cite in [the] text.» «I would have liked to do more
here, but I really didn’t have the time.»
Ebd. 925 Anm. 42 (ohne die Seitenverweise).
148
Andreas Victor Walser
Association, the American Public Health Association, and the American Bar
Association. (...) (The discussion’s high point is probably reached where the Court
explains away the Hippocratic Oath’s prohibition of abortion on the grounds that
Hippocrates was a Pythagorean, and Pythagoreans were a minority. (...)) The
Court does not seem entirely clear as to what this discussion has to do with the
legal argument, (...) and the reader is left in much the same quandary. It surely does
not seem to support the Court’s position, unless a record of serious historical and contemporary dispute is somehow thought to generate a constitutional
mandate.
Elys Kritik ist nachvollziehbar: Auch den Richtern dürfte klar gewesen sein,
dass die historische Evidenz die Frage, ob die Verfassung ein Recht auf Abtreibung garantiert, nicht direkt beantworten kann. Was aber ist dann der Sinn des
historischen Überblicks und insbesondere der Bezüge auf die Antike mit der
Diskussion des Hippokratischen Eides als «high point»? Mit Recht betont Ely,
dass die Urteilsbegründung die Beantwortung dieser Frage weitgehend dem
Leser überlasse. Blackmun begründet den historischen Survey zwar mit «den
Einsichten, die die Geschichte möglicherweise eröffnet», 57 führt aber nicht aus,
was für Einsichten das denn eigentlich sein sollen. Um die von Ely vermisste
Ausrichtung der Diskussion auf die juristischen Fragen im engeren Sinne, ist
Blackmun in der Tat gar nicht bemüht. Wie oben gezeigt wurde, werden gerade
die antiken Rechtsquellen weitgehend übergangen. Da die Entscheidungsbegründung die Freiheit über den Entscheid über den Schwangerschaftsabbruch
aus einem «Recht auf Privatheit» ableitet, liegt die Frage nahe, ob auch in der
Antike oder einer späteren historischen Epoche ein vergleichbares Recht oder
zumindest ähnliche Vorstellungen existierten, aber auch diese interessierte
Blackmun offenbar nicht. 58
Trotz seiner Ausführlichkeit scheint die Zielsetzung des historischen Exkurses zunächst sehr viel enger: Blackmun will zeigen, wie er schon im einleitenden
Absatz festhält, dass Abtreibungsverbote, wie sie Texas kennt, eine noch junge
Erindung sind. Dass die Abtreibung wie in den USA strikt verboten und bestraft wird, ist – so die Quintessenz der historischen Rückschau – in historischer
Perspektive keineswegs die selbstverständliche Regel, sondern vielmehr die Ausnahme. Gerade in der klassischen Antike zeigen sich für Blackmun ganz andere
Verhältnisse, die jedoch viel eher der historischen Norm entsprechen: Die Abtreibung war gängige Praxis; das ungeborene Kind genoss kaum Rechtsschutz,
und die Abtreibung wurde nur selten bestraft; religiöse Abtreibungsverbote gab
es nicht. Trotz dieser ganz unterschiedlichen Auffassung über die Abtreibung,
ist Blackmun bestrebt, die Antike nicht als eine den modernen Verhältnissen in
57
58
410 U. S. 113, 129, zit. oben S. 136.
Astorino, a. O. (wie Anm. 5) 639 erwartet ganz selbstverständlich eine solche Untersuchung,
wenn er zum historischen Teil der Entscheidungsbegründung knapp bemerkt: «Much of the
research, of course, bears on the issue of privacy.» Dies trifft jedoch gerade nicht zu.
Roe v. Hippocrates
149
jeder Hinsicht fremde Gegenwelt zu zeichnen, sondern vielmehr gerade im Bereich der Medizin die Kontinuitäten zu betonen: so etwa wenn von Soranos als
dem «greatest of the ancient gynecologists» die Rede ist, mehr noch bei
Hippokrates, dem mit Superlativen überhäuften «Father of Medicine», der die
«medical schools» seiner Zeit dominierte, schließlich beim «apex» der Medizinethik, dem hippokratischen Eid, dessen bis heute andauernder Einluss wiederholt unterstrichen wird. In Blackmuns Darstellung repräsentiert die Antike mit
Blick auf die Abtreibungsfrage eine realistische Alternative zu den herrschenden Verhältnissen. Realistisch ist diese Alternative eben deshalb, weil die antike
Welt von der modernen in den wesentlichen Aspekten – in ihrem Verhältnis zur
Medizin ebenso wie in den Grundfragen des Lebens – nicht grundsätzlich verschieden ist.
Diese Skizze der Geschichte der Abtreibung muss wohl auch als eine Intervention in einer primär politischen Debatte verstanden werden: Im Mai 1972, als
Roe v. Wade und Doe v. Bolton am Supreme Court anhängig waren, hatte die
Erzdiözese von New York einen Brief von Präsident Nixon an Terence Cardinal
Cook veröffentlicht, in dem Nixon zusicherte, die ablehnende Haltung der
katholischen Kirche in der Abtreibungsfrage zu teilen. Die nun von manchen
propagierten liberalen Richtlinien zum Schwangerschaftsabbruch ließen sich
nach Ansicht des Präsidenten weder mit den «religiösen Traditionen» Amerikas
noch mit dem «westlichen Erbe» vereinbaren. 59 Den Kampf der katholischen
Kirche gegen die liberalen Abtreibungsgesetze New Yorks bezeichnete Nixon
entsprechend als eine «noble Bestrebung». Das Schreiben löste sofort eine heftige Kontroverse aus, und man warf Nixon vor, seine Position zu missbrauchen,
um über eine Kirche Einluss auf die Politik in einem Bundesstaat auszuüben.
Das Weiße Haus sah sich schließlich gezwungen, sich für die Veröffentlichung
des Briefes zu entschuldigen.60 Es fällt schwer, den historischen Teil von Black-
59
60
«The unrestricted abortion policies now recommended by some Americans, and the liberalized abortion policies in effect in some sections of this country seem to me impossible to reconcile with either our religious traditions or our Western heritage. One of the foundation
stones of our society and civilization is the profound belief that human life, all human life, is a
precious commodity – not to be taken without the gravest of causes.» Der Brief ist abgedruckt
in L. Greenhouse – R. B. Siegel (Hrsg.), Before Roe v. Wade. Voices that Shaped the Abortion
Debate before the Supreme Court’s Ruling (New York 2010) 157f. Nixons Brief wird ebd. auf
den 16. Mai 1972 datiert, doch wurde er bereits am 6. Mai veröffentlicht. Zur durch das
Schreiben ausgelösten Kontroverse Garrow, a. O. (wie Anm. 3) 546.
Der Brief, offenbar nicht von Nixon selber verfasst, zielte darauf ab, im Wahlkampf die
Stimmen der Katholiken zu gewinnen. Wie jüngst veröffentlichte Tonbandaufnahmen belegen, war Nixons persönliche Sicht differenzierter, aber auch wesentlich schockierender. In
einem Gespräch am Tag nach der Veröffentlichung des Urteils in Roe v. Wade stellte er fest:
«There are times when an abortion is necessary. I know that. When you have a black and a
white. Or a rape.» Vgl. C. Savage, «On Nixon Tapes, Ambivalence Over Abortion, Not Watergate», The New York Times, June 23 (2009) (http://www.nytimes.com/2009/06/24/us/
politics/24nixon.html [abgerufen am 16. 5.2013]).
150
Andreas Victor Walser
muns Urteilsbegründung nicht als direkte Antwort auf Nixons Stellungnahme
zu lesen.
Die Ausführlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Hippokratischen Eid,
sowohl in der Urteilsbegründung selbst als auch in der mündlichen Verhandlung,
wird mit diesem grundsätzlichen Anliegen des historisches Exkurses jedoch
noch nicht erklärt. Die Diskussion des Eides ist, wie ich meine, gerade nicht der
esoterische Höhepunkt der Urteilsbegründung, sondern berührt im Gegenteil
den Kern der Entscheidung in Roe v. Wade. Es ist leicht zu übersehen, dass das
Urteil die freie Entscheidung über den Abbruch der Schwangerschaft während
der ersten beiden Schwangerschaftstrimester gar nicht der Mutter selbst überlässt, sondern dem behandelnden Arzt.61 Dieser, nicht die Mutter, hat letzten
Endes über Abbruch oder Fortsetzung der Schwangerschaft zu entscheiden,
wenn natürlich auch «in consultation with the patient».62 Die Aufhebung des
gesetzlichen Abtreibungsverbots durch das Urteil des Obersten Gerichts wäre
unter dieser Voraussetzung weitgehend bedeutungslos, wenn dem Arzt die
Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs durch seine Berufsethik – die
Blackmun im Hippokratischen Eid deiniert sah – nach wie vor untersagt ist. Nur
wenn neben den rechtlichen auch die ethischen Abtreibungsverbote verschwinden, stellen Fortführung und Abbruch der Schwangerschaft Alternativen dar,
für die sich der Arzt zusammen mit seiner Patientin tatsächlich frei entscheiden
kann. Blackmuns Historisierung und Dekonstruktion des Hippokratischen Eides kann somit als Versuch verstanden werden, jene Offenheit der Entscheidungssituation, die nach der Aufhebung der Abtreibungsverbote de jure gegeben ist, auch auf medizinethischer Ebene sicherzustellen. Auch wenn Blackmuns
Diskussion des Eides mithin nicht direkt zur Klärung der verfassungsrechtlichen
Fragen beiträgt, so hat sie doch sehr viel mit dem «legal argument» zu tun.63
61
62
63
Die für das erste Trimester geltende Regelung wird folgendermassen zusammengefasst
(410 U. S. 113, 164): «For the stage prior to approximately the end of the irst trimester, the abortion decision and its effectuation must be left to the medical judgment of the pregnant
woman’s attending physician.»
Ebd. 163. Dass das Gericht dem behandelnden Arzt eine so zentrale Stellung einräumt, ist
gerade von Befürworterinnen und Befürwortern des Rechts auf Abtreibung, wiederholt kritisiert worden. Vgl. z. B. nur besonders prominent die jetzige oberste Bundesrichterin R. Bader
Ginsburg, «Some Thoughts on Autonomy and Equality in Relation to Roe v. Wade», North
Carolina Law Review 63 (1985) 375–386, bes. 382.
Dass die Entscheidung damit weit über die rechtlichen Aspekte der Abtreibungsproblematik –
und damit wohl auch über den eigentlichen Aufgabenbereich des Richters – hinausgreift, ist
ein Problem, das uns hier nicht zu beschäftigen braucht. Das Verhältnis von Recht und Medizin in Blackmuns Abtreibungsrechtsprechung wird ausführlich analysiert von Hunter, a. O.
(wie Anm. 5) 147–197. Hunter geht 175–178 auf die Auseinandersetzung mit dem Hippokratischen Eid ein und stellt abschließend fest: «Blackmun’s concern with the oath relects the
value he placed on professional self-regulation» (ebd. 178). Das ist zweifellos zutreffend, wird
der Bedeutsamkeit dieser Diskussion aber nur im Ansatz gerecht. Dasselbe gilt für die Bemerkung, dass diese Diskussion in der Opinion «only four paragraphs on three pages» (ebd.; meine
Roe v. Hippocrates
151
Auch und gerade vor diesem Hintergrund hätte sich Blackmun die Diskussion des Eides jedoch ersparen können, wenn dieser ohnehin obsolet und im zeitgenössischen medizinethischen Diskurs vollkommen irrelevant gewesen wäre,
wie dies etwa von der Anwältin Margie Hames während der Anhörung
behauptet wurde. Dass Blackmun dies anders sah, lag in erster Linie an seinen
persönlichen Erfahrungen: Wie er sich später erinnerte, war der Hippokratische
Eid in der Mehrzahl der Untersuchungsräume der Mayo-Klinik, in der er
gearbeitet hatte, an der Wand angebracht. Mehrmals hatte er auch Abschlussfeiern besucht, an denen die Absolventen den Hippokratischen Eid abzulegen
hatten. Auch wenn Blackmuns Einschätzung im Grunde nur auf diesen
Impressionen beruhte, war sie durchaus zutreffend: Gerade in den USA erfuhr
der Hippokratische Eid im Verlauf des 20. Jh. ein Revival. Noch 1928 wurde in
weniger als der Hälfte der Medical Schools ein Eid abgelegt. Diese Zahl stieg
danach jedoch rapide: 1958 leisteten die Studierenden in 74 %, 1969 in 92 %,
1977 schließlich in 94 % aller Schools im Verlauf oder beim Abschluss des Medizinstudiums einen medizinischen Eid.64 1969 war dies in knapp der Hälfte der
Schulen eine Form des Hippokratischen Eides, in den übrigen bediente man sich
verschiedener anderer Eide. Immerhin 17 % der Schulen – 6 % mehr als 10 Jahre
zuvor – folgten dem Hippokratischen Eid in seiner vollständigen ursprünglichen
Form, 29 % einer modernisierten Fassung.65 Mehrere Aufsätze aus medizinwissenschaftlichen Zeitschriften, die Robert Knapp Blackmun 1970 und 1972
zukommen ließ, mussten Blackmun in seiner Auffassung bestärken, dass der Eid
von den Ärzten seiner Zeit tatsächlich ernst genommen wurde. Knapp, ein Arzt,
mit dem Blackmun aus seiner Zeit an der Mayo-Klinik persönlich bekannt war,
argumentierte in diesen Beiträgen rigoros gegen die Abtreibung und berief sich
dabei explizit auf den Hippokratischen Eid.66
Blackmuns Einschätzung, dass eine Auseinandersetzung mit den im Hippokratischen Eid enthaltenen ethischen Positionen notwendig sei, scheint damit
der tatsächlichen Bedeutung des Eides für die Ärzteschaft seiner Zeit durchaus
angemessen.
64
65
66
Hervorhebung) beanspruchte, ist dies doch immerhin mehr Platz, als derjenigen um das «right
of privacy» eingeräumt wird.
R. Crawshaw, «Contemporary Use of Medical Oaths», Journal of Chronic Diseases 23 (1970)
145–150; W. Friedlander, «Oaths given by US and Canadian Medical Schools, 1977», Social
Science and Medicine 16 (1982) 115–120; vgl. auch V. Nutton, «Hippocratic Morality and
Modern Medicin», Flashar – Jouanna, a. O. (wie Anm. 37) 35 mit weiterer Literatur in
Anm. 12.
Crawshaw, a. O. (wie Anm. 64) 147; aus der Studie geht nicht hervor, wie der Eid modernisiert
wurde. 1977 bediente sich rund die Hälfte der Schools einer Fassung, in der das Abtreibungsverbot weggelassen war.
R. D. Knapp, «Similarly I Will Not … Cause Abortion», Journal of the Louisiana State Medical
Society 122 (1970) 297–301, in Auszügen abgedruckt in Greenhouse – Siegel, a. O. (wie Anm.
59) 95–97. Greenhouse und Siegel merken an, dass sich Blackmun für die Zusendung der
Artikel ohne Stellungnahme zum Inhalt bei Knapp bedankte und die Beiträge in seine Unterlagen aufnahm.
152
Andreas Victor Walser
IV. «Old, but not out of date»
In Roe v. Wade sprach der United States Supreme Court sein Urteil über die Abtreibung in der Antike. Obwohl das Gericht die Beweislage sorgfältig geprüft
hat, ist die Entscheidung in manchen Teilen jedenfalls aus heutiger Perspektive
revisionsbedürftig: Dass in der antiken Welt verschiedene effektive Methoden
des Schwangerschaftsabbruchs bekannt waren und davon Gebrauch gemacht
wurde, ist unbestritten, doch bleibt schwierig abzuschätzen, wie häuig Abtreibungen tatsächlich vorkamen.67 Die Beobachtung, dass die Antike kaum rechtliche oder religiöse Abtreibungsverbote kannte, ist – mit den bereits erwähnten
Einschränkungen – auch nach heutigem Wissensstand richtig. Die Sicht, dass der
Hippokratische Eid auf eine pythagoreische «Ärzte-Sekte» zurückgeht, war hingegen schon 1973 umstritten und ist heute kaum mehr haltbar.68 Richtig bleibt
dennoch die grundsätzliche Feststellung, dass die im Eid relektierten ethischen
Prinzipien nicht von allen Medizinern geteilt wurden, auch wenn nicht zu klären
ist, wie groß der Anteil jener war, die den Schwangerschaftsabbruch prinzipiell
ablehnten.
Insgesamt hat sich das Gericht den Vorwurf gefallen zu lassen, dass es sich
zu einseitig auf einen einzigen Zeugen – Ludwig Edelstein – gestützt hat. Eine
Folge davon ist, dass neben dem Hippokratischen Eid kaum weitere Quellen in
die Analyse einbezogen wurden. Daraus ergeben sich Schwächen in der Argumentation: Da sie bei Edelstein Erwähnung indet, wird zwar die differenzierte
Stellungnahme des Soranos angeführt. Es wird jedoch nicht gesehen, dass sie
der Aussage, dass die Abtreibung in der Antike «ohne Skrupel» praktiziert
wurde, gerade widerspricht und sich stattdessen exakt mit den Vorgaben der
texanischen Abtreibungsgesetzen deckt, die eine Abtreibung nur zur Rettung
des Lebens der Mutter erlauben. Jene Quellen, die wie die römischen Rechtstexte
viel eher geeignet gewesen wären, die von Blackmun vertretene These überzeugend zu stützen, fehlen in der Entscheidungsbegründung, weil sie schon in
Edelsteins Studie bestenfalls in den Anmerkungen auftauchten.
Die Urteilsbegründung in Roe v. Wade ist hinsichtlich der Rolle, die die Antike darin spielt, sicherlich nicht typisch für die Rechtsprechung des Obersten
Gerichtshofs: Untypisch ist die Ausführlichkeit, in der die Auseinandersetzung
mit den antiken Verhältnissen erfolgt, untypisch aber auch der zentrale Stellenwert, der dieser Diskussion der Antike in der Argumentation zukommt. Diese
Art und Weise, in der in Roe v. Wade auf die Antike rekurriert wird, ist, wie ich
67
68
Vgl. an neueren Diskussionen etwa J. M. Riddle, «Oral Contraceptives and Early-term Abortifacients during Classical Antiquity and the Middle Ages», Past and Present 132 (1991) 3–32;
ders. a. O. (wie Anm. 37); Kapparis, a. O. (wie Anm. 26), mit der Rezension von A. E. Hanson,
ClR 55 (2005) 495–497 bes. 497.
Das ist freilich selbst in altertumswissenschaftlichen Kreisen noch nicht überall bemerkt
worden; vgl. etwa P. T. Keyser, «Review of J. M. Riddle, Contraception and Abortion», Bryn
Mawr Classical Review 04.04.08 («Edelstein argues cogently that the oath derives from
IIII–B.C. neo-pythagoreans»).
Roe v. Hippocrates
153
zu zeigen versuchte, einem besonderen zeitgenössischen Diskurskontext und
nicht zuletzt auch den persönlichen Interessen des Autors geschuldet. Möglich
ist sie jedoch deshalb, weil die Richter des Supreme Court immer wieder
einmal – vor und auch nach Roe – auf die Antike zurückgriffen, in unterschiedlichsten Kontexten und auf unterschiedlichste Aspekte.69 Über Verweise auf das
Römische Recht wird man sich dabei noch am wenigsten wundern, staunt dann
aber doch, wenn die Entscheidungsbegründung in einem Versicherungsfall im
Wesentlichen aus einer Exegese der in den Digesten überlieferten Lex Rhodia
de iactu besteht.70 Noch weit weniger rechnet man damit, in einem Urteil aus
dem Jahr 1996, in dem über die Zulassung von Frauen zu einer Eliteschule des
Bundesstaates Virginia entschieden wurde, eine Diskussion von Platons Erziehungskonzeptionen zu inden.71 Überlegungen zur Antigone des Sophokles wird
man nicht unbedingt in einem Urteil vermuten, das einen Streit über die Veröffentlichung von Polizeifotos klärt,72 eher vielleicht noch Verweise auf Aristophanes und Juvenal, wenn die Zensur obszöner Bücher und Filme zur Debatte
steht.73 Das Spektrum an griechischen und lateinischen Autoren, auf die in
unterschiedlichen Urteilen in aller Regel mit genauen Stellenangaben verwiesen
wird und die nicht selten wörtlich zitiert werden, ist erstaunlich breit: Klassiker
wie Platon, Aristoteles, Demosthenes, Cicero, Plutarch, Tacitus, der jüngere
Plinius und Sueton begegnen ebenso wie weniger bekannte Autoren wie Sappho,
Juvenal, Ammianus Marcellinus, Soranos oder Galen.74
Die klassische Antike ist für den Obersten Gerichtshof ein Referenzpunkt,
auf den man sich zwar nie beziehen muss, aber jederzeit beziehen kann. Wo sich
die antiken Verhältnisse mit den heutigen decken, können sie zu deren Legitimation herangezogen werden. Wo die Antike jedoch andere Lebens- und Denkmodelle sichtbar macht – wie nach Ansicht Blackmuns im Falle der Abtreibung –, bietet sie eine Alternative, die nicht einfach als historisch überwundener
69
70
71
72
73
74
Ich beschränke mich im Folgenden auf wenige Hinweise, denen in einer breiter angelegten Studie zu den Antikenbezügen in den Entscheidungsbegründungen des U. S. Supreme Court nachgegangen werden soll.
Columbian Insurance Company of Alexandria v. Ashby and Stribling, 38 U. S. 331 (1839).
Vgl. zur Lex Rhodia und zu ihrer Nachwirkung im modernen europäischen Seerecht zuletzt
Chr. Krampe, «Römisches Recht auf hoher See. Die Kunst des Guten und Gerechten», in:
I. Fargnoli – S. Rebenich (Hrsg.), Das Vermächtnis der Römer. Römisches Recht und Europa,
Bern 2012, 111–150, bes. 121–141.
U. S. v. Virginia, 518 U. S. 515 (1996).
National Archives and Records Administration v. Favish, 541 U. S. 157 (2004).
Byrne v. Karalexis, 396 U. S. 976 (1969).
Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, da für die Rezeption antiker Literatur in den
USA im 18. Jh. – aber auch sonst – gerade ihre von einem eng umrissenen Kanon von Schulautoren diktierte hohe Selektivität charakteristisch ist. Vgl. mit weiteren Hinweisen Niggemann – Rufing, a. O. (wie Anm. 5) 13f. Es wäre im Rahmen weiterer Untersuchungen zu klären, ob sich in der juristischen Bildungstradition der USA oder aber auch den individuellen
Biographien der Richter bestimmte Faktoren identiizieren lassen, die diese Besonderheiten
der Antikenrezeption erklären könnten.
154
Andreas Victor Walser
Zustand irrelevant wird, sondern einer sorgfältigen und ernsthaften Prüfung
bedarf. Steht die Antike vor dem Tribunal der Obersten Bundesrichter, so gilt
für sie, was selbst die Anwältin von Jane Roe ihrem Gegner Hippokrates zugestehen musste: «It is old, but it’s not out of date.»
Korrespondenz:
Andreas Victor Walser
Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik
des Deutschen Archäologischen Instituts
Amalienstrasse 73b
D–80799 München
victor.walser@dainst.de