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Ende, Michael - Jim Knopf Und Lukas Der Lokomotivfuehrer

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MICHAEL ENDE:

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf�hrer

Erstes Kapitel,
in dem die Geschichte anf�ngt

Das Land, in dem Lukas der Lokomotivf�hrer lebte, hie�


Lummerland und war nur sehr klein.

Es war sogar ganz au�erordentlich klein im Vergleich zu


anderen L�ndern, wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika
oder China. Es war ungef�hr doppelt so gro� wie unsere
Wohnung und bestand zum gr��ten Teil aus einem Berg mit
zwei Gipfeln, einem hohen und einem, der etwas niedriger
war.

Um den Berg herum schl�ngelten sich verschiedene Wege mit


kleinen Br�cken und Durchfahrten. Au�erdem gab es auch
noch ein kurvenreiches Eisenbahngleis. Es lief durch f�nf
Tunnels, die kreuz und quer durch den Berg und seine beiden
Gipfel f�hrten.

H�user gab es nat�rlich auch in Lummerland, und zwar ein


ganz gew�hnliches und ein anderes mit einem Kaufladen drin.
Dazu kam noch eine kleine Bahnstation, die am Fu�e des
Berges lag. Dort wohnte Lukas der Lokomotivf�hrer. Und
oben auf dem Berg zwischen den beiden Gipfeln stand ein
Schlo�.

Man sieht also, das Land war ziemlich voll. Es pa�te nicht mehr
viel hinein.

Wichtig ist vielleicht noch, da� man sich sehr vorsehen mu�te,
die Landesgrenzen nicht zu �berschreiten, weil man dann
sofort nasse F��e bekam. Das Land war n�mlich eine Insel.
Diese Insel lag mitten im weiten, endlosen Ozean, und die
gro�en und kleinen Wellen rauschten Tag und Nacht an den
Landesgrenzen. Manchmal allerdings war das Meer auch still
und glatt, so da� nachts der Mond und tags die Sonne sich darin
spiegelten. Das war jedesmal besonders sch�n und feierlich,
und Lukas der Lokomotivf�hrer setzte sich dann immer an den
Strand und freute sich.

Warum die Insel �brigens Lummerland hie� und nicht irgend-


wie anders, wu�te kein Mensch. Aber sicherlich wird das eines
Tages erforscht werden.

Hier also lebte Lukas der Lokomotivf�hrer mit seiner Loko-


motive. Die Lokomotive hie� Emma und war eine sehr gute,
wenn auch vielleicht etwas altmodische Tender-Lokomoti-
ve (* "Tender-Lokomotive" bedeutet, da� der Kohlentender
nicht extra angeh�ngt werden mu�te, sondern von vornherein
fest angebaut war und gleich dazu geh�rte *) Vor allem war
sie ein bi�chen dick.
Jetzt k�nnte nat�rlich leicht jemand fragen: Wozu ist denn in
einem so kleinen Land eine Lokomotive notwendig?

Nun, ein Lokomotivf�hrer braucht eben eine Lokomotive,


denn was sollte er sonst f�hren? Vielleicht einen Fahrstuhl?
Aber dann w�re er ein Fahrstuhlf�hrer. Und ein richtiger
Lokomotivf�hrer will Lokomotivf�hrer sein und sonst gar
nichts. Au�erdem gab es auf Lummerland auch gar keinen
Fahrstuhl.

Lukas der Lokomotivf�hrer war ein kleiner, etwas rundlicher


Mann, der sich nicht im geringsten darum k�mmerte, ob
jemand eine Lokomotive notwendig fand oder nicht. Er trug
eine Schirmm�tze und einen Arbeitsanzug. Seine Augen wa-
ren so blau wie der Himmel �ber Lummerland bei Sch�nwet-
ter. Aber sein Gesicht und seine H�nde waren fast ganz
schwarz von �l und Ru�. Und obwohl er sich jeden Tag mit
einer besonderen Lokomotivf�hrer-Seife wusch, ging der Ru�
doch nicht mehr ab. Er war ganz tief in die Haut eingedrungen,
weil Lukas sich eben seit vielen Jahren jeden Tag bei seiner
Arbeit wieder schwarz machen mu�te. Wenn er lachte - und
das tat er oft -, sah man in seinem Mund pr�chtige wei�e Z�hne
blitzen, mit denen er jede Nu� aufknacken konnte. Au�erdem
trug er im linken Ohrl�ppchen einen kleinen goldenen Ring
und rauchte aus einer dicken Stummelpfeife.

Obwohl Lukas nicht besonders gro� war, verf�gte er doch �ber


erstaunliche K�rperkr�fte. Zum Beispiel konnte er eine Eisen-
stange zu einer Schleife binden, wenn er wollte. Aber niemand
wu�te genau, wie stark er war, weil er Ruhe und Frieden liebte
und seine Kraft nie hatte beweisen m�ssen.
Nebenbei war er �brigens auch noch ein K�nstler. Und zwar im
Spucken. Er zielte so genau, da� er ein brennendes Streichholz
auf dreieinhalb Meter Entfernung ausl�schte. Aber das war
noch nicht alles. Er konnte noch etwas, und das machte ihm auf
der ganzen Welt so leicht keiner nach: Er konnte n�mlich einen
Looping spucken.
Jeden Tag fuhr Lukas viele Male �ber das geschl�ngelte Gleis
durch die f�nf Tunnels von einem Ende der Insel zum anderen
und wieder zur�ck, ohne da� sich jemals etwas Nennenswertes
ereignete. Emma schnaufte und pfiff vor Vergn�gen. Und
manchmal pfiff auch Lukas ein Liedchen vor sich hin, und dann
pfiffen sie zweistimmig, was sich sehr lustig anh�rte. Besonders
in den Tunnels, weil es da so sch�n hallte.

Au�er Lukas und Emma gab es auf Lummerland noch ein paar
Leute. Da war zum Beispiel der K�nig, der �ber das Land
regierte und in dem Schlo� zwischen den beiden Gipfeln
wohnte. Er hie� Alfons der Viertel-vor-Zw�lfte, weil er um
Viertel vor zw�lf geboren worden war. Er war ein ziemlich
guter Herrscher. Jedenfalls konnte niemand etwas Nachteili-
ges von ihm sagen, weil man eigentlich �berhaupt nichts von
ihm sagen konnte. Meistens sa� er mit seiner Krone auf dem
Kopf in einem Schlafrock aus rotem Samt und mit schottisch
karierten Pantoffeln an den F��en in seinem Schlo� und
telefonierte. Zu diesem Zweck hatte er ein gro�es, goldenes
Telefon.
K�nig Alfons der Viertel-vor-Zw�lfte hatte zwei Untertanen -
wenn man einmal von Lukas absieht, der eigentlich kein
Untertan war, sondern Lokomotivf�hrer.
Der eine Untertan war ein Mann namens Herr �rmel. Herr
�rmel ging meistens mit einem steifen Hut auf dem Kopf und
einem zusammengeklappten Regenschirm unter dem Arm
spazieren. Er wohnte in dem ganz gew�hnlichen Haus und
hatte keinen bestimmten Beruf. Er ging nur spazieren und war
eben da. Er war haupts�chlich Untertan und wurde regiert.
Manchmal klappte er den Schirm auch auf, meistens wenn es
regnete. Mehr ist von Herrn �rmel nicht zu erz�hlen.
Der andere Untertan war eine Frau, und zwar eine ganz
besonders nette. Sie war rund und dick, wenn auch nicht ganz
so dick wie Emma, die Lokomotive. Sie hatte rote Apfelb�ck-
chen und hie� Frau Waas, mit zwei 'a'. Wahrscheinlich war einer
ihrer Vorfahren mal schwerh�rig gewesen, und da hatten ihn
die Leute einfach so genannt, wie er immer gefragt hatte, wenn
er etwas nicht verstand. Und dabei war es dann geblieben.
Frau Waas wohnte in dem Haus mit dem Kaufladen, wo man
alles besorgen konnte, was man so braucht: Kaugummi, Zei-
tungen, Schuhb�nder, Milch, Schuheinlagen, Butter, Spinat,
Laubs�gen, Zucker, Salz, Taschenlampenbatterien, Bleistift-
spitzer, Portemonnaies in Form von kleinen Lederhosen,
Liebesperlen, Reiseandenken, Alleskleber - kurz: alles.
Reiseandenken wurden allerdings fast nie gekauft, weil keine
Reisenden nach Lummerland kamen. Nur Herr �rmel kaufte
hin und wieder eines, mehr aus Gef�lligkeit und weil es so billig
war, nicht weil er es wirklich brauchte. Au�erdem schwatzte er
gern ein bi�chen mit Frau Waas.
Ach, �brigens, um es nicht zu vergessen: Den K�nig konnte
man nur an Feiertagen sehen, weil er die meiste Zeit regieren
mu�te. Aber an Feiertagen trat er genau um Viertel vor zw�lf
ans Fenster und winkte freundlich mit der Hand. Dann jubel-
ten seine Untertanen und warfen ihre H�te in die Luft, und
Lukas lie� Emma fr�hlich pfeifen. Nachher gab es f�r alle
Vanilleeis und an besonders hohen Feiertagen Erdbeereis. Das
Eis bestellte der K�nig bei Frau Waas, die eine Meisterin im
Eismachen war.
Es war ein friedliches Leben auf Lummerland, bis eines Tages
- ja, und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte.

Zweites Kapitel,
in dem ein geheimnisvolles Paket ankommt

Eines sch�ne Tages legte das Postschiff am Strand von Lum-


merland an, und der Brieftr�ger sprang mit einem gro�en
Paket unter dem Arm an Land.
"Wohnt hier eine gewisse Frau Malzaan oder so �hnlich?"
fragte er und machte ein ganz dienstliches Gesicht, was er sonst
nie tat, wenn er die Post brachte.
Lukas schaute Emma an, Emma schaute die beiden Unterta-
nen an, die beiden Untertanen schauten einander an, und
sogar der K�nig schaute zum Fenster heraus, obwohl es weder
ein Feiertag noch Viertel vor zw�lf war.
"Lieber Herr Brieftr�ger", sagte der K�nig ein wenig vor-
wurfsvoll, "seit Jahren bringen Sie uns nun die Post. Sie
kennen mich und meine Untertanen genau, und da fragen Sie
pl�tzlich, ob hier eine Frau Malzaan oder so �hnlich wohnt!"
"Aber bitte, Majest�t", antwortete der Brieftr�ger, "lesen Sie
doch selbst, Majest�t!"
Und er stieg schnell den Berg hinauf und reichte dem K�nig das
Paket durchs Fenster hinein.
Folgende Adresse stand auf dem Paket:

[BILD illu04.jpg]

Der K�nig las die Adresse, dann zog er seine Brille hervor und
las die Adresse zum zweitenmal. Da sich aber dadurch nichts
�nderte, sch�ttelte er ratlos den Kopf und sprach zu seinen
Untertanen:
"F�rwahr, es ist mir einfach unerkl�rlich, aber hier steht es
schwarz auf wei�."
"Was denn?" fragte Lukas.
Der K�nig, der ganz verwirrt war, setzte von neuem seine
Brille auf und sagte:
"Also h�rt, meine Untertanen, wie die Adresse lautet!"
Und er las sie vor, so gut es eben ging.
"Eine kuriose Adresse!" meinte Herr �rmel, als der K�nig
fertig gelesen hatte.
"Ja", rief der Brieftr�ger entr�stet, "man kann sie kaum
entziffern, so viele Fehler sind darin. So etwas ist �u�erst
unangenehm f�r uns Postboten. Wenn man blo� w��te, wer
das geschrieben hat!"
Der K�nig drehte das Paket um und suchte nach dem Ab-
sender.
"Hier steht nur eine gro�e 13", sagte er und blickte ratlos den
Brieftr�ger und seine Untertanen an.
"Sehr sonderbar!" lie� sich wieder Herr �rmel vernehmen.
"Nun denn", sagte der K�nig entschlossen, "sonderbar oder
nicht, XUmmrLanT kann doch nur Lummerland hei�en! Es
bleibt uns also nichts anderes �brig, jemand von uns mu� Frau
Malzaan oder so �hnlich sein."
Und befriedigt nahm er seine Brille wieder ab und tupfte sich
mit seinem seidenen Taschentuch die Schwei�perlen von der
Stirn.
"Ja, aber" rief Frau Waas, "es gibt doch auf unserer ganzen
Insel keine dritte Etage."
"Das ist allerdings richtig", sagte der K�nig.
"Und eine alte Stra�e haben wir auch nicht", meinte Herr
�rmel.
"Auch das ist leider richtig", seufzte der K�nig bek�mmert.
"Und eine Nummer 133 haben wir schon gar nicht", f�gte
Lukas hinzu und schob seine Schirmm�tze ins Genick. "Ich
m��te das doch wissen, denn schlie�lich komme ich ja ziemlich
viel auf der Insel herum."
"Eigenartig!" murmelte der K�nig und sch�ttelte versonnen
den Kopf. Und alle Untertanen sch�ttelten die K�pfe und
murmelten: "Eigenartig!"
"Es k�nnte ja auch einfach ein Irrtum sein", meinte Lukas
nach einer Weile. Aber der K�nig antwortete:
"Vielleicht ist es ein Irrtum, vielleicht ist es aber auch kein
Irrtum. Wenn es kein Irrtum ist, dann habe ich ja noch einen
Untertan! Einen Untertan, von dem ich gar nichts wei�! Das ist
sehr, sehr aufregend!"
Und er lief an sein Telefon und telefonierte vor Aufregung drei
Stunden lang ohne Unterbrechung.
Inzwischen beschlossen die Untertanen und der Brieftr�ger,
die ganze Insel mit Lukas zusammen noch einmal gr�ndlich
abzusuchen. Sie stiegen auf die Lokomotive Emma und fuhren
los, und bei jeder Haltestelle pfiff Emma laut, die Passagiere
stiegen ab und riefen nach allen Richtungen:
"Frau Maaaaaalzaaaaan! Hier ist ein Pakeeeeet f�r Sie!"
Aber niemand meldete sich.
"Na gut", sagte der Brieftr�ger endlich, "ich habe jetzt keine
Zeit mehr weiterzusuchen, weil ich noch mehr Post austragen
mu�. Ich lasse Ihnen das Paket einfach mal da. Vielleicht
finden Sie Frau Malzaan oder so �hnlich doch noch. Ich
komme dann n�chste Woche wieder vorbei, und wenn sich
niemand gemeldet hat, nehme ich das Paket wieder mit."
Damit sprang er auf sein Postschiff und fuhr davon.
Was sollte nun mit dem Paket geschehen?
Die Untertanen und Lukas berieten lange hin und her. Dann
erschien der K�nig wieder am Fenster und sagte, er habe
inzwischen nachgedacht und telefoniert und sei zu folgendem
Entschlu� gelangt: Frau Malzaan oder so �hnlich sei ohne
Zweifel eine Frau. Die einzige Frau auf Lummerland aber sei,
soweit ihm bekannt w�re, Frau Waas. Also w�re das Paket
vielleicht f�r sie. Jedenfalls g�be er ihr hiermit die k�nigliche
Erlaubnis, das Paket zu �ffnen, dann w�rde man ja wohl bald
klarer sehen.
Die Untertanen fanden diese Anordnung des K�nigs weise,
und Frau Waas ging sofort ans Aufmachen.

Sie kn�pfte die Schnur auf und faltete das Packpapier ausein-
ander. Da wurde eine gro�e Schachtel sichtbar, die rundherum
Luftl�cher hatte wie eine Maik�ferschachtel. Frau Waas �ffne-
te die Schachtel und fand darin eine etwas kleinere Schachtel.
Die war ebenfalls mit Luftl�chern versehen und gut gepolstert
mit Stroh und Holzwolle. Offenbar war etwas Zerbrechliches
darin, vielleicht Glas oder ein Radio. Aber wozu dann die
Luftl�cher? Schnell hob Frau Waas den Deckel auf und fand
darin - wieder eine Schachtel mit Luftl�chern, die war unge-
f�hr so gro� wie ein Schuhkarton. Frau Waas �ffnete sie, und
da lag in der Schachtel - ein kleines schwarzes Baby! Es schaute
alle Umstehenden mit gro�en gl�nzenden Augen an und schien
ziemlich froh zu sein, da� es aus dem ungem�tlichen Karton
herauskam.
"Ein Baby!" riefen alle �berrascht, "ein schwarzes Baby!"
"Das d�rfte vermutlich ein kleiner Neger sein", bemerkte Herr
�rmel und machte ein sehr gescheites Gesicht.
"F�rwahr", sprach der K�nig und setzte seine Brille auf, "das
ist erstaunlich, sehr erstaunlich!"
Und er nahm seine Brille wieder ab.
Lukas hatte bis jetzt noch nichts gesagt, aber seine Miene hatte
sich zusehends verd�stert.
"So eine Gemeinheit ist mir in meinem ganzen Leben noch
nicht vorgekommen!" polterte er nun los. "So ein kleines
Kerlchen in einen Karton zu packen! Was da alles h�tte
passieren k�nnen, wenn wir nicht aufgemacht h�tten! Na,
wenn ich den Burschen, der das gemacht hat, jemals erwische,
der bekommt von mir eine Tracht Pr�gel, an die er sich sein
Lebtag erinnern wird, so wahr ich Lukas der Lokomotivf�hrer
bin!"
Als das Baby h�rte, wie Lukas vor sich hin grollte, begann es zu
weinen. Es war ja noch viel zu klein, um irgend etwas zu
verstehen, und glaubte, es w�rde ausgeschimpft. Au�erdem
war es auch erschrocken vor dem gro�en schwarzen Gesicht
von Lukas, denn es wu�te ja noch nicht, da� es selber auch ein
schwarzes Gesicht hatte.
Frau Waas nahm das Kind schnell auf den Arm und tr�stete es.
Und Lukas stand dabei und machte ein ganz bek�mmertes
Gesicht, weil er doch das Baby gar nicht hatte erschrecken
wollen.
Frau Waas war unbeschreiblich gl�cklich, denn sie hatte sich
schon immer ein Kind gew�nscht, f�r das sie abends kleine
Jacken und Hosen n�hen konnte. Sie schneiderte n�mlich f�r
ihr Leben gern. Und da� das Baby schwarz war, fand sie ganz
besonders nett, weil das zu rosa Stoff so h�bsch aussah, und
Rosa war ihre Lieblingsfarbe.
"Wie soll es denn hei�en?" fragte der K�nig pl�tzlich. "Das
Kind mu� doch einen Namen haben."
Das war richtig, also begannen alle, angestrengt zu �berlegen.
Endlich sagte Lukas:
"Ich w�rde es Jim nennen, denn es wird ein Junge werden."
Dann wandte er sich zu dem Baby und sagte mit einer ganz
vorsichtigen Stimme, um es nicht wieder zu erschrecken:
"Na, Jim, wollen wir Freunde sein?"
Da streckte das Baby seine kleine schwarze Hand mit den rosa
Handballen nach ihm aus, und Lukas ergriff sie behutsam mit
seiner gro�en schwarzen Hand und sagte:
"Hallo, Jim!"
Und Jim lachte.
Von diesem Tag an waren sie Freunde.

Eine Woche sp�ter kam der Brieftr�ger wieder. Frau Waas


ging zum Ufer und rief ihm schon von weitem zu, er solle ruhig
weiterfahren und gar nicht erst an Land kommen. Es sei alles in
bester Ordnung. Das Paket sei f�r sie gewesen. Der Name auf
der Adresse w�re nur so unleserlich geschrieben gewesen.
W�hrend sie das sagte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, weil
es ja geschwindelt war. Aber sie hatte so gro�e Angst, da� der
Brieftr�ger ihr das Kind wieder wegnehmen w�rde. Und sie
wollte Jim auf keinen Fall mehr hergeben, so gern hatte sie ihn
jetzt schon.
Der Postbote rief aber nur: "Na, dann ist ja alles gut. Guten
Morgen, Frau Waas!" und fuhr wieder davon.
Frau Waas atmete auf, lief schnell in ihr Haus mit dem
Kaufladen und tanzte mit Jim auf dem Arm in der Stube
herum. Aber auf einmal mu�te sie daran denken, da� Jim in
Wirklichkeit eben doch nicht ihr geh�rte und sie vielleicht
etwas ziemlich Schlimmes angestellt hatte. Und dieser Gedan-
ke machte sie sehr traurig.

Auch sp�ter, als Jim schon gr��er war, kam es zuweilen vor,
da� Frau Waas pl�tzlich ernst wurde, die H�nde in den Scho�
legte und Jim kummervoll ansah. Dann ging ihr durch den
Kopf, wer wohl die wirkliche Mutter von Jim sein mochte...
"Ich werde ihm wohl bald einmal die Wahrheit sagen m�ssen",
seufzte sie, wenn sie dem K�nig oder Herrn �rmel oder Lukas
ihr Herz aussch�ttete. Dann nickten die anderen meistens
ernst und fanden auch, da� sie es tun sollte. Aber Frau Waas
schob es immer wieder hinaus.
Freilich ahnte sie da noch nicht, da� der Tag nicht mehr fern
war, an dem Jim alles erfahren w�rde, allerdings nicht von
Frau Waas, sondern auf eine ganz andere und sehr seltsame
Art.
Nun hatte Lummerland also einen K�nig, einen Lokomotiv-
f�hrer, eine Lokomotive und zweiein viertel Untertanen, denn
Jim war nat�rlich vorl�ufig viel zu klein, um schon als ganzer
Untertan gerechnet zu werden.

Aber im Lauf der Jahre wuchs er heran und wurde ein richtiger
Junge, der Streiche machte, Herrn �rmel �rgerte und sich
nicht besonders gerne waschen mochte - eben wie alle kleinen
Buben. Das Waschen fand er besonders �berfl�ssig, weil er ja
sowieso schwarz war, und man gar nicht sehen konnte, ob sein
Hals sauber war oder nicht. Aber Frau Waas lie� das nicht
gelten, und Jim sah es schlie�lich auch ein.
Frau Waas war sehr stolz auf ihn, obgleich sie sich best�ndig
wegen irgend etwas Sorgen um ihn machte - eben wie alle
M�tter. Sie machte sich auch dann Sorgen, wenn eigentlich gar
kein Grund dazu da war. Oder nur ein ganz kleiner Grund, wie
zum Beispiel der, da� Jim die Zahnpasta lieber aufa�, statt sich
damit die Z�hne zu putzen. Er fand n�mlich, da� sie gut
schmeckte.
Andererseits machte Jim sich nat�rlich auch oft sehr n�tzlich.
Zum Beispiel bediente er im Kaufladen, wenn der K�nig oder
Lukas oder Herr �rmel etwas kaufen wollten und Frau Waas
gerade keine Zeit hatte.
Jims bester Freund war und blieb Lukas der Lokomotivf�hrer.
Sie verstanden sich ohne viele Worte, schon allein deshalb,
weil Lukas ja ebenfalls fast ganz schwarz war. Oft fuhr Jim auf
der Emma mit, und Lukas zeigte und erkl�rte ihm alles.
Manchmal durfte Jim unter Lukas' Aufsicht sogar schon ein
St�ck weit selbst fahren.
Jims gr��ter Wunsch war n�mlich, sp�ter auch Lokomotivf�h-
rer zu werden, weil dieser Beruf so gut zu seiner Haut pa�te.
Aber dazu brauchte er erst einmal eine eigene Lokomotive.

Und Lokomotiven sind bekanntlich ziemlich schwer zu bekom-


men, besonders in Lummerland.
So, jetzt wissen wir eigentlich alles Wichtige �ber Jim, und es
bleibt nur noch zu erz�hlen, wie er zu seinem Nachnamen kam.
Das war so:
Jim hatte immer ein Loch in seiner Hose und ausgerechnet
immer an genau der gleichen Stelle. Frau Waas hatte es schon
hundertmal geflickt, aber es war jedesmal nach ein paar
Stunden wieder da. Dabei gab Jim sich wirklich die allergr��te
M�he, vorsichtig zu sein. Aber wenn er nur rasch einmal auf
einen Baum klettern mu�te oder von dem hohen Gipfel
herunterrutschte - ratsch -, schon war das Loch wieder da.
Schlie�lich fand Frau Waas die L�sung, indem sie einfach die
R�nder des Loches eins�umte und einen gro�en Knopf zum
Zukn�pfen drann�hte. Jetzt konnte man das Loch, statt es zu
rei�en, einfach aufkn�pfen, dann war es da. Und statt es zu
flicken, brauchte man es nur wieder zuzukn�pfen.
Von diesem Tag an wurde Jim von allen Leuten auf der Insel
nur noch Jim Knopf genannt.

Drittes Kapitel,
in dem beinahe ein trauriger Entschlu� gefa�t wird, mit dem
Jim nicht einverstanden ist.
Die Jahre vergingen, und Jim Knopf war nun schon fast ein
halber Untertan. In einem anderen Land h�tte er sicher bereits
auf einer Schulbank sitzen m�ssen, um lesen, schreiben und
rechnen zu lernen, aber in Lummerland gab es keine Schule.
Und weil es keine Schule gab, fiel es einfach niemand ein, da�
der Junge alt genug war, um lesen, schreiben und rechnen zu
lernen. Jim selbst machte sich nat�rlich dar�ber keine Gedan-
ken und lebte fr�hlich in den Tag hinein.
Jeden Monat einmal wurde er von Frau Waas gemessen. Er
mu�te sich barfu� an den T�rpfosten der kleinen K�che
stellen, und Frau Waas kontrollierte mit einem Buch, das sie
ihm auf den Kopf legte, wieviel er wieder gewachsen war.
Dann machte sie einen Bleistiftstrich an den T�rpfosten, und
jedesmal war der Strich ein kleines St�ckchen h�her.
Frau Waas freute sich sehr �ber Jims Gr��erwerden. Aber
jemand andrer machte sich schwere Sorgen dar�ber: der
K�nig, der das Land regieren mu�te und der die Verantwor-
tung f�r das Wohl seiner Untertanen trug.
Eines Abends rief er Lukas den Lokomotivf�hrer zu sich in
seinen Palast zwischen den beiden Gipfeln. Lukas trat ein,
nahm seine M�tze ab und seine Pfeife aus dem Mund und sagte
h�flich:
"Guten Abend, Herr K�nig!"
"Guten Abend, mein lieber Lukas der Lokomotivf�hrer",
erwiderte der K�nig, der neben seinem goldenen Telefon sa�,
und wies mit der Hand auf einen leeren Stuhl, "bitte, nimm
doch Platz!"
Lukas setzte sich hin.
"Nun denn", begann der K�nig und r�usperte sich ein paarmal,
"f�rwahr, lieber Lukas, ich wei� nicht recht, wie ich es dir
sagen soll. Aber ich hoffe, da� du es trotzdem verstehen
wirst."
Lukas antwortete nichts. Das bedr�ckte Aussehen des K�nigs
hatte ihn stutzig gemacht.
Der K�nig r�usperte sich noch einmal, blickte Lukas mit
ratlosen und bek�mmerten Augen an und begann von
neuem:
"Du warst doch immer ein verst�ndiger Mann, Lukas."
"Worum dreht sich's denn?" fragte Lukas vorsichtig.
Der K�nig nahm seine Krone ab, hauchte darauf und putzte sie
mit dem �rmel seines Schlafrockes blank. Er tat das, um Zeit
zu gewinnen, denn er war sichtlich verwirrt. Dann setzte er die
Krone mit einem entschlossenen Ruck wieder auf seinen Kopf,
r�usperte sich noch einmal und sagte:
"Mein lieber Lukas, ich habe lange nachgedacht, aber endlich
bin ich zu dem Ergebnis gekommen, da� es nicht anders geht.
Wir m�ssen es tun."
"Was m�ssen wir tun, Majest�t?" fragte Lukas.
"Habe ich das nicht eben gesagt?" murmelte der K�nig ent-
t�uscht. "Ich dachte schon, ich h�tte es eben gesagt."
"Nein", antwortete Lukas, "Sie haben nur gesagt, da� wir
etwas tun m�ssen."
Der K�nig blickte versonnen vor sich hin. Nach einer Weile
sch�ttelte er verwundert den Kopf und sagte:
"Seltsam, ich h�tte wetten k�nnen, da� ich eben gesagt habe,
wir m��ten die alte Emma abschaffen."
Lukas dachte, er h�tte nicht recht geh�rt, darum fragte er:
"Was m�ssen wir Emma?"
"Abschaffen", antwortete der K�nig und nickte ernst. "Es
mu� nat�rlich nicht sofort sein, aber doch so bald wie m�glich.
Ich wei� wohl, es ist f�r uns alle ein schwerer Entschlu�, uns
von Emma zu trennen. Aber wir m�ssen es tun."
"Niemals, Majest�t!" sagte Lukas entschlossen. "Und au�er-
dem: wieso �berhaupt?"
"Sieh mal", meinte der K�nig beg�tigend, "Lummerland ist
ein kleines Land; ein ganz au�erordentlich kleines Land sogar
im Vergleich zu anderen L�ndern wie Deutschland oder Afrika
oder China. F�r einen K�nig, eine Lokomotive, einen Loko-
motivf�hrer und zwei Untertanen reicht es gerade. Aber wenn
nun noch ein Untertan dazukommt..."
"Es ist aber doch nur ein halber!" warf Lukas ein.
"O gewi�, gewi�", gab der K�nig kummervoll zu, "aber wie
lange noch? Er wird von Tag zu Tag gr��er. Ich mu� an die
Zukunft unseres Landes denken, daf�r bin ich der K�nig. Es
wird gar nicht mehr lange dauern, dann ist Jim Knopf ein
ganzer Untertan. Und dann will er sich doch ein eigenes Haus
bauen. Nun sage mir bitte, wo sollen wir noch ein Haus
hinstellen? Es ist doch �berhaupt kein Platz mehr da, weil jede
freie Stelle voller Gleise ist. Wir m�ssen uns einschr�nken. Es
hilft nichts."
"Verflixt!" brummte Lukas und kratzte sich hinter dem Ohr.
"Siehst du", fuhr der K�nig eifrig fort, "unser Land leidet jetzt
einfach an �berbev�lkerung. Fast alle L�nder der Welt leiden
daran, aber Lummerland besonders. Ich mache mir schreckli-
che Sorgen. Was sollen wir tun?"
"Ja, ich wei� es auch nicht", sagte Lukas.
"Entweder m�ssen wir Emma, die Lokomotive, abschaffen,
oder einer von uns mu� auswandern, sobald Jim Knopf ein
ganzer Untertan ist. Du bist doch Jims Freund, lieber Lukas.
Willst du, da� der Junge von Lummerland weggehen mu�,
sobald er gro� geworden ist?"
"Nein", sagte Lukas traurig, "das sehe ich schon ein."
Und nach einer kleinen Weile f�gte er hinzu: "Aber von Emma
kann ich mich auch nicht trennen. Was ist denn ein Lokomotiv-
f�hrer ohne eine Lokomotive?"
"Nun denn", meinte der K�nig, "denke einmal dar�ber nach.
Ich wei�, da� du ein vern�nftiger Mann bist. Du hast ja noch
etwas Zeit, dich zu entscheiden. Aber ein Entschlu� mu�
gefa�t werden."
Und er gab Lukas die Hand, zum Zeichen, da� die Audienz
beendet war.
Lukas erhob sich, setzte seine M�tze auf und verlie� mit
gesenktem Kopf den Palast. Der K�nig sank seufzend in seinen
Sessel zur�ck und wischte sich mit seinem seidenen Taschen-
tuch den Schwei� von der Stirn. Das Gespr�ch hatte ihn sehr
angegriffen.

Lukas ging langsam zu seiner kleinen Station hinunter, wo


Emma, die Lokomotive, stand und auf ihn wartete. Er klopfte
ihr den dicken Leib und gab ihr etwas �l, weil sie das besonders
gerne mochte. Dann setzte er sich an die Landesgrenze und
st�tzte den Kopf in die H�nde. Es war einer von den Abenden,
an denen das Meer glatt und still dalag. Die untergehende
Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem
Licht eine goldene glitzernde Stra�e vom Horizont bis vor die
F��e des Lokomotivf�hrers Lukas.
Lukas schaute auf diese Stra�e, die in weite Fernen f�hrte, in
unbekannte L�nder und Erdteile, niemand konnte sagen,
wohin. Er sah zu, wie die Sonne langsam unterging und wie die
Stra�e aus Licht immer schmaler und schmaler wurde und
zuletzt verschwunden war.
Er nickte traurig und sagte leise: "Gut. Wir werden gehen. Alle
beide."
Ein leichter Wind wehte vom Meer her�ber, und es wurde ein
wenig k�hl. Lukas erhob sich, ging zu Emma und betrachtete
sie lange. Emma merkte wohl, da� irgend etwas geschehen
war. Lokomotiven haben zwar keinen gro�en Verstand -
deshalb brauchen sie ja auch immer einen F�hrer -, aber sie
haben ein sehr empfindbares Gem�t. Und als Lukas nun leise
und traurig "Meine gute alte Emma!" murmelte, da wurde ihr
so weh zumut, da� sie aufh�rte zu schnaufen und den Atem
anhielt.
"Emma", sagte Lukas leise und mit einer ganz unbekannten
Stimme, "ich kann mich nicht von dir trennen. Nein, wir beide
bleiben zusammen. Wo es auch immer sein mag, auf der Erde
oder im Himmel - falls wir da �berhaupt hinkommen."
Emma begriff zwar nichts von dem, was Lukas sagte. Aber sie
hatte ihn sehr lieb, und sie konnte es einfach nicht aushalten,
ihn so traurig zu sehen. Sie fing herzzerbrechend zu heulen
an.
Lukas gelang es nur m�hsam, sie zu beruhigen. "Es ist wegen
Jim Knopf, verstehst du?" sagte er beg�tigend. "Er wird bald
ein ganzer Untertan sein, und dann ist hier f�r einen von uns
kein Platz mehr. Und weil ein Untertan f�r ein Land wichtiger
ist als eine dicke alte Lokomotive, hat der K�nig entschieden,
da� du weg mu�t. Aber wenn du weg mu�t, dann gehe ich mit,
das ist doch klar. Was soll ich denn ohne dich anfangen?"

Emma holte tief Luft und wollte eben wieder losheulen, als
pl�tzlich eine helle Stimme fragte:
"Was is' los?"
Es war Jim Knopf, der auf Lukas gewartet hatte und dabei
schlie�lich im Kohlentender eingeschlafen war. Als Lukas
angefangen hatte, mit Emma zu reden, war er aufgewacht und
hatte, ohne es zu wollen, alles mit angeh�rt.
"Hallo, Jim!" rief Lukas �berrascht. "Das war eigentlich nicht
f�r dich bestimmt. Aber meinetwegen, warum sollst du's nicht
wissen? Ja, Emma und ich, wir beide gehen weg. F�r immer.
Es mu� wohl sein."
"Wegen mir?" fragte Jim erschrocken.
"Wenn man es bei Licht betrachtet", sagte Lukas, "dann hat
der K�nig nicht so unrecht. Lummerland ist einfach zu klein f�r
uns alle."
"Und wann wollt ihr fort?" stammelte Jim.
"Am besten ist es, den Abschied nicht lange hinauszuziehen,
wenn es schon einmal sein mu�", antwortete Lukas ernst. "Ich
denke, wir fahren gleich heute nacht."
Jim �berlegte eine Weile. Dann sagte er pl�tzlich ent-
schlossen:
"Ich fahr'mit."
"Aber Jim!" rief Lukas. "Das geht auf gar keinen Fall. Was
w�rde Frau Waas dazu sagen? Sie w�rde es niemals er-
lauben."
"Am besten fragen wir sie erst gar nicht", entgegnete Jim
bestimmt. "Ich werd' ihr einen Brief auf den K�chentisch
legen, in dem ich ihr alles erkl�re. Wenn sie wei�, da� ich mit
dir gefahren bin, dann wird sie sich schon keine zu gro�en
Sorgen machen."
"Das glaub' ich aber doch", sagte Lukas und machte ein
bedenkliches Gesicht. "Au�erdem kannst du doch gar nicht
schreiben."
"Ich werd' eben einen Brief zeichnen", erkl�rte Jim.
Aber Lukas sch�ttelte ernst den Kopf. "Nein, mein Junge, ich
kann dich nicht mitnehmen. Es ist sehr nett von dir, und ich
w�rde es auch gerne tun. Aber es geht nicht. Du bist schlie�lich
noch ein ziemlich kleiner Junge, und du w�rdest uns nur..."
Er hielt inne, weil Jim ihm pl�tzlich sein Gesicht zuwandte,
und dieses Gesicht war sehr entschlossen und sehr ungl�ck-
lich.
"Lukas", sagte Jim leise, "warum redest du solche Sachen? Du
w�rdest schon sehen, wie gut ihr mich gebrauchen k�nntet."
"Na ja", antwortete Lukas ein wenig verlegen, "nat�rlich, du
bist ja ein brauchbarer kleiner Bursche, und in manchen Lagen
ist es sogar von Vorteil, wenn man klein ist. Das ist schon
richtig ..."
Er z�ndete seine Pfeife an und paffte eine Weile schweigend
vor sich hin. Er war schon nahe daran, zuzustimmen; aber er
wollte den Jungen pr�fen. Darum begann er wieder:
"Denk doch mal nach, Jim! Emma soll ja gerade weg, damit du
in Zukunft gen�gend Platz hast. Wenn du jetzt gehst, dann
k�nnte Emma ja ruhig bleiben. Und ich auch."
"Nein", sagte Jim mit trotzigem Gesicht, "ich werde doch
meinen besten Freund nicht verlassen. Entweder wir bleiben
alle drei hier, oder wir gehen alle drei weg. Hier bleiben
k�nnen wir nicht. Dann gehn wir eben - alle drei."
Lukas l�chelte.
"Das ist wirklich nett von dir, alter Jim", sagte er und legte
seinem Freund die Hand auf die Schulter. "Ich f�rchte nur, das
wird dem K�nig gar nicht recht sein. So hat er sich das sicher
nicht vorgestellt."
"Das is' mir gleich", erkl�rte Jim. "Ich fahr' jedenfalls mit
dir."
Lukas �berlegte wieder eine ganze Weile und h�llte sich in den
Rauch seiner Pfeife. Das tat er immer, wenn er ger�hrt war. Er
wollte nicht, da� jemand es sehen sollte, aber Jim kannte
ihn.
"Gut!" kam schlie�lich Lukas' Stimme aus der Rauchwolke.
"Ich erwarte dich also um Mitternacht hier."
"In Ordnung", antwortete Jim.
Sie gaben sich die Hand, und Jim war schon im Weggehen, als
Lukas ihn noch einmal zur�ckrief.
"Jim Knopf", sagte Lukas, und es klang beinahe feierlich, "du
bist wirklich der feinste kleine Kerl, den ich in meinem Leben
gesehen habe."
Damit drehte er sich um und ging schnell davon. Jim schaute
ihm gedankenvoll nach, dann lief auch er nach Hause. Lukas'
Worte klangen noch in seinem Ohr, und zugleich mu�te er an
Frau Waas denken, die immer so gut und lieb zu ihm gewesen
war.
Und ihm war ganz gl�cklich und elend zugleich zumut.

Viertes Kapitel,
in welchem ein h�chst sonderbares Schiff in See sticht und
Lukas erkennt, da� er sich auf Jim Knopf verlassen kann

Das Abendessen war vor�ber. Jim g�hnte, als sei er schrecklich


m�de, und sagte, er wolle gleich ins Bett gehen. Dar�ber war
Frau Waas einigerma�en erstaunt. F�r gew�hnlich hatte sie
n�mlich ziemliche M�he, Jim zum Schlafengehen zu �berre-
den, aber sie dachte, er w�rde vielleicht langsam vern�nftig.
Als er schon im Bett war, kam sie noch einmal zu ihm, wie
jeden Abend, deckte ihn gut zu, gab ihm einen Gute-Nacht-
Ku� und verlie� seine Kammer, nachdem sie das Licht gel�scht
hatte. Dann ging sie in die K�che zur�ck, um noch eine Weile
an einem neuen Pullover f�r den Jungen zu stricken.
Jim lag in seinem Bett und wartete. Der Mond schien zum
Fenster hinein. Es war sehr still. Nur das Meer rauschte
friedlich an den Landesgrenzen, und ab und zu war von der
K�che her�ber leise das Klappern der Stricknadeln zu
h�ren.
Jim mu�te pl�tzlich daran denken, da� er den Pullover, an dem
Frau Waas da arbeitete, niemals tragen w�rde, und was sie
wohl t�te, wenn sie das w��te ...
Und als er das �berlegt hatte, wurde es ihm so furchtbar
wehm�tig ums Herz, da� er am liebsten geweint h�tte oder in
die K�che gelaufen w�re, um Frau Waas alles zu erz�hlen.
Doch dann dachte er wieder an die Worte, die Lukas ihm zum
Abschied gesagt hatte, und da wu�te er, da� er schweigen
mu�te. Aber es war schwer, beinahe zu schwer f�r jemand, der
erst ein halber Untertan war.
Und dazu kam noch etwas, womit Jim nicht gerechnet hatte:
die M�digkeit. Er war noch nie so lange aufgeblieben, und nun
konnte er die Augen kaum offenhalten. Wenn er wenigstens
hin und her gehen oder irgend etwas h�tte spielen k�nnen!
Aber da lag er im warmen Bett, und dauernd fielen ihm die
Augen zu.
Er mu�te sich immerzu vorstellen, wie wundervoll es w�re,
wenn er jetzt einfach einschlafen d�rfte. Er rieb sich die Augen
und kniff sich in die Arme, um wach zu bleiben. Er k�mpfte
gegen den Schlaf. Aber pl�tzlich war er doch eingeschlum-
mert.
Ihm war, als st�nde er an der Landesgrenze, und weit drau�en
auf dem n�chtlichen Meer fuhr die Lokomotive Emma. Sie
rollte �ber die Wellen, als ob Wasser etwas Festes w�re. Und
im F�hrerhaus, vom Feuerschein beleuchtet, sah Jim seinen
Freund Lukas, der mit einem gro�en roten Taschentuch
winkte und rief:
"Warum bist du nicht gekommen? - Leb wohl, Jim! - Leb
wohl, Jim! - Leb wohl, Jim!"
Seine Stimme klang fremd und hallte durch die Nacht. Und
jetzt fing es pl�tzlich zu blitzen und zu donnern an, und ein
peitschender, eiskalter Wind wehte vom Meer her. Und im
Sausen des Windes ert�nte noch einmal Lukas' Stimme:
"Warum bist du nicht gekommen? - Leb wohl! - Leb wohl,
Jim!"
Die Lokomotive wurde immer kleiner und kleiner. Noch ein
letztes Mal war sie im grellen Schein eines Blitzes sichtbar,
dann verschwand sie fern am dunklen Horizont.
Jim bem�hte sich verzweifelt, �ber das Wasser hinterherzulau-
fen, aber seine Beine waren am Boden wie festgewachsen. Und
von der Anstrengung, sie loszurei�en, erwachte er und fuhr
erschrocken in die H�he.
Die Kammer war hell vom Mond erleuchtet. Wie sp�t mochte
es sein? War Frau Waas schon schlafen gegangen? War
Mitternacht am Ende schon vor�ber und der Traum Wirklich-
keit?
In diesem Augenblick schlug die Turmuhr auf dem k�niglichen
Palast zw�lf mal.
Jim fuhr aus dem Bett, schl�pfte in seine Kleider und wollte aus
dem Fenster klettern - da fiel ihm der Brief ein. Den Brief an
Frau Waas mu�te er unbedingt noch zeichnen, sonst w�rde sie
sich schrecklichen Kummer machen. Und das sollte sie doch
nicht. Mit zitternden H�nden ri� Jim ein Blatt aus seinem Heft
und malte folgendes darauf:

[BILD illu06.jpg]

Das hie�: Ich bin mit Lukas dem Lokomotivf�hrer auf Emma
weggefahren.
Und dann zeichnete er noch schnell darunter:

Das hie�: Mach dir keinen Kummer, sondern sei unbesorgt.


Und zuletzt zeichnete er noch ganz schnell dies hier:

Das sollte hei�en: Es k��t dich dein Jim.


Dann legte er das Blatt auf sein Kopfkissen und stieg schnell
und leise zum Fenster hinaus.

Als er am verabredeten Ort ankam, war Emma, die Lokomoti-


ve, nicht mehr da. Auch Lukas war nirgends zu erblicken.
Schnell lief Jim zur Landesgrenze hinunter. Da sah er Emma,
die bereits im Wasser schwamm. Rittlings auf ihr sa� Lukas der
Lokomotivf�hrer. Er hi�te gerade ein Segel, dessen Mast er
am F�hrerh�uschen befestigt hatte.
"Lukas!" rief Jim atemlos, "warte doch, Lukas! Ich bin doch
da!"
Lukas drehte sich erstaunt um, und ein freudiges L�cheln glitt
�ber sein breites Gesicht.
"Wei� Gott!" sagte er, "das ist Jim Knopf. Ich dachte schon, du
wolltest lieber nicht mitkommen. Es hat schon vor einer
ganzen Weile zw�lf geschlagen."
"Ich wei� schon", antwortete Jim. Er watete hin�ber, ergriff
Lukas' Hand und schwang sich auf Emma hinauf. "Ich hatte
n�mlich den Brief vergessen, verstehst du? Darum mu�te ich
nochmal zur�ck."
"Und ich f�rchtete schon, du h�ttest verschlafen", sagte Lukas
und stie� dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife.
"Ich hab' �berhaupt nicht geschlafen!" beteuerte Jim. Das war
ja zwar gelogen, aber er wollte vor seinem Freund nicht gern
unzuverl�ssig erscheinen.
"W�rst du wirklich einfach ohne mich abgefahren?"
"Na ja", meinte Lukas, "eine Weile h�tte ich nat�rlich schon
noch gewartet, aber dann ... Ich konnte ja nicht wissen, ob du
dir's inzwischen nicht anders �berlegt hast. W�re ja m�glich
gewesen, nicht wahr?"
"Aber wir hatten's doch abgemacht!" sagte Jim vorwurfs-
voll.
"Ja", gab Lukas zu. "Bin ja auch m�chtig froh, da� du dich an
unsere Abmachung gehalten hast. Jetzt wei� ich, da� ich mich
auf dich verlassen kann. �brigens, wie gef�llt dir unser
Schiff?"
"Famos!" sagte Jim. "Ich dachte immer, Lokomotiven gingen
im Wasser unter?"
Lukas schmunzelte.
"Nicht, wenn man vorher das Wasser aus dem Kessel heraus-
l��t, den Kohlentender leer macht und die T�ren kalfatert",
erkl�rte er und paffte kleine W�lkchen. "Das ist ein Trick, den
nicht jeder kennt."
"Was mu� man die T�ren?" erkundigte sich Jim, der das Wort
noch nie geh�rt hatte.
"Kalfatern", wiederholte Lukas. "Das bedeutet, man mu� alle
Ritzen gr�ndlich mit Werg und Teer abdichten, damit kein
Tropfen Wasser durchsickert. Das ist sehr wichtig, weil durch
das wasserdichte F�hrerh�uschen, den hohlen Kessel und den
leeren Tender Emma nicht untergehen kann. Au�erdem ha-
ben wir dadurch eine h�bsche kleine Kaj�te, falls es mal
regnen sollte."
"Aber wie kommen wir denn hinein?" wollte Jim wissen.
"Wenn doch die T�ren so fest zu sein m�ssen?"
"Wir k�nnen durch den Tender hinunterkriechen", sagte
Lukas. "Du siehst, wenn man nur wei�, wie's gemacht wird,
dann schwimmt sogar eine Lokomotive wie eine Ente."
"Ach!" sagt Jim bewundernd. "Aber sie ist doch ganz aus
Eisen?"
"Macht nichts", antwortete Lukas und spuckte vergn�gt einen
Looping ins Wasser. "Es gibt Schiffe, die auch ganz aus Eisen
sind. Ein leerer Kanister zum Beispiel ist auch aus Eisen und
geht trotzdem nicht unter, solange kein Wasser 'reinl�uft."
"Aha!" sagte Jim, als h�tte er begriffen. Er fand, da� Lukas ein
sehr kluger Mann war. Mit so einem Freund konnte eigentlich
nicht viel schiefgehen.
Er war jetzt sehr froh, da� er sein Versprechen gehalten
hatte.
"Wenn du nichts dagegen hast", sagte Lukas, "dann fahren wir
jetzt ab."
"In Ordnung", antwortete Jim.
Sie warfen das Tau los, mit dem Emma am Ufer festgemacht
war. Der Wind bauschte das Segel. Der Mast �chzte leise, und
das seltsame Schiff setzte sich in Bewegung.
Kein Laut war zu h�ren au�er dem Summen des Windes und
dem Pl�tschern der kleinen Wellen am Bug der Emma.
Lukas hatte seinen Arm um Jims Schulter gelegt, und beide
schauten schweigend zu, wie Lummerland mit dem Haus von
Frau Waas und dem Haus von Herrn �rmel, mit der kleinen
Bahnstation und dem Schlo� des K�nigs zwischen den beiden
ungleichen Gipfeln immer weiter zur�ckblieb, still und mond-
beschienen.
�ber Jims schwarze Backe rollte eine dicke Tr�ne.
"Traurig?" fragte Lukas leise. Auch in seinen Augen blinkte es
verd�chtig. - Jim zog den Inhalt seiner Nase ger�uschvoll hoch,
fuhr sich mit dem Handr�cken �ber die Augen und l�chelte
tapfer.
"Is' schon vorbei."
Am besten, wir schauen nicht l�nger zur�ck", meinte Lukas
und gab Jim einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
Sie drehten sich um, so da� sie nun nach vorne blickten.
"So!" sagte Lukas, "jetzt stopf ich mir erst mal eine neue
Pfeife, und dann wollen wir uns ein bi�chen unterhalten."
Er stopfte sich seine Pfeife, z�ndete sie an, stie� ein paar
Rauchkringel aus, und dann fingen sie an, sich zu unterhalten.
Und nach kurzer Zeit waren sie beide wieder ganz vergn�gt
und lachten.
So segelten sie hinaus auf das mondbegl�nzte Meer.

F�nftes Kapitel
in dem die Seereise beendet wird und Jim durchsichtige
B�ume sieht

Die Reise verlief ohne besondere Zwischenf�lle. Zum Gl�ck


blieb das Wetter weiterhin freundlich. Eine leichte, anhaltende
Brise schwellte Tag und Nacht das Segel und lie� die Emma gut
vorw�rts kommen.
"Ich m�cht' nur wissen", meinte Jim manchmal nachdenklich,
"wo wir eigentlich hinfahren."
"Keine Ahnung", erwiderte Lukas dann zuversichtlich. "Wir
werden uns einfach �berraschen lassen."
Einige Tage lang wurden sie von einem Schw�rm fliegender
Fische begleitet, die den beiden Freunden viel Vergn�gen
bereiteten. Fliegende Fische sind n�mlich sehr fr�hliche Leute.
Sie schwirrten um Jims Kopf und spielten Haschen mit ihm. Er
erwischte allerdings nie einen, weil sie unglaublich flink waren,
aber vor Eifer plumpste er ein paarmal ins Wasser. Zum Gl�ck
konnte er gut schwimmen, das hatte er am Strand von Lum-
merland schon gelernt, als er noch ganz klein war. Wenn Lukas
ihn dann herauszog und er tropfna� auf dem Dach des F�hrer-
h�uschens stand, streckten alle fliegenden Fische ihre K�pfe
aus dem Wasser und sperrten die M�nder weit auf, als ob sie
lachten. H�ren konnte man nat�rlich nichts, weil Fische
bekanntlich stumm sind.
Wenn die Reisenden hungrig waren, dann fischten sie sich
einfach ein paar Meerbirnen oder Seegurken von den hohen
Korallenb�umen. Diese B�ume wachsen n�mlich oft so hoch,
da� sie vom Meeresgrund bis hinauf an die Wasseroberfl�che
reichen. Die Meeresfr�chte waren nahrhaft und vitaminreich
und au�erdem so saftig, da� die beiden Freunde niemals Durst
zu leiden brauchten. (Das Meerwasser kann man ja nicht
trinken, weil es ganz salzig schmeckt.)
Tags�ber erz�hlten sie sich gegenseitig Geschichten, oder sie
pfiffen Lieder oder spielten Mensch-�rgere-dich-nicht. Eine
Schachtel mit Gesellschaftsspielen hatte Lukas n�mlich vor-
sichtshalber mitgenommen, weil er schon damit gerechnet
hatte, da� es eine ziemlich lange Fahrt werden w�rde.
Nachts, wenn sie schlafen wollten, �ffneten sie den Deckel des
Tenders, der sonst immer geschlossen blieb, damit kein Wasser
hineinspritzte, und schl�pften durch das Kohlen-Nachschub-
Loch in das F�hrerh�uschen hinunter. Von innen zog Lukas
den Tenderdeckel wieder sorgf�ltig zu. Dann wickelten sie sich
in warme Decken und machten es sich bequem. Nat�rlich war
es ziemlich eng in der Kaj�te, aber auch sehr gem�tlich,
besonders wenn das Wasser von au�en gegen die kalfaterten
T�ren gluckste und Emma wie eine gro�e Wiege auf und
nieder schaukelte.

Eines Morgens - genauer gesagt am dritten Tag der vierten


Woche ihrer Reise - wachte Jim sehr fr�h auf. Ihm war so, als
habe er einen deutlichen Ruck gesp�rt.
"Was is' denn das?" dachte er. "Und warum schaukelt Emma
nicht mehr, sondern steht ganz ruhig?"
Da Lukas noch fest schlief, beschlo� Jim, selbst nachzusehen.
Vorsichtig, um seinen Freund nicht zu wecken, stand er auf,
stellte sich auf die Zehen und guckte durch eines der Fenster
hinaus.
In der rosigen Morgend�mmerung erblickte er eine Landschaft
von wundervoller Sch�nheit und Zartheit. Etwas �hnlich Herr-
liches hatte er noch nie gesehen. Nicht einmal auf Abbil-
dungen.
"Nein", sagte er sich nach einer Weile, "das is' wahrscheinlich
gar nicht Wirklichkeit. Bestimmt tr�um' ich nur, da� ich hier
steh' und das alles seh'."
Und rasch legte er sich wieder hin und machte die Augen zu,
um weiterzutr�umen. Aber mit geschlossenen Augen sah er
gar nichts mehr. Also konnte es wohl doch kein Traum sein. Er
stand noch einmal auf und guckte hinaus, und da war die
Landschaft wieder.
Wunderbare B�ume und Blumen in den seltsamsten Farben
und Formen gab es da drau�en, aber sonderbarerweise schie-
nen sie alle durchsichtig zu sein, durchsichtig wie buntes Glas.
Vor dem Fenster, durch das Jim hinausblickte, stand ein sehr
dicker, sehr alter Baum, so m�chtig, da� drei M�nner seinen
Stamm nicht h�tten umspannen k�nnen. Aber man konnte
alles, was dahinter lag, durch ihn hindurchsehen, wie durch ein
Aquarium. Der Baum war von zartvioletter Farbe, und des-
halb sah alles dahinter zartviolett aus.
Duftige Nebelschleier schwebten �ber den Wiesen, und da und
dort schl�ngelten sich Fl�sse, �ber die sich zierliche, schmale
Br�cken aus Porzellan schwangen. Manche dieser Br�cken
hatten seltsame D�cher, daran hingen Tausende von kleinen
Glocken aus Silber, die im Morgenlicht glitzerten. An vielen
B�umen und Blumen hingen ebenfalls silberne Gl�ckchen,
und wenn ein leichter Wind �ber das Land strich, dann erscholl
bald hier, bald dort ein ganz �berirdisch feines, vielstimmiges
Klingen.
Gro�e Schmetterlinge mit schimmernden Fl�geln schwebten
zwischen den Bl�ten hin und her, und winzige V�gelchen mit
langen gebogenen Schn�beln saugten Honig und Tautropfen
aus den Kelchen. Diese V�gel waren nicht gr��er als Hum-
meln. (Man nennt sie Kolibris. Sie sind die kleinsten V�gel, die
es �berhaupt auf der Welt gibt, und sie sehen aus, als w�ren sie
aus purem Gold und Edelsteinen.)
Ganz in der Ferne, am Horizont, erhob ein gewaltiges Gebirge
seine Gipfel hoch in die Wolken. Es war rot und wei�
gemustert. Aus dieser Entfernung sah es aus wie eine wunder-
sch�ne Zierleiste aus dem Schulheft eines Riesenkindes.
Jim schaute und schaute, und vor lauter Staunen verga� er, den
Mund zuzumachen.
"Na", h�rte er pl�tzlich Lukas sagen, "du machst ja nicht
gerade ein sehr geistreiches Gesicht, alter Junge. �brigens,
guten Morgen, Jim!"
Und er g�hnte herzhaft.
"Oh, Lukas!" stammelte Jim, ohne den Blick von der Land-
schaft zu wenden. "Da drau�en.. .wie das alles durchsichtig is'
und ... und ... und ..."
"Wieso durchsichtig?" fragte Lukas und g�hnte noch einmal.
"Wasser ist, soviel ich wei�, immer durchsichtig. Mir wird das
viele Wasser allm�hlich ein bi�chen langweilig. M�chte wis-
sen, wann wir endlich irgendwo ankommen."
"Wieso denn Wasser?" Jim schrie beinahe vor Aufregung. "Ich
mein' doch die B�ume!"
"B�ume?" fragte Lukas und streckte sich, da� es knackte. "Du
tr�umst wohl noch, Jim. Auf dem Meer wachsen keine B�ume,
und schon gar keine, die durchsichtig sind."
"Doch nicht auf dem Meer!" rief Jim. Er wurde langsam
ungeduldig. "Da drau�en is' Land und B�ume und Blumen
und Br�cken und Berge ..."
Er fa�te Lukas an der Hand und versuchte aufgeregt, ihn
hochzuziehen.
"Na, na, na!" brummte Lukas, w�hrend er aufstand. Und dann
schaute er durch das Fenster hinaus und sah die m�rchenhafte
Landschaft, und da sagte auch er erst einmal eine ganze Weile
gar nichts mehr. Schlie�lich stie� er hervor:
"Donnerwetter!"
Und dann sagte er wieder eine ganze Weile nichts. Der Anblick
�berw�ltigte ihn.
"Was f�r ein Land kann das nur sein?" unterbrach Jim endlich
das Schweigen.
"Diese merkw�rdigen B�ume ... ?" murmelte Lukas gedan-
kenvoll, "diese Silbergl�ckchen �berall, diese geschwungenen,
schmalen Br�cken aus Porzellan ... ?" Und pl�tzlich rief er:
"Ich will nicht Lukas der Lokomotivf�hrer hei�en, wenn das
nicht das Land Mandala ist! Komm, Jim, hilf mir! Wir m�ssen
Emma ganz auf den Strand schieben."
Sie kletterten hinaus und schoben Emma aufs Trockene. Und
als das geschehen war, setzten sie sich erst mal hin und
fr�hst�ckten in aller Ruhe. Sie a�en die letzten Seegurken aus
ihrem Vorrat auf. Dann z�ndete Lukas sich seine Pfeife an.
"Und wohin fahren wir jetzt?" wollte Jim wissen.
"Das beste wird sein", �berlegte Lukas, "wir fahren erst mal
nach Fing. So hei�t, soviel ich wei�, die Hauptstadt von
Mandala. Wollen mal sehen, ob wir nicht vielleicht seine
Majest�t den Kaiser sprechen k�nnen."
"Was willst du denn von ihm?" erkundigte sich Jim bewun-
dernd.
"Ich will ihn fragen, ob er nicht eine Lokomotive und zwei
Lokomotivf�hrer brauchen kann. Vielleicht hat er so was
gerade n�tig. Dann k�nnten wir hier bleiben, verstehst du?
Das Land scheint ja nicht �bel zu sein."
Also gingen sie an die Arbeit und machten Emma wieder
landt�chtig. Zuerst montierten sie den Mast und das Segel ab.
Dann �ffneten sie die kalfaterten T�ren wieder, indem sie den
Teer und das Werg sorgf�ltig aus allen Ritzen entfernten, und
zuletzt f�llten sie Emmas Kessel wieder mit Wasser und den
Tender mit trockenem Treibholz, das massenhaft am Strand
herumlag.
Als das geschehen war, machten sie Feuer unter dem Kessel.
Dabei zeigte sich �brigens, da� das durchsichtige Holz fast
ebenso ausgezeichnet brannte wie Kohle. Als das Wasser im
Kessel ordentlich kochte, dampften sie los. Die gute alte
Emma f�hlte sich jetzt wieder viel wohler als auf dem Meer,
denn das Wasser war nat�rlich doch nicht so ganz ihr Ele-
ment.

Nach kurzer Zeit hatten sie eine breite Stra�e erreicht, auf der
sie bequem und schnell dahinrollen konnten. Selbstverst�nd-
lich h�teten sie sich, �ber eine der kleinen Br�cken aus
Porzellan zu fahren, weil Porzellan, wie jeder wei�, sehr
zerbrechlich ist und es nicht besonders gut vertr�gt, wenn man
mit einer Lokomotive dr�ber f�hrt.
Und es war ihr Gl�ck, da� sie nicht nach rechts oder links
abbogen, denn die Stra�e f�hrte direkt nach Fing, der Haupt-
stadt von Mandala.
Erst fuhren sie nur immer auf den Horizont zu, �ber dem sich
das rot und wei� gestreifte Gebirge erhob. Aber ungef�hr nach
f�nfeinhalb Stunden Fahrt erblickte Jim, der auf das Dach der
Lokomotive geklettert war, um Ausschau zu halten, in der
Ferne etwas, was aussah wie Tausende und aber Tausende von
gro�en Zelten. Alle diese Zelte gl�nzten in der Sonne wie
Metall.
Jim rief zu Lukas hinunter, was er gesehen hatte, und Lukas
antwortete: "Das sind die goldenen D�cher von Fing. Wir sind
also auf dem richtigen Weg."
Und nach einer weiteren halben Stunde hatten sie die Stadt
erreicht.

Sechstes Kapitel
in welchem ein dicker gelber Kopf Schwierigkeiten macht

In Fing gab es ungeheuer viele Menschen, die alle Mandalanier


waren. Jim, der noch niemals so viele Leute auf einmal gesehen
hatte, wurde es ganz unheimlich zumut. Alle hatten Mandelau-
gen und Z�pfe und trugen gro�e runde H�te auf den
K�pfen.
Jeder Mandalanier hielt einen anderen Mandalanier an der
Hand, der etwas kleiner war. Und der hielt wieder einen an der
Hand, der noch kleiner war. Und so ging es fort bis hinab zum
Kleinsten, der nur etwa die Gr��e einer Erbse hatte. Ob der
nun auch einen noch kleineren Mandalanier an der Hand hielt,
konnte Jim nicht sehen, denn dazu h�tte er ein Vergr��erungs-
glas gebraucht.
Das waren die Mandalanier mit ihren Kindern und Kindeskin-
dern. (Alle Mandalanier haben sehr viele Kinder und Kindes-
kinder.) Und alle wuselten und wimmelten auf der Stra�e
durcheinander und schnatterten und gestikulierten, da� es Jim
ganz wirbelig im Kopf wurde.
Die Stadt bestand aus vielen tausend H�usern, und jedes Haus
hatte viele, viele Stockwerke, und jedes Stockwerk hatte ein
eigenes, vorspringendes Dach, das wie ein Regenschirm aus-
sah und aus Gold war.
Aus jedem Fenster hingen F�hnchen und Lampions, und in
den Seiteng��chen waren Hunderte von W�scheleinen von
Haus zu Haus gespannt. An denen trockneten die Leute ihre
viele W�sche. Denn die Mandalanier sind ein sehr sauberes
Volk. Sie ziehen niemals etwas Schmutziges an, und selbst der
kleinste Mandalanier, der nur so gro� ist wie eine Erbse,
w�scht seine W�sche jeden Tag und h�ngt sie an eine Leine,
nicht dicker als ein Zwirnsfaden.
Emma mu�te sich sehr vorsichtig einen Weg durch die Men-
schenmenge suchen, damit sie niemand totfuhr. Sie war
schrecklich aufgeregt, das konnte man an ihrem Keuchen
h�ren. Ununterbrochen tutete und pfiff sie, um die Kinder und
Kindeskinder aus dem Weg zu scheuchen. Sie war schon v�llig
au�er Atem.
Endlich hatten sie den Hauptplatz vor dem kaiserlichen Palast
erreicht. Lukas zog an einem Hebel. Emma blieb stehen und
lie� mit einem ungeheuren Seufzer der Erleichterung den
Dampf ab. Die Mandalanier stoben vor Schreck nach allen
Seiten auseinander. Sie hatten noch nie eine Lokomotive
gesehen und glaubten, Emma w�re ein Ungeheuer, das seinen
hei�en Atem auf sie blies, um sie zu t�ten und sie dann zum
Fr�hst�ck zu essen. Lukas z�ndete sich gem�chlich eine neue
Pfeife an und sagte zu Jim:
"So, mein Junge, komm mit! Jetzt wollen wir mal sehen, ob der
Kaiser von Mandala zu Hause ist."
Sie stiegen aus und gingen auf den Palast zu. Um die Eingangs-
pforte zu erreichen, mu�ten sie erst neunundneunzig Treppen-
stufen aus Silber hinaufsteigen. Das Tor war zehn Meter hoch
und sechseinhalb Meter breit und ganz und gar aus kostbar
geschnitztem Ebenholz. Das ist ein kohlpechrabenschwarzes
Holz, von dem es auf der ganzen Welt nur hundertzwei
Zentner und sieben Gramm gibt. So selten ist es. Gut die
H�lfte davon war f�r den Bau dieser gewaltigen T�r verarbei-
tet worden.
Neben dem Tor war ein Schild aus Elfenbein angebracht, auf
dem in goldenen Lettern stand:

KAISER VON MANDALA

Und darunter befand sich ein Klingelknopf aus einem einzigen


gro�en Diamanten.
"Donnerwetter!" sagte Lukas der Lokomotivf�hrer bewun-
dernd, als er alles betrachtet hatte. Jim machte wieder kugel-
runde Augen.
Dann dr�ckte Lukas auf den Klingelknopf. Darauf �ffnete sich
eine kleine Klappe in der riesigen Ebenholzt�r. Ein dicker
gelber Kopf schaute heraus und grinste die beiden Freunde
liebensw�rdig an. Nat�rlich geh�rte zu diesem Kopf ein
ebenso dicker K�rper, aber den konnte man nicht sehen, weil
er hinter der T�r verborgen blieb. Der dicke gelbe Kopf fragte
mit hoher Fistelstimme:
"Was w�nschen die erlauchten Herrschaften?"
"Wir sind zwei ausl�ndische Lokomotivf�hrer", antwortete
Lukas. "Und wir m�chten gern den Kaiser von Mandala
sprechen, wenn es sich machen l��t."
"In welcher Angelegenheit w�nschen Sie unseren erhabenen
Kaiser zu sprechen?" fragte der Kopf und l�chelte gewinnend.
"Das werden wir ihm am besten selber sagen", meinte
Lukas.
"Leider ist es ganz unm�glich, sehr ehrenwerter F�hrer einer
liebreizenden Mokolotive", s�uselte der Kopf �ber dem un-
sichtbaren K�rper und grinste immer liebensw�rdiger, "ganz
und gar unm�glich, unseren erhabenen Kaiser zu sprechen.
Oder haben Sie vielleicht eine Einladung?"
"Nein", sagte Lukas verdutzt, "wozu denn?"
Der dicke gelbe Kopf in der T�r klappe erwiderte:
"Verzeihen Sie mir unw�rdiger Blattlaus, aber dann darf ich
Sie nicht einlassen. Der Kaiser hat keine Zeit."
"Aber irgendwann im Laufe des Tages", meinte Lukas, "hat er
doch sicher mal Zeit f�r uns."
"Ich bedaure �beraus!" entgegnete der Kopf und l�chelte
zuckers�� von einem Ohr bis zum anderen. "Unser erhabener
Kaiser hat niemals Zeit. Entschuldigen Sie mich!"
Und damit schlo� sich die Klappe mit einem Knall.
"Verflixt und zugen�ht!" brummte Lukas vor sich hin.
W�hrend sie die neunundneunzig Stufen aus Silber wieder
hinunterschritten, sagte Jim: "Ich hab' das Gef�hl, der Kaiser
w�rde vielleicht schon Zeit f�r uns haben. Der dicke gelbe
Kopf will uns nur nicht 'reinlassen."
"Das ist es ja", knurrte Lukas grimmig.
"Und was wollen wir jetzt machen?" fragte Jim.
"Jetzt schauen wir uns erst mal in der Stadt um", sagte Lukas
unternehmungslustig. Wenn er �rgerlich war, dann blieb er es
nie lange.
Sie �berquerten den Platz, auf dem sich eine riesige Menschen-
menge angesammelt hatte. Aus ehrfurchtsvoller Entfernung
staunten die Mandalanier die Lokomotive an. Emma war das
sehr peinlich. Sie hatte die Scheinwerferaugen versch�mt
niedergeschlagen. Als Lukas auf sie zutrat und sie auf den Leib
klopfte, atmete sie erleichtert auf.
"H�r zu, Emma", sagte Lukas, "Jim und ich, wir gehen jetzt
ein bi�chen in die Stadt. Bleib sch�n hier und halt dich still, bis
wir zur�ck sind."
Emma seufzte ergeben.
"Es dauert bestimmt nicht lange", tr�stete sie Jim.
Dann machten sie sich auf den Weg.
Stundenlang schlenderten die beiden Freunde durch die engen
Gassen und die bunten Stra�en, und es war einfach ungeheuer,
was es da alles Fremdartiges und Merkw�rdiges zu sehen
gab.
Zum Beispiel die Ohrenputzer! Die Ohrenputzer arbeiteten so
�hnlich wie bei uns die Schuhputzer. Sie hatten auf der Stra�e
bequeme St�hle aufgestellt, darauf mu�te man sich setzen.
Und dann wurden einem die Ohren geputzt. Aber nicht nur so
einfach mit dem Waschlappen, o nein! Das war eine lange und
kunstvolle Prozedur. Jeder Ohrenputzer hatte ein kleines
Tischchen mit einer silbernen Platte, und darauflagen unz�hli-
ge kleine L�ffelchen und Pinselchen und St�bchen und B�rst-
chen und Watteb�uschchen und D�schen und T�pfchen. Und
damit machte er sich ans Werk.
Die Mandalanier gehen sehr gerne zum Ohrenputzer. Erstens
nat�rlich aus Reinlichkeit, zweitens aber auch, weil es so
angenehm kitzelt und kribbelt, wenn der Ohrenputzer ganz
vorsichtig seine Arbeit verrichtet. Das m�gen die Mandalanier
sehr.
Dann gab es auch noch die Haarz�hler, die einem die Haare
auf dem Kopf z�hlen. Denn in Mandala ist es wichtig zu wissen,
wie viele Haare man hat. So ein Haarz�hler hat eine winzig
kleine, flache goldene Zange, mit der er jedes Haar einzeln
fassen kann. Er z�hlt immer hundert Haare zusammen, und
dann bindet er um das B�schel ein Schleifchen. Und das macht
er so lange, bis der ganze Kopf voller Schleifchen ist. Neben
ihm sitzt sein Haarz�hlergehilfe, der alles zusammenrechnet.
Nat�rlich dauert es oft viele Stunden, bis alle Haare gez�hlt
sind. Bei manchen Leuten geht es allerdings auch sehr schnell,
denn auch in Mandala kommt es vor, da� jemand nur noch drei
oder zwei Haare auf dem Kopf hat.
Aber es gab noch vieles andere!
Zum Beispiel waren auf den Stra�en �berall Zauberk�nstler zu
sehen. Einer konnte auf seiner blo�en Hand aus einem Samen-
korn ein B�umchen wachsen lassen, auf dem sogar ganz
richtige, winzig kleine V�gel sa�en und zwitscherten. An den
Zweigen hingen Fr�chte, so klein wie Liebesperlen. Man
durfte sie abzupfen und essen, und sie schmeckten zuk-
kers��.
Es gab auch Akrobaten, die mit ihren erbsengro�en Kindern
jonglierten wie mit B�llen. Und die Kinder machten sogar
noch auf kleinen Trompeten lustige Musik, w�hrend sie in der
Luft herumflogen.
Und was es alles zu kaufen gab! Kein Mensch wird das f�r
m�glich halten, der nicht selber in Mandala gewesen ist. Es
w�re ganz sinnlos, alle diese Fr�chte und kostbaren Stoffe und
Geschirre und Spielsachen und Gebrauchsgegenst�nde aufzu-
z�hlen, weil dann dieses Buch zehnmal so dick werden
w�rde.
Ja, und dann gab es auch noch die Elfenbeinschnitzer. Das ist
eine ganz unglaubliche und wunderbare Sache. Manche von
diesen Elfenbeinschnitzern waren schon �ber hundert Jahre
alt, und sie hatten in ihrem ganzen Leben nur ein einziges St�ck
geschnitzt. Aber dieses St�ck war nun so kostbar, da� niemand
auf der Welt es bezahlen konnte. Und darum schenkten sie es
schlie�lich jemand, den sie f�r w�rdig hielten. Manche hatten
zum Beispiel eine Kugel geschnitzt, ungef�hr so gro� wie ein
Fu�ball. Diese Kugel war �ber und �ber mit den sch�nsten
Bildern bedeckt. Die Bilder waren nicht gemalt, sondern
geschnitzt, so fein geschnitzt, als w�ren sie aus kostbarer
Spitze. Dabei war es aber hartes Elfenbein.
Wenn man nun durch diese Elfenbein-Spitze hineinguckte, wie
durch ein ganz zartes Gitter, dann erblickte man im Innern der
Kugel - eine zweite Kugel. Die lag lose darin und war ebenso
wundervoll geschnitzt. Und im Innern der zweiten Kugel war
wieder eine Kugel. Und so ging es fort bis ganz ins Allerinner-
ste. Das Erstaunliche und Merkw�rdige aber war, da� die
K�nstler solche Wunderwerke aus einem St�ck geschnitzt
hatten, ohne eine der Kugeln aufzumachen. Nur durch die
feinen L�chlein der Spitze hindurch hatten sie das fertigge-
bracht mit ganz d�nnen, winzigen Messerchen und Mei�el-
chen. Sie hatten angefangen vor langen, langen Jahren, als sie
noch Erbsenkinder waren. Und wenn sie ihr Werk beendeten,
waren sie uralt und wei�haarig. Ihr ganzes Leben war nun auf
den ineinandersteckenden Kugeln zu sehen, wie in einem
geheimnisvollen Bilderbuch.
Die Elfenbeinschnitzer wurden von allen Mandalaniern sehr
verehrt, und man nannte sie: Die gro�en Meister vom Elfen-
bein.

Siebentes Kapitel
in dem Emma Karussell spielen soll und die beiden Freunde ein
Kindeskind kennenlernen

Den ganzen Tag �ber waren die beiden Freunde in der Stadt
umhergeschlendert. Die Sonne hatte sich dem Horizont zuge-
neigt, und im Abendrot begannen die goldenen D�cher zu
gl�nzen.
In den G��chen, wo es schon d�mmerig wurde, entz�ndeten
die Mandalanier ihre Lampions, die in allen Farben leuchte-
ten. Sie trugen sie an langen Angelruten vor sich her, die
gro�en Mandalanier gro�e Lampions, die kleinen kleine. Und
die allerkleinsten sahen aus wie bunte Gl�hw�rmchen.
�ber all den Wundern hatten die beiden Freunde ganz verges-
sen, da� sie au�er den paar Meeresfr�chten zum Fr�hst�ck
nichts mehr gegessen hatten.
"Das ist ja allerhand!" sagte Lukas lachend. "Da mu� sofort
etwas unternommen werden. Wir gehen jetzt in ein Gasthaus
und bestellen uns ein Abendessen, das sich sehen lassen
kann."
"In Ordnung", stimmte Jim zu. "Hast du mandalanisches
Geld?"
"Verflixt!" antwortete Lukas und kratzte sich hinter dem Ohr.
"Daran hab' ich nicht gedacht. Aber Geld oder nicht Geld, zu
essen mu� der Mensch was haben. La� mich mal nach-
denken!"
Er dachte also nach, und Jim sah ihm erwartungsvoll dabei zu.
pl�tzlich rief Lukas: "Ich hab's! Wenn wir kein Geld haben,
m�ssen wir eben welches verdienen."
"Famos", sagte Jim, "aber wie machen wir das so schnell?"
"Ganz einfach!" antwortete Lukas. Wir gehen jetzt zu unserer
alten Emma zur�ck und geben bekannt, da� jeder, der zehn Li
bezahlt, eine Runde um den gro�en Schlo�platz mitfahren
darf."
Sie gingen rasch zu dem gro�en Platz vor dem kaiserlichen
Palast zur�ck, wo noch immer eine gro�e Menschenmenge in
respektvollem Abstand um die Lokomotive herumstand und
sie angaffte. Nur da� sie jetzt alle Lampions trugen.
Lukas und Jim bahnten sich einen Weg duch das Gedr�nge und
stiegen auf das Dach ihrer Lokomotive.
Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge.
"Achtung, Achtung!" rief Lukas laut. "Sehr verehrte Damen
und Herren! Wir sind mit unserer Lokomotive von sehr weit
hergekommen und werden wahrscheinlich bald wieder abrei-
sen. Ben�tzen Sie die einmalige Gelegenheit! Machen Sie eine
kleine Fahrt mit uns! Es kostet ausnahmsweise nur zehn Li.
Nicht mehr als zehn Li f�r eine Fahrt um diesen gro�en
Platz!"
Durch die Menge ging ein Murmeln und Fl�stern, aber nie-
mand r�hrte sich vom Fleck.
Lukas begann noch einmal:
"Kommen Sie ruhig n�her, meine Herrschaften! Die Lokomo-
tive ist ganz ungef�hrlich! Nur keine Angst! Nur hereinspa-
ziert, verehrtes Publikum!"
Die Menge blickte and�chtig zu Lukas und Jim empor, aber
keiner trat vor.
"Verflixt und zugen�ht!" raunte Lukas Jim zu. "Sie trauen sich
nicht. Versuch du's mal!"
Jim holte Luft und rief, so laut er konnte:
"Liebe Kinder und Kindeskinder! Ich kann euch nur raten:
Fahrt mit! Es ist das Lustigste, was man sich �berhaupt denken
kann - sogar sch�ner als Karussellfahren! Achtung, Achtung!
In wenigen Minuten beginnen wir! Bitte einsteigen! Es kostet
heute nur zehn Li pro Person! Nur zehn Li!"
Aber niemand r�hrte sich.
"Es kommt keiner", fl�sterte Jim entt�uscht.
"Vielleicht fahren wir erst mal eine Runde allein", meinte
Lukas. "M�glich, da� sie dann Lust bekommen."
Also kletterten sie vom Dach hinunter und fuhren los. Aber
der Erfolg war leider ganz anders, als sie erwartet hatten. Die
Leute rannten erschrocken davon, und schlie�lich war der
ganze Platz v�llig menschenleer.
"Es hat keinen Zweck", seufzte Jim, als sie wieder hielten.
"Da m�ssen wir uns eben was Besseres ausdenken", brummte
Lukas vor sich hin.
Sie stiegen von der Lokomotive herunter und begannen nach-
zudenken, aber sie wurden dauernd durch das Knurren ihrer
M�gen gest�rt. Endlich meinte Jim kl�glich:
"Ich glaub', wir finden nichts. Wenn wir nur irgend jemand von
hier kennen w�rden. Ein Mandalanier k�nnte uns sicher einen
guten Rat geben."
"Aber gern!" piepste da pl�tzlich ein zartes Stimmchen.
"Wenn ich euch behilflich sein kann?"
Lukas und Jim blickten erstaunt vor sich nieder und sahen zu
ihren F��en ein winziges Kerlchen, ungef�hr so gro� wie eine
Hand. Offenbar war das ein Kindeskind. Sein Kopf war nicht
gr��er als ein Tischtennisball. Das Kerlchen nahm seinen
kleinen, runden Hut und machte h�flich eine tiefe Verbeu-
gung, so da� sein Z�pfchen in die H�he stand.
"Ich m�cht' nur wissen", meinte Jim manchmal nachdenklich,
"wo wir eigentlich hinfahren."
"Mein Name, ihr ehrenwerten Fremdlinge", sagte er, "ist Fing
Pong. Ich stehe ganz zu euren Diensten."
Lukas nahm die Pfeife aus dem Mund und verbeugte sich
ebenfalls mit ernster Miene. "Mein Name ist Lukas der
Lokomotivf�hrer."
Und nun verbeugte sich auch Jim und sagte: "Ich hei�e Jim
Knopf."
Darauf verbeugte sich wieder der kleine Fing Pong und
zwitscherte: "Ich habe den Klagegesang eurer erhabenen
M�gen vernommen. Es wird mir eine Ehre sein, euch zu
bewirten. Bitte, wartet hier einen Augenblick!"
Und er rannte mit winzig kleinen Schritten auf den Palast zu, so
schnell, da� es aussah, als ob er auf R�derchen f�hre.
Als er in der niedersinkenden Dunkelheit verschwunden war,
schauten sich die beiden Freunde verdutzt an.
"Jetzt bin ich aber gespannt, wie es weitergeht", sagte Jim.
"Warten wir's ab", sagte Lukas und klopfte seine Pfeife aus.
Als Ping Pong zur�ckkam, schwankte er unter einer sonderba-
ren Last, die er auf dem Kopf trug. Es war ein kleines
Lacktischchen, nicht gr��er als ein Tablett. Das stellte er auf
den Boden neben die Lokomotive. Dann legte er ein paar
Kissen, klein wie Briefmarken, um das Tischchen herum.
"Bitte, nehmt Platz!" sagte er mit einer einladenden Handbe-
wegung.
Die beiden Freunde setzten sich so gut es ging auf die Kissen
nieder. Es war zwar ein bi�chen schwierig, aber sie wollten
schlie�lich nicht unh�flich sein.
Ping Pong rannte noch einmal davon und kam zur�ck mit
einem ganz kleinen, wundersch�nen Lampion, auf den ein
freundlich lachendes Gesicht gemalt war. Das St�ckchen, an
dem der Lampion hing, steckte er zwischen die Speichen eines
Lokomotivrades. Nun hatten die beiden Freunde eine h�bsche
Tischbeleuchtung. Es war n�mlich inzwischen ganz dunkel
geworden, und der Mond war noch nicht aufgegangen.
"So!" piepste Fing Pong und �berblickte befriedigt sein Werk.
"Und was darf ich den ehrenwerten Fremdlingen nun zu essen
bringen?"
"Ja", meinte Lukas ein wenig ratlos, "was gibt's denn?"
Der kleine Gastgeber begann eifrig aufzuz�hlen: "Vielleicht
hundertj�hrige Eier auf einem zarten Salat aus Eichh�rnchen-
ohren? Oder m�chtet ihr lieber gezuckerte Regenw�rmer in
saurer Sahne? Sehr gut ist auch Baumrindenp�ree mit geras-
pelten Pferdehufen �berstreut. Oder h�ttet ihr gern gesottene
Wespennester mit Schlangenhaut in Essig und �l? Wie w�re es
mit Ameisenkl��chen auf k�stlichem Schneckenschleim? Sehr
empfehlenswert sind auch ger�stete Libelleneier in Honig oder
zarte Seidenraupen mit weichgekochten Igelstacheln. Viel-
leicht zieht ihr aber knusprige Heuschreckenbeine mit einem
Salat aus pikanten Maik�ferf�hlern vor?"
"Lieber Fing Pong", sagte Lukas, der mit Jim einen best�rzten
Blick gewechselt hatte, "das sind sicher alles gro�e Leckereien.
Aber wir sind erst ganz kurz in Mandala und m�ssen uns
zun�chst einmal an eure Kost gew�hnen. Gibt es denn nicht
vielleicht etwas ganz Einfaches?"
"Oh, doch!" rief Ping Pong eifrig. "Zum Beispiel panierte
Pferde�pfel in Elefanten-Sahne."
"Ach nein", sagte Jim, "so was meinen wir nicht. Gibt's denn
nicht irgendwas Vern�nftiges?"
"Irgendwas Vern�nftiges?" fragte Ping Pong ratlos. Doch
dann hellte sich sein Gesicht auf. "Ich verstehe!" rief er. "Zum
Beispiel M�useschw�nze und Froschlaichpudding. Das ist das
Vern�nftigste, was ich kenne." Jim sch�ttelte sich.
"Nein", sagte er, "das meine ich auch nicht! Ich meine zum
Beispiel einfach ein gro�es Butterbrot."
"Ein was?" fragte Fing Pong.
"Ein Butterbrot", wiederholte Jim.
"Nein, das kenne ich gar nicht", sagte Fing Pong verwirrt.
"Oder Bratkartoffeln mit Spiegelei", schlug Lukas vor.
"Nein", antwortete Fing Pong, "davon habe ich nie etwas
geh�rt."
"Oder ein St�ck Schweizerk�se", fuhr Lukas fort, und dabei
lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Aber jetzt sch�ttelte sich der kleine Fing Pong und schaute die
beiden Freunde ganz entsetzt an.
"Verzeiht, ehrenwerte Fremdlinge, da� ich mich sch�ttle",
piepste er, "K�se ist doch verschimmelte Milch! W�rdet ihr so
etwas wirklich essen m�gen?"
"Ach ja", riefen die beiden Freunde wie aus einem Munde,
"das w�rden wir!"
Eine Weile �berlegten sie noch hin und her. Pl�tzlich schnippte
Lukas der Lokomotivf�hrer mit dem Finger und sagte:
"Leute, ich hab's! Wir sind doch hier in Mandala, und in
Mandala gibt's doch Reis."
"Reis?" fragte Phig Pong. "Ganz gew�hnlichen Reis?"
"Ja", erwiderte Lukas.
"Oh, jetzt wei� ich etwas!" rief Fing Pong gl�cklich. "Ihr
bekommt eine kaiserliche Reisplatte. Sofort, sogleich, ich
eile!" Er wollte schon davonrennen, aber Lukas hielt ihn am
Armelchen zur�ck.
"Aber bitte, Fing Pong", sagte er, "keine K�fer oder gebratene
Schuhb�nder dazwischen, wenn's geht."
Fing Pong versprach es und verschwand in der Dunkelheit. Als
er zur�ckkam, trug er ein paar Sch�lchen, kaum gr��er als
Fingerh�te, und stellte sie auf den Tisch.
Die beiden Freunde wechselten einen Blick und dachten bei
sich, ob das nicht vielleicht ein bi�chen wenig w�re f�r zwei
hungrige Lokomotivf�hrer. Aber sie sagten nat�rlich nichts,
denn sie waren ja zu Gast.
Doch Fing Pong rannte sofort wieder davon, brachte weitere
Sch�sselchen und verschwand aufs neue. Schlie�lich stand das
ganze Tischchen voll, aus allen N�pfchen duftete es ganz
unbeschreiblich appetitlich. Vor jedem der beiden Freunde
lagen zwei St�bchen, die aussahen wie d�nne Bleistifte.
"Ich m�cht' wissen", fl�sterte Jim Lukas zu, "wozu diese
St�bchen da sind."
Fing Pong, der die Worte geh�rt hatte, erkl�rte:
"Diese St�bchen, ehrenwerter Knopftr�ger, sind das Besteck.
Man i�t mit ihnen."
"Aha!" murmelte Jim besorgt.
"Na sch�n", meinte Lukas. "Versuchen wir's mal. Guten
Appetit!"
Sie versuchten es also. Aber jedesmal, wenn sie m�hsam ein
Reiskorn auf einem St�bchen balancierten, fiel es herunter,
ehe sie es in den Mund bekommen konnten. Das war wirklich
recht unangenehm, denn sie wurden beide immer hungriger,
und das Essen duftete so unbeschreiblich verf�hrerisch.
Fing Pong war nat�rlich viel zu h�flich, um �ber die Unge-
schicklichkeit der beiden Fremden auch nur zu l�cheln. Aber
schlie�lich mu�ten Jim und Lukas selber lachen, und da
stimmte auch Fing Pong ein.
"Entschuldige, Fing Pong", sagte Lukas, "aber wir essen doch
lieber ohne diese St�bchen. Sonst verhungern wir noch."
Und dann a�en sie einfach so aus den Sch�lchen, die ja ohnehin
nur so gro� waren wie Teel�ffel.
In jedem Sch�lchen befand sich anders zubereiteter Reis, und
einer schmeckte immer besser als der andere. Es gab roten
Reis, gr�nen Reis und schwarzen Reis, s��en Reis, scharfen
Reis und gesalzenen Reis, Reisbrei, Reisauflauf und Puffreis,
blauen Reis, kandierten Reis und vergoldeten Reis. Sie a�en
und a�en.
"Sag mal, Fing Pong", frage Lukas nach einer Weile, "warum
i�t du eigentlich nicht mit?"
"Oh, nein!" antwortete Fing Pong mit wichtiger Miene, "f�r
Kinder in meinem Alter ist dieses Essen nicht bek�mmlich.
Wir sollen lieber fl�ssige Nahrung zu uns nehmen."
"Wieso?" meinte Jim mit vollem Mund. "Wie alt bist du
denn?"
"Ich bin genau 368 Tage alt", antwortete Fing Pong stolz.
"Aber ich habe schon vier Z�hne."
Das war ja nun wirklich recht unglaublich, da� Fing Pong erst
ein Jahr und drei Tage sein sollte! Um das zu verstehen, mu�
man folgendes wissen:
Die Mandalanier sind ein sehr, sehr kluges Volk. Sie sind sogar
eines der kl�gsten V�lker der Erde. Sie sind auch ein sehr altes
Volk. Es hat sie schon gegeben, als es die meisten anderen
V�lker noch nicht gab. Daher kommt es, da� bereits die
winzigsten Kinder ihre W�sche selbst waschen k�nnen. Mit
einem Jahr sind sie schon so gescheit, da� sie herumlaufen und
ganz erwachsen reden k�nnen. Mit zwei Jahren k�nnen sie
lesen und schreiben. Mit drei Jahren rechnen, sie die schwer-
sten Rechenaufgaben aus, die bei uns h�chstens ein Professor
bew�ltigen kann. Das f�llt aber in Mandala nicht weiter auf,
weil eben alle Kinder so gescheit sind.
So ist es zu erkl�ren, da� der kleine Fing Pong sich schon so
gew�hlt ausdr�cken konnte und auf sich selbst achtgab wie
seine eigene Mutter. Aber im �brigen war er noch genauso ein
S�ugling wie alle anderen Babys der Welt in seinem Alter.
Zum Beispiel mu�te er statt H�schen noch Windeln tragen.
Die Enden der Windeln waren auf seinem Hinterteil zu einer
gro�en Schleife zusammengebunden.
Nur sein Verstand war eben schon sehr erwachsen.

Achtes Kapitel
in dem Lukas und Jim geheimnisvolle Inschriften entdecken

Der Vollmond war aufgegangen, und ein silberwei�es Licht


erf�llte die Stra�en und Pl�tze der Stadt Fing. Vom Turm des
Palastes erklangen tiefe, dunkle Glockenschl�ge, schwollen an
und verhallten wieder.
"Es ist Jau, die Stunde der Grille", sagte Fing Pong. "Das ist
die Zeit, wo alle Babys in Mandala ihre Gute-Nacht-Fl�sch-
chen bekommen. Gestattet bitte, da� ich mir das meinige
hole!"
"Nat�rlich!" antwortete Lukas.
Fing Pong lief fort und tauchte gleich wieder auf. Im Arm trug
er eine Schnullerflasche, so klein wie f�r eine Puppe. Er legte
sich auf seinem Kissen zurecht und erkl�rte:
"Eidechsenmilch sch�tze ich ungemein. F�r Babys in meinem
Alter ist sie einfach unentbehrlich. Zwar ist sie nicht besonders
wohlschmeckend, jedoch �beraus nahrhaft."
Und damit begann er eifrig zu schnullen.
"Sag mal, Fing Pong", fragte Lukas nach einer Weile, "wo hast
du eigentlich dieses Abendessen f�r uns so schnell herge-
nommen?"
Ping Pong unterbrach seine Mahlzeit.
"Aus der K�che des kaiserlichen Palastes", entgegnete er
leichthin. "Seht ihr, gleich da vorne neben der Silbertreppe ist
der Eingang."
Jetzt, im Mondschein, war die T�r gut zu sehen. Sie war den
beiden Freunden tags�ber gar nicht aufgefallen. Jim wunderte
sich sehr.
"Ja, darfst du denn da einfach hinein?" fragte er.
"Warum nicht?" erwiderte Fing Pong achselzuckend und
machte wieder sein wichtiges Gesicht. "Schlie�lich bin ich doch
das zweiunddrei�igste Kindeskind von Herrn Schu Fu Lu Pi
Plu, dem Oberhofkoch."
"Darfst du denn da einfach Essen wegholen?" erkundigte sich
Lukas besorgt. "Ich meine, es war doch sicher f�r jemand
bestimmt."
"Es war das Abendessen des erhabenen Kaisers", antwortete
Fing Pong mit einer nachl�ssigen Handbewegung, als ob das
nichts Besonderes w�re.
"Was?" riefen Lukas und Jirn gleichzeitig. Sie schauten sich
ganz entgeistert an.
"Nun ja", erkl�rte Fing Pong, "der erhabene Kaiser hat wieder
einmal nicht essen m�gen."
"Warum denn nicht!" fragte Jim. "Es war doch sehr gut."
"Ja, wi�t ihr denn nicht, ehrenwerte Fremdlinge, was mit
unserem Kaiser los ist? Alle Welt wei� das doch."
"Nein", antwortete Lukas, "was ist denn mit ihm los?"
Fing Pongs Gesicht wurde pl�tzlich sehr ernst.
"Ich werde es euch zeigen, wenn ich fertig bin", versprach er.
"Nur noch einen Augenblick, bitte."
Er griff zu seiner kleinen Flasche und saugte emsig.
Lukas und Jim wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
Vielleicht konnte Fing Pong ihnen einen Weg zum Kaiser
zeigen.
W�hrend sie warteten, nahm Lukas gedankenvoll eines der
E�st�bchen, betrachtete es genauer, dann untersuchte er auch
das andere und sagte schlie�lich:
"Da steht ja was drauf. Scheint, es ist ein Gedicht."
"Was steht denn da?" fragte Jim. Er konnte ja noch nicht selbst
lesen.
Lukas brauchte eine ganze Weile zum Entziffern der Schrift,
denn es waren mandalanische Buchstaben, die au�erdem noch
untereinander standen statt nebeneinander. So schreibt man
n�mlich in Mandala.
Auf dem einen St�bchen stand:
SEH ICH DEN MOND,
MEIN �UG' WIRD TR�NENBLIND -
und auf dem anderen St�bchen war zu lesen:
DURCH TR�NENSCHLEIER GLEICHT ER MEINEM KIND.
"Das klingt aber sehr traurig", stellte Jim fest, als Lukas die
Aufschrift vorgelesen hatte.
"Ja, jemand trauert um sein Kind, wie es scheint", antwortete
Lukas. "Vielleicht ist es gestorben oder krank. Es k�nnte auch
weit weg sein, und der Jemand ist traurig, weil er es nicht sehen
kann. Zum Beispiel, wenn es geraubt ist."
"Ja, geraubt!" nickte Jim nachdenklich. "Das k�nnte sein."
"Man m��te wissen", meinte Lukas und z�ndete sich seine
Pfeife an, "wer das gedichtet hat."
Fing Pong war inzwischen mit seinem Fl�schchen fertig und
hatte dem Gespr�ch der beiden Freunde aufmerksam ge-
lauscht. Jetzt sagte er:
"Dieses Gedicht, ehrenwerte Fremdlinge, hat der erhabene
Kaiser verfa�t. Er hat befohlen, da� es auf alle E�st�bchen in
Mandala gemalt wird, damit wir alle immerfort daran
denken."
"Woran?" fragten Jim und Lukas zugleich.
"Wartet einen Augenblick!" antwortete Fing Pong.
Er trug schnell das Geschirr in den Palast zur�ck. Den Lam-
pion machte er los und behielt ihn in der Hand.
"So kommt denn, ehrenwerte Fremdlinge!" forderte er die
Freunde feierlich auf und marschierte los. Doch schon nach
wenigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um.
"Ich habe eine Bitte", gestand er versch�mt l�chelnd. "Ich
w�rde �beraus gern einmal auf der Lokomotive fahren. Lie�e
sich das vielleicht einrichten?"
"Warum nicht!" erwiderte Lukas. "Du mu�t uns nur sagen,
wohin wir fahren sollen."
Jim nahm den kleinen Fing Pong auf den Arm, dann stiegen sie
ein und dampften los.
Ein bi�chen Angst schien Fing Pong doch zu haben, obgleich er
tapfer und h�flich l�chelte.
"Das geht aber sehr schnell!" piepste er. "Die n�chste Stra�e
bitte links - ich glaube -" und dabei strich er sich sorgenvoll
�ber sein pralles B�uchlein - "jetzt bitte rechts - ich glaube, ich
habe - jetzt geradeaus - ich glaube, ich habe meine Milch etwas
zu schnell getrunken - jetzt �ber die Br�cke, bitte - das ist f�r
Kinder in meinem Alter - immer gradeaus - Kinder in meinem
Alter nicht bek�mmlich - nochmals rechts bitte - gar nicht
bek�mmlich - oh, geht das aber schnell!"
Wenige Minuten sp�ter waren sie auf einem anderen Platz
angelangt, der kreisrund war. In der Mitte stand ein riesengro-
�er Lampion, so gro� wie eine Litfa�s�ule. Er leuchtete
dunkelrot. Das sah sehr merkw�rdig und ein wenig unheimlich
aus auf dem gro�en leeren Platz, der im blauen Mondlicht vor
ihnen lag.
"Halt!" sagte Fing Pong ged�mpft. "Wir sind da. Hier ist der
Mittelpunkt von Mandala. Und dort, wo der gro�e Lampion
steht, ist genau der Mittelpunkt der Welt. Das haben unsere
weisen M�nner ausgerechnet. Deshalb hei�t dieser Platz ein-
fach: Die Mitte."
Sie hielten Emma an und stiegen aus.
Als sie auf den gro�en Lampion zugingen, sahen sie, da� etwas
darauf geschrieben war. Wieder mit mandalanischen Buchsta-
ben und untereinander.
Es sah so aus:

Nachdem Lukas die Aufschrift entziffert hatte, stie� er einen


�berraschten Pfiff aus.
"Was steht denn da?" wollte Jim wissen.
Lukas las es ihm vor.
Der kleine Fing Pong war inzwischen immer unruhiger ge-
worden.
"Ich habe meine Milch wirklich zu schnell getrunken", mur-
melte er ein paarmal sorgenvoll vor sich hin. Und pl�tzlich rief
er: "Ach, du g�tiger Himmel!"
"Was is' denn?" fragte Jim teilnahmsvoll.
"Ach, ihr ehrenwerten Fremdlinge", antwortete Fing Pong
bek�mmert. "Ihr wi�t ja, wie das bei Wickelkindern in meinem
Alter ist: all die Aufregung zu so sp�ter Stunde! Nun ist es
leider passiert, und ich mu� mich ganz geschwind in neue
Windeln wickeln."
Sie fuhren also, so rasch es ging, zum Palast zur�ck, und Fing
Pong verabschiedete sich eilig.
"Es ist ja auch schon allerh�chste Zeit zum Schlafen f�r einen
S�ugling wie mich", sagte er. "Also dann: bis morgen fr�h!
Schlaft wohl, ehrenwerte Fremdlinge! Es war mir ein Vergn�-
gen, euch kennengelernt zu haben."
Er verbeugte sich und verschwand im Schatten des Palastes.
Man sah die T�r zur kaiserlichen K�che auf- und zugehen.
Dann war alles still und dunkel.
Die beiden Freunde schauten dem Kleinen l�chelnd nach.
Und Jim meinte:
"Ich glaub', es war nicht die Milch, sondern die Fahrt auf
unserer alten Emma. Was meinst du?"
"Schon m�glich", brummte Lukas. "War ja auch das erstemal
f�r ihn, und er ist wirklich noch sehr klein. Komm, Jim, legen
wir uns aufs Ohr. War ein ereignisreicher Tag heute."
Sie stiegen in das F�hrerh�uschen und machten sich's bequem,
so gut es ging. Sie waren es von der Seereise her ja gew�hnt, so
zu schlafen.
"Meinst du", fragte Jim leise, w�hrend er sich in seine Decke
wickelte, "wir sollten versuchen, die Prinzessin zu be-
freien?"
"Das meine ich", antwortete Lukas und klopfte seine Pfeife
aus. "Wenn es uns gel�nge, Jim, dann w�rde der Kaiser uns
bestimmt erlauben, eine Eisenbahnlinie quer durch das Land
Mandala anzulegen. Die gute alte Emma k�me dann endlich
mal wieder auf ordentliche Schienen, und wir k�nnten hier
bleiben."
Jim dachte, da� er eigentlich gar nicht so furchtbar gerne hier
bleiben wollte. Nat�rlich war es sch�n in Mandala. Aber er
wollte doch lieber dahin, wo etwas weniger Leute waren,
Leute, die man auseinanderhalten konnte. Lummerland w�re
zum Beispiel so ein h�bsches Land. Aber er sprach seine
�berlegungen nicht laut aus, weil Lukas sonst vielleicht den-
ken w�rde, er h�tte Heimweh.
Darum sagte er nur:
"Hast du denn Erfahrung mit Drachen? Ich denk' mir das gar
nicht so einfach."
Lukas erwiderte fr�hlich: "Ich habe noch nie einen Drachen
gesehen, nicht mal im Tierpark. Aber ich denke, meine Emma
wird's schon aufnehmen mit so einem Biest."
Jims Stimme klang etwas kl�glich, als er einwandte: "Ja, mit
einem vielleicht. Aber da stand doch was von einer ganzen
Drachenstadt."
"Wir werden ja sehen, alter Junge", antwortete Lukas. "Jetzt
la� uns erst mal schlafen. Gute Nacht, Jim! Und mach dir keine
Sorgen."
"Ja", murmelte Jim. "Gute Nacht, Lukas."
Und dann dachte er noch ein bi�chen an Frau Waas und was sie
jetzt wohl gerade machte. Und er sagte dem lieben Gott, da� er
sie tr�sten solle, falls sie vielleicht traurig w�re. Und er solle
ihr doch alles erkl�ren, bitte.
Und dann lauschte er noch eine Weile auf das ruhige, tiefe
Schnaufen von Emma, die schon l�ngst friedlich schlief.
Und dann schlummerte auch er ein.

Neuntes Kapitel
in dem ein Zirkus auftritt und jemand b�se Pl�ne
gegen Jim und Lukas schmiedet

Als die beiden Freunde am n�chsten Morgen erwachten, stand


die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Die Menschen-
menge vom Vortag hatte sich wieder eingefunden und bestaun-
te die Lokomotive aus sicherer Entfernung.
Lukas und Jim stiegen aus, w�nschten sich guten Morgen und
streckten sich herzhaft.
"Pr�chtiger Tag heute!" sagte Lukas. "Genau das richtige
Wetter, um einen Kaiser zu besuchen und ihm zu sagen, da�
man seine Tochter befreien wird."
"Wollen wir nicht zuerst mal fr�hst�cken?" fragte Jim.
"Ich vermute", antwortete Lukas, "wir werden gleich vom
Kaiser selbst zum Fr�hst�ck eingeladen werden."
Sie stiegen wieder die neunundneunzig Stufen aus Silber hinauf
und dr�ckten auf den diamantenen Klingelknopf. Die Klappe
in der Ebenholzt�r ging auf, und der dicke gelbe Kopf schaute
heraus.
"Was w�nschen die ehrenwerten Herrschaften?" fragte er mit
hoher Fistelstimme und l�chelte ebenso gewinnend wie am Tag
zuvor.
"Wir wollen zum Kaiser von Mandala", antwortete Lukas.
"Leider hat der Kaiser auch heute keine Zeit", erwiderte der
dicke gelbe Kopf und wollte schon wieder verschwinden.
"Halt, Freundchen!" rief Lukas. "Melden Sie dem Kaiser, da�
hier zwei M�nner sind, die seine Tochter aus der Drachenstadt
befreien wollen."
"Oh!" s�uselte der dicke gelbe Kopf, "das ist nat�rlich etwas
anderes. Haben Sie bitte die G�te, einen Augenblick zu
warten!"
Damit schlo� er die Klappe.
Die beiden Freunde standen vor der T�r und warteten.
Und warteten.
Und warteten.
Ein Augenblick war l�ngst vor�ber. Viele Augenblicke waren
vor�ber. Aber der dicke gelbe Kopf erschien nicht wieder in
der T�r klappe.
Als sie lange genug gewartet hatten, knurrte Lukas endlich:
"Du hast recht, Jim, wir sorgen doch besser erst mal f�r ein
Fr�hst�ck. Vielleicht essen wir dann beim Kaiser zu
Mittag."
Jim schaute sich nach dem kleinen Fing Pong um, aber Lukas
sagte: "Nein, Jim, wir zwei wollen uns nicht dauernd von einem
Baby einladen lassen. War' doch gelacht, wenn wir nicht selbst
f�r uns sorgen k�nnten."
"Meinst du", fragte Jim zweifelnd, "wir sollten es nochmal mit
Emma als Karussell versuchen?"
Lukas stie� einige Rauchkringel aus.
"Mir ist was viel Besseres eingefallen", erkl�rte er. "Pa� mal
auf, Jim!"
Und er spuckte einen Looping, aber nur einen ganz kleinen,
damit niemand au�er Jim es sehen konnte.
"Verstehst du?" fragte er und zwinkerte vergn�gt mit einem
Auge.
"Nein", antwortete Jim verwundert.
"Erinnerst du dich nicht an die Akrobaten, die wir gestern
gesehen haben? Nun, wir k�nnen doch auch ein paar solche
Sachen. Wir geben eine Zirkusvorstellung!"
"Au ja!" rief Jim begeistert. Doch dann fiel ihm ein, da� er ja
nichts vorf�hren konnte, und er fragte etwas entt�uscht:
"Und was mach' ich?"
"Du machst den dummen August und hilfst mir", sagte Lukas.
"Jetzt sollst du mal sehen, Jim, wie n�tzlich es ist, wenn man
eine Kunst beherrscht."
Sie kletterten auf das Dach der Emma und begannen wie am
vorigen Abend immer abwechselnd auszurufen:
"Hochverehrtes Publikum! Wir sind der Wanderzirkus Lum-
merland und werden jetzt eine Gala-Vorstellung geben, wie sie
hier noch niemand gesehen hat! Herbei, nur immer herbei,
verehrtes Publikum! Unsere Vorstellung beginnt sofort!"
Die Leute dr�ngten neugierig n�her.
Zur Einf�hrung zeigte Lukas als der "st�rkste Mann der Welt",
wie er eine Eisenstange mit blo�en H�nden zusammenbiegen
konnte. Er erschien mit einem dicken, langen Sch�rhaken, den
er aus der Lokomotive geholt hatte.
Die Mandalanier, die alles, was mit Zirkus zusammenh�ngt,
f�r ihr Leben gern sehen, kamen noch n�her.
Unter bewundernden Zurufen der Menge band Lukas den
Sch�rhaken zu einer Schleife. Als er damit fertig war, brachen
die Zuschauer in Beifall aus.
Im zweiten Akt hielt Jim ein brennendes Streichholz hoch, und
Lukas als Kunstspucker l�schte es auf eine Entfernung von drei
und einem halben Meter aus. Jim als dummer August stellte
sich nat�rlich m�glichst ungeschickt an und tat, als h�tte er
Angst, getroffen zu werden.
Danach pfiff Lukas zusammen mit Emma der Lokomotive
zweistimmig ein h�bsches Lied. Der Applaus schwoll an, denn
so etwas hatte man hierzulande tats�chlich noch nie gesehen
oder geh�rt.
F�r die letzte Nummer bat Jim das hochverehrte Publikum um
v�lliges Stillschweigen f�r die in der ganzen Welt einmalige
Darbietung.
Und unter atemloser Stille der Zuschauer spuckte Lukas einen
wundervollen, riesengro�en Looping, so gro�, wie ihn auch
Jim noch niemals von ihm gesehen hatte.
Die Mandalanier brachen in tosenden Beifall aus und wollten
alles noch einmal sehen. Aber ehe die Freunde mit einer neuen
Vorstellung anfingen, ging Jim herum und sammelte Geld ein.
Die neugierige Menge auf dem Platz war gr��er und gr��er
geworden, und Jim bekam eine ganze Masse Geld zusammen.
Es waren lauter kleine M�nzen mit einem Loch in der Mitte,
damit man sie auf Bindfaden auff�deln konnte. Jim fand das
sehr praktisch, weil er sonst gar nicht gewu�t h�tte, wohin mit
dem vielen Geld.
So verging Stunde um Stunde, und noch immer war der dicke
gelbe Kopf in der T�rklappe nicht wieder erschienen.
Das hatte folgenden Grund:
Hinter der gro�en Ebenholzt�r lag das kaiserliche Amt. Und in
einem Amt dauert bekanntlich immer alles schrecklich lange.
Der T�rh�ter war mit seiner Meldung zun�chst einmal zum
Obert�rh�ter gelaufen. Der Obert�rh�ter brachte sie weiter
zum Hauptt�rh�ter. Der Hauptt�rh�ter ging zum Schreiber,
der Schreiber zum Unterkanzlisten, der Unterkanzlist zum
Oberkanzlisten, der Oberkanzlist zum Kanzleirat, und so ging
jeder zum n�chsth�heren Beamten. Man kann sich leicht
vorstellen, wie lange es dauerte, ehe die Nachricht bis zu den
Bonzen hinauf gelangt war.
Bonzen nennt man in Mandala die Minister. Und der h�chste
Minister tr�gt den Titel "Oberbonze". Der zu dieser Zeit
regierende Oberbonze hie� Herr Pi Pa Po.
�ber Herrn Pi Pa Po ist nun leider einiges zu sagen, was nicht
gerade erfreulich ist. Er war schrecklich ehrgeizig und konnte
es nicht leiden, wenn jemand anders etwas Hervorragendes
leistete. Als er die Nachricht vernahm, da seien zwei Fremde,
die die Prinzessin Li Si befreien wollten, stieg sofort eine
giftgr�ne Eifersucht in seinem Herzen auf.
"Wenn jemand auf der Welt die Prinzessin zum Weibe bekom-
men soll", sagte er zu sich, "dann bin ich der einzig W�r-
dige."
Dabei machte er sich in Wirklichkeit nicht die Spur aus der
Prinzessin, sondern er war blo� neidisch. Nat�rlich hatte er viel
zu viel Angst, selbst in die Drachenstadt zu ziehen und die
Prinzessin zu befreien. Aber wenn er, der Oberbonze Pi Pa Po,
diese K�hnheit nicht besa�, sollte sich gef�lligst auch kein
anderer unterstehen, das ruhmreiche Wagnis zu unternehmen.
Daf�r wollte er sorgen.
"Diesen Fremdlingen werde ich ihr S�ppchen schon versal-
zen", sprach er zu sich. "Ich werde sie als Spione verhaften und
in den Kerker werfen lassen. Ich mu� nur achtgeben, da� der
Kaiser nichts von allem erf�hrt, sonst k�nnte es mir �bel
ergehen."
Dann lie� er den Hauptmann der kaiserlichen Palastwache
rufen.
Der Hauptmann erschien, stand stramm und salutierte mit
seinem gro�en, gebogenen S�bel. Er war ein riesiger, starker
Kerl mit einem grimmigen, narbenbedeckten Gesicht. Aber so
wild er auch aussah, in Wirklichkeit war er doch ein recht
einf�ltiger Mensch. Das einzige, was er konnte, war gehor-
chen. Wenn ihm ein Bonze einen Befehl gab, dann f�hrte er
ihn aus, ohne dar�ber nachzudenken, ganz gleich, was f�r ein
Befehl es war. Das hatte er nun einmal so gelernt, und dabei
blieb es.
"Herr Hauptmann", sagte der Oberbonze, "bringen Sie mir
die beiden Fremden, die drau�en vor dem Palast warten. Aber
reden Sie zu niemand dar�ber, verstanden?"
"Jawohl!" antwortete der Hauptmann, salutierte wieder und
ging hinaus, um die Soldaten der Leibwache zu rufen.

Zehntes Kapitel
in dem Lukas und Jim in gro�e Gefahr geraten

Der Zirkus Lummerland hatte eben wieder eine Vorstellung


beendet, und der Beifall der Zuschauer brauste �ber den
Platz.
"So!" sagte Lukas zu Jim. "Jetzt gehen wir erst mal in Ruhe
fr�hst�cken. Jetzt haben wir ja genug Geld."
Und zu den Zuschauern gewandt, verk�ndete er:
"Es folgt jetzt eine kleine Pause!"
In diesem Augenblick �ffneten sich die Ebenholzfl�gel des
Palasttores, und die Treppe herunter marschierten drei�ig
uniformierte M�nner. Sie hatten gezackte Helme auf dem
Kopf und gro�e gebogene S�bel zur Seite. Die Menge ver-
stummte und machte �ngstlich Platz. Die drei�ig Soldaten
marschierten auf Jim und Lukas zu. Sie stellten sich im Kreis
um die beiden Freunde auf, und der Hauptmann trat auf Lukas
zu.
"Ich bitte die sehr ehrenwerten Fremdlinge, mir ohne Z�gern
in den Palast zu folgen, wenn es angenehm ist", befahl er mit
rauher, bellender Stimme.
Lukas musterte den Hauptmann von Kopf bis Fu�. Dann nahm
er seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie sorgf�ltig und
z�ndete sie an. Als sie richtig brannte, wandte er seine
Aufmerksamkeit wieder dem Hauptmann zu und sagte ge-
m�chlich:
"Nein, es ist uns im Augenblick nicht angenehm. Wir wollen
n�mlich gerade fr�hst�cken gehn. Bis jetzt habt ihr euch ja
genug Zeit gelassen, und jetzt haben wir's nicht mehr so
eilig."
Der Hauptmann verzog sein narbenbedecktes Gesicht zu
einem Grinsen, das h�flich sein sollte, und bellte:
"Ich bin hier auf allerh�chsten Befehl und soll Sie beide holen.
Ich mu� den Befehl ausf�hren. Gehorchen ist mein Beruf."
"Meiner nicht", antwortete Lukas und paffte einige W�lkchen.
"Wer sind Sie �berhaupt?"
"Ich bin der Hauptmann der kaiserlichen Palastwache",
schnarrte der Hauptmann und salutierte mit seinem S�bel.
"Hat Sie der Kaiser von Mandala geschickt?" forschte Lukas
weiter.
"Das nicht", sagte der Hauptmann. "Wir kommen von Herrn
Pi Pa Po, dem Oberbonzen."
"Was meinst du, Jim?" wandte sich Lukas an seinen Freund.
"Wollen wir erst fr�hst�cken oder zuerst zu Herrn Pi Pa
Po?"
"Ich wei� auch nicht", sagte Jim, dem das Ganze nicht recht
geheuer schien.
"Na gut", meinte Lukas. "Wir wollen h�flicher sein als er und
ihn nicht warten lassen. Komm, Jim!"
Die Palastwache nahm die beiden Freunde in die Mitte. Sie
stiegen die neunundneunzig Silberstufen hinauf und schritten
durch das Tor in den Palast hinein. Hinter ihnen schl�ssen sich
die schweren Ebenholzfl�gel.
Sie befanden sich jetzt in einem hohen Gang, der ungeheuer
pr�chtig geschm�ckt war. Dicke, gewundene S�ulen aus gr�-
nem Jadestein trugen eine Decke aus schimmerndem Perlmut-
ter. �berall hingen Vorh�nge aus rotem Samt und kostbarer
gebl�mter Seide. Links und rechts zweigten Seiteng�nge ab.

Dort sahen Jim und Lukas viele T�ren, alle f�nf Meter eine. Es
waren unz�hlige T�ren, denn jeder Seitengang hatte wieder
Seiteng�nge, und alle waren so lang, da� es schien, als n�hmen
sie �berhaupt kein Ende.
"Dies, ehrenwerte Fremdlinge", erkl�rte der Hauptmann ge-
d�mpft, "ist das kaiserliche Amt. Wenn Sie geruhen wollen,
mir zu folgen, dann werde ich Sie zu dem erlauchten Herrn
Oberbonzen Pi Pa Po bringen."
"Eigentlich", brummte Lukas, "wollen wir lieber zum Kaiser
und nicht zu Herrn Pi Pa Po."
"Der erlauchte Herr Oberbonze wird Sie gewi� zum erhabe-
nen Kaiser geleiten", erwiderte der Hauptmann und verzog
sein Gesicht zu einem h�flichen Grinsen.
Sie marschierten also eine ganze Weile kreuz und quer durch
die vielen G�nge, bis sie endlich vor einer T�r stehen-
blieben.
"Hier ist es", raunte der Hauptmann ehrf�rchtig.
Lukas klopfte unbek�mmert an und trat mit Jim ein. Die
Soldaten blieben drau�en im Gang stehen.
In dem Zimmer sa�en drei sehr dicke Bonzen auf erh�hten
St�hlen. Der Bonze in der Mitte hatte einen besonders hohen
Stuhl und trug ein goldenes Gewand. Das war Herr Pi Pa Po.
Alle drei hielten seidene F�cher in den H�nden, mit denen sie
sich Luft zuf�chelten. Vor jedem Bonzen hockte auf dem
Boden ein Schreiber mit Tusche, Pinsel und Papier, denn in
Mandala schreibt man mit dem Pinsel.
"Guten Morgen, meine Herren!" sagte Lukas freundlich und
tippte mit dem Finger an seine M�tze. "Sind Sie Herr Pi Pa Po,
der Oberbonze? Wir m�chten n�mlich gern zum Kaiser."
"Guten Morgen!" erwiderte der Oberbonze l�chelnd. "Zum
Kaiser werden Sie wohl erst sp�ter kommen."
"Vielleicht", f�gte der zweite Bonze hinzu und schielte zum
Oberbonzen hinauf.
"Es ist nicht ganz ausgeschlossen", lie� sich der dritte Bonze
vernehmen. Und alle drei nickten einander zu, und die Schrei-
ber kicherten beif�llig, beugten sich �ber ihre Papiere und
schrieben die geistreichen Worte der Bonzen auf, um sie der
Nachwelt zu erhalten.
"Erlauben Sie zun�chst g�tigst einige Fragen," sagte der
Oberbonze. "Wer sind Sie beide?"
"Und woher kommen Sie eigentlich?" wollte der zweite Bonze
wissen.
"Und was wollen Sie hier?" erkundigte sich der dritte.
"Ich bin Lukas der Lokomotivf�hrer, und das hier ist mein
Freund Jim Knopf", sagte Lukas. "Wir kommen aus Lummer-
land und wollen zum Kaiser von Mandala, um ihm mitzuteilen,
da� wir seine Tochter aus der Drachenstadt befreien
werden."
"Sehr lobenswert!" meinte der Oberbonze l�chelnd. "Aber das
kann jeder sagen."
"Haben Sie Beweise?" fragte der zweite Bonze.
"Oder eine Erlaubnis?" setzte der dritte hinzu. Und wieder
kicherten die Schreiber beif�llig und schrieben alles f�r die
Nachwelt auf, und die Bonzen f�chelten sich und nickten
einander l�chelnd zu.
"H�ren Sie mal, meine Herren Bonzen!" sagte Lukas, schob
seine M�tze ins Genick und nahm die Pfeife aus dem Mund.
"Was wollen Sie eigentlich? Sie sollten sich lieber nicht so
aufblasen. Ich glaube n�mlich, der Kaiser wird ziemlich �rger-
lich sein, wenn er h�rt, wie Sie sich hier wichtig machen."
"Das", entgegnete der Oberbonze l�chelnd, "wird er wahr-
scheinlich niemals erfahren."
"Ohne uns", erkl�rte der zweite Bonze selbstgef�llig, "k�nnen
die ehrenwerten Fremdlinge �berhaupt nicht zum Kaiser ge-
langen."
"Und wir lassen Sie erst zu ihm, wenn wir alles genau gepr�ft
haben", vollendete der dritte. Und wieder nickten die Bonzen
sich l�chelnd zu, und die Schreiber schrieben es auf und
kicherten beif�llig.
"Also gut!" sagte Lukas seufzend. "Aber beeilen Sie sich bitte
etwas mit dem Pr�fen. Wir haben n�mlich noch nicht gefr�h-
st�ckt."
"Sagen Sie, Herr Lukas", begann der Oberbonze, "haben Sie
einen Ausweis?"
"Nein", antwortete Lukas.
Die Bonzen zogen die Augenbrauen hoch und blickten einan-
der bedeutungsvoll an.
"Ohne Ausweis", sagte der zweite Bonze, "haben Sie ja nicht
einmal einen Beweis, da� Sie vorhanden sind."
"Ohne Ausweis", erg�nzte der dritte, "gibt es Sie gar nicht,
amtlich gesehen! Also k�nnen Sie auch nicht zum Kaiser
gehen. Denn ein Mensch, den es nicht gibt, kann ja nirgendwo
hingehen. Das ist logisch."
Und die Bonzen nickten einander zu, und die Schreiber
kicherten und schrieben es f�r die Nachwelt auf.
"Aber wir stehen doch hier!" bemerkte jetzt Jim. "Also gibt's
uns doch."
"Das kann jeder sagen", erwiderte der Oberbonze l�chelnd.
"Das ist noch lange kein Beweis", sagte der zweite Bonze.
"Jedenfalls nicht amtlich gesehen", f�gte der dritte hinzu.
"Wir k�nnen Ihnen h�chstens einen vorl�ufigen Ausweis
ausstellen", schlug der Oberbonze herablassend vor. "Das ist
aber wirklich alles, was wir f�r Sie tun k�nnen."
"Gut", sagte Lukas, "k�nnen wir damit zum Kaiser?"
"Nein", sagte der zweite Bonze. "Zum Kaiser k�nnen Sie
damit nat�rlich nicht."
"Was k�nnen wir denn damit?" erkundigte sich Lukas.
"Gar nichts", sagte der dritte Bonze l�chelnd.
Und wieder f�chelten sich die drei Bonzen und nickten einan-
der zu, und die Schreiber kicherten beif�llig und schrieben die
geistreichen Worte ihrer Vorgesetzten auf.
"Jetzt will ich euch mal was sagen, meine Herren Bonzen",
sagte Lukas langsam. "Wenn ihr uns jetzt nicht sofort zum
Kaiser bringt, dann werden wir euch schon beweisen, da� es
uns gibt. Auch amtlich gesehen!" Dabei lie� er sie ein wenig
seine gro�e schwarze Faust sehen, und auch Jim zeigte seine
kleine schwarze Faust.
"H�ten Sie Ihre Zunge!" zischte der Oberbonze mit t�cki-
schem L�cheln. "Das ist Bonzenbeleidigung! Daf�r k�nnte ich
euch beide sofort in den Kerker werfen lassen."
"Na, das ist doch die H�he!" rief Lukas, der nun wirklich
langsam anfing, die Geduld zu verlieren. "Ihr wollt uns wohl
absichtlich nicht zum Kaiser lassen, wie?"
"Nein", erwiderte der Oberbonze.
"Niemals!" riefen nun auch die Schreiber und schielten zu den
Bonzen hinauf.
"Und warum nicht?" fragte Lukas.
"Weil ihr Spione seid", antwortete der Oberbonze und l�chelte
triumphierend. "Ihr seid verhaftet!"
"So!'"sagte Lukas mit gef�hrlicher Ruhe. "Ihr glaubt wohl, ihr
k�nnt uns zum Narren halten, ihr dicken, dummen Bonzen?
Aber da seid ihr bei uns an die Falschen geraten."
Damit ging er zuerst auf die Schreiber zu, nahm ihnen die
Pinsel aus der Hand und schlug sie ihnen um die Ohren. Die
Schreiber fielen sofort um und begannen, j�mmerlich zu
schreien.
Dann packte Lukas, ohne dabei die Pfeife aus dem Mund zu
nehmen, Herrn Pi Pa Po, hob ihn hoch, drehte ihn in der Luft
um und steckte ihn mit dem Kopf zuunterst in einen Papier-
korb. Der Oberbonze schrie und heulte vor Wut und zappelte
mit den Beinen, aber er konnte sich nicht befreien. Er sa� zu
fest.
Darauf ergriff Lukas mit jeder Hand einen der beiden anderen
Bonzen am Kragen, stie� mit dem Fu� das Fenster auf und
hielt sie am ausgestreckten Arm hinaus. Die beiden Bonzen
jammerten, wagten aber nicht zu zappeln, weil sie Angst
hatten, Lukas w�rde sie fallen lassen. Und an dieser Stelle ging
es gerade ziemlich tief hinunter. Sie hingen also ganz still und
blickten mit blassen Gesichtern in die Tiefe.
"Na?" knurrte Lukas, die Pfeife zwischen den Z�hnen, "wie
gef�llt euch das?" Dabei sch�ttelte er die beiden ein bi�chen,
worauf sie anfingen, mit den Z�hnen zu klappern. "F�hrt ihr
uns jetzt sofort zum Kaiser oder nicht?"
"Ja, ja!" wimmerten die beiden Bonzen.
Lukas holte sie wieder herein und stellte sie auf ihre zitternden
Beine.
Doch in diesem Augenblick erschien die Palastwache in der
T�r. Das Geschrei des Oberbonzen hatte sie alarmiert. Alle
drei�ig Mann dr�ngten sich in das Zimmer und gingen mit
gezogenen S�beln auf Lukas und Jim los. Schnell sprangen die
beiden in eine Ecke des Zimmers, um R�ckendeckung zu
haben. Jim stellte sich hinter Lukas, der die Schwerthiebe mit
Stuhlbeinen abfing und das Tischchen eines Schreibers als
Schild ben�tzte. Aber er mu�te bald ein anderes Tischchen
und ein anderes Stuhlbein nehmen, weil die ersten von den
Schwertern zerhauen waren. Jim reichte sie ihm schnell hin.
Aber es war vorauszusehen, da� die Freunde nicht allzulang
w�rden Widerstand leisten k�nnen, weil ja im ganzen nur drei
Tischchen und drei St�hle da waren. Bald mu�te der Vorrat zu
Ende sein, und was dann?
Da der Kampf ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm,
bemerkte weder Lukas noch Jim das erschrockene Gesicht-
chen, das pl�tzlich in der offenen T�r auftauchte. Ungef�hr
eine Handbreit �ber dem Boden lugte es f�r einen Augenblick
hinter dem T�rrahmen vor und verschwand sofort wieder.
Es war Fing Pong!
Er hatte bis in den Vormittag hinein geschlafen, weil er gestern
so ungew�hnlich sp�t ins Bett gekommen war. Darum hatte er
seine neuen Freunde nicht mehr bei der Lokomotive angetrof-
fen. Die Leute erz�hlten ihm, da� die Palastwache die beiden
Lokomotivf�hrer abgeholt h�tte. Als er das h�rte, stieg eine
bange Ahnung in Fing Pong auf. Er lief durch alle G�nge des
kaiserlichen Amtes, bis er von weitem den L�rm des Kampfes
vernahm, ihm nachging und die offene T�r sah. Mit einem
Blick hatte er die Gef�hrlichkeit der Lage erkannt. Hier
konnte nur noch einer helfen: Der erhabene Kaiser selbst! Wie
ein Wiesel rannte Fing Pong durch die G�nge, die Treppen
hinauf, durch S�le und Gem�cher. Manchmal mu�te er zwi-
schen Posten hindurch, die ihn mit gekreuzten Hellebarden
aufzuhalten versuchten, doch er schl�pfte einfach darunter
durch. Er legte sich in die Kurven, rutschte auf dem blanken
Marmorboden aus und verlor kostbare Sekunden. Doch
schnell hatte er sich wieder aufgerappelt und jagte, kleine
Staubw�lkchen hinter sich lassend, weiter. Jetzt h�pfte er eilig
eine breite Marmortreppe hinauf und lief auf einem endlosen
Teppich entlang. Er rannte und rannte und rannte ...
"Und wir lassen sie erst zu ihm, wenn wir alles
genau gepr�ft haben..."
Nun war er nur noch zwei Vorzimmer weit von dem Thronsaal
des Kaisers entfernt. Jetzt nur noch eines. Da waren schon die
gro�en Fl�gelt�ren des Saales ... aber - o Schreck! - diese
T�ren wurden eben langsam von zwei Dienern geschlossen. Im
allerletzten Augenblick witschte Fing Pong noch durch einen
schmalen Spalt, und nun war er im Thronsaal. Mit leisem
Donner fiel hinter ihm die T�r ins Schlo�.
Der Thronsaal war riesengro�, und ganz am Ende sah Fing
Pong den erhabenen Kaiser auf seinem Thron aus Silber und
Diamanten sitzen unter einem Baldachin aus hellblauer Seide.
Neben dem Thron stand auf einem Tischchen ein mit Brillan-
ten besetztes Telefon.
In einem weiten Halbkreis waren die M�chtigen des Reiches,
die F�rsten und die Mandarine und die K�mmerer und die
Edlen und die weisen M�nner und die Sterndeuter und die
gro�en Maler und Dichter Mandalas versammelt. Sie alle zog
der Kaiser in wichtigen Dingen der Regierung zu Rate. Auch
Musiker waren da mit gl�sernen Geigen und silbernen Fl�ten
und einem mandalanischen Klavier, das �ber und �ber mit
Perlen verziert war.
Eben begannen die Musiker, eine feierliche Melodie zu spie-
len. Es war ganz still in dem gro�en Saal, und alle lauschten
and�chtig. Aber Fing Pong konnte unm�glich warten, bis die
Musik zu Ende war, da Konzerte in Mandala noch viel l�nger
dauern als sonst irgendwo auf der Welt.
Er dr�ngte sich durch die Menge der W�rdentr�ger, und als er
noch ungef�hr zwanzig Meter von dem Thron entfernt war,
warf er sich auf den Bauch nieder - denn so mu�te man in
Mandala den Kaiser begr��en - und rutschte in einem Riesen-
schwung bis vor die silbernen Stufen.
Unter den W�rdentr�gern entstand Unruhe. Die Musikanten
brachen ab, denn sie waren aus dem Takt gekommen, und ein
zorniges Gemurmel erhob sich.
Der Kaiser von Mandala, ein gro�er, sehr alter Mann mit
einem schneewei�en d�nnen Bart, der bis auf den Boden
herabhing, blickte verwundert, aber nicht unfreundlich, auf
den winzigen Fing Pong zu seinen F��en.
"Was willst du, Kleiner?" fragte er langsam. "Warum st�rst du
mein Konzert?"
Er sprach mit leiser Stimme, aber diese Stimme hatte einen
Klang, der bis in den letzten Winkel des gro�en Thronsaales zu
vernehmen war.
Fing Pong schnappte nach Luft.
"Jipp ..." stie� er hervor, .Lukf ... Lokomoff ... Geff ...
Gefahr!"
"Sprich langsam, mein Kleiner!" gebot der Kaiser milde. "Was
gibt es? La� dir nur Zeit!"
"Sie wollen doch Li Si retten!" keuchte Fing Pong.
Der Kaiser sprang auf.
"Wer?" rief er, "wo sind sie?"
"Im Amt!" schrie Fing Pong. "Bei Herrn Pi Pa Po!.. . Schnell!
".. Pal ... Palastwache!"
"Was ist mit der Palastwache?" fragte der Kaiser aufgeregt.
"... wollen sie t�ten!" japste Fing Pong.
Nun brach eine ungeheure Aufregung los. Alles rannte zur
T�r. Die Musiker lie�en ihre Instrumente im Stich und rannten
mit. Allen voran lief der Kaiser, befl�gelt von der Hoffnung,
da� seine Tochter gerettet werden k�nnte. Hinter ihm eilte der
Schw�rm der W�rdentr�ger, in deren Mitte sich der kleine
Fing Pong befand. Er hatte M�he, in all der Aufregung nicht
totgetrampelt zu werden, denn niemand achtete mehr auf
ihn.

Lukas und Jim waren inzwischen in eine schlimme Lage


geraten. Alle M�bel waren von den S�beln der Palastwache in
St�cke geschlagen. Nun standen die beiden Freunde den
bewaffneten Soldaten wehrlos gegen�ber. Drei�ig Schwert-
spitzen richteten sich auf sie.
"Legt sie in Ketten!" schrie der Oberbonze, der inzwischen
wieder auf die Beine gekommen war, aber vergeblich versuch-
te, den Papierkorb von seinem Kopf zu streifen. Die anderen
Bonzen und die Schreiber kreischten: "Ja, ja, ja, legt sie in
Ketten! Es sind gef�hrliche Spione!"
Lukas und Jim wurden an H�nden und F��en mit schweren
Ketten gefesselt, und dann wurden sie Herrn Pi Pa Po und den
beiden anderen Bonzen vorgef�hrt.
"Nun?" fragte der Oberbonze und l�chelte w�tend durch die
Gitterst�be des Papierkorbes. "Wie f�hlt IHR euch jetzt? Wir
werden euch wohl am besten sogleich eure ehrenwerten H�up-
ter abschneiden."
Lukas antwortete nicht. Er nahm seine ganze Kraft zusammen
und versuchte, die Ketten zu zerrei�en. Aber sie waren aus
mandalanischem Stahl und dick genug, einen Elefanten zu
fesseln. Die Bonzen nickten einander l�chelnd zu, und die
Schreiber kicherten �ber Lukas' Bem�hungen.
"Jim, alter Junge", sagte Lukas schlie�lich zu seinem kleinen
Freund langsam und mit rauher Stimme, ohne sich um die
Schreiber und Bonzen zu k�mmern, "das war eine kurze Reise.
Tut mir leid, da� du nun mein Schicksal teilen mu�t."
Jim schluckte.
"Wir sind doch Freunde", antwortete er leise und bi� sich auf
die Unterlippe, damit sie nicht so zittern sollte.
Die Schreiber kicherten wieder, und die Bonzen nickten
einander grinsend zu.
"Jim Knopf", sagte Lukas, "du bist wirklich der feinste kleine
Kerl, den ich in meinem Leben gesehen habe!"
"F�hrt sie zum Richtplatz!" befahl der Oberbonze, und die
Soldaten ergriffen Lukas und Jim, um sie fortzuschleppen.
"Halt!" rief da pl�tzlich eine Stimme, nicht laut, aber mit
einem Klang, da� jeder sie vernahm. Alle wandten sich um.
Da stand der Kaiser von Mandala in der T�r und hinter ihm alle
W�rdentr�ger des Reiches.
"Nieder mit dem Schwert!" gebot der Kaiser.
Der Hauptmann wurde bleich vor Schreck und lie� das
Schwert sinken. Die Soldaten taten ebenso.
"Nehmt den Fremdlingen die Fesseln ab!" befahl der Kaiser.
"Und legt daf�r sogleich Herrn Pi Pa Po und die anderen in
Ketten!"
So geschah es.
Als Lukas frei war, z�ndete er sich als erstes die Pfeife wieder
an, die ihm ausgegangen war, und dann sagte er: "Komm,
Jim!"
Die beiden Freunde gingen auf den Kaiser von Mandala zu.
Lukas nahm seine M�tze ab und seine Pfeife aus dem Mund
und sagte: "Guten Tag, Majest�t! Es freut mich, Sie endlich
selbst kennenzulernen."
Und dann sch�ttelten sich alle drei die H�nde.

Elftes Kapitel
in dem Jim Knopf auf unerwartete Weise sein Geheimnis erf�hrt

Mit dem Zug der W�rdentr�ger hinter sich, gingen der Kaiser,
Lukas und Jim durch die G�nge des Palastes langsam zum
Thronsaal zur�ck.
"Da sind Sie aber gerade noch zur rechten Zeit gekommen,
Majest�t!" sagte Lukas zum Kaiser, w�hrend sie die breite
Marmortreppe emporstiegen. "Das h�tte b�se enden k�nnen.
Woher wu�ten Sie eigentlich von uns?"
"Durch einen winzigen Burschen, der pl�tzlich hereingest�rzt
kam", antwortete der Kaiser. "Ich wei� nicht, wer es war, aber
er schien ein sehr entschlossener und kluger kleiner Kerl zu
sein."
"Fing Pong!" riefen Lukas und Jim wie aus einem Mund.
"Er is' ein Kindeskind des Oberhofkochs, der so einen um-
st�ndlichen Namen hat", f�gte Jim hinzu.
"Herr Schu Fu Lu Pi Plu?" fragte der Kaiser l�chelnd.
"Ja richtig!" sagte Jim. "Aber wo steckt denn Ping Pong?"
Niemand wu�te es, und alle begannen zu suchen.
Endlich fand man das winzige Kerlchen. Es hatte sich in das
Ende eines Seidenvorhanges gewickelt und schlief. F�r einen
S�ugling in seinem Alter war die Rettungstat eine ganz unge-
w�hnliche Anstrengung gewesen. Und als er gesehen hatte,
da� die beiden sich in Sicherheit befanden, da war er sofort
beruhigt in tiefen Schlaf gesunken.
Der Kaiser selbst b�ckte sich zu ihm nieder, hob ihn auf und
trug ihn vorsichtig hinauf in seine Gem�cher. Dort legte er ihn
in sein eigenes kaiserliches Himmelbett. Ger�hrt betrachteten
Lukas und Jim ihren winzigen Lebensretter, dessen leises
Schnarchen sich anh�rte wie das Zirpen einer Grille.
"Ich werde ihn kaiserlich belohnen", sagte der Kaiser leise.
"Und was den Oberbonzen Pi Pa Po betrifft, so m�gt ihr
beruhigt sein. Er und seine Genossen werden ihrer Bestrafung
nicht entrinnen.

Von nun an ging es den beiden Freunden nat�rlich sehr gut. Sie
wurden mit allen erdenklichen Ehren �bersch�ttet. Und wer
immer ihnen begegnete, der verneigte sich bis zum Boden vor
ihnen.
Den ganzen Vormittag �ber herrschte in der kaiserlichen
Bibliothek die gr��te Aufregung. Die Bibliothek bestand aus
siebenmillionendreihundertundneunundachtzigtausendf�nf-
hundertundzwei B�chern. S�mtliche gelehrten M�nner Man-
dalas waren damit besch�ftigt, alle diese B�cher in h�chster
Eile durchzulesen. Sie hatten n�mlich den Auftrag, schnell-
stens herauszufinden, was die Bewohner der Insel Lummer-
land am liebsten zu Mittag essen und wie man es kocht.
Schlie�lich fanden sie es auch und schickten Nachrichten in die
kaiserliche K�che zu Herrn Schu Fu Lu Pi Plu und seinen
einunddrei�ig Kindern und Kindeskindern, die auch alle K�-
che waren, einer immer kleiner als der andere. Und Herr Schu
Fu Lu Pi Plu kochte an diesem Tag das Essen eigenh�ndig. Er
und seine zahlreiche Familie hatten nat�rlich inzwischen l�ngst
erfahren, was geschehen war, und nun platzten sie alle fast vor
Stolz �ber Ping Pong, das j�ngste Familienmitglied, und waren
v�llig durcheinander vor Aufregung.
Als das Essen fertig war, setzte sich Herr Schu Fu Lu Pi Plu
seine allergr��te Kochm�tze auf, die so gro� war wie ein
Federbett. Und dann trug er pers�nlich das Essen in den
kaiserlichen Speisesaal.
Den beiden Freunden - Fing Pong schlief noch - schmeckte es
so gro�artig wie niemals zuvor in ihrem Leben, das Erdbeereis
von Frau Waas vielleicht ausgenommen. Sie lobten Herrn Schu
Fu Lu Pi Plus Kunst geb�hrend, und der Oberhofkoch wurde
ganz rot vor Freude, und sein runder Kopf gl�nzte wie eine
Tomate. �brigens gab es diesmal auch richtige Gabeln, L�ffel
und Messer zum Essen. Das hatten die gelehrten M�nner
n�mlich ebenfalls in ihren B�chern gelesen und hatten dem
Kaiserlichen Hofsilberschmied den Auftrag gegeben, ganz
schnell Bestecke zu liefern.
Nach der Mahlzeit spazierte der Kaiser mit den beiden Freun-
den auf eine gro�e Terrasse hinaus. Von hier aus konnte man
die ganze Stadt mit ihren tausend goldenen D�chern �ber-
blicken.
Sie setzten sich unter einen gro�en Sonnenschirm und plauder-
ten erst eine Weile �ber dies und das. Dann lief Jim hinunter
und holte aus der Lokomotive das Mensch-�rgere-dich-nicht-
Spiel. Beide Freunde erkl�rten dem Kaiser von Mandala die
Regeln, und dann spielten sie miteinander. Der Kaiser war
zwar sehr eifrig bei der Sache, aber er verlor oft, und dar�ber
freute er sich au�erordentlich. Er dachte n�mlich im stillen:
Wenn diese Fremden so viel Gl�ck haben, dann gelingt es
ihnen vielleicht wirklich, meine kleine Li Si zu befreien!
Sp�ter erschien auch Fing Pong, der endlich ausgeschlafen
hatte. Und dann gab es nach lummerl�ndischem Rezept Kakao
und Kuchen, und Fing Pong und der Kaiser, die so etwas nicht
kannten, versuchten beides und fanden, da� es ausgezeichnet
schmeckte.
"Wann wollt ihr nach der Drachenstadt aufbrechen, meine
Freunde?" fragte der Kaiser, als sie fertig waren.
"Sobald wie m�glich", antwortete Lukas. "Wir m��ten nur
erst mal feststellen, was es mit dieser Drachenstadt eigentlich
auf sich hat, wo sie liegt, wie man hinkommt und noch so
verschiedenes."
Der Kaiser nickte.
"Heute abend, meine Freunde", versprach er, "werdet ihr alles
erfahren, was in Mandala �ber diese Stadt bekannt ist."
Dann f�hrten der Kaiser und Fing Pong die beiden Freunde in
den Garten des kaiserlichen Palastes, um ihnen bis zum Abend
die Zeit zu vertreiben. Sie zeigten ihnen alle Sehensw�rdigkei-
ten, zum Beispiel die wunderbaren mandalanischen Wasser-
spiele und Springbrunnen. Herrliche Pfauen stolzierten umher
mit Schweifen wie aus gr�nem und violettem Gold; blaue
Hirsche mit silbernen Geweihen kamen zutraulich heran; sie
waren so zahm, da� man auf ihnen reiten konnte; es gab auch
mandalanische Einh�rner, deren Fell wie fl�ssiges Mondlicht
gl�nzte, Purpurb�ffel mit langem, welligem Haar, wei�e Ele-
fanten mit diamantenbesetzten Sto�z�hnen, kleine Seiden�ff-
chen mit lustigen Gesichtern und tausend andere Seltsam-
keiten.
Abends a�en sie gemeinsam auf der Terrasse, und als es dunkel
wurde, gingen sie in den Thronsaal zur�ck. Hier waren inzwi-
schen gro�e Vorbereitungen getroffen worden.
Tausend kleine Ampeln aus bunten Edelsteinen erleuchteten
den riesigen Raum. Die einundzwanzig gelehrtesten M�nner
Mandalas waren versammelt und warteten auf Jim und Lukas.
Sie hatten Papierrollen und B�cher mitgebracht, aus denen
man alles, was �ber die Drachenstadt bekannt war, ersehen
konnte.

Man kann sich vorstellen, wie gelehrt die einundzwanzig


M�nner waren, wenn sie sogar in diesem Land, wo schon die
kleinen Kinder so gescheit sind, als die gelehrtesten anerkannt
wurden. Man konnte sie einfach alles fragen, zum Beispiel, wie
viele Wassertropfen im Meer enthalten sind oder wie weit der
Mond entfernt ist oder warum das Rote Meer rot ist oder wie
das seltenste Tier hei�t oder wann die n�chste Sonnenfinsternis
sein wird. Das wu�ten sie alles einfach aus dem Kopf. Der Titel
dieser M�nner lautete: "Bl�te der Gelehrsamkeit". Wie Bl�-
ten sahen sie allerdings nicht gerade aus. Vom vielen Studieren
und Auswendiglernen waren manche von ihnen ganz zusam-
mengeschrumpft und hatten riesige Stirnen bekommen. Ande-
re waren vom vielen Sitzen und Lesen kurz und dick geworden
und hatten gro�e, abgeplattete Hinterteile. Die dritte Sorte
war von dem best�ndigen Recken nach den oberen B�cher-
regalen so lang und d�nn geworden wie Besenstiele. Alle
trugen gro�e goldene Brillen auf den Nasen, das war das
Zeichen ihrer besonderen W�rde.
Nachdem die einundzwanzig "Bl�ten der Gelehrsamkeit" erst
den Kaiser und dann die beiden Freunde durch Niederwerfen
auf den Bauch begr��t hatten, begann Lukas, Fragen zu
stellen.
"Vor allem w��te ich zuerst mal gern eines", sagte er und
z�ndete sich seine Pfeife an. "Woher wei� man eigentlich, da�
die Prinzessin sich in der Drachenstadt befindet?"
Darauf trat ein Gelehrter von der besenstielartigen Sorte vor,
r�ckte an seiner Brille und sprach:
"Das, ihr ehrenwerten Fremdlinge, ging folgenderma�en zu:
Die wie Morgentau liebliche Prinzessin Li Si weilte vor einem
Jahr w�hrend der gro�en Ferien am Meer. Eines Tages war sie
pl�tzlich spurlos verschwunden. Niemand wu�te, was mit ihr
geschehen war. Die schreckliche Ungewi�heit dauerte an, bis
vor zwei Wochen Fischer in den Wellen des Gelben Flusses
eine Flaschenpost fanden. Der Gelbe Flu� kommt aus dem rot
und wei� gestreiften Gebirge und flie�t drau�en vor den Toren
unserer Stadt vorbei. Gefunden wurde eine zierliche Milchfla-
sche f�r S�uglinge, wie kleine M�dchen sie beim Puppenspiel
verwenden. Darin befand sich ein Brief von der Hand unserer
blumenblattgleichen Prinzessin."
"K�nnten wir diesen Brief vielleicht mal sehen?" fragte
Lukas.
Der Gelehrte suchte unter seinen Papieren, und dann �ber-
reichte er Lukas einen kleinen, zusammengefalteten Zettel.
Lukas entfaltete ihn und las vor:
"Lieber Unbekannter! Wer du auch sein magst, der diese
Flaschenpost findet, bitte bringe sie so schnell wie m�glich zu
meinem Vater Pung Ging, dem erhabenen Kaiser von Manda-
la. Die 13 haben mich gefangen und an Frau Mahlzahn
verkauft. Hier sind auch noch viele andere Kinder. Bitte rettet
uns, denn es ist einfach schrecklich in dieser Gefangenschaft.
Frau Mahlzahn ist ein Drache, und meine jetzige Adresse
lautet:

Prinzessin Li Si bei Frau Mahlzahn


Kummerland
Alte Stra�e Nummer 133
Dritte Etage links."

Lukas lie� den Zettel sinken und starrte in Gedanken versun-


ken vor sich hin.
"Mahlzahn ...?" murmelte er, .... Mahlzahn? . . .
Kummerland? ... Das hab' ich doch schon mal irgendwo
geh�rt."

"Kummerland ist der Name der Drachenstadt", erl�uterte der


Gelehrte. "Das fanden wir in einem alten Buch erw�hnt."
Jetzt nahm Lukas seine Pfeife aus dem Mund. Er stie� einen
�berraschten Pfiff aus und murmelte:
"Die Geschichte f�ngt an, spannend zu werden!"
"Warum?" fragte Jim verwundert.
"H�r mal zu, Jim Knopf!" sagte Lukas ernst. "Jetzt ist der
Augenblick gekommen, wo du ein gro�es Geheimnis erfahren
mu�t, das Geheimnis deiner Ankunft auf Lummerland. Du
warst damals noch viel zu klein und kannst dich deswegen nicht
mehr daran erinnern. Du bist n�mlich in einem Postpaket vom
Brieftr�ger zu uns gebracht worden."
Und nun erz�hlte er Jim, dessen Augen vor Staunen immer
gr��er und gr��er wurden, was sich damals in Lummerland
ereignet hatte. Zum Schlu� malte er auf ein St�ck Papier, wie
die Adresse auf dem Paket ausgesehen hatte.
"Und als Absender stand nur eine gro�e 13 hinten drauf",
schlo� er seinen Bericht.
Der Kaiser, Ping Pong und die gelehrten M�nner hatten
aufmerksam zugeh�rt und die von Lukas aufgemalte Adresse
mit der auf dem Brief der Prinzessin verglichen.
"Es besteht kein Zweifel", verk�ndete schlie�lich ein Gelehr-
ter von der kurzen, dicken Sorte, der ein Fachmann f�r solche
Dinge war, "es besteht kein Zweifel, da� es sich beide Male um
die gleiche Adresse handelt. Nur ist die von Prinzessin Li Si
offenbar richtig geschrieben, die andere auf Jims Paket stammt
dagegen von jemand, der nur schlecht schreiben kann."
"Aber dann is' Frau Waas ja gar nicht meine richtige Mutter!"
rief Jim pl�tzlich.
"Nein", antwortete Lukas, "das hat ihr ja auch immer gro�en
Kummer gemacht."
Jim schwieg eine Weile, dann fragte er bang:
"Aber wer is' es dann? Glaubst du vielleicht, da� es Frau
Mahlzahn is'?"
Lukas sch�ttelte nachdenklich den Kopf.
"Scheint mir nicht so", sagte er. "Frau Mahlzahn ist doch ein
Drache, wie die Prinzessin schreibt. Man m��te erst mal
dahinterkommen, wer diese ,13' eigentlich sind. Die haben das
Paket mit dir drin ja abgeschickt."
Aber wer die "13" waren, das wu�te niemand. Nicht einmal die
"Bl�ten der Gelehrsamkeit".
Begreiflicherweise war Jim sehr beunruhigt.
Man kann sich ja vorstellen, wie verwirrend es ist, ganz
pl�tzlich und unerwartet so entscheidende Tatsachen �ber sich
selbst zu erfahren.
"Jedenfalls", meinte Lukas, "werden wir jetzt noch aus einem
weiteren Grund in die Drachenstadt fahren m�ssen. Nicht nur,
um Prinzessin Li Si zu befreien, sondern auch um das Geheim-
nis von Jim Knopf zu erforschen."
Er paffte gedankenvoll vor sich hin und fuhr dann fort:
"Eigentlich ist es doch wirklich erstaunlich! Wenn wir nicht
nach Mandala gekommen w�ren, h�tten wir diese Spur nie
gefunden."
"Ja", meinte der Kaiser, "dahinter steckt sicherlich ein gro�es
Geheimnis."
"Mein Freund Jim Knopf und ich, wir werden es entdecken",
erwiderte Lukas ernst und entschlossen. "Wo liegt also diese
Drachenstadt Kummerland?"
Nun trat ein Gelehrter von der eingeschrumpften Sorte mit
gro�er Stirn vor. Er war der Kaiserliche Oberhofgeograph,
und er kannte alle Landkarten der Welt auswendig.
"Sehr ehrenwerte Fremdlinge", begann er mit betr�bter Mie-
ne, "die Lage der Drachenstadt ist leider keinem sterblichen
Menschen bekannt."
"Nat�rlich", sagte Lukas, "sonst h�tte der Brieftr�ger sie ja
finden m�ssen."
"Wir vermuten jedoch", sprach der Gelehrte weiter, "da� sie
irgendwo jenseits des rot und wei� gestreiften Gebirges liegt.
Da die Flaschenpost der Prinzessin mit den Wellen des Gelben
Flusses stromabw�rts geschwommen kam, mu� die Stadt wohl
stromaufw�rts liegen. Der Lauf des Gelben Flusses ist uns aber
nur bis zu dem rot und wei� gestreiften Gebirge bekannt. Dort
kommt er aus einer tiefen H�hle heraus. Wo er jedoch wirklich
entspringt, das wei� niemand."
Lukas dachte einige Zeit nach und paffte gro�e Rauchwolken
zur Decke des Thronsaales.
"Kann man in die H�hle hineinfahren?" fragte er schlie�-
lich.
"Nein", antwortete der Gelehrte, "das ist ganz unm�glich. Das
Wasser ist viel zu rei�end."
"Nun, irgendwo mu� der Flu� ja herkommen!" meinte Lukas.
"Wie k�nnte man denn auf die andere Seite des Gebirges
kommen, um dort nachzuforschen?"
Der Gelehrte breitete eine gro�e Landkarte vor Jim und Lukas
aus.
"Dies hier ist eine Karte von Mandala", erkl�rte der Oberhof-
geograph. "Die Grenze des Reiches bildet, wie deutlich zu
erkennen ist, die weltber�hmte Mandalanische Mauer, die das
Land, au�er zum Meere hin, von allen Seiten umschlie�t. Sie
hat f�nf Tore: eines nach Norden, eines nach Nordwesten,
eines nach Westen, eines nach S�dwesten und eines nach
S�den. Wenn man durch das westliche Tor f�hrt, so gelangt
man zun�chst in den ,Tausend-Wunder-Wald'. Hat man ihn
durchquert, so erreicht man schlie�lich das rot und wei�
gestreifte Gebirge. Es hei�t ,Die Krone der Welt'. Leider ist es
absolut un�bersteigbar. Aber hier, etwas s�dlich, gibt es eine
Schlucht, die den Namen ,Das Tal der D�mmerung' tr�gt.
Diese Schlucht bietet die einzige M�glichkeit, das Gebirge zu
durchqueren. Allerdings hat das bis heute noch niemand
gewagt. Das ,Tal der D�mmerung' ist n�mlich von unheim-
lichen Stimmen und Kl�ngen erf�llt, die so schrecklich anzu-
h�ren sind, da� niemand es ertr�gt. Jenseits dieses Tales liegt
vermutlich eine riesige W�ste. Wir nennen sie ,Das Ende der
Welt'. Mehr kann ich leider nicht sagen, denn dort beginnt ein
noch g�nzlich unerforschtes Gebiet."
Lukas betrachtete aufmerksam die Karte und dachte wieder
nach. Dann meinte er:
"Wenn man durch das ,Tal der D�mmerung' und auf der
anderen Seite des Gebirges immer nach Norden fahren w�rde,
m��te man doch eigentlich irgendwo wieder auf den Gelben
Flu� sto�en. Man k�nnte ihm dann weiter stromaufw�rts
folgen, bis man zu der Drachenstadt kommt. Falls sie �ber-
haupt am Gelben Flu� liegt, meine ich."
"Wir wissen es nicht sicher", entgegnete der Gelehrte vorsich-
tig. "Aber wir vermuten es."
"Na, wir werden's jedenfalls mal versuchen", sagte Lukas.
"Die Karte w�rde ich gerne mitnehmen, auf alle F�lle. Hast du
noch eine Frage, Jim?"
"Ja", antwortete Jim. "Wie sehen Drachen eigentlich aus?"
Nun trat ein kleiner dicker Gelehrter mit abgeplattetem Hin-
terteil vor und erkl�rte:
"Ich bin der Kaiserliche Hofprofessor f�r Zoologie und wei�
�ber alle Tiere der Welt genau Bescheid. Was aber die Gattung
der Drachen anbetrifft, mu� ich leider zugeben, da� die
Wissenschaft noch sehr im Dunkeln tappt. Alle Beschreibun-
gen, die ich finden konnte, sind au�erordentlich ungenau und
widersprechen sich ganz haarstr�ubend. Hier sehen Sie einige
Abbildungen, aber wie weit sie richtig sind, kann ich leider
nicht beurteilen."
Damit entrollte er vor Lukas und Jim ein Bild, auf dem
mehrere ziemlich unglaubw�rdig aussehende Kreaturen zu
sehen waren.
"Na", sagte Lukas und paffte belustigt, "wenn wir zur�ckkom-
men, dann k�nnen wir Ihnen genauer sagen, wie Drachen
aussehen. Ich glaube, jetzt wissen wir alles Notwendige. Vielen
Dank meine Herren ,Bl�ten der Gelehrsamkeit'!"
Die einundzwanzig gelehrtesten M�nner Mandalas warfen sich
wiederum ehrfurchtsvoll vor Lukas und Jim und dem Kaiser
auf die B�uche nieder, dann rafften sie ihre Papiere zusammen
und verlie�en den Thronsaal.
"Wann seid ihr geneigt, die Reise anzutreten, meine Freun-
de?" fragte der Kaiser, als sie allein waren.
"Morgen fr�h, denke ich", antwortete Lukas, "am besten,
noch ehe die Sonne aufgeht. Wir haben eine lange Fahrt vor
uns und wollen keine Zeit verlieren."
Dann wandte er sich an Fing Pong und bat:
"Sei doch so nett und besorge mir ein Blatt Papier und einen
Briefumschlag mit einer Briefmarke. Einen Bleistift habe ich
selbst. Wir wollen auf alle F�lle einen Brief nach Lummerland
schreiben, ehe wir in die Drachenstadt aufbrechen. Man wei�
nie, was alles passieren kann."
Als Fing Pong das Gew�nschte gebracht hatte, schrieben
Lukas und Jim gemeinsam einen langen Brief. Sie erkl�rten
Frau Waas und K�nig Alfons dem Viertel-vor-Zw�lften, war-
um sie von Lummerland fortgegangen waren. Und da� Jim nun
die Sache mit dem Paket w��te. Und da� sie jetzt in die
Drachenstadt Kummerland fahren m��ten, um die Prinzessin
Li Si zu befreien und Jims Geheimnis zu erforschen. Zum
Schlu� f�gten sie herzliche Gr��e hinzu, auch f�r Herrn
�rmel. Lukas unterschrieb mit seinem Namen, und Jim zeich-
nete sein eigenes schwarzes Gesicht darunter.
Dann steckten sie den Brief in den Umschlag mit der Marke,
schrieben die Adresse darauf und gingen alle vier hinunter auf
den gro�en Platz, wo sie den Brief in einen Briefkasten
steckten.
Einsam und verlassen stand Emma im Mondschein.
"Gut, da� ich daran denke!" sagte Lukas und wandte sich an
den Kaiser und Fing Pong. "Emma braucht frisches Wasser.
Und den Tender sollten wir mit Kohle auff�llen. Bei so einer
Fahrt ins Ungewisse wei� man nie, ob man so bald wieder
anst�ndiges Brennmaterial bekommen kann."
In diesem Augenblick trat gerade der Oberhofkoch Schu Fu Lu
Pi Plu aus der K�chent�r, um den Mond zu betrachten. Als e'r
die Fremden mit dem Kaiser und Fing Pong bei der Lokomoti-
ve stehen sah, w�nschte er untert�nigst einen recht guten
Abend.
"Ach, mein lieber Herr Schu Fu Lu Pi Plu", sprach der Kaiser,
"Sie k�nnen doch sicherlich unseren beiden Freunden mit
Wasser und Kohlen aus Ihrer K�che aushelfen, nicht wahr?"
Der Oberhofkoch war gerne bereit, und sie machten sich sofort
an die Arbeit. Lukas, Jim und der Oberhofkoch, ja sogar der
Kaiser selbst, schleppten Eimer voll Kohlen und Wasser aus
der K�che zu der Lokomotive. Auch Fing Pong wollte nicht
unt�tig zusehen und half ebenfalls, obwohl er nat�rlich nur ein
Eimerchen tragen konnte, das kaum gr��er war als ein Fin-
gerhut.

Endlich war der Tender voll Kohlen und Emmas Kessel voll
Wasser.
"So!" sagte Lukas zufrieden. "Sch�nen Dank! Und jetzt gehen
wir schlafen."
"Wollt ihr denn nicht im Palast �bernachten?" fragte der
Kaiser verwundert.
Aber Lukas und Jim meinten, sie wollten lieber in ihrer
Lokomotive schlafen. Da sei es sehr gem�tlich, und sie w�ren
das jetzt schon so gew�hnt.
Also verabschiedeten sich alle voneinander und w�nschten
sich gute Nacht. Der Kaiser, der Oberhofkoch und Fing Pong
versprachen, sie wollten am n�chsten Morgen ganz fr�h wie-
derkommen, um den Freunden Lebewohl zu sagen. Dann
trennten sie sich.
Lukas und Jim stiegen in das F�hrerh�uschen ihrer Lokomoti-
ve, Fing Pong und der Oberhofkoch gingen in die K�che, und
der Kaiser verschwand in seinem Palast.
Bald darauf schliefen alle.

Zw�lftes Kapitel
in dem die Fahrt ins Ungewisse beginnt und die beiden Freunde
die "Krone der Welt" sehen

"He, Jim, wach auf!"


Jim richtete sich auf, rieb sich die Augen und fragte verschla-
fen: "Was is' denn?"
"Esjst Zeit", sagte Lukas. "Wir m�ssen gleich losfahren."
Mit einem Schlag war Jim hellwach. Er schaute zum Fenster
des F�hrerh�uschens hinaus. Der Platz war menschenleer. Es
war noch d�mmerig. Die Sonne war noch nicht aufgegangen.
Eben �ffnete sich die K�chent�r, und Herr Schu Fu Lu Pi Plu
trat heraus. Er hatte eine gro�e T�te in der Hand und schritt
auf Emma zu. Hinter ihm drein kam der kleine Fing Pong, das
winzige Gesicht in kummervolle Falten gelegt. Aber er gab sich
sichtlich M�he, eine w�rdevolle Haltung zu bewahren.
"Hier", sagte der Oberhofkoch, "ich habe noch ein paar
belegte Brote als Reiseproviant f�r die ehrenwerten Fremdlin-
ge gemacht. Sie sind nach lummerl�ndischer Art gestrichen.
Hoffentlich schmecken sie Euch."
"Danke", antwortete Lukas. "Das ist aber nett, da� Sie daran
gedacht haben!"
Pl�tzlich fing Fing Pong an zu weinen. Er konnte seinen
Schmerz beim besten Willen nicht mehr unterdr�cken.
"Huhuhu, ihr ehrenwerten Lokomotivf�hrer", schluchzte er
und wischte sich die Tr�nen aus dem winzigen Gesicht, "ent-
schuldigt bitte, da� ich weine. Aber kleine Kinder in meinem
Alter - huhuhu - weinen eben manchmal, man wei� nicht
recht, warum... "
Lukas und Jim l�chelten ger�hrt, und dann sch�ttelten sie ihm
vorsichtig seine kleine Hand, und Lukas sagte:
"Wir wissen es, Fing Pong. Leb wohl, unser kleiner Retter und
Freund!"
Schlie�lich kam auch der Kaiser. Er war noch blasser als
gew�hnlich und schien sehr ernst.
"Meine Freunde", sprach er, "m�ge der Himmel euch besch�t-
zen, euch und meine kleine Tochter. Von nun an werde ich mir
nicht mehr nur um Li Si Sorgen machen, sondern auch um euch
beide. Denn ich habe euch liebgewonnen."
Lukas stie� dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife vor R�hrung
und brummte:
"Na, es wird schon alles gut gehen, Majest�t."
"Hier ist noch etwas hei�er Tee f�r euch", sagte der Kaiser und
�berreichte Lukas eine goldene Thermosflasche. "Hei�er Tee
ist immer gut auf einer Reise."
Lukas und Jim bedankten sich, dann stiegen sie ein und
schl�ssen die T�ren des F�hrerh�uschens. Jim lie� das Fenster
herunter und rief: "Auf Wiedersehen!"
"Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!" antworteten die Zu-
r�ckbleibenden. Emma setzte sich in Bewegung, und alle
winkten, bis sie einander nicht mehr sehen konnten: Die Reise
nach Drachenstadt hatte begonnen.
Zuerst ging die Fahrt eine Weile durch die menschenleeren
Stra�en, dann erreichten sie das flache Land und lie�en die
goldenen D�cher von Ping hinter sich.
Die Sonne ging auf, und das Wetter war so strahlend sch�n, wie
man es sich f�r eine Expedition nur w�nschen kann.

Sie fuhren den ganzen Tag, ohne eine einzige Unterbrechung,


quer durch das Land Mandala immer auf das geheimnisvolle
"Tal der D�mmerung" zu.
Am zweiten Tag kamen sie an weiten G�rten und Feldern
vor�ber und dampften durch D�rfer, wo ihnen die mandalani-
schen Bauern und B�uerinnen mit ihren Kindern und Kindes-
kindern zuwinkten. Niemand hatte jetzt mehr Angst vor
Emma. Die Nachricht, da� zwei Fremde auf einer Lokomotive
auszogen, um die Prinzessin Li Si zu befreien, hatte sich
nat�rlich wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitet.
Am dritten Tag erblickten die beiden Freunde eines der
ber�hmten mandalanischen Schl�sser aus wei�em Marmor-
stein. Es lag mitten in einem See. Auf vielen zierlichen S�ulen
schwebte es �ber dem Wasser. Dort wohnten junge mandalani-
sche Edeldamen. Lukas und Jim konnten die M�dchen mit
ihren seidenen F�chern winken sehen und winkten ihnen mit
ihren Taschent�chern zur�ck.
Wo immer sie anhielten, kamen die Leute herbei und brachten
gro�e K�rbe mit Fr�chten und S��igkeiten aller Art f�r die
beiden Freunde und Wasser und Kohlen f�r die Lokomo-
tive.
Am siebenten Tag ihrer Reise gelangten sie endlich zu dem
westlichen Tor in der gro�en Mandalanischen Mauer. Die
zw�lf Soldaten, die hier Posten stehen mu�ten, und die ganz
�hnlich aussahen wie die Palastwache, schleppten einen riesen-
haften Schl�ssel herbei, so gro�, da� drei M�nner ihn kaum
halten konnten. Sie steckten ihn in das Schlo� und drehten ihn
mit �u�erster Anstrengung herum. Mit lautem Knarren �ffne-
ten sich die gewaltigen Fl�gel des westlichen Tores. Seit
Menschengedenken war das nicht mehr vorgekommen.
Als Emma an ihnen vor�ber zum Tore hinausdampfte, salutierten
die W�chter und riefen: "Hoch! Hoch! Hoch die Helden
aus Lummerland!"
Wenige Minuten sp�ter waren die Reisenden schon mitten im
"Tausend-Wunder-Wald".
Es war wahrhaft keine Kleinigkeit, hier einen Weg zu finden,
der f�r eine Lokomotive einigerma�en befahrbar war, und ein
Lokomotivf�hrer, der sein Handwerk weniger gut verstanden
h�tte als Lukas, w�re wohl rettungslos steckengeblieben. Der
"Tausend-Wunder-Wald" war ein gewaltiger wilder Dschun-
gel aus farbigen Glasb�umen, Schlingpflanzen und sonderba-
ren Blumen. Und weil alles durchsichtig war, konnte man eine
Menge seltener Tiere sehen, die hier wohnten.
Es gab Schmetterlinge, so gro� wie ein Sonnenschirm. Bunte
Papageien turnten wie Akrobaten in den Zweigen. Zwischen
den Blumen krabbelten gro�e Schildkr�ten mit langen
Schnurrb�rten in ihren weisen Gesichtern, und auf den Bl�t-
tern krochen rote und blaue Schnecken mit H�usern auf dem
R�cken, die viele Stockwerke hatten und ganz �hnlich aussa-
hen wie die H�user in Fing mit ihren goldenen D�chern, nur
nat�rlich in verkleinertem Ma�stab. Manchmal zeigten sich
zierliche gestreifte Eichh�rnchen, die so gro�e Ohren hatten,
da� sie tags damit in der Luft herumsegeln konnten, und
nachts, wenn sie zu Bett gingen, wickelten sie sich hinein wie in
eine warme Decke. Kupfergl�nzende Riesenschlangen ringel-
ten sich um Baumst�mme. Sie waren aber ganz ungef�hrlich,
weil sie n�mlich an jedem Ende einen Kopf hatten und dadurch
best�ndig in Meinungsverschiedenheiten mit sich selbst gerie-
ten, wohin sie kriechen wollten. Dabei war nat�rlich nicht
daran zu denken, da� sie jemals ein Tier fingen. Sie mu�ten
sich eben von Gem�se ern�hren, das nicht weglaufen konnte.
Einmal sahen Jim und Lukas sogar eine Gruppe der scheuen,
rosafarbenen Tanzrehe, die auf einer Waldlichtung miteinan-
der tanzten.
Das alles war nat�rlich ungeheuer interessant, und Jim w�re zu
gerne ausgestiegen, um eine Weile im "Tausend-Wunder-
Wald" herumzustrolchen. Aber Lukas sch�ttelte den Kopf.
Das m�sse man auf sp�ter verschieben, meinte er. F�r diesmal
h�tten sie keine Zeit dazu. Erst m��ten sie so rasch wie
m�glich die kleine Prinzessin befreien.

Drei Tage brauchten sie zur Durchquerung des Dschungels,


denn sie kamen nur langsam vorw�rts. Aber am dritten Tag
�ffnete sich pl�tzlich das Dickicht wie ein farbenpr�chtiger
Vorhang, und ganz nahe vor ihnen erhob sich das rot und wei�
gestreifte Gebirge, das den Namen "Die Krone der Welt" trug.
Aus der Tatsache, da� Jim und Lukas dieses gewaltige Massiv
schon vom Meeresstrand aus, viele hundert Meilen entfernt,
hatten wahrnehmen k�nnen, mag man ersehen, wie unvorstell-
bar hoch diese Gipfel waren.
Die beiden Freunde waren von dem majest�tischen Anblick
sehr beeindruckt.
Die Berge standen so eng beieinander, da� an ein Durchkom-
men nicht zu denken war. Hinter der ersten Reihe kam eine
zweite und hinter der zweiten eine dritte und dahinter noch
eine und immer noch eine. Die Gipfel reichten bis in die
Wolken hinauf und zogen sich von Norden quer durch das
ganze Land nach S�den.
Jeder einzelne Berg schimmerte rot und wei� gestreift, waage-
recht oder schr�g, in Wellenlinien oder auch im Zickzack.
Manche waren sogar kariert oder mit richtigen Mustern ver-
sehen.
Nachdem die beiden Freunde eine Weile lang alles betrachtet
und sich gegenseitig auf die Gipfel mit den h�bschesten
Verzierungen aufmerksam gemacht hatten, zog Lukas die
Landkarte hervor und breitete sie aus.
"So", sagte er, "jetzt wollen wir doch mal feststellen, wo
eigentlich dieses ,TaI der D�mmerung' liegt."
Er hatte es bald entdeckt, was Jim mit ehrf�rchtigem Staunen
erf�llte, denn er konnte auf dem Papier blo� ein Gewirr von
bunten Linien und Punkten erkennen, sonst nichts.
"Schau her", erkl�rte Lukas und zeigte mit seinem Finger auf
die Karte. "Hier stehen wir, und hier ist das ,Tal der D�mme-
rung'. Wir sind also etwas zu weit n�rdlich aus dem Wald
herausgekommen. Deshalb m�ssen wir jetzt ein St�ck nach
S�den fahren."
"Ganz wie du meinst, Lukas", sagte Jim vertrauensvoll.
Sie fuhren also ein St�ck nach S�den, immer an dem Gebirge
entlang, und bald erblickten sie einen schmalen Einschnitt
zwischen den hohen Gipfeln und hielten darauf zu.
Dreizehntes Kapitel
in dem die Stimmen im "Tal der D�mmerung" zu reden
beginnen

Das "Tal der D�mmerung" war eine d�stere Schlucht, unge-


f�hr so breit wie eine Stra�e. Der Boden bestand aus rotem
Gestein und war glatt wie Asphalt. Bis hier herunter drang nie
ein Sonnenstrahl. Links und rechts stiegen senkrechte Felsen-
t�rme bis in Himmelsh�hen hinauf. Und weit hinten, ganz am
anderen Ende der Schlucht, stand gro� die rote Abendsonne
und �bergo� die zerkl�fteten W�nde mit ihrem Purpurlicht.
Vor dem Eingang zu der Schlucht hielt Lukas die Lokomotive
an, und er und Jim gingen erst einmal ein St�ck zu Fu� hinein,
um zu sehen, was es mit den unheimlichen Stimmen auf sich
h�tte.
Aber es war nichts zu h�ren. Eine feierliche und geheimnisvol-
le Stille herrschte ringsum. Jims Herz klopfte, und er fa�te
nach Lukas' Hand. So standen sie eine Weile schweigend.
Endlich meinte Jim:
"Es is' doch ganz still!"
Lukas nickte und wollte eben etwas erwidern, da ert�nte
pl�tzlich Jims Stimme ganz deutlich rechts in dem Felsen:
"Es is' doch ganz still!"
Und dann von links oben ebenso:
"Es is' doch ganz still!"
Und dann ging es in einer Art Gemurmel immer abwechselnd
links und rechts das ganze Tal hinunter:
"Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz
still!"
"Was is' das?" fragte Jim erschrocken und umklammerte
Lukas' Hand fester.
"Was is' das? - Was is' das? - Was is' das?" raunte es die
Felsw�nde entlang.
"Keine Angst!" antwortete Lukas beruhigend. "Das ist nur ein
Echo."
"Nur ein Echo - nur ein Echo - nur ein Echo", scholl es durch
die Schlucht. Die beiden Freunde gingen zu ihrer Emma
zur�ck und wollten eben einsteigen, als Jim pl�tzlich fl�sterte:
"Pst, Lukas! H�r doch mal!"
Lukas lauschte. Und nun vernahmen sie, wie das Echo vom
anderen Ende der Schlucht wieder zur�ckkam. Erst war es
noch ganz leise, dann schwoll es immer mehr an:
"Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz
still!"
Aber seltsam, jetzt war es nicht mehr allein die eine Stimme
von Jim, sondern es klang, als ob hundert Jims durcheinander
redeten. Das h�rte sich nat�rlich schon um ein betr�chtliches
lauter an. Nun kehrte das Echo wieder um und wanderte aufs
neue das Tal hinunter.
"Na, so was!" raunte Lukas. "Das Echo kommt zur�ck und hat
sich inzwischen vermehrt, wie es scheint."
Jetzt kam das zweite Echo aus der Ferne wieder, immer
abwechselnd links und rechts:
"Was is' das? - Was is' das? - Was is' das?" rief es aus den
Felsen. Es klang schon wie eine ganze Volksmenge von Jims.
Dann kehrte das Echo um und entfernte sich wieder.
"Na", fl�sterte Lukas, "das kann ja lustig werden, wenn das so
weitergeht."
"Warum meinst du?" fragte Jim �ngstlich und leise. Es war ihm
gar nicht recht geheuer, wie seine Stimme da auf eigene Faust
umhergeisterte und sich vervielf�ltigte.
"Stell dir doch mal vor", antwortete Lukas ged�mpft, "was
passieren wird, wenn Emma anf�ngt, in dem Tal herumzupol-
tern. Das wird sich anh�ren wie ein ganzer Hauptbahnhof."
Eben kam das dritte Echo zur�ck und n�herte sich, immer im
Zickzack durch die Schlucht hallend:
"Nur ein Echo - nur ein Echo - nur ein Echo", riefen tausend
Lukasse aus den Felsw�nden. Dann machten die Stimmen
kehrt und wanderten wieder zum anderen Ende des Tales.
"Wie kommt denn das?" fl�sterte Jim.
"Schwer zu sagen", antwortete Lukas. "Man m��te es erfor-
schen."
"Achtung!" raunte Jim. "Da kommt es wieder!"
Jetzt kam das erste Echo zum zweitenmal aus der Ferne zur�ck
und hatte sich inzwischen unheimlich vermehrt.
"Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz
still!" br�llten zehntausend Jims. Es war ein Get�se, da� den
beiden Freunden die Ohren dr�hnten.
Als es vor�ber war, hauchte Jim:
"Was k�nnen wir blo� dagegen unternehmen, Lukas? Das
wird ja immer �rger!"
Lukas raunte zur�ck: "Ich f�rchte, da ist nichts zu machen. Wir
k�nnen nur versuchen, so schnell wie m�glich durch die
Schlucht durchzufahren."
Wieder kam ein Echo vom oberen Ende des Tales zur�ck. Es
war Jims Frage: "Was is' das?" Aber diesmal waren es schon an
die hunderttausend Jims, die schrien. Der Boden zitterte unter
der Lokomotive, und Jim und Lukas mu�ten sich die Ohren
zuhalten.
Als das Echo wieder davongezogen war, griff Lukas rasch
entschlossen in ein Fach neben den Hebeln und holte eine
Kerze hervor, die von der Hitze des Dampfkessels ziemlich
weich war. Schnell streifte er das Wachs vom Docht, formte
zwei kleine Kugeln und gab sie Jim.
"Hier", sagte er, "tu das in die Ohren, damit dir das Trommel-
fell nicht platzt! Und vergi� nicht, den Mund aufzumachen!"
Jim stopfte sich eilig das Wachs in die Ohren, und Lukas tat das
gleiche. Dann erkundigte er sich durch Zeichen, ob Jim noch
etwas h�ren k�nne. Beide lauschten, aber das dritte Echo, das
mit Donnerget�se n�herkam und wieder davonzog, vernah-
men sie nur ganz leise.
Lukas nickte befriedigt, zwinkerte Jim vergn�gt zu, warf ein
paar Schaufeln Kohle aufs Feuer, und dann rollten sie mit
Volldampf hinein in die unheimliche Schlucht. Der Boden war
glatt, und so sausten sie mit einer ganz sch�nen Geschwindig-
keit vorw�rts, allerdings auch mit entsprechendem Gepolter
und Gezisch.
Um verstehen zu k�nnen, was die beiden Freunde nun gleich
erleben sollten, mu� man wissen, was es mit diesem "Tal der
D�mmerung" f�r eine Bewandtnis hatte.
Die Felsenw�nde standen n�mlich so, da� der Schall immer im
Zickzack hin und her geworfen wurde und nicht aus dem engen
Tal hinauskonnte. Wenn das Echo von einem Ende der
Schlucht zum anderen gelangt war, konnte es nicht ins Freie
entwischen, sondern es mu�te umkehren. Es kam zu seinem
Ausgangspunkt zur�ck, und hier mu�te es wieder umkehren,
und so ging es immerfort hin und her von einem Ende zum
anderen. Jedes Echo erzeugte nat�rlich ein neues Echo, und
das neue Echo wieder ein neues. Und so wurden es immer
mehr und mehr Stimmen. Und je mehr Stimmen es wurden,
desto lauter dr�hnte es nat�rlich. Im allgemeinen hatte das
bisher nicht allzu viel ausgemacht, aber jetzt erklang das
Poltern einer Lokomotive in der Schlucht. Und das war eben
doch etwas ganz anderes!
�brigens k�nnte sich jetzt die Frage erheben, warum es denn
so still gewesen war, als Lukas und Jim die Schlucht betreten
hatten.
Eigentlich m��te doch der kleinste Schall, der jemals in das Tal
hineingeraten war, noch immer darin herumirren. Ja, er m��te
sich sogar ganz betr�chtlich vervielf�ltigt haben.
Nun, das w�re eine sehr scharfsinnige Frage, eine richtige
Naturforscherfrage. Die �berlegung ist n�mlich ganz richtig,
und wenn die beiden Freunde zwei Tage fr�her in das Tal
gekommen w�ren, dann h�tten sie noch ein ungeheures Tosen
vernommen. Dieser L�rm war aus ein paar Ger�uschen ent-
standen, die urspr�nglich einmal ganz leise gewesen waren,
sich aber im Laufe der Zeit unheimlich verst�rkt hatten. Zum
Beispiel war das Miau einer kleinen Katze elfhunderttausend-
mal zu h�ren, das Ziwitt eines Spatzen eine Million mal und das
Rieseln eines herabfallenden Steinchens siebenhundertmillio-
nenmal. Man kann sich ungef�hr vorstellen, wie das
dr�hnte.
Aber wo war der Schall geblieben?
Die L�sung dieses R�tsels liegt darin, da� es inzwischen -
geregnet hatte! Jedesmal wenn es regnete, blieb n�mlich an
jedem Regentropfen sozusagen ein wenig Echo h�ngen und
wurde weggesp�lt. So wurde das "Tal der D�mmerung" immer
wieder von Ger�uschen gereinigt. Und da es gerade am Tage
vor der Ankunft von Lukas, Jim und Emma sehr heftig
geregnet hatte und inzwischen kein neues Ger�usch in das Tal
hineingeraten war, hatte vollkommene Stille geherrscht.

Aber wenden wir uns nun wieder unseren beiden Freunden zu,
die mit Volldampf durch die Schlucht dahinbrausten.
Der Weg war l�nger, als Lukas gesch�tzt hatte. Als sie
ungef�hr die Mitte des Tales erreicht hatten, blickte Jim
zuf�llig einmal zur�ck. Und was er da sah, war wahrhaftig dazu
angetan, auch dem mutigsten Mann einen eiskalten Schrecken
einzujagen!
Wenn sie noch immer am Eingang der Schlucht gestanden
h�tten, dann w�ren sie jetzt schon unter einer unbeschreibli-
chen Last von Felsentr�mmern begraben gewesen. Von beiden
Seiten waren dort hinten die Bergw�nde zusammengest�rzt.
Jirn sah, wie links und rechts die Felsw�nde zersplitterten, als
w�rden sie gesprengt, wie die himmelhohen Berggipfel ins
Wanken gerieten, in sich zusammenbrachen und das "Tal der
D�mmerung" mit ihren Tr�mmern f�llten. In Windeseile kam
das Unheil hinter der Lokomotive her.
Jim schrie auf und ri� Lukas am �rmel. Lukas drehte sich um
und erfa�te mit einem Blick das drohende Verh�ngnis. Ohne
sich eine Sekunde zu besinnen, warf er einen kleinen roten
Hebel herum, auf dem stand:
Nothebel! Nur in �u�erster Gefahr ben�tzen!
Er hatte diesen Hebel seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht,
und es war sehr ungewi�, ob die gute alte Emma solch einer
Anstrengung noch gewachsen war. Aber es blieb keine
Wahl.
Emma sp�rte das Signal und stie� einen gellenden Pfiff aus, der
hei�en sollte: Ich habe verstanden! Und dann stieg der Zeiger
auf dem Geschwindigkeitsmesser am Schaltbrett, stieg weiter
und weiter, stieg �ber den roten Strich hinaus, bei dem
H�chstgeschwindigkeit
stand, stieg noch weiter bis dorthin, wo gar nichts mehr stand,
und dann zersprang der Geschwindigkeitsmesser in tausend
St�cke. -
Wie es ihnen gelang, wu�ten Jim und Lukas sp�ter selber nicht
mehr, aber sie brachten es fertig, dem Untergang zu entrinnen.
Wie eine Kanonenkugel scho� die Lokomotive aus dem Ende
der Schlucht heraus, gerade in dem Augenblick, als hoch �ber
ihnen die letzten Berggipfel ineinanderst�rzten.
Lukas legte den roten Hebel zur�ck. Emma rollte langsamer,
und dann gab es pl�tzlich einen Ruck. Die Lokomotive lie�
allen Dampf ab und blieb einfach stehen. Sie schnaufte nicht
und gab �berhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich.
Lukas und Jim stiegen aus, nahmen das Wachs aus den Ohren
und blickten zur�ck.
Hinter ihnen lag das Gebirge "Die Krone der Welt", und an
Stelle der Schlucht, durch die sie gekommen waren, erhob sich
meilenhoch eine rote Staubwolke.
Dort war einmal das "Tal der D�mmerung" gewesen.

Vierzehntes Kapitel
in dem Lukas erkennen mu�, da� er ohne seinen kleinen Freund
Jim verloren w�re

"Das ist ja gerade noch mal gutgegangen!" knurrte Lukas,


schob die M�tze ins Genick und trocknete sich den Schwei�
von der Stirn.
"Ich glaub'", sagte Jim, dem der Schrecken noch in allen
Gliedern sa�, "durch das ,Tal der D�mmerung' wird nie mehr
jemand kommen k�nnen."
"Nein", antwortete Lukas ernst. "Das ,Tal der D�mmerung'
gibt es nicht mehr."
Dann stopfte er sich seine Pfeife, steckte sie in Brand, stie�
einige Rauchwolken aus und fuhr nachdenklich fort: "Das
Dumme bei der Geschichte ist nur: wir k�nnen auch nicht mehr
zur�ck."
Daran hatte Jim noch gar nicht gedacht.
"O jemine!" sagte er erschrocken. "Wir m�ssen aber doch
wieder nach Haus!"
"Ja, ja", antwortete Lukas, "aber es wird uns nichts anderes
�brigbleiben, als einen neuen Weg zu entdecken."
"Wo sind wir denn eigentlich?" fragte Jim bang.
"In der W�ste", antwortete Lukas. "Mir scheint, das hier ist
das ,Ende der Welt'."
Die Sonne war untergegangen, aber es war gerade noch hell
genug, um zu erkennen, da� sie sich auf einer endlosen Ebene
befanden, die so flach war wie eine Tischplatte. Ringsum gab
es nichts als Sand, Steine und Ger�ll. Fern am Horizont reckte
sich ein einziger baumgro�er Kaktus wie eine riesenhafte
Schwurhand schwarz in den fahlen d�mmernden Himmel.
Die Freunde schauten zur�ck zu dem rot und wei� gestreiften
Gebirge. Die Staubwolke hatte sich ein wenig verzogen und
gab den Blick auf das versch�ttete "Tal der D�mmerung"
frei.
"Wie is' das nur gekommen?" murmelte Jim kopfsch�ttelnd.
"Wahrscheinlich hat Emmas Gepolter sich so ungeheuer ver-
st�rkt", antwortete Lukas, "da� die Felsen davon eingest�rzt
sind."
Er wandte sich der Lokomotive zu, klopfte sie auf den dicken
Leib und sagte z�rtlich:
"Da hast du was Sch�nes angerichtet, meine dumme, alte
Emma!"
Emma blieb stumm und gab noch immer kein Lebenszeichen
von sich. Jetzt erst bemerkte Lukas, da� irgend etwas mit ihr
nicht stimmte.
"Emma!" rief er erschrocken. "Emma, meine gute, dicke
Emma, was hast du denn?"
Aber die Lokomotive regte sich nicht. Nicht der kleinste
Schnaufer war zu h�ren.
Lukas und Jim blickten sich betroffen an.
"Du lieber Himmel!" stammelte Jim, "wenn Emma jetzt. ..."
Er wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
Lukas schob seine M�tze ins Genick und brummte:
"War' ja 'ne sch�ne Bescherung!"
Schnell holten sie den Werkzeugkasten unter dem Trittbrett
hervor. Darin lagen alle Sorten Schraubenschl�ssel, H�mmer,
Zangen, Schraubenzieher, Feilen und �berhaupt alles, was
man braucht, um kaputte Lokomotiven zu reparieren.

Eine ganze Weile beklopfte Lukas vorsichtig und schweigend


jedes Rad und jede Schraube an der alten Emma und horchte
angestrengt. Jim sah mit schreckgeweiteten Augen zu und
wagte nichts zu fragen. Lukas dachte so scharf nach, da� ihm
sogar die Pfeife ausging. Das war kein gutes Zeichen. Endlich
richtete er sich auf und knurrte:
"Verflixt und zugen�ht!"
"Is' es sehr schlimm?" fragte Jim.
Lukas nickte langsam.
"Ich vermute", murmelte er d�ster, "da� der Taktierkolben
gebrochen ist. Zum Gl�ck habe ich ein Ersatzteil dabei."
Er wickelte aus einem Lederl�ppchen einen kleinen Stahlkol-
ben, der nicht gr��er war als Jims Daumen.
"Das ist er", sagte er und hielt ihn zwischen den Fingern.
"Klein, aber wichtig! Er gibt den Takt an, in dem Emma
schnauft."
"Meinst du", fragte Jim leise, "du kannst es in Ordnung
bringen?"
Lukas zuckte die Achseln und brummte sorgenvoll:
"Wir m�ssen's jedenfalls versuchen. Und wir d�rfen keine
Minute verlieren. Ich wei� nicht, ob Emma diese schwere
Reparatur �bersteht. Kann sein, kann aber auch nicht sein ...
Wir d�rfen nicht den allerkleinsten Fehler machen, sonst ...
Du mu�t mir helfen, Jim - allein schaffe ich es auf keinen
Fall."
"In Ordnung", antwortete Jim entschlossen.
Er wu�te, da� Lukas so etwas nicht zum Spa� sagte und stellte
keine Fragen mehr. Lukas schien auch keine Lust zu haben,
viel zu reden.
Sie machten sich schweigend ans Werk.
Inzwischen war es vollst�ndig dunkel geworden, und Jim
mu�te mit einer Taschenlampe leuchten. Stumm und verbissen
k�mpften die beiden Freunde um das Leben ihrer guten alten
Emma. Stunde um Stunde verging. Der Taktierkolben hatte
seinen Platz ganz innen, und so mu�te die ganze Lokomotive
langsam, St�ck f�r St�ck, auseinandergenommen und in ihre
Teile zerlegt werden. Wahrhaftig, das war eine Arbeit, die
starke Nerven erforderte.
Mitternacht mu�te l�ngst vor�ber sein. Der Mond war aufge-
gangen, blieb aber hinter einer Wolkenbank verborgen. Nur
ein Ungewisses, kaum sichtbares D�mmerblau lag �ber der
W�ste "Das Ende der Welt".
"Die Zange!" rief Lukas halblaut. Er arbeitete unter den
R�dern der Lokomotive.
Jim reichte sie ihm. Da h�rte er pl�tzlich ein seltsames Sausen
in den L�ften. Ein h��liches Kr�chzen folgte. Dann rauschte es
noch einmal. Und dort dr�ben wieder, jetzt schon ganz nahe.
Was mochte das sein?
Jim versuchte, die Finsternis mit seinen Blicken zu durchdrin-
gen. Er erkannte undeutlich mehrere gro�e schwarze Klum-
pen, die auf dem Boden hockten und mit gl�henden Augen
her�ber starrten.
Noch einmal war das Rauschen zu vernehmen. Ein riesengro-
�er, plumper Vogel lie� sich auf dem Dach des F�hrerh�us-
chens nieder und starrte mit gr�n glimmenden Augen auf den
Jungen herunter.
Jim mu�te sich sehr zusammennehmen, um nicht vor Entset-
zen aufzuschreien. Ohne den unheimlichen Riesenvogel aus
dem Auge zu lassen, fl�sterte er:
"Lukas! He, Lukas!"
"Was gibt's?" fragte Lukas unter der Lokomotive.
"Da sind auf einmal so gro�e V�gel", raunte Jim. "Eine ganze
Menge. Sie sitzen herum und scheinen irgendwas zu wollen."
"Wie sehen sie denn aus?" wollte Lukas wissen.
"Ziemlich unfreundlich", antwortete Jim. "Sie haben nackte
H�lse und krumme Schn�bel und gr�ne Augen. Auf dem Dach
sitzt auch schon einer und schaut mich immer an."
"Ach", sagte Lukas, "das sind nur Geier."
"Aha!" meinte Jim ziemlich kl�glich. Und nach einer Weile
setzte er hinzu:
"Ich m�cht' blo� gern wissen, ob Geier sehr angriffslustig sind
oder nicht. Was meinst du?"
"Solange man lebt", erkl�rte Lukas, "tun sie einem nichts. Sie
warten, bis man tot ist."
"So", sagte Jim. Und nach ein paar Minuten fragte er:
"Bist du auch ganz sicher?"
"Sicher was?" erkundigte sich Lukas unter der Lokomotive.
"Bist du ganz sicher", wiederholte Jim, "da� sie auch bei
kleinen schwarzen Jungen keine Ausnahme machen? Viel-
leicht fressen sie kleine schwarze Jungen lieber lebendig?"
"Nein", sagte Lukas, "du brauchst keine Angst zu haben. Man
nennt die Geier die ,Totengr�ber der W�ste', weil sie sich nur
�ber Totes hermachen."
"Ach so!" murmelte Jim. "Dann is' es ja gut."
In Wirklichkeit war es aber gar nicht gut. Der Geier auf dem
Dach hatte so einen appetithaften Zug um die Schnabelwinkel,
da� Jim das Gef�hl nicht los wurde, Geier w�rden bei kleinen
schwarzen Jungen vielleicht doch eine Ausnahme machen ...
Wenn nun Emma nicht wieder in Ordnung k�me, was dann?
Dann m��ten sie hier blieben, mitten in der W�ste "Das Ende
der Welt", bei diesen scheu�lichen Totengr�bern, die schon
dasa�en und warteten. Lukas und er waren jetzt so fern von
jeder menschlichen Hilfe und ganz unausdenkbar weit fort von
Lummerland. Das sollte also das Ende sein, und nach Lum-
merland w�rden sie nie wieder zur�ckkehren, nie wieder!
Als Jim so weit gedacht hatte, �berfiel ihn pl�tzlich ein
schreckliches Gef�hl der Verlassenheit. Er konnte nicht ver-
hindern, da� ein verzweifeltes Schluchzen in ihm aufstieg.
Lukas kroch eben unter Emma hervor und wischte sich die
H�nde an einem Lappen ab.
"Ist etwas, alter Junge?" fragte er und blickte taktvoll zur
Seite, denn er hatte nat�rlich sofort erkannt, was mit Jim
war.
"Nein", antwortete Jim, .ich hab' nur ... ich glaub', ich hab'
den Schluckauf bekommen."
"Ach so!" brummte Lukas.
"Sag mal ehrlich, Lukas", erkundigte Jim sich leise, "is' noch
Hoffnung?"
Lukas sah nachdenklich vor sich hin, dann schaute er dem
Jungen ernst in die Augen und sagte:
"H�r mal zu, Jim Knopf! Du bist mein Freund, darum mu� ich
dir die Wahrheit sagen. Ich bin so ziemlich am Ende mit meiner
Weisheit. Ich kriege n�mlich die letzte Schraube nicht auf. Das
geht nur von innen. Man m��te in den Kessel kriechen. Aber
ich komme da nicht hinein. Ich bin zu gro� und zu dick. Tja,
das ist eine verflixte Geschichte."
Jim blickte zu dem Geier auf dem Dach hinauf und zu den
anderen Geiern hin�ber, die langsam immer n�her heranr�ck-
ten und neugierig ihre nackten H�lse aus den Federkr�gen
reckten. Dann sagte er entschlossen:
"Ich werd' hineinsteigen."
Lukas nickte ernst.
"Es ist tats�chlich die letzte M�glichkeit. Aber es ist ziemlich
gef�hrlich. Du mu�t im Innern des Kessels n�mlich unter
Wasser arbeiten. Wir d�rfen das Wasser nicht ablassen, weil es
hier in der W�ste kein neues gibt. Au�erdem kannst du dir da
drin noch nicht mal leuchten. Du bist ganz auf dein Fingerspit-
zengef�hl angewiesen. �berleg dir genau, ob du es tun willst.
Ich k�nnte sehr gut verstehen, wenn du nein sagtest."
Jim dachte nach. Schwimmen und tauchen konnte er ja.
Au�erdem hatte Lukas gesagt, es w�re die letzte M�glichkeit.
Es blieb also gar nichts anderes �brig.
"Ich tu's", sagte er.
"Gut!" antwortete Lukas langsam. "Nimm den Schrauben-
schl�ssel hier. Ich denke, er wird passen. Die Schraube mu�
ungef�hr da sitzen."
Er zeigte die Stelle von au�en am Boden des Kessels.
Jim merkte sie sich genau, dann kletterte er auf den Kessel
hinauf. Der Geier auf dem Dach schaute ihm verwundert zu.
Pl�tzlich kam der Mond hinter der d�steren Wolkenbank
hervor, und es wurde ein wenig heller.
Jeder, der eine Lokomotive kennt, wei�, da� hinter dem
Schornstein eine Art Kuppel ist, die aussieht wie ein zweiter,
etwas kleinerer Schornstein. Diese Kuppel kann man aufma-
chen. Dann sieht man einen Schacht, der in den Kessel
hinunterf�hrt.
Jim zog seine Schuhe aus und warf sie Lukas zu. Dann kroch er
durch die ge�ffnete Kuppel. Es war sehr eng, und Jims Herz
klopfte wie rasend.
Aber er bi� die Z�hne zusammen und schob sich weiter, die
F��e voran. Als nur noch sein Kopf oben heraussah, winkte er
Lukas noch einmal zu, dann sp�rte er Wasser an seinen F��en.
Es war noch ziemlich warm.
Jim holte tief Luft und lie� sich hinunter gleiten.
Lukas stand neben der Lokomotive und wartete. Er war so
bla� geworden, wie das bei seiner ru�- und �lverschmierten
Haut �berhaupt m�glich war. Was sollte er tun, wenn Jim
etwas zustie�? Er w�rde tatenlos dabeistehen m�ssen, denn er
konnte ja nicht in den Kessel hineinkriechen. Er wischte sich
ein paar kalte Schwei�perlen von der Stirn
Jetzt h�rte er im Innern des Kessels etwas rumoren, dann noch
einmal. Und pl�tzlich fiel etwas mit leisem Klimpern zu
Boden.
"Da ist die Schraube!" rief Lukas. "Jim, komm zur�ck!"
Wer aber nicht erschien, war Jim. Sekunde um Sekunde
verstrich. Lukas wu�te vor Angst um seinen kleinen Freund
kaum noch, was er tat. Er kletterte auf die Lokomotive hinauf
und schrie durch die Kuppel hinunter: "Jim! Jim! Komm doch
heraus! Jim, wo bist du?"
Und endlich erschien das kleine schwarze Gesicht, tropfna�
und nach Luft ringend. Und dann kam eine Hand hervor.
Lukas ergriff sie und zog seinen Freund heraus. Er nahm ihn
auf den Arm und kletterte mit ihm von der Lokomotive
herunter.
"Jim!" sagte er immer wieder, "mein alter Jim!"
Der Junge keuchte. Er l�chelte benommen und spuckte etwas
Wasser. Schlie�lich fl�sterte er:
"Siehst du jetzt, Lukas, wie gut es war, da� du mich mitgenom-
men hast?"
"Jim Knopf!" sagte Lukas, "du bist ein gro�artiger kleiner
Bursche, und ohne dich w�re ich jetzt verloren gewesen."
"Was glaubst du, wie mir zumut war!" seufzte Jim. "Erst is' ja
alles ganz gut gegangen. Die Schraube hab' ich gleich gefun-
den, und sie is' auch ganz leicht aufgegangen. Aber wie ich
dann zur�ckgewollt hab', da hab' ich auf einmal das Loch nicht
mehr gefunden. Aber zuletzt hab' ich's dann doch ge-
schafft."
Lukas zog Jim die nassen Sachen aus und wickelte ihn in eine
warme Decke. Dann gab er ihm hei�en Tee aus der Thermos-
flasche des Kaisers zu trinken.
"So!" sagte er danach, "und jetzt ruhst du dich aus! Das andere
mach' ich schon allein."
Pl�tzlich schlug er sich mit der Hand vor die Stirn und rief
erschrocken:
"Verflixt und zugen�ht! Durch das Schraubenloch tropft die
ganze Zeit das Wasser aus dem Kessel!"
Es stimmte. Aber zum Gl�ck war erst ganz wenig Wasser
ausgelaufen, sch�tzungsweise ein halber Liter.
Lukas wechselte schnell den zerbrochenen Taktierkolben aus
und schraubte alles wieder fest zu. Hineindrehen lie� sich die
Schraube von au�en n�mlich ganz gut. Und dann setzte er die
gute alte Emma Teil f�r Teil sorgf�ltig wieder zusammen. Und
als er die letzte Schraube festzog ...
"Na, Jim?" rief er. "Was sagst du jetzt?"
"Was soll ich denn sagen?" erkundigte sich Jim.
"Na, h�r doch mal!" rief Lukas fr�hlich.
Jim lauschte. Tats�chlich: Emma schnaufte wieder! Zwar nur
ganz leise, kaum h�rbar, aber es war nicht zu leugnen, sie
schnaufte!
"Lukas!" schrie Jim gl�cklich, "Emma is' wieder ganz! Wir
sind gerettet!"
Und die beiden Freunde sch�ttelten sich lachend die H�nde.
Die Geier machten ziemlich entt�uschte Gesichter. Aber sie
schienen die Hoffnung noch nicht ganz aufzugeben. Sie zogen
sich nur etwas weiter in die W�ste zur�ck.
"So!" erkl�rte Lukas befriedigt. "Jetzt soll Emma sich erst mal
ausschlafen, damit sie wieder zu Kr�ften kommt. Und wir tun
das gleiche, denk' ich."
Sie stiegen in das F�hrerhaus und machten die T�r gut hinter
sich zu. Dann a�en sie ein paar Fr�chte und S��igkeiten aus
dem Proviantkorb und tranken etwas Tee aus der goldenen
Thermosflasche. Und danach rauchte Lukas noch eine
Pfeife.
Aber da war Jim schon eingeschlafen. Mit einem stolzen
L�cheln lag er da, so stolz wie nur einer sein kann, der eine
kaputte Lokomotive unter Einsatz seines Lebens wieder ganz
gemacht hat.
Lukas deckte ihn gut zu und strich ihm die schwarzen, noch
feuchten Kraushaare aus der Stirn.
"Gro�er, kleiner Jim!" murmelte er liebevoll.
Dann klopfte er seine Pfeife aus und schaute noch einmal zum
Fenster hinaus.
Die Geier sa�en in einiger Entfernung im Kreis beieinander,
grell vom Mondlicht beleuchtet. Sie hatten die K�pfe zusam-
mengesteckt und schienen sich zu beraten.
"Na, meinetwegen!" brummte Lukas. "Uns kriegt ihr doch
nicht."
Dann legte er sich zurecht, seufzte tief, g�hnte und schlief ein.

F�nfzehntes Kapitel
in dem die Reisenden in eine sonderbare Traumgegend geraten
und eine verh�ngnisvolle Spur entdecken

Am n�chsten Morgen erwachten Jim und Lukas ziemlich sp�t.


Das war zu begreifen, da sie ja erst lange nach Mitternacht
schlafen gegangen waren. Die Sonne stand schon hoch am
Himmel, und gl�hende Hitze verbreitete sich. In einer W�ste,
wo kein Baum und kein Strauch Schatten bieten, wird die Luft
in kurzer Zeit so erstickend hei� wie in einem Backofen.
Die beiden Freunde beeilten sich mit dem Fr�hst�ck und
brachen bald auf. Sie dampften fr�hlich los, immer nach
Norden. Da sie keinen Kompa� besa�en, war ihr einziger
Anhaltspunkt das Gebirge "Die Krone der Welt". Sie hatten
beschlossen, so zu fahren, da� die Berge stets rechts zu sehen
waren. Irgendwo im Norden mu�ten sie dann nach ihrer
Berechnung wieder auf den Gelben Flu� sto�en, dem sie
stromaufw�rts folgen w�rden bis zur Drachenstadt. Die Land-
karte n�tzte ihnen jetzt nichts mehr, aber so ging es ja zun�chst
ganz gut.
Emma war wieder wohlauf. Wie es schien, hatte sie sich von
der schweren Reparatur v�llig erholt. Sie war eben trotz ihres
Alters und ihrer dicklichen Figur eine sehr gute und solide
Lokomotive.
Die Sonne stieg h�her und h�her. Die Hitze lie� die Luft �ber
der W�ste flimmern. Lukas und Jim machten die Fenster fest
zu. Zwar war es im Innern des kleinen F�hrerhauses durch die
Feuerung auch ziemlich warm, aber das war immer noch
ertr�glich gegen die Temperatur, die drau�en herrschte.
Ab und zu lagen gebleichte und halb im Sand versunkene
Tiergerippe neben ihrem Weg. Die Freunde betrachteten sie
nachdenklich im Vor�berfahren.
Es mochte ungef�hr um die Mittagszeit sein, als Lukas pl�tz-
lich �berrascht ausrief:
"Nanu!"
"Was is'?" erkundigte sich Jim und schreckte auf. Er hatte, von
der Hitze erm�det, ein wenig vor sich hinged�st.
"Scheint, wir haben die Richtung verloren", knurrte Lukas.
"Warum?"
"Schau doch mal zum rechten Fenster hinaus! Bisher war das
Gebirge immer da dr�ben. Aber jetzt ist es auf einmal auf der
anderen Seite."
Tats�chlich, es war, wie Lukas gesagt hatte: Im rechten Fenster
war der leere, ferne W�stenhorizont zu sehen und im linken
das rot und wei� gestreifte Gebirge.
Das war schon seltsam genug, aber noch viel befremdlicher
war, da� irgend etwas mit dem Gebirge nicht in Ordnung zu
sein schien. Es sah aus, als st�nde es nicht richtig auf dem
Boden, sondern schwebte ein wenig dar�ber.
"Was is' denn da los?" fragte Jim beunruhigt.
"Wei� auch nicht", meinte Lukas. "Jedenfalls m�ssen wir wohl
umkehren."
Aber noch ehe er ausgesprochen hatte, war das Gebirge ganz
und gar verschwunden und weder links noch rechts zu sehen.
Statt dessen entdeckten die Freunde pl�tzlich in einiger Entfer-
nung einen Meeresstrand mit Palmen, die sich im Winde
wiegten.
"Nun schau sich einer das an!" murmelte Lukas verbl�fft.
"Verstehst du das, Jim?"
"Nein", antwortete Jim. "Da scheinen wir ja in eine sonderba-
re Gegend geraten zu sein."
Er drehte sich um und blickte nach hinten hinaus. Zu seiner
gr��ten Verwunderung erhob sich mit einemmal dort das rot
und wei� gestreifte Gebirge. Aber jetzt stand es auf dem Kopf!
Es hing sozusagen vom Himmel herunter.
"Da stimmt doch was nicht!" brummte Lukas, die Pfeife
zwischen den Z�hnen.
"Was sollen wir machen?" fragte Jim bang. "Wenn das so
weitergeht, finden wir nie mehr unsere Richtung."
"Das Vern�nftigste wird sein", meinte Lukas, "wir fahren auf
jeden Fall erst mal weiter, bis wir aus diesem verr�ckten Ich-
wei�-nicht-was herauskommen."
Sie fuhren also weiter. Aber sie kamen nicht heraus. Es wurde
im Gegenteil immer verwirrender. Zum Beispiel sahen sie auf
einmal gro�e Eisberge �ber den Himmel schwimmen. Das war
ganz besonders befremdlich, weil Eisberge bei dieser Hitze ja
eigentlich sofort h�tten schmelzen m�ssen.
Pl�tzlich tauchte vor ihnen der Eiffelturm auf, der doch in
Wirklichkeit in der Stadt Paris steht und keineswegs in der
W�ste "Das Ende der Welt". Dann erschienen links viele
Indianerzelte um ein Lagerfeuer in der Mitte und Krieger mit
Federkopfputz und Kriegsbemalung, die wilde T�nze auff�hr-
ten. Rechts lag unversehens die Stadt Fing mit ihren goldenen
D�chern. Dann verschwand alles ebenso r�tselhaft, wie es
aufgetaucht war, und rundherum war nur kahle W�ste. Aber
schon nach wenigen Augenblicken erschien wieder etwas
Neues in der flimmernden Luft.
Lukas hatte gehofft, da� er am Nachmittag durch den Stand
der sinkenden Sonne die Richtung nach Norden wiederfinden
k�nnte. Aber daran war leider nicht zu denken. Die Sonne
brannte n�mlich einmal von rechts, dann wieder von links und
oft sogar von beiden Seiten zugleich. Sie hatte sich tats�chlich
verdoppelt. Es schien einfach alles toll geworden zu sein.
Schlie�lich vermischten sich die Erscheinungen sogar unterein-
ander. Da stand zum Beispiel pl�tzlich ein umgekehrter Kirch-
turm auf der Spitze seiner Wetterfahne, und oben dr�ber in der
Luft schwebte ein See, auf dessen Wellen K�he weideten.
"Das ist ja wohl die verr�ckteste Unordnung, die mir je
vorgekommen ist!" brummte Lukas beinahe belustigt.
Jetzt erschien eine gro�e Windm�hle, die auf dem R�cken von
zwei Elefanten stand.
"Wenn die Sache nicht so un�bersichtlich w�re", sagte Lukas,
"dann f�nde ich dieses Durcheinander eigentlich ganz
spa�ig."
In diesem Augenblick zog �ber den Himmel ein gewaltiges
Segelschiff, aus dem ein Wasserfall herniederst�rzte.
"Ich wei� nicht recht", murmelte Jim und sch�ttelte besorgt
den Kopf, "mir gef�llt das alles ganz und gar nicht ... ich
wollte, wir f�nden bald hier heraus."
Vor ihnen h�pfte jetzt ein halbes Riesenrad von einem Jahr-
markt in gro�en Spr�ngen durch die W�ste, als ob es seine
andere H�lfte suchte. Die war aber nirgends zu sehen.
"Mir w�re es auch lieber", gab Lukas zu und kratzte sich hinter
dem Ohr. "Na, irgendwann werden wir diese kuriose Traum-
gegend ja mal wieder verlassen. Nach meiner Sch�tzung haben
wir seit heute Mittag gute hundert Meilen zur�ckgelegt. -
Wirklich zu dumm, da� wir vergessen haben, einen Kompa�
mitzunehmen."
Eine Weile fuhren die Freunde schweigend weiter und beob-
achteten die auftauchenden und wieder verschwindenden Er-
scheinungen. Eben, als Lukas Jim darauf aufmerksam machen
wollte, da� die Sonne jetzt sogar an drei Stellen zugleich zu
sehen sei, stie� der Junge pl�tzlich einen Freudenschrei aus.
"Lukas!" rief er. "Da, schau doch! Wie is' denn das m�glich?
Da is' - da is' ja Lummerland!"
Tats�chlich! Da lag ganz deutlich Lummerland, umgeben vom
blauen Meer. Der gro�e und der kleine Gipfel ragten empor,
und dazwischen war das Schlo� von K�nig Alfons dem Viertel-
vor-Zw�lften zu erkennen. Das kurvenreiche Eisenbahngleis
gl�nzte, und die f�nf Tunnels waren da und auch das Haus von
Herrn �rmel. Da stand die kleine Bahnstation und da das
Haus von Frau Waas mit dem Kaufladen! Und im Meer lag das
Postschiff.
"Schnell!" schrie Jim ganz au�er sich, "schnell, Lukas! La� uns
hinfahren!"
Aber Emma hatte schon von sich aus Kurs auf Lummerland
genommen. Offenbar hatte sie die Heimatinsel auch entdeckt.
Sie kamen immer n�her. Und nun sahen sie, da� der K�nig
zum Fenster herausschaute. Und vor dem Schlo� stand Frau
Waas mit einem Brief in der Hand, und der Brieftr�ger war
dabei und auch Herr �rmel. Alle vier schienen sehr betr�bt zu
sein. Frau Waas wischte sich immerfort mit ihrer Sch�rze die
Augen.
"Frau Waas!" schrie Jim, �ffnete das Fenster und beugte sich
trotz der gl�henden Hitze, die ihm entgegenschlug, so weit er
konnte hinaus. "Frau Waas, ich bin hier! Siehst du mich, Frau
Waas? Ich bin's, Jim Knopf! Bleibt da, wir kommen!"
Er winkte und schrie so aufgeregt, da� er beinahe aus dem
Fenster hinausgefallen w�re. Lukas konnte ihn gerade noch an
dem gro�en Knopf an seiner Hose festhalten.
Als Emma kaum noch zehn Meter von Lummerland entfernt
war, verschwand pl�tzlich alles ebenso r�tselhaft wie die
anderen Erscheinungen. Und wieder dehnte sich ringsumher
nur die Unendlichkeit der sonnendurchgl�hten W�ste.
Jim wollte es zuerst gar nicht glauben. Aber es half alles nichts,
Lummerland war nicht mehr da. Zwei dicke Tr�nen rannen
�ber seine schwarzen Wangen. Er konnte es nicht verhin-
dern.
Auch in Lukas' Augen blinkte es verd�chtig, und er stie�
dichte Rauchwolken aus.
Schweigend fuhren sie weiter. Doch das Allererstaunlichste
stand ihnen noch bevor.
Pl�tzlich erblickten sie n�mlich eine andere Lokomotive, die
ganz genauso aussah wie ihre Emma. Und diese Lokomotive
fuhr in etwa hundert Meter Abstand neben ihnen her. Sie hatte
auch genau die gleiche Geschwindigkeit.
Lukas, der seinen Augen nicht trauen wollte, beugte sich aus
dem Fenster hinaus, und auch dr�ben, auf der anderen Maschi-
ne, beugte sich der Lokomotivf�hrer aus dem Fenster. Lukas
winkte, und der andere Lokomotivf�hrer winkte zur�ck.
"Jetzt wird's mir aber wirklich zu toll!" sagte Lukas. "Wir
tr�umen doch nicht etwa?"
"Kein bi�chen", versicherte Jim.
"Na, da wollen wir uns die Sache doch mal n�her ansehen",
meinte Lukas.
Sie bogen ein und hielten auf die andere Lokomotive zu. Aber
zugleich bog auch die andere Lokomotive ein, und beide
Lokomotiven fuhren aufeinander los.
Schlie�lich hielt Lukas die Emma an. Die andere Lokomotive
stand ebenfalls. Lukas und Jim stiegen aus. Zur gleichen Zeit
verlie�en ein Lokomotivf�hrer und ein kleiner schwarzer
Junge die andere Lokomotive.
"Da soll doch gleich...!" murmelte Lukas verbl�fft.
Und nun gingen sie aufeinander zu, Lukas auf den anderen
Lukas und Jim auf den anderen Jim. Die beiden Lukasse und
die beiden Jims wollten sich eben zur Begr��ung die H�nde
geben, da strich ein ganz, ganz leichter Wind vor�ber. Der
andere Jim, der andere Lukas und die andere Emma wurden
durchsichtig und verschwanden ... l�sten sich einfach auf in
nichts.
Jim starrte fassungslos und mit kugelrunden Augen auf die
Stelle, wo eben noch der andere Jim'gestanden hatte. Pl�tzlich
h�rte er Lukas einen Pfiff aussto�en und sagen:
"Jetzt geht mir ein Licht auf! Nat�rlich, das ist es!"
"Was?" fragte Jim.
"Hast du schon mal was vom Spiegelkabinett der Fata Morga-
na geh�rt?"
"Nein", antwortete Jim, "was f�r ein Vater?"
"Nicht Vater!" schmunzelte Lukas, "Fata Morgana! Komm
zur�ck in die Emma, dann erkl�re ich dir die Sache. Hier
drau�en ist es ja so hei� wie in einer Bratpfanne."
Sie stiegen wieder in ihr F�hrerh�uschen, und w�hrend der
Weiterfahrt erkl�rte Lukas seinem Freund Jim die Sache mit
dem Spiegelkabinett der Fata Morgana.
Ein Spiegelkabinett gibt es ja manchmal auf dem Jahrmarkt.
Es ist eine Art Zimmer aus lauter Spiegeln. Wenn man da
hineingeht, kann man ganz irr werden, weil man niemals wei�,
was Spiegelbild und was Wirklichkeit ist. Auf dem Jahrmarkt
ist das ganz lustig, weil notfalls immer jemand da ist, der einen
wieder herausf�hrt. Aber in der W�ste ist das schon eine
andere Sache!
Eine Fata Morgana besteht freilich nicht aus Spiegeln. Wo
sollten denn auch in einer W�ste auf einmal all die Spiegel
herkommen? Nein, man sagt nur so, weil es sich um etwas
�hnliches handelt. Eine Fata Morgana ist eine sogenannte
Naturerscheinung. Wenn die Sonne auf die Sandfl�che nieder-
brennt, wird die Luft sehr hei�. Und dann wird sie noch hei�er.
Und schlie�lich f�ngt sie an, vor Hitze zu flimmern. Und wenn
die Luft nun immer noch gl�hender wird, dann f�ngt sie
pl�tzlich an zu spiegeln wie ein richtiger Badezimmerspiegel.
Sie spiegelt aber nicht nur Dinge, die in der N�he sind, sondern
holt im Gegenteil die Spiegelbilder am liebsten von sehr weit
her. Dann erscheinen pl�tzlich Sachen, die viele, viele Meilen
entfernt sind. Zum Beispiel kann es geschehen, da� Leute, die
in der W�ste wandern, pl�tzlich vor sich ein Gasthaus erblik-
ken, an dem ein Schild h�ngt mit der Aufschrift:
FRISCHE LIMONADE, Glas 10 Pfg.
Und wenn sie dann hinlaufen, weil sie vielleicht gerade
schrecklichen Durst haben, dann ist alles wieder verschwun-
den. Dann haben sich die Leute verirrt und wissen nicht mehr,
wo sie sind.
Nat�rlich kann es leicht vorkommen, da� die Spiegelbilder bei
dem weiten Weg, den sie bis in die W�ste zur�cklegen m�ssen,
ein bi�chen durcheinander geraten. Dann gibt es so kuriose Er-
scheinungen, wie sie den beiden Freunden begegnet waren.
"Und zum Schlu�", beendete Lukas seine Erkl�rung, "zum
Schlu� haben wir sogar unser eigenes Spiegelbild gesehen. Als
der leichte Wind aufkam, da k�hlte sich die Luft ein wenig ab
und h�rte auf zu spiegeln."
Jim dachte eine Weile schweigend nach, dann sagte er bewun-
dernd:
"Ich glaube, es gibt einfach nichts, was du nicht wei�t,
Lukas."
"Doch", antwortete Lukas und lachte, "es gibt eine ganze
Menge Dinge, die ich nicht wei�. Zum Beispiel wei� ich nicht,
was das da vorne ist."
Sie sp�hten beide angestrengt auf die Strecke hinaus.
"Mir scheint, da is' eine Spur im Sand", sagte Jim.
"Richtig", brummte Lukas. "Sieht aus wie eine Wagen-
spur."
"Wenn es nur nicht wieder eine Fata is'", meinte Jim besorgt.
"In so einer W�ste wei� man ja nie, ob man eine Naturerschei-
nung vor sich hat oder nicht."
Sie fuhren n�her, aber diesmal verschwand das Bild nicht. Es
waren tats�chlich Spuren im Sand, Spuren von Wagenr�-
dern.
"Das sieht aus", stellte Jim fest, "als ob hier schon vor uns
jemand gefahren is'."
Lukas brachte Emma zum Stehen, stieg aus und untersuchte
die Spuren.
"Verflixt!" sagte er schlie�lich und kratzte sich hinter dem
Ohr, "hier ist wirklich schon jemand vor uns gefahren. Und
wei�t du auch wer?"
"Nein. Wer denn?"
"Wir selbst. Das ist Emmas Spur. Scheint fast, als ob wir in
einem Riesenkreis zu unserer eigenen Spur zur�ckgekommen
sind."
"Du lieber Himmel!" rief Jim entsetzt. "Wir m�ssen aber doch
irgendwie aus dieser schrecklichen W�ste wieder heraus-
finden!"
"Stimmt!" best�tigte Lukas. "Fragt sich nur wie!"
Er schaute sich pr�fend um.
Rechts von ihnen fuhr eben ein Dampfer �ber den Himmel,
aus dessen Schornstein gro�e bunte Seifenblasen aufstiegen.
Links stand ein alter Leuchtturm. Auf seiner obersten Galerie
machte ein Walfisch Kopfstand. Hinter sich erblickte Lukas
ein stattliches Warenhaus, aus dessen Fenstern und T�ren
B�ume herauswuchsen. Und vor sich sah er eine lange Reihe
Telegrafenstangen. Auf den Dr�hten ging eine Nilpferdfamilie
spazieren.
Lukas blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand dreimal an
ganz verschiedenen Stellen. Es war unm�glich festzustellen,
welche davon die richtige Sonne und welche eine Spiegelung
war.
Lukas sch�ttelte den Kopf.
"Es hat keinen Zweck", brummte er. "Wir m�ssen warten, bis
die Fata Morgana aufgeh�rt hat. Sonst finden wir hier nie
wieder heraus. Wir d�rfen auch nicht mehr unn�tig Kohle und
Wasser verbrauchen. Wir wissen ja gar nicht, wie lange wir
noch mit unserem Vorrat auskommen m�ssen."
"Wann meinst du denn, da� die Fata aufh�rt?" erkundigte sich
Jim bedr�ckt.
"Ich denke, nachts", antwortete Lukas, "wenn es nicht mehr so
hei� ist."
Sie zogen sich also in das F�hrerh�uschen zur�ck, um sich
auszuruhen, w�hrend sie auf den Sonnenuntergang warteten.
Die gro�e Hitze machte beide schl�frig, und Lukas war eben
am Einnicken, als Jim pl�tzlich fragte:
"Warum sie wohl so traurig ausgesehen haben?"
"Wer?" g�hnte Lukas.
"Alle", antwortete Jim leise. "Bei der Erscheinung von Lum-
merland, mein' ich."
"Kann sein, da� wir sie gerade in dem Augenblick gesehen
haben, wo unser Brief angekommen ist", meinte Lukas gedan-
kenvoll.
Jim seufzte tief auf. Nach einer Weile sagte er bek�mmert:
"Lukas, meinst du, wir sehen Lummerland noch mal
wieder?"
Lukas legte freundschaftlich seinen Arm um Jims Schulter und
tr�stete ihn: "Ich hab' das sichere Gef�hl, als ob wir eines
sch�nen Tages alle drei nach Lummerland zur�ckkehren, du,
Emma und ich."
Jim hob den Kopf, und seine Augen wurden gr��er und
gr��er.
"Meinst du wirklich?" fragte er hoffnungsvoll.
"K�nnte dir fast mein Wort darauf geben", brummte Lukas.
Jim wurde auf einmal ganz wunderbar leicht und fr�hlich
zumut, ganz so, als w�ren sie schon auf der Heimreise. Er
wu�te, wenn Lukas so etwas sagte, dann war es so gut wie
sicher.
"Meinst du, da� es bald is'?" fragte er nur noch.
"Vielleicht, vielleicht auch nicht", erwiderte Lukas. "Ich wei�
es nicht. Ist nur so ein Gef�hl."
Und nach einer Weile f�gte er hinzu: "Versuch jetzt lieber zu
schlafen, Jim. Vielleicht m�ssen wir heut die ganze Nacht
durchfahren."
"In Ordnung", sagte Jim, und im selben Augenblick war er
auch schon eingeschlafen.
Aber Lukas blieb wach und dachte nach. Er machte sich
ziemliche Sorgen. Als er sich eben eine neue Pfeife ansteckte
und dabei in die Sonnenglut des W�stennachmittags hinaus-
blickte, bemerkte er, da� die Geier wiedergekommen waren.
In einem gro�en Kreis hockten sie um Emma herum, geduldig,
schweigend und erwartungsvoll. Sie schienen fest damit zu
rechnen, da� die Reisenden niemals wieder aus dieser schreck-
lichen W�ste herausfinden w�rden.

Sechzehntes Kapitel
in dem Jim Knopf eine wesentliche Erfahrung macht

Jedermann, der einmal eine W�ste durchreist hat, wei�, da�


die Sonnenunterg�nge dort von ganz besonderer Pracht sind.
Der Abendhimmel strahlt in allen Farben, vom feurigsten
Orange bis zum zartesten Rosa, Hellgr�n und Violett.
Lukas und Jim sa�en auf dem Dach ihrer Lokomotive und
baumelten mit den Beinen. Dabei a�en sie die Reste aus dem
Proviantkorb auf und tranken den letzten Tee aus der goldenen
Thermosflasche.
"Jetzt gibt's nichts mehr, bis wir neuen Proviant finden",
meinte Lukas sorgenvoll.
Die Hitze hatte etwas nachgelassen. Es war sogar ein leichter
Wind aufgekommen, der beinahe k�hl �ber sie hinstrich. Die
Luftspiegelungen waren verschwunden, au�er einer einzigen,
die sich hartn�ckig noch eine Weile zu halten versuchte. Es war
aber nur eine ganz kleine Naturerscheinung: ein halbes Fahr-
rad, auf dem ein Igel sa�. Es fuhr noch eine Viertelstunde lang
etwas verloren in der W�ste umher, dann l�ste es sich auf.
Jetzt durften die beiden Freunde ziemlich sicher sein, da� die
eben am Horizont untergehende Sonne die wirkliche Sonne
war. Und da die Sonne bekanntlich immer im Westen unter-
geht, konnte Lukas jetzt ganz leicht bestimmen, wo Norden
war und wie er zu fahren hatte. Die Abendsonne mu�te zum
linken Fenster hereinschauen. Das war ganz einfach, und so
dampften sie los.

Als sie eine Weile unterwegs waren und die Sonne sich
anschickte, hinter dem Horizont zu versinken, fiel Jirn etwas
Merkw�rdiges auf. Bisher waren die Geier ihnen best�ndig
hoch oben in der Luft gefolgt, aber nun drehten pl�tzlich alle
zugleich um und flogen davon.
Sie schienen es sogar besonders eilig zu haben. Jim teilte Lukas
seine Beobachtung mit.
"Vielleicht haben sie's endlich aufgegeben", knurrte Lukas
zufrieden.
Doch in diesem Augenblick stie� Emma pl�tzlich einen gellen-
den Pfiff aus, der wie ein Entsetzensschrei klang, und zugleich
machte sie ganz von selbst kehrt und raste wie verr�ckt
davon.
Lukas griff nach der Bremse und brachte Emma zum Stehen.
Sie hielt zitternd und schnaufte, sto�weise keuchend.
"Nanu, Emma!" rief Lukas. "Was sind denn das f�r neumodi-
sche Sitten?"
Jim wollte etwas sagen, als er zuf�llig nach hinten hinausblick-
te, und da blieb ihm das Wort im Halse stecken.
"Da!" konnte er nur noch fl�stern.
Lukas fuhr herum. Und was er nun drau�en sah, das �bertraf
einfach alles, was ihm jemals vor Augen gekommen war.
Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Gr��e, da�
selbst das himmelhohe Gebirge "Die Krone der Welt" neben
ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt h�tte. Of-
fenbar war er ein sehr alter Riese, denn er hatte einen langen
wei�en Bart, der ihm bis auf die Knie herabhing und merkw�r-
digerweise zu einem dicken Zopf geflochten war. Wahrschein-
lich, weil es auf diese Weise einfacher war, den Bart in
Ordnung zu halten. Man kann sich ja vorstellen, wie m�hsam
es sein mu�, einen solchen Urwald jeden Tag zu k�mmen! Auf
dem Kopf trug der Riese einen alten Strohhut. Wo in aller Welt
mochte es nur so riesige Strohhalme geben? Der gewaltige
Leib steckte in einem alten, langen Hemd, das freilich gr��er
war als die allergr��ten Schiffssegel.
"Oh!" stie� Jim hervor, "das ist keine Fata! Schnell fort,
Lukas! Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen."
"Immer mit der Ruhe!" erwiderte Lukas und paffte kleine
W�lkchen. Dabei beobachtete er den Riesen scharf. "Ich
finde", stellte er fest, "au�er seiner Gr��e sieht der Riese ganz
manierlich aus."
"W... w... was?" stotterte Jim entsetzt.
"Nun ja", meinte Lukas ruhig, "blo� weil er so gro� ist,
braucht er doch noch lange kein Ungeheuer zu sein."
"Ja, aber ... ", stammelte Jim, "wenn er aber doch eins is'?"
Jetzt streckte der Riese sehns�chtig die Hand aus. Dann lie� er
sie hoffnungslos wieder sinken, und ein tiefer Seufzer schien
seine Brust zu heben. Zu h�ren war allerdings seltsamerweise
nichts. Es blieb ganz still.
"Wenn er uns was tun wollte", sagte Lukas, die Pfeife zwischen
den Z�hnen, "dann h�tte er das l�ngst gekonnt. Er scheint
gutartig zu sein. M�chte blo� wissen, warum er nicht n�her
kommt. Ob er sich am Ende vor uns f�rchtet?"
"Oh, Lukas!" st�hnte Jim, dem vor Angst die Z�hne zu
klappern anfingen, "jetzt is' es aus mit uns!"
"Glaub' ich nicht", erwiderte Lukas. "Vielleicht kann uns der
Riese sogar sagen, wie wir aus der verflixten W�ste heraus-
kommen!"
Jim verschlug es die Rede. Er wu�te nicht mehr, was er denken
sollte.
Pl�tzlich hob der Riese beide H�nde, faltete sie und rief mit
einem ganz d�nnen armseligen Stimmchen:
"Bitte, bitte, ihr Fremden, lauft nicht fort! Ich will euch gewi�
nichts tun!"
Bei seiner Gr��e h�tte die Stimme eigentlich wie ein Donner-
wetter klingen m�ssen. Das war aber keineswegs der Fall. Was
konnte das f�r einen Grund haben?
"Mir scheint", brummte Lukas, "das ist ein ganz harmloser
Riese. Er kommt mir sogar sehr nett vor. Nur mit seiner
Stimme ist irgendwas nicht in Ordnung."
"Vielleicht verstellt er sich!" rief Jim voller Angst. "Er will uns
wahrscheinlich fangen und einkochen. Ich hab' mal von so
einem Riesen geh�rt. Bestimmt, Lukas!"
"Du traust ihm nicht, blo�, weil er so m�chtig gro� ist",
antwortete Lukas. "Aber das ist kein Grund. Daf�r kann er
schlie�lich nichts."
Jetzt lie� sich der Riese am Horizont auf die Knie nieder und
rief mit flehentlich gefalteten H�nden:
"Ach bitte, bitte, glaubt mir doch! Ich will euch nichts tun, ich
will nur mit euch reden. Ich bin so allein, so schrecklich allein!"
Wieder klang die Stimme seltsam kl�glich und d�nn.
"Der arme Kerl kann einem ja leid tun", sagte Lukas. "Ich
werd' ihm mal winken, damit er merkt, da� wir nichts B�ses im
Sinn haben."
Mit Entsetzen beobachtete Jim, wie Lukas sich aus dem
Fenster beugte, h�flich die M�tze zog und mit seinem Taschen-
tuch winkte. Jetzt w�rde das Unheil gleich �ber sie hereinbre-
chen! Der Riese erhob sich langsam. Er schien unschl�ssig und
ganz verwirrt.
"Hei�t das", rief er mit seinem d�rftigen Stimmchen, "ich darf
n�her treten?"
"Jawohl!" schrie Lukas durch die hohle Hand und winkte
freundlich mit dem Taschentuch.
Der Riese machte vorsichtig einen Schritt auf die Lokomotive
zu. Dann hielt er inne und wartete.
"Er glaubt uns nicht", knurrte Lukas.
Kurz entschlossen stieg er aus und ging dem Riesen winkend
entgegen.
Jim verschwamm vor Entsetzen alles vor den Augen. Vielleicht
hatte Lukas einen Sonnenstich bekommen?
Aber wie auch immer, Jim konnte seinen Freund Lukas
unm�glich allein in eine solche Gefahr hineinlaufen lassen.
Also stieg er ebenfalls aus und rannte hinter Lukas her, obwohl
ihm dabei die Knie zitterten.
"Warte doch, Lukas!" keuchte er. "Ich komm' mit!"
"Na, siehst du!" sagte Lukas und schlug ihm freundschaftlich
auf die Schulter. "Das ist schon viel besser! Angst taugt
n�mlich nichts. Wenn man Angst hat, sieht meistens alles viel
schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist."
Als der Riese sah, wie der Mann und der kleine Junge aus der
Lokomotive ausstiegen und winkend auf ihn zukamen, wurde
ihm klar, da� er wirklich unbesorgt sein durfte. Sein ungl�ckli-
ches Gesicht hellte sich auf.
"Also, Freunde", rief er mit seiner d�nnen Stimme, "dann
komme ich jetzt!"
Und damit setzte er sich in Bewegung und schritt auf Jim und
Lukas zu. Aber was nun geschah, war so erstaunlich, da� Jim
Mund und Nase aufsperrte und Lukas an seiner Pfeife zu
ziehen verga�.
Der Riese kam Schritt f�r Schritt n�her, und bei jedem Schritt
wurde er ein St�ckchen kleiner. Als er etwa noch hundert
Meter entfernt war, schien er nicht mehr viel gr��er zu sein als
ein hoher Kirchturm. Nach weiteren f�nfzig Metern hatte er
nur noch die H�he eines Hauses. Und als er schlie�lich bei
Emma anlangte, war er genauso gro� wie Lukas der Lokomo-
tivf�hrer. Er war sogar fast einen halben Kopf kleiner. Vor den
beiden staunenden Freunden stand ein magerer alter Mann mit
einem feinen und g�tigen Gesicht.
"Guten Tag!" sagte er und nahm seinen Strohhut ab. "Ich wei�
gar nicht, wie ich euch danken soll, da� ihr nicht vor mir
weggelaufen seid. Seit vielen Jahren schon sehne ich mich
danach, da� einmal jemand so viel Mut aufbringen w�rde.
Aber niemand hat mich bis jetzt n�herkommen lassen. Dabei
sehe ich doch nur von ferne so schrecklich gro� aus. Ach,
�brigens - ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen: Mein
Name ist T�r T�r. Mit Vornamen hei�e ich T�r und mit
Nachnamen auch T�r."
"Guten Tag, Herr T�r T�r", antwortete Lukas h�flich und
nahm seine M�tze ab, "mein Name ist Lukas der Lokomotiv-
f�hrer." Er lie� sich seine Verwunderung kein bi�chen anmer-
ken und tat, als sei die sonderbare Begegnung ganz selbstver-
st�ndlich. Lukas war eben wirklich ein Mann, der wu�te, was
sich geh�rt!
Nun raffte sich auch Jim auf, der Herrn T�r T�r noch immer
mit offenem Mund angestarrt hatte und sagte: "Ich hei�e Jim
Knopf."
"Ich freue mich wirklich ungemein", sagte Herr T�r T�r,
diesmal zu Jim gewendet. "Vor allem dar�ber, da� ein so
junger Mann wie Sie, mein lieber Herr Knopf, schon so
au�ergew�hnlich beherzt ist. Sie haben mir einen bedeutenden
Dienst erwiesen."
"Oh ... ach ... ich ... eigentlich ... ", stotterte Jim und
err�tete unter seiner schwarzen Haut bis an beide Ohren. Er
sch�mte sich pl�tzlich ganz gewaltig, denn in Wahrheit war er
ja durchaus nicht mutig gewesen. Und im stillen nahm er sich
vor, nie wieder vor irgend etwas oder irgendwem Angst zu
haben, bevor er ihn oder es nicht aus der N�he betrachtet
h�tte. Man konnte ja nie wissen, ob es nicht so �hnlich war wie
mit Herrn T�r T�r. Er gab sich in Gedanken selbst das
Ehrenwort, immer daran zu denken.
"Wissen Sie", sagte Herr T�r T�r jetzt wieder zu Lukas, "in
Wirklichkeit bin ich n�mlich gar kein Riese. Ich bin nur ein
Scheinriese. Aber das ist eben das Ungl�ck. Deshalb bin ich so
einsam."
"Das m�ssen Sie uns n�her erkl�ren, Herr T�r T�r", entgegne-
te Lukas. "Sie sind n�mlich der erste Scheinriese, dem wir
begegnen, m�ssen Sie wissen."
"Ich will es Ihnen gern erkl�ren, so gut ich kann", versicherte
Herr T�r T�r. "Aber nicht hier. Darf ich mir erlauben, meine
Herren, Sie in meine bescheidene H�tte zu Gast zu laden?"
"Wohnen Sie denn hier?" fragte Lukas erstaunt. "Mitten in der
W�ste?"
"Allerdings", antwortete Herr T�r T�r l�chelnd, "ich wohne
mitten im ,Ende der Welt'. N�mlich bei der Oase."
"Was is' eine Oase?" fragte Jim vorsichtig. Er bef�rchtete
schon wieder irgendeine �berraschung.
"Oase", erkl�rte Herr T�r T�r, "nennt man eine Quelle oder
eine andere Wasserstelle in der W�ste. Ich werde Sie hin-
f�hren."
Aber Lukas wollte lieber mit Emma fahren. Schon damit
Emma bei der Gelegenheit neues Wasser tanken konnte. Es
dauerte jedoch eine ganze Weile, bis Lukas und Jim den
�ngstlichen Scheinriesen davon �berzeugt hatten, da� es ganz
ungef�hrlich sei, mit einer Lokomotive zu fahren. Schlie�lich
stiegen alle drei auf und dampften los.

Siebzehntes Kapitel
in dem der Scheinriese seine Eigenart erkl�rt und sich dankbar
erweist
Herrn T�r Turs Oase bestand aus einem klaren, kleinen Teich,
in dessen Mitte eine Quelle wie ein Springbrunnen pl�tscherte.
Rundherum wuchs frisches saftiges Gr�n, und mehrere Pal-
men und Obstb�ume hoben ihre Wipfel in den W�stenhimmel.
Unter diesen B�umen lag ein niedriges, blitzsauberes, wei�es
H�uschen mit gr�nen Fensterl�den. In einem kleinen Garten
vor der Haust�r zog der Scheinriese sogar Blumen und Ge-
m�se.
Lukas, Jim und Herr T�r T�r setzten sich in der Stube um den
runden Holztisch und a�en zu Abend. Es gab verschiedene
leckere Gem�sesorten und zum Nachtisch einen herrlichen
Obstsalat.
Herr T�r T�r war n�mlich Vegetarier. So nennt man Leute, die
niemals Fleisch essen. Herr T�r T�r war ein gro�er Tierfreund,
und deshalb mochte er keine Tiere t�ten und aufessen. Da� die
Tiere trotzdem vor ihm flohen, weil er eben ein Scheinriese
war, das stimmte ihn oft sehr traurig.
W�hrend die drei friedlich um den Tisch sa�en, stand die alte
Emma drau�en neben dem Springbrunnen. Lukas hatte die
Kuppel hinter ihrem Schornstein aufgeklappt, und nun lie� sie
behaglich das frische Wasser in ihren Kessel hineinpl�tschern.
Sie war ziemlich durstig von der gro�en Hitze des Tages.
Nach dem Essen z�ndete sich Lukas seine Pfeife an, lehnte sich
zur�ck und sagte:
"Danke f�r die gute Mahlzeit, Herr T�r T�r. Aber nun bin ich
gespannt auf Ihre Geschichte."
"Ja", dr�ngte Jim, "erz�hlen Sie doch bitte!"
"Nun", meinte Herr T�r T�r, "da ist eigentlich nicht viel zu
erz�hlen. Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche
besonderen Eigenschaften. Herr Knopf zum Beispiel hat eine
schwarze Haut. So ist er von Natur aus, und dabei ist weiter
nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz
sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht. Wenn sie
selber zum Beispiel wei� sind, dann sind sie �berzeugt, nur ihre
Farbe w�re richtig, und haben etwas dagegen, wenn jemand
schwarz ist. So unvern�nftig sind die Menschen bedauerlicher-
weise oft."
"Und dabei", warf Jim ein, "is' es doch manchmal sehr
praktisch, eine schwarze Haut zu haben, zum Beispiel f�r
Lokomotivf�hrer."
Herr T�r T�r nickte ernst und fuhr fort:
"Sehen Sie, meine Freunde: Wenn einer von Ihnen jetzt
aufst�nde und wegginge, w�rde er doch immer kleiner und.
kleiner werden, bis er am Horizont schlie�lich nur noch wie ein
Punkt auss�he. Wenn er dann wieder zur�ckk�me, w�rde er
langsam immer gr��er werden, bis er zuletzt in seiner wirkli-
chen Gr��e vor uns st�nde. Sie werden aber zugeben, da� der
Betreffende dabei in Wirklichkeit immer gleich gro� bleibt. Es
scheint nur so, als ob er erst immer kleiner und dann wieder
gr��er w�rde."
"Richtig!" sagte Lukas.
"Nun", erkl�rte Herr T�r T�r, "bei mir ist das einfach umge-
kehrt. Das ist alles. Je weiter ich entfernt bin, desto gr��er sehe
ich aus. Und je n�her ich komme, desto mehr erkennt man
meine wirkliche Gestalt."
"Sie meinen", fragte Lukas, "Sie werden gar nicht wirklich
kleiner, wenn Sie n�her kommen? Und Sie sind auch nicht
wirklich so riesengro�, wenn Sie weit entfernt sind, sondern es
sieht nur so aus?"
"Sehr richtig", antwortete Herr T�r T�r. "Deshalb sagte ich:
ich bin ein Scheinriese. Genauso, wie man die anderen Men-
schen Scheinzwerge nennen k�nnte, weil sie ja von weitem wie
Zwerge aussehen, obwohl sie es gar nicht sind."
"Das ist wirklich sehr interessant", murmelte Lukas und paffte
nachdenklich ein paar kunstvolle Rauchringe. "Aber sagen
Sie, Herr T�r T�r, wie ist denn das gekommen? Oder waren
Sie schon immer so, auch als Kind?"
"Ich war schon immer so", sagte Herr T�r T�r bek�mmert.
"Und ich kann nichts daf�r. In meiner Kinderzeit war diese
Eigenschaft noch nicht so stark ausgepr�gt, nur ungef�hr halb
so stark wie jetzt. Trotzdem hatte ich niemals Spielkameraden,
weil sich alle vor mir f�rchteten. Sie k�nnen sich vielleicht
vorstellen, wie traurig ich war. Ich bin n�mlich ein sehr
friedlicher und geselliger Mensch. Aber wo ich auch auftauch-
te, lief alles entsetzt weg."
"Und warum wohnen Sie jetzt hier in der W�ste ,Das Ende der
Welt'?" erkundigte sich Jim teilnahmsvoll. Der feine alte
Mann tat ihm richtig leid.
"Das kam so", erkl�rte Herr T�r T�r. "Ich bin in Laripur
geboren. Das ist eine gro�e Insel im Norden von Feuerland.
Meine Eltern waren die einzigen Menschen, die keine Angst
vor mir empfanden. Es waren �berhaupt sehr liebe Eltern. Als
sie gestorben waren, beschlo� ich auszuwandern. Ich wollte ein
Land suchen, wo die Leute keine Angst vor mir h�tten. Ich bin
durch die ganze Welt gezogen, aber es war �berall das gleiche.
Da bin ich zuletzt in diese W�ste gegangen, damit niemand
mehr durch mich erschreckt w�rde. Sie beide, meine Freunde,
sind seit meinen Eltern die ersten Menschen, die sich nicht
vor mir f�rchten. Ich habe mich unbeschreiblich danach ge-
sehnt, einmal noch, ehe ich sterbe, mit jemandem reden zu
k�nnen.
Sie beide haben mir diesen Wunsch erf�llt. Nun werde ich
immer, wenn ich mich einsam f�hle, an Sie denken, und es wird
mir ein gro�er Trost sein, da� ich irgendwo in der Welt
Freunde habe. Zum Dank daf�r m�chte ich gern etwas f�r Sie
tun."
Lukas dachte eine Weile schweigend �ber das Geh�rte nach.
Auch Jim war tief in Gedanken versunken. Er h�tte Herrn T�r
T�r gerne irgend etwas Hilfreiches gesagt, aber es fiel ihm
nichts Passendes ein.
Endlich unterbrach Lukas die Stille:
"Wenn Sie wollen, Herr T�r T�r, dann k�nnen Sie uns
tats�chlich einen wichtigen Dienst erweisen."
Und dann erz�hlte er, woher sie kamen, und da� sie auf dem
Wege in die Drachenstadt seien, um die Prinzessin Li Si zu
befreien und Jim Knopfs Geheimnis auf die Spur zu
kommen.
Als Lukas fertig war, blickte Herr T�r T�r die beiden Freunde
voller Hochachtung an und meinte:
"Sie sind wirklich zwei sehr mutige M�nner. Ich zweifle nicht,
da� Ihnen die Rettung der Prinzessin gelingen wird, obgleich
es gewi� sehr gef�hrlich ist, in die Drachenstadt einzu-
dringen."
"K�nnen Sie uns vielleicht den Weg dorthin beschreiben?"
fragte Lukas.
"Das w�re zu unsicher", antwortete Herr T�r T�r. "Ich werde
Sie am besten selbst aus der W�ste hinausbegleiten. Allerdings
kann ich nur bis zur Region der �Schwarzen Felsen' mitkom-
men. Von dort aus m�ssen Sie allein weiterfinden."
Er �berlegte ein paar Augenblicke, dann fuhr er fort:
"Da ist aber noch eine Schwierigkeit. Ich lebe nun zwar schon
so viele Jahre hier und kenne die W�ste wie meine eigene
Tasche, aber tags�ber w�rde sogar ich mich rettungslos verir-
ren. Die Fata Morgana ist in den letzten Jahren immer
schlimmer geworden."
"Da haben wir ja m�chtiges Gl�ck gehabt, da� wir Sie getrof-
fen haben, Herr T�r T�r", warf Lukas ein.
"O ja!" erwiderte Herr T�r T�r ernst und runzelte die Stirn.
"Allein w�ren Sie aus dieser W�ste nie wieder herausgekom-
men. Morgen oder sp�testens �bermorgen h�tten die Geier Sie
ganz sicher verspeist."
Jim schauderte.
"Also fahren wir gleich ab", schlug Lukas vor. "Der Mond ist
auch schon aufgegangen."
Herr T�r T�r machte schnell noch Brote zurecht und f�llte die
goldene Thermosflasche des Kaisers von Mandala mit neuem
Tee. Dann gingen alle drei hinaus zu der Lokomotive.
Ehe sie abfuhren, wollte Jim gerne noch einmal die sonderbare
Riesen-Eigenschaft von Herrn T�r T�r sehen, und Herr T�r
T�r erkl�rte sich bereit, sie vorzuf�hren.
Der Mond schien so hell und klar, da� man fast so gut sehen
konnte wie bei Tage. Jim und Lukas blieben neben Emma
stehen, und Herr T�r T�r ging ein St�ck weit in die W�ste
hinein. Die beiden Freunde konnten beobachten, wie er immer
gr��er wurde, je weiter er sich von ihnen entfernte. Als er
wieder zur�ckkam, wurde er kleiner und kleiner, bis er schlie�-
lich wieder in ganz normaler Gr��e vor ihnen stand.
Dann blieb Lukas allein stehen, und Jim ging mit Herrn T�r
T�r weg, um zu sehen, ob er wirklich nur scheinbar gr��er
wurde. Als sie ein St�ck von Lukas entfernt waren, drehten sie
sich um, und Jim rief:
"Was siehst du, Lukas?"
Lukas antwortete:
"Du bist jetzt nur noch so gro� wie mein kleiner Finger, und
Herr T�r T�r ist so lang wie ein Telegrafenniast."
Dabei konnte Jim leicht feststellen, da� Herr T�r T�r, neben
dem er ja stand, wirklich nicht gewachsen war, sondern immer
noch genauso aussah wie vorher.
Und zuletzt blieb Jim neben Emma stehen, und Lukas ging mit
Herrn T�r T�r ein St�ck weit fort. Nun konnte Jim beobach-
ten, wie Lukas immer kleiner wurde und Herr T�r T�r immer
gr��er. Als die beiden zur�ckgekommen waren, sagte Jim
befriedigt:
"Ja, Herr T�r T�r, Sie sind wirklich ein Scheinriese!"
"Daran besteht kein Zweifel", best�tigte Lukas. "Und nun
fahren wir ab, Leute."
Sie stiegen alle drei in das F�hrerh�uschen, schl�ssen die
T�ren und fuhren in die W�ste hinein. Die Dampfw�lkchen
aus dem Schornstein der guten dicken Emma stiegen in den
Nachthimmel empor, immer h�her und h�her, und zergingen
endlich ganz hoch droben, wo leuchtend der gro�e silberne
Mond stand.

Achtzehntes Kapitel
in dem die Reisenden von dem Scheinriesen Abschied nehmen
und vor dem "Mund des Todes" nicht mehr weiterk�nnen

Die W�ste war flach wie ein Nudelbrett und sah nach allen
Seiten ganz gleich aus. Aber Herr T�r T�r war keinen Augen-
blick unsicher, in welcher Richtung sie fahren mu�ten. Und so
dauerte es noch nicht einmal drei Stunden, da hatten sie schon
die n�rdliche Grenze der W�ste "Das Ende der Welt" er-
reicht.
Die Landschaft lag im hellen Schein des Mondes, aber dort, wo
der Rand der W�ste war, h�rte pl�tzlich alles auf. Es war nichts
mehr da, kein Boden, kein Himmel. Einfach gar nichts. Von
weitem sah das aus wie eine riesige kohlpechrabenschwarze
Finsternis, die vom W�stensaum aufstieg bis in den Himmel
hinein.
"Merkw�rdig!" sagte Lukas. "Was ist das?"
"Das ist die Region der ,Schwarzen Felsen'", erkl�rte Herr T�r
T�r.
Sie fuhren ganz dicht bis dahin, wo das Dunkel begann. Lukas
hielt Emma an, und sie stiegen aus.
"Die Stadt der Drachen", fing Herr T�r T�r an zu erkl�ren,
"liegt irgendwo im ,Land der tausend Vulkane'. Das ist eine
gewaltige Hochebene, die mit Tausenden von gro�en und
kleinen feuerspeienden Bergen bedeckt ist. Wo die Stadt der
Drachen genau liegt, wei� ich leider auch nicht. Aber das
werden Sie schon herausbekommen."
"Gut", meinte Lukas. "Aber was ist dieses Schwarze hier?"
"M�ssen wir da vielleicht durch?" fragte Jim.
"Das wird sich nicht vermeiden lassen", antwortete Herr T�r
T�r. "Sehen Sie, meine Freunde, es ist so: Das ,Land der
tausend Vulkane' ist, wie ich schon sagte, eine Hochebene und
liegt siebenhundert Meter h�her als ,Das Ende der Welt'. Der
einzige Weg, der dort hinauf f�hrt, geht hier durch die Region
der ,Schwarzen Felsen'."
"Hier?" fragte Jim verwundert. "Ich seh' aber gar keinen
Weg."
"Nein", sagte Herr T�r T�r ernst. "Man kann ihn auch nicht
sehen. Das ist eben das Geheimnis der ,Schwarzen Felsen'. Sie
sind n�mlich so vollkommen schwarz, da� alle Helligkeit
aufgeschluckt wird. Es ist einfach kein Licht zum Sehen mehr
da. Nur an besonders strahlenden Sonnentagen bleibt ein ganz
kleiner Schimmer �brig. Dann kann man oben am Himmel
einen schwachen violetten Fleck erkennen. Das ist die Sonne.
Aber sonst gibt es hier nur tiefes Dunkel."
"Aber wenn nichts zu sehen ist", fragte Lukas bedenklich, "wie
kann man denn da den Weg finden?"
"Die Stra�e f�hrt von hier ganz schnurgerade hinauf", erkl�rte
Herr T�r T�r. "Sie ist ungef�hr hundert Meilen lang. Wenn
Sie immer ganz genau geradeaus fahren, kann nichts pas-
sieren.
Aber Sie d�rfen auf keinen Fall von der Richtung abkommen!
Links und rechts g�hnen n�mlich tiefe, schreckliche Abgr�nde
neben dem Weg, in die Sie unfehlbar hinunterst�rzen
w�rden."
"Sch�ne Aussichten!" knurrte Lukas und kratzte sich hinter
dem Ohr. Jim murmelte erschrocken "o jemine" vor sich
hin.
"An der h�chsten Stelle", fuhr Herr T�r T�r fort, "f�hrt die
Stra�e durch ein gro�es Felsentor. Es hei�t ,Der Mund des
Todes'. Dort ist es am allerdunkelsten, und selbst an einem
strahlendhellen Sonnentag herrscht dort eine ganz undurch-
dringliche Finsternis. Sie werden den ,Mund des Todes' sofort
an einem f�rchterlichen Heulen und St�hnen erkennen."
"Warum heult er denn?" fragte Jim, dem recht unbehaglich
wurde.
"Das macht der Wind, der st�ndig durch dieses Felsentor
weht", antwortete Herr T�r T�r. "Ich rate Ihnen �brigens, die
T�ren der Lokomotive fest geschlossen zu halten. Da in dieser
Region ewige Nacht herrscht, ist der Wind so kalt, da� ein
Wassertropfen zu Eis gefriert, ehe er auf dem Boden an-
kommt. Sie d�rfen auch die Lokomotive nicht verlassen. Um
keinen Preis! Sie w�rden sofort vor K�lte erstarren."
"Danke f�r die guten Ratschl�ge!" sagte Lukas. "Ich denke,
wir warten mit der Abfahrt lieber bis Sonnenaufgang. Wenn's
auch noch so wenig Licht gibt, besser als gar nichts ist es immer
noch. Was meinst du, Jim?"
"Ich glaub' auch", erwiderte Jim.
"Dann ist es wohl das beste, ich verabschiede mich jetzt",
meinte Herr T�r T�r. "Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich
wei�, meine Freunde. Und ich m�chte lieber nach Hause
kommen, ehe es Tag wird. Sie wissen ja, wegen der Fata
Morgana."
Sie sch�ttelten sich die H�nde und sagten sich Lebewohl, und
Herr T�r T�r bat, wenn die beiden Freunde wieder einmal in
die W�ste "Das Ende der Welt" k�men, dann sollten sie ihn
doch ja besuchen. Jim und Lukas versprachen es. Und dann
machte sich der Scheinriese auf den Heimweg nach seiner
Oase.
Die Freunde sahen ihm nach. Seine Gestalt wurde mit jedem
Schritt gr��er und immer gr��er, bis er schlie�lich wieder
riesenhaft am fernen Horizont stand. Dort drehte er sich noch
einmal um und winkte, und Jim und Lukas winkten zur�ck.
Dann schritt Herr T�r T�r weiter und wurde noch gr��er, aber
auch undeutlicher, bis seine ungeheure Gestalt zuletzt am
n�chtlichen Himmel verschwamm.
"Ein netter Mensch!" sagte Lukas und paffte heftig. "Kann
einem wirklich leid tun."
"Ja", meinte Jim gedankenvoll. "Schade, da� er so allein sein
mu�."
Und dann gingen sie schlafen, um f�r die Fahrt durch die
Region der "Schwarzen Felsen" Kr�fte zu sammeln.

Am n�chsten Morgen ging die Sonne strahlend hell �ber der


W�ste auf. Jim und Lukas fr�hst�ckten, dann riegelten sie die
T�ren des F�hrerh�uschens fest zu, schl�ssen sorgf�ltig die
Fenster und fuhren los, mitten hinein in die kohlpechraben-
schwarze Finsternis.
Es war tats�chlich, wie Herr T�r T�r gesagt hatte: Die
blendend helle Sonne war bald nicht mehr zu erkennen. Nur
ein matter violetter Fleck stand irgendwo hoch oben am
schwarzen Himmel. Rundherum war alles vollkommen
dunkel.
Lukas knipste an einem Schalter und lie� die Scheinwerfer
aufleuchten. Aber es n�tzte nichts. Das Licht wurde von den
schwarzen Felsen aufgeschluckt, und es blieb so finster wie
zuvor.
Je l�nger sie unterwegs waren, desto k�lter wurde es. Jim und
Lukas h�ngten sich ihre Schlafdecken �ber, aber bald half auch
das nichts mehr. Obwohl Lukas ganz gewaltig einheizte, drang
der Frost doch immer schneidender durch die Fensterscheiben.
Das Klagen des Windes h�rte sich beinah schadenfroh an.
Jim begann so zu frieren, da� ihm die Z�hne aufeinander-
schlugen.
Es ging nur sehr, sehr langsam vorw�rts. Stunde um Stunde
verrann, und nach Lukas' Sch�tzung hatten sie erst die H�lfte
der hundert Meilen zur�ckgelegt.
Jim half jetzt beim Heizen, denn Lukas kam allein gar nicht
mehr nach. Immer rascher mu�ten sie Kohlen in das Feuerloch
schaufeln, damit das Wasser im Kessel �berhaupt zum Kochen
kam und Dampf hergab. Emma schleppte sich von Minute zu
Minute langsamer dahin. An ihrem Schornstein und den
Ventilen hingen bereits dicke Eiszapfen.
Lukas blickte sorgenvoll auf den Kohlenvorrat, der immer
mehr und mehr zusammenschmolz.
"Hoffentlich kommen wir aus", murmelte er.
"Wie lange reichen denn die Kohlen noch?" erkundigte sich
Jim und blies sich in die erstarrten H�nde.
"Eine Stunde vielleicht noch", antwortete Lukas, "oder viel-
leicht noch nicht mal so lange. Bei dem Verbrauch ist das
schwer zu sagen."
"K�nnen wir's denn bis dahin geschafft haben?" fragte Jim
schnatternd vor K�lte. Seine roten Lippen waren bl�ulich
angelaufen.
"Wenn nichts dazwischenkommt, vielleicht", brummte Lukas
und w�rmte sich die eiskalten Finger an seiner Pfeife.
Jetzt war sogar der blasse violette Fleck am Himmel ver-
schwunden. Sie n�herten sich nun also wohl dem "Mund des
Todes". Einige Minuten verstrichen noch, und dann h�rten sie
es pl�tzlich von weitem gr��lich heulen und st�hnen:
"Huuuuiiiiuuuuiiiioooohhhh!"
Es klang so schauerlich, da� es daf�r einfach keine Beschrei-
bung gibt. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es nicht
selbst geh�rt hat. Der Ton war nicht laut, aber er drang so
jammervoll durch die schwarze Einsamkeit, da� es kaum zu
ertragen war.
"O jemine!" stammelte Jim, "ich glaub', ich stopf mir lieber
wieder Wachs in die Ohren."
Aber der Kerzenstummel war von der K�lte hart wie Stein
geworden und lie� sich nicht kneten. Die Freunde mu�ten also
die trostlosen Klagelaute aushallen.
"Aaaaaaauuuuuuuuuu!" wimmerte es drau�en, jetzt schon
viel n�her.
Lukas und Jim bissen die Z�hne zusammen.
In diesem Augenblick blieb Emma stehen und stie� einen
langen verzweiflungsvollen Pfiff aus. Irgendwie war sie von der
schnurgeraden Linie abgekommen, und nun sp�rte sie pl�tz-
lich, da� direkt vor ihren R�dern der Abgrund g�hnte.
"Verflixt!" sagte Lukas und versuchte nacheinander ein paar
Hebel. Aber Emma zitterte blo� und weigerte sich weiterzu-
fahren.
"Was hat sie denn?" fragte Jim mit schreckensweiten
Augen.
"Keine Ahnung", knurrte Lukas. "Sie will nicht weiter. Wahr-
scheinlich haben wir den geraden Weg verloren."
"Und was wird jetzt?" fl�sterte Jim.
Lukas antwortete nicht. Aber Jim kannte Lukas' Gesicht,
wenn h�chste Gefahr bestand. Dann wurde der Mund zu
einem Strich, die Backenknochen traten hervor, und die
Augen wurden ganz schmal.
"Auf jeden Fall darf das Feuer nicht ausgehen", sagte er
schlie�lich. "Sonst sind wir verloren."
"Aber wir k�nnen doch nicht einfach hier stehenbleiben",
wandte Jim ein.
Lukas zuckte nur die Achseln. Jim fragte nicht weiter. Wenn
nicht mal Lukas wu�te, was sie tun sollten, dann stand es wohl
ziemlich schlimm.
Das Klagen des Windes h�rte sich jetzt beinahe schadenfroh
an. Es war, als ob der "Mund des Todes" schauerlich lachte:
"Huhuhuhuhohohooooooo!"
"Gib die Hoffnung nicht auf, alter Junge!" tr�stete Lukas.
Aber es klang nicht sehr �berzeugend.
Sie warteten und warteten, und dabei �berlegten sie beide
angestrengt, was zu tun w�re. Aussteigen konnten sie nicht
wegen der K�lte. Au�erdem h�tte es ja auch nichts gen�tzt.
R�ckw�rtsfahren ging nicht, denn Emma wagte nicht die
kleinste Bewegung, weder vorw�rts noch zur�ck. Was sollten
sie tun? Nichts konnten sie tun. Aber sie mu�ten irgend etwas
unternehmen! Jede Sekunde, die sie verloren, brachte sie dem
Augenblick n�her, wo die Kohlen zu Ende waren.
W�hrend sie schweigend weitersch�rten und ihr Gehirn zer-
marterten, ohne da� ihnen etwas einfiel, bereitete sich drau-
�en ihre Rettung vor. Der Dampf, der aus Emmas Schornstein
aufstieg, gefror n�mlich in der eiskalten Luft und fiel als
Schnee herunter. Der klagende Wind trieb die Flocken vor sich
her, und nach und nach bedeckte sich die Umgebung rings
um die Lokomotive mit Schnee.
Die wei�en Wirbel senkten sich �ber die schwarzen Felsen,
und wo diese vom Schriee bedeckt waren, konnten sie das Licht
nicht mehr aufschlucken, und auf einmal war der Weg zu
erkennen. Mitten im schwarzen Nichts schwebte pl�tzlich ein
St�ck wei�e Stra�e.
Jim bemerkte es zuerst. Er hatte ein Loch in die Eisblumen am
Fenster gehaucht und versuchte hinauszusp�hen.
"He, Lukas!" rief er. "Schau doch mal!"
Lukas sah hinaus. Dann richtete er sich auf, nickte Jim ernst
zu, holte tief Luft und sagte:
"Wir sind gerettet."
Und dann z�ndete er sich eine neue Pfeife an.
Nun war Emma auch zu bewegen, weiterzufahren. Sie fand die
gerade Linie wieder, und von neuem ging es hinein in die
kohlpechrabenschwarze Finsternis.
"Huuuuuooooochchchchchchch!" st�hnte der Wind. Und es
klang, als f�hren sie geradewegs in den ge�ffneten Todesra-
chen hinein.
"Oooooooaaaaaahhhhhhhh!" g�hnte es. Und dann kamen sie
auf der anderen Seite des Felsentores heraus und waren dem
"Mund des Todes" entronnen.
"Hiiiiiii�����!" seufzte es noch einmal hohl hinter ihnen her,
aber es h�rte sich schon viel ungef�hrlicher an. Und dann
verhallte das Wehklagen hinter ihnen in der Ferne.
Sie hatten jetzt nur noch zehn Schaufeln Kohle. Aber zum
Gl�ck f�hrte der Weg nun abw�rts, denn der "Mund des
Todes" lag ja an der h�chsten Stelle. Lukas warf jede Minute
eine Schaufel Kohlen aufs Feuer: Eine Minute - zwei Minuten
- drei Minuten - vier - f�nf - sechs - sieben Minuten - acht -
neun - und - zehn Minuten - - - jetzt war die letzte Schaufel
Kohle verheizt. Aber es wurde nicht heller. Immer langsamer
rollte die Lokomotive. Gleich w�rde sie stehenbleiben ...
Da, im allerletzten Augenblick, war es, als glitten sie durch
einen Vorhang hindurch. Licht drang durch die vereisten
Fenster herein, helles Sonnenlicht. Emma blieb stehen.
"So, Jim", sagte Lukas, "wie war's mit einer kleinen Erho-
lungspause?"
"In Ordnung", antwortete Jim und stie� einen tiefen Seufzer
der Erleichterung aus.
Sie entfernten m�hsam das dicke Eis von den Riegeln und
stie�en die T�r auf. Warme Luft str�mte ihnen entgegen. Sie
kletterten hinaus, um ihre erstarrten Glieder in der Sonne
aufzutauen.

Neunzehntes Kapitel
in dem Lukas und Jim einen kleinen Vulkan reparieren und
Emma ein anderes Gesicht bekommt

Die beiden Freunde standen breitbeinig vor ihrer Lokomotive,


die H�nde in den Hosentaschen, und schauten sich die Land-
schaft an.
Vor ihnen lag das "Land der tausend Vulkane" mit Tausenden
und aber Tausenden von feuerspeienden Bergen in jeder
Gr��e. Manche ragten hoch auf wie vielst�ckige H�user,
andere wieder waren nur ganz klein, ungef�hr wie Maulwurfs-
h�gel. Viele befanden sich gerade in voller T�tigkeit, das hei�t,
sie spuckten Feuer und Flammen, andere rauchten nur still vor
sich hin. Aus einigen lief oben ein gl�hender Schlamm heraus,
sie sahen aus wie T�pfe mit �berkochendem Grie�brei.
Die Erde bebte ununterbrochen, und die Luft war erf�llt von
an- und abschwellendem Grollen und Donnern. Pl�tzlich gab
es einen heftigen Sto�, und mit lautem Krachen �ffnete sich
eine tiefe Erdspalte. Die ringsum liegenden Vulkane fingen an
�berzukochen, und der gl�hende Brei f�llte die Kluft langsam
wieder aus. Aber schon brach an einer anderen Stelle ein neuer
Ri� auf. In der Ferne erhob sich ein einzelner riesenhafter
Gipfel. Er mochte wohl �ber tausend Meter hoch sein. Auch
aus ihm rauchte es oben heraus.
Lukas und Jim betrachteten eine ganze Weile stumm diese
wenig anheimelnde Gegend.
"Ich m�cht' blo� wissen", sagte Jim endlich, "was passiert,
wenn dieser gro�e Berg da in der Mitte mal �berkocht. Dann
wird vielleicht das ganze Land mit gl�hendem Brei zugedeckt.
Was glaubst du, Lukas?"
"Schon m�glich", antwortete Lukas. Er war gerade mit ganz
anderen �berlegungen besch�ftigt.
"Irgendwo mu� hier also die Stadt der Drachen sein", murmel-
te er, "aber wo?"
"Ja, wo?" sagte Jim. "Das m��te man wissen."
"Selbst wenn wir's w��ten", fuhr Lukas fort, "w�rde uns das
auch nicht viel helfen. Wie sollten wir denn hinkommen?"
"Ja, wie?" sagte Jim. "Hier k�nnen wir nicht weiterfahren. Wir
w�rden im gl�henden Brei steckenbleiben oder in eine Erd-
spalte st�rzen. Man kann ja nie wissen, wo sie pl�tzlich
aufbrechen."
"Und selbst wenn wir das w��ten", meinte Lukas, "w�rde es
uns auch nichts n�tzen. Wir k�nnen n�mlich nicht weiterfah-
ren, weil wir keine Kohlen mehr haben."
"Oh!" antwortete Jim erschrocken, "daran hab' ich gar nicht
gedacht. Das is' aber eine unangenehme Sache."
"Verflixt unangenehm", brummte Lukas. "Holz scheint es hier
auch nirgends zu geben. Jedenfalls kann ich nichts entdecken,
was einem Baum auch nur im entferntesten �hnlich sieht."
Sie setzten sich erst einmal hin und a�en ein paar Butterbrote
und tranken den Tee des Scheinriesen aus der goldenen
Thermosflasche des Kaisers von Mandala. Es mochte ungef�hr
vier Uhr nachmittags sein, also Teezeit. Au�erdem versp�rten
sie sowieso einen gro�en Appetit, weil sie ja nicht zu Mittag
gegessen hatten.
Als sie fertig waren, Lukas sich eine Pfeife ansteckte und Jim
den Deckel auf die Thermosflasche schraubte, kam es ihnen
pl�tzlich vor, als h�tten sie ein Ger�usch vernommen.
"Pst!" sagte Jim, "h�r mal!" Sie lauschten. Und da war es
wieder. Es klang, als weinte irgendwo ein kleines Schwein.
"Das h�rt sich an wie eine Stimme", fl�sterte Jim.
"Stimmt", sagte Lukas, "wie ein Ferkel oder so was. Wollen
doch mal sehen, was los ist."
Sie standen auf und gingen dem Ton nach. Bald hatten sie die
Stelle gefunden. Der Klagelaut kam aus einem Vulkan ganz in
der N�he. Aber dieser Vulkan schien erloschen. Er spr�hte
kein Feuer, es kam kein gl�hender Brei heraus, er rauchte
nicht mal.
Jim und Lukas kletterten auf den H�gel hinauf, der ungef�hr
so gro� war wie ein kleines Haus, und schauten von oben in das
Kraterloch hinein. Das Weinen war jetzt ganz deutlich zu
h�ren. Sogar ein paar Worte konnten die Freunde ver-
stehen:
"Ach, ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr!
Ooooh, ich armer Wurm ... !"
Aber zu sehen war nichts, es war stockfinster im Innern des
Vulkans.
"Hallo!" rief Lukas hinunter, "ist da jemand?"
Jetzt war es pl�tzlich totenstill. Auch das Jammern hatte
aufgeh�rt.
"Hallo, hallo!" rief Jim mit heller Stimme, "wer is' denn da?
Wer hat da eben ,armer Wurm' gesagt?"
Zun�chst blieb es still, aber pl�tzlich ert�nte ein f�rchterliches
Gekreisch. Im Innern des Vulkans polterte und rumorte es
ganz entsetzlich. Die beiden Freunde traten ein wenig zur�ck,
falls vielleicht doch Feuer oder gl�hende Lava herausk�me.
Aber es geschah nichts dergleichen, sondern es erschien ein
dicker Kopf mit gro�en runden Augen, ein Kopf, der entfernt
an ein Nilpferd erinnerte, nur da� er gelb und blau get�pfelt
war. Der Kopf sa� auf einem zarten K�rperchen, an dessen
anderem Ende ein langer d�nner Schwanz hing, etwa wie bei
einem noch nicht ausgewachsenen Krokodil. Breitbeinig stell-
te sich das eigenartige Wesen vor Lukas und Jim hin, stemmte
die �rmchen in die Seite und kreischte, so wild es nur
konnte:
"Ich bin ein Drache! Puh!"
"Das freut mich", sagte Lukas, "ich bin Lukas der Lokomotiv-
f�hrer."
"Und ich bin Jim Knopf", f�gte Jim hinzu.
Der Drache schaute die beiden Freunde verdutzt aus seinen
runden Augen an und fragte dann mit einer quiekenden
Ferkelstimme:
"Ja, habt ihr denn gar keine Angst vor mir?"
"Nein", antwortete Lukas, "warum sollten wir denn?"
Da fing der Drache f�rchterlich zu weinen an, und dicke
Tr�nen rollten aus seinen hervorstehenden Augen.
"Hu hu hu!" heulte das kleine Ungeheuer. "Das hat mir gerade
noch gefehlt. Nicht mal Menschen halten mich f�r einen
richtigen Drachen! Das ist ein Ungl�ckstag heute! Hu hu
huuuuuuuu!"
"Aber nat�rlich finden wir, da� du ein richtiger Drache bist",
sagte Lukas beg�tigend. "Wenn wir �berhaupt vor irgendwas
in der Welt Angst h�tten, dann w�rst du es. Nicht wahr,
Jim?"
Dabei zwinkerte er seinem Freund zu.
"Nat�rlich", best�tigte Jim. "Aber wir sind zuf�llig Leute, die
niemals Angst haben. Sonst h�tten wir schon welche vor dir,
und nicht zu wenig!"
"Ach", jammerte der Drache und schluckte bek�mmert, "ihr
wollt mich nur tr�sten."
"Nein, wirklich!" versicherte Lukas. "Du siehst doch sehr
schrecklich aus."
"Ja", meinte Jim, "ganz scheu�lich und furchtbar."
"Wirklich?" fragte der Drache ungl�ubig, und sein dickes
Gesicht begann vor Vergn�gen zu strahlen.
"Ganz bestimmt", sagte Jim. "Findet denn jemand, da� du
kein richtiger Drache bist?"
"Ja, huuuuuhuhuuuuuuuuu!" antwortete der Drache und fing
aufs neue bitterlich zu schluchzen an. "Die reinrassigen Dra-
chen lassen mich nicht in die Drachenstadt hinein. Sie behaup-
ten, ich w�re blo� ein Halbdrache. Nur weil meine Mutter ein
Nilpferd war! Aber mein Vater war ein richtiger Drache."
Lukas und Jim wechselten einen bedeutungsvollen Blick, der
soviel hie� wie: Aha! Denn dieser Halbdrache konnte ihnen
sicher verraten, wie sie weiterfahren mu�ten.
"Bist du deshalb so ungl�cklich?" fragte Lukas.
"Ach nein", schn�ffelte der Halbdrache, "aber heute ist ein
richtiger Ungl�ckstag f�r mich. Mein Vulkan ist ausgegangen,
und ich bring' und bring' ihn nicht wieder zum Brennen. Ich
hab' schon alles versucht, aber es hilft nichts."
"Na, dann la� uns doch mal nachsehen!" bot Lukas an. "Wir
sind Lokomotivf�hrer und verstehen uns auf Sachen, die mit
Feuer zusammenh�ngen."
Der Halbdrache wischte sich sofort die Tr�nen ab und machte
runde Augen.
"Ach, das w�re aber wunderbar!" quiekte er. "Da w�re ich
furchtbar dankbar. Es ist n�mlich eine riesige Schande f�r
unsereins, wenn einem der Vulkan ausgeht."
"Ich verstehe", sagte Lukas.
"�brigens", fuhr der Halbdrache eifrig fort, "ich habe mich
noch gar nicht vorgestellt. Ich hei�e Nepomuk."
"Das ist ein h�bscher Name", sagte Lukas.
"Aber das ist doch ein Menschenname", warf Jim ein. "Pa�t
der denn f�r einen Drachen?"
"Meine Mutter, das Nilpferd", antwortete Nepomuk, "hat
mich so getauft. Sie wohnte in einem Zoo und verkehrte viel
mit Menschen. Daher kommt das. Drachen hei�en meistens
anders."
"Ach so!" sagte Jim.
Dann stiegen sie nacheinander durch den Krater in den Vulkan
hinein. Als sie unten waren, z�ndete Lukas ein Streichholz an
und schaute sich um. Sie standen in einer ger�umigen H�hle.
Die eine H�lfte wurde von einem riesigen Kohlenberg ausge-
f�llt, auf der anderen Seite stand ein gro�er, offener Herd.
�ber dem Herd hing an einer Kette ein gewaltiger Kessel.
Alles war ru�geschw�rzt, und es stank atemberaubend nach
Schwefel und allem m�glichen anderen Zeug.
"H�bsch hast du's hier, Nepomuk", sagte Lukas h�flich und
blickte dabei nachdenklich auf den Kohlenhaufen.
"Aber du hast ja gar kein Bett!" meinte Jim verwundert.
"Ach, wi�t ihr", sagte Nepomuk, der Halbdrache, "ich schlaf
am liebsten auf den Kohlen. Das macht so angenehm schmut-
zig, und man mu� sich nicht jeden Morgen erst extra voll-
schmieren."
Bei Drachen ist es n�mlich umgekehrt wie bei Menschen.
Menschen waschen sich morgens und abends, damit sie immer
sch�n sauber sind, und Drachen schmieren sich morgens und
abends voll, damit sie immer h�bsch schmutzig sind. Das
geh�rt sich nun mal bei Drachen so.
Lukas hatte sich inzwischen an dem gro�en Herd zu schaffen
gemacht. Nach ein paar Minuten hatte er den Fehler schon
gefunden.
"Aha!" sagte er. "Der Rost ist rausgefallen, und der Durchzug
ist verstopft."
"Wird es lange dauern, das in Ordnung zu bringen?" fragte
Nepomuk und sah aus, als wollte er gleich wieder losweinen.
Lukas war eben dabei, zu versichern, da� es gar nicht schwierig
sei, als ihm etwas anderes einfiel. Er sagte:
"Ich will sehen, was ich tun kann. Eigentlich ist die Geschichte
�berhaupt nicht mehr zu reparieren. Du m��test dir einen
neuen Herd anschaffen. Aber vielleicht kann ich's noch mal
richten. Du hast Gl�ck, da� gerade zwei Lokomotivf�hrer
hergekommen sind."
Er hatte n�mlich so seinen Plan, und da mu�te er schon ein
bi�chen �bertreiben.
"Jim", fuhr er mit tiefernster Miene fort, "klettere doch schnell
mal hinaus und lauf zu unserer Lokomotive! Bring den Kasten
mit den Spezialinstrumenten, du wei�t schon, und vergi� nicht
die Operationslampe!"
"In Ordnung", antwortete Jim ebenso ernsthaft, kletterte
hinauf und war im Nu mit dem Werkzeugkasten und der
Taschenlampe wieder zur�ck.
"So, mein lieber Nepomuk!" sagte Lukas mit gerunzelter Stirn.
"Jetzt mu�t du uns ein bi�chen allein lassen, bitte. Ich und
mein Assistent, wir k�nnen n�mlich nicht arbeiten, wenn uns
jemand dabei zuschaut."
Nepomuk warf einen ehrf�rchtigen Blick auf den Kasten, in
dem die Werkzeuge geheimnisvoll blinkten. Dann kletterte er
aus dem Vulkan und setzte sich erwartungsvoll neben das
Loch. Bald h�rte er, wie unten geh�mmert und gefeilt wurde.
Die beiden Lokomotivf�hrer schienen ja wirklich m�chtig
t�chtige Leute zu sein!
In Wirklichkeit hatte Lukas den Rost mit einem einzigen
Handgriff eingesetzt und danach den Durchzug sauber ge-
macht. Alles war wieder in Ordnung. Die beiden Freunde
sa�en jetzt ganz gem�tlich nebeneinander, zwinkerten sich
schmunzelnd zu und klopften mit H�mmern und Feilen gegen
den Herd und den Kessel, da� es sich anh�rte wie in einer
Schmiedewerkstatt.
Nach einer Weile fragte Nepomuk durch das Loch herunter:
"Kommt ihr gut vorw�rts?"
"Es ist schwerer, als ich dachte!" rief Lukas hinauf. "Aber ich
hoffe, wir schaffen's!"
Und sie klopften und h�mmerten weiter. Jim mu�te sich das
Lachen verbei�en. Nepomuk sa� oben neben dem Krater,
h�rte der Arbeit zu und war �beraus dankbar, da� gerade im
richtigen Augenblick zwei Lokomotivf�hrer vorbeigekommen
waren.
Nach einer Weile meinte Lukas leise zu Jim:
"So, ich denke, jetzt ist es genug."
Sie h�rten zu h�mmern auf, und Lukas z�ndete das Feuer im
Herd an. Die Flammen z�ngelten auf, und der Qualm zog oben
zum Loch hinaus. Alles funktionierte ausgezeichnet.
Als Nepomuk den Rauch aufsteigen sah, geriet er ganz au�er
sich vor Freude. Er hatte zuletzt doch ein wenig daran gezwei-
felt, ob die beiden Lokomotivf�hrer einen so entsetzlich
schwierigen Schaden beheben k�nnten. Jetzt tanzte er oben
um das Loch herum und quiekte mit seiner Ferkelstimme:
"Es geht! Es geht! Mein Vulkan brennt wieder! Hurra! Es
funktioniert!"
Jim und Lukas kletterten zu ihm hinauf.
"Vielen Dank!" sagte Nepomuk, als beide vor ihm standen.
"Bitte, gern geschehen!" erwiderte Lukas bed�chtig. "Ich habe
nun allerdings auch eine kleine Bitte."
"Ja? Was denn?" fragte Nepomuk, der Halbdrache.
"Wei�t du", sagte Lukas, "mir sind n�mlich gerade die Kohlen
ausgegangen. Du hast doch einen ganz sch�nen Berg davon.
H�ttest du etwas dagegen, wenn wir unseren Tender aus
deinem Vorrat neu auff�llen w�rden?"
"Aber gar nicht!" rief Nepomuk und l�chelte freundlich,
soweit das bei seinem Riesenmaul m�glich war. "Ich werde das
gleich selbst besorgen."
Jim und Lukas wollten helfen, aber Nepomuk bestand darauf,
es allein zu tun.
"Ihr beide habt schwer f�r mich gearbeitet, ihr sollt euch jetzt
ausruhen", erkl�rte er.
Dann kletterte er in seinen Vulkan hinunter, tauchte gleich
darauf mit einem gro�en Eimer voll Kohlen wieder auf, lief
damit zu Emma hin und leerte ihn in den Tender. Dann kehrte
er in seine H�hle zur�ck und f�llte den Eimer aufs neue, und
das wiederholte er so oft, bis der Tender geh�uft voll war. Die
beiden Freunde schauten ihm zu und hatten ein etwas schlech-
tes Gewissen.
Endlich war der Halbdrache fertig.
"Uff!" keuchte er und wischte sich den Schwei� von der Stirn,
"ich glaube, jetzt ist es genug! Es geht nichts mehr hinein!"
"Vielen Dank, Nepomuk!" sagte Lukas besch�mt. "Das war
aber wirklich sehr, sehr liebensw�rdig von dir. W�rdest du
vielleicht gern mit uns Abendbrot essen?"
Es war n�mlich inzwischen ziemlich sp�t geworden, und die
Sonne senkte sich dem Horizont zu.
"Was habt ihr denn?" erkundigte sich Nepomuk und bekam
sofort ganz gierige Augen.
"Tet und belegte Brote", antwortete Jim.
Nepomuk machte ein entt�uschtes Gesicht.
"Ach nein, danke", sagte er, "solche Sachen vertr�gt mein
Magen nicht. Ich esse lieber eine ordentliche Portion Lava."
"Was is' Lava?" wollte Jim wissen. "Schmeckt das gut?"
"Lava ist die Lieblingsspeise aller Drachen", erkl�rte Nepo-
muk mit w�rdevollem Stolz. "Es ist ein gl�hender Brei aus
geschmolzenem Eisen und Schwefel und allerhand anderen
feinen Sachen. Ich habe einen gro�en Kessel voll. Wollt ihr mal
versuchen?"
"Lieber nicht", sagten Jim und Lukas wie aus einem Mund.
Also holten sich die beiden Freunde ihren Proviant aus der
Lokomotive, und Nepomuk holte sich seinen Kessel voll Lava.
Dann setzten sie sich zusammen und a�en zu Abend. Aller-
dings war Nepomuk kein sehr appetitlicher Tischgenosse. Er
schmatzte und schl�rfte und spritzte mit dem gl�henden Brei
um sich herum, da� Jim und Lukas richtig achtgeben mu�ten,
damit sie nicht ganz und gar bekleckert und angesengt wurden.
Nepomuk war zwar nur ein Halbdrache, aber er gab sich alle
M�he, sich m�glichst wie ein reinrassiger Drache zu be-
nehmen.
Als er endlich satt war, kippte er den Rest aus seinem Kessel
einfach in eine Erdspalte in der N�he. Dann leckte er sich das
Maul, klopfte sich auf den prallen Bauch und r�lpste herzhaft.
Dabei stiegen ihm zwei schwefelgelbe Rauchkringel aus beiden
Ohren.
Auch die beiden Freunde hatten ihre Mahlzeit beendet. Jim
brachte die restlichen Brote und die Thermosflasche in die
Lokomotive zur�ck, w�hrend Lukas sich seine Pfeife ansteck-
te. Dann unterhielten sie sich noch eine Weile �ber dies und
das. Schlie�lich sagte Lukas beil�ufig:
"Wir m�chten gerne in die Drachenstadt. Wei�t du, wie man
dahin kommt, Nepomuk?"
"Nat�rlich wei� ich, wie man hinkommt", erwiderte Nepo-
muk. "Was wollt ihr denn dort?"
Sie erkl�rten ihm ihr Vorhaben in aller K�rze. Als sie damit
fertig waren, meinte Nepomuk:
"Eigentlich sollten wir Drachen ja zusammenhalten, und ich
d�rfte euch nichts verraten. Aber ihr habt mir geholfen, und
die Drachen in Kummerland sind immer nur h��lich zu uns
Halbdrachen und lassen uns nicht hinein. Ich werde also zu
euch halten, damit sich die Drachen �rgern. Ich werde Rache
�ben. Seht ihr dort den hohen Gipfel?" Er zeigte mit der Tatze
auf den riesenhaften Vulkan, der in der Mitte des Landes lag.
"In diesem Berg", fuhr er fort, "liegt die Stadt der Drachen.
Der Gipfel ist oben offen. Er ist n�mlich ein Krater."
"Was is' das, ein Krater?" erkundigte sich Jim.
"Ein Krater ist - naja, ein Krater ist eben ein Krater",
antwortete Nepomuk verwirrt. "Der Berg ist innen hohl und
nach oben offen, ungef�hr wie eine gro�e Sch�ssel oder so
was."
"Aha", sagte Jim.
"Und auf dem Boden dieses Kraters", erkl�rte Nepomuk
weiter, "liegt eben die Drachenstadt Kummerland. Sie ist
riesengro� und viele tausend Drachen wohnen dort. Sie haben
sich dahin zur�ckgezogen, seit es auf der �brigen Welt f�r sie
zu gef�hrlich geworden ist. Nur noch ganz selten machen einige
von ihnen Ausfl�ge in andere L�nder."
"Aber woher kommt der Rauch, der oben aus dem Berg
steigt?" wollte Jim wissen. "Haben sie dort auch solche Herde
wie du?"
"Nat�rlich", antwortete Nepomuk, "aber haupts�chlich
kommt er von den Drachen selber. Drachen speien doch
Rauch und Feuer."
"Irgendwo mu� hier also die Stadt der Drachen sein",
murmelteer, "aber wo?"
Wie zum Beweis f�r seine Worte r�lpste er wieder und lie�
schwefelgelbe Dampf W�lkchen und ein paar Funken aus seiner
Nase und seinen Ohren aufsteigen. Es wirkte allerdings ein
bi�chen k�mmerlich.
"Aha", meinte Jim, "so is' das!"
"Und wie kommt man in die Drachenstadt hinein?" fragte
Lukas und stie� ebenfalls ein paar Rauchw�lkchen aus.
"Ja, das ist es eben", seufzte Nepomuk und st�tzte den dicken
Kopf nachdenklich in die linke Tatze. "Es ist ganz unm�glich
hineinzukommen. Sogar f�r mich."
"Aber es mu� doch einen Eingang geben?" fragte Jim.
"Allerdings", entgegnete Nepomuk, "es gibt einen, eine H�h-
le, die durch die Wand des Berges in die Drachenstadt
hineinf�hrt. Aber leider wird dieser Eingang Tag und Nacht
von Drachenw�chtern bewacht. Und die lassen niemand an
sich vorbei, der nicht wie ein richtiger Drache aussieht."
"Gibt es denn keinen zweiten Eingang?" forschte Lukas.
"Nein", meinte Nepomuk, "nicht da� ich w��te."
"Zum Beispiel einen Flu�, der aus der Drachenstadt heraus-
flie�t?" deutete Lukas vorsichtig an.
"Nein", versicherte Nepomuk, "davon habe ich nie geh�rt.
Dieser Flu� m��te ja durch das ,Land der tausend Vulkane'
flie�en, und wir Halbdrachen w�rden ihn kennen. Nein, es gibt
keinen Flu� und keinen zweiten Eingang."
"Das ist seltsam", brummte Lukas. "Wir dachten n�mlich, der
Gelbe Flu� entspr�nge in der Drachenstadt."
Aber Nepomuk sch�ttelte nachdr�cklich den Kopf und erkl�r-
te: "Das kann nicht sein!"
"Wie sehen denn eigentlich reinrassige Drachen aus?" fragte
Jim in Gedanken versunken.
"Ach, ganz verschieden", antwortete Nepomuk. "Sie d�rfen
vor allem keinem anderen Tier �hnlich sehen, sonst sind sie
n�mlich nicht mehr reinrassig. Ich zum Beispiel sehe leider
meiner Mutter, dem Nilpferd, entfernt �hnlich. Ja, und au�er-
dem mu� ein Drache eben Feuer und Rauch speien
k�nnen."
Alle drei dachten eine Weile nach.
Endlich schlug Jim vor:
"Vielleicht k�nnten wir Emma einfach als Drachen verklei-
den? Sie sieht keinem anderen Tier �hnlich, und Feuer und
Rauch speien kann sie auch."
"Jim!" rief Lukas �berrascht. "Das ist eine ganz famose
Idee!"
"Ja, wirklich", best�tigte Nepomuk. "Das w�re tats�chlich
eine M�glichkeit. Ich kenne Drachen, die ganz �hnlich aus-
sehen."
"Jetzt bleibt nur noch die Frage", meinte Lukas, "wie kommen
wir bis zu dem Berg? Wir m�chten nat�rlich nicht gern in eine
Erdspalte fallen oder im gl�henden Schlamm stecken-
bleiben."
"Nun, das ist ganz einfach", antwortete Nepomuk eifrig. "Ich
f�hre euch hin, dann kann euch nichts passieren. Ich wei�
n�mlich genau, um welche Zeit und an welcher Stelle Erdspal-
ten aufbrechen oder die Lavakessel ausgeleert werden. Ja, ja,
wir Halbdrachen haben das nat�rlich untereinander festgelegt.
Sonst w�rde ja alles drunter und dr�ber gehen."
"Ausgezeichnet!" sagte Lukas vergn�gt. "Dann wollen wir uns
gleich ans Werk machen und unsere gute alte Emma als
Drachen verkleiden."
Nepomuk kletterte in seinen Vulkan hinab und schleppte einen
Topf mit roter Rostschutzfarbe herbei. Au�erdem setzte er
einen Kessel Lava auf den Herd.
Jim und Lukas suchten alle Decken hervor und banden sie mit
Stricken �ber das F�hrerh�uschen.
Als sie damit fertig waren, kam Nepomuk mit seiner Lava an,
die inzwischen fl�ssig geworden war. Da er ein Halbdrache
war, konnte er den gl�henden Brei anfassen, ohne sich die
Finger zu verbrennen. Er knetete und strich und patschte auf
der Emma herum und modellierte ihr oben einen gro�en
Buckel und vorn eine lange h��liche Nase und an den Seiten
Stacheln und Schuppen. Die Lava wurde, sobald sie abk�hlte,
hart wie Beton. Und zuletzt bemalten sie das Ganze noch
m�glichst schauerlich mit der roten Farbe und pinselten der
guten dicken Emma auf ihr gem�tliches Gesicht eine gr��liche
Drachenfratze. Emma lie� alles still �ber sich ergehen. Sie
machte recht ratlose und dumme Augen dazu, denn sie ver-
stand wieder einmal nichts von allem, was vorging.
Bei Sonnenuntergang war das Werk beendet. Lukas versteckte
sich im F�hrerh�uschen und lie� Emma zur Probe ein bi�chen
herumfahren und Rauch und Feuerfunken speien. Es wirkte
tats�chlich sehr drachenm��ig.
Dann verabredeten sie sich f�r den n�chsten Morgen und
gingen schlafen, Nepomuk auf seinen Kohlenhaufen und die
beiden Freunde in das F�hrerh�uschen ihrer Drachen-Loko-
motive.

Zwanzigstes Kapitel
in dem Emma von einem reinrassigen Drachen zum Abend-
bummel eingeladen wird

Am n�chsten Morgen brachen die Reisenden fr�hzeitig auf,


denn Nepomuk hatte behauptet, der Weg zur Drachenstadt sei
noch viel, viel weiter, als es den Anschein h�tte. Bald erwies
sich, da� diese Warnung nicht �bertrieben war. Wegen der
vielen Erdspalten und Lavab�che konnten sie n�mlich nicht
einfach geradeaus fahren, sondern sie mu�ten fortw�hrend
gro�e Umwege machen. Es war wie in einem Irrgarten.
Nepomuk hatte sich ganz vorn auf Emmas Kessel gesetzt und
ben�tzte seinen d�nnen Schwanz als Winker. Er streckte ihn
mal rechts, mal links hinaus und zeigte Lukas auf diese Weise
die Richtung an.
Auf ihrem Weg trafen sie ein paar andere Halbdrachen, die
neugierig aus ihren Vulkanen herauslugten. Manche waren
kaum gr��er als Maulw�rfe oder Heuschrecken, andere hatten
entfernte �hnlichkeit mit K�nguruhs oder auch mit Giraffen,
je nach ihren verwandtschaftlichen Verh�ltnissen. Sobald sie
die verkleidete Emma sahen, zogen alle erschrocken die K�pfe
zur�ck. Offenbar glaubten sie, ein gro�er schrecklicher Dra-
che spaziere durch ihr Land. Lukas und Jim waren von dieser
Wirkung �u�erst befriedigt.
Als sie endlich in die N�he der Eingangsh�hle zur Drachen-
stadt kamen, gab Nepomuk das Haltezeichen. Lukas brachte
Emma zum Stehen, und der Halbdrache stieg ab.
"Du hast Gl�ck, da� gerade zwei Lokomotivf�hrer hergekommen sind."
"So", erkl�rte er, "Jetzt findet ihr schon allein weiter. Ich lauf
lieber wieder nach Hause. Ich m�chte n�mlich keinem reinras-
sigen Drachen begegnen. Man wei� nie, wie sie gerade aufge-
legt sind."
Die beiden Freunde bedankten sich nochmals herzlich f�r die
Hilfe. Nepomuk w�nschte ihnen guten Erfolg, und dann
verabschiedeten sie sich voneinander.
Lukas und Jim fuhren mit Emma weiter, und der Halbdrache
winkte ihnen nach, bis sie um eine Bergecke verschwanden.
Dann stapfte er den langen Weg zu seinem kleinen Vulkan
zur�ck.
Wenige Minuten sp�ter hatte Emma den Eingang zur Dra-
chenstadt erreicht.
Es war eine riesige, ru�geschw�rzte H�hlen�ffnung, aus der es
ein wenig herausrauchte wie aus einem Ofenloch. �ber der
Einfahrt hing eine gro�e Steinplatte, auf der zu lesen stand:

! Achtung !
Der Eintritt ist
nicht reinrassigen Drachen
bei Todesstrafe
verboten

"So. Jim, alter Junge", sagte Lukas, "jetzt geht's los!"


"In Ordnung", antwortete Jim.
Und dann fuhren sie in die H�hle hinein. Es war stockfinster,
und Lukas lie� Emmas Scheinwerferaugen aufstrahlen, damit
sie den Weg sehen konnten.
Als sie etwa die Mitte der H�hle erreicht hatten, tauchten
pl�tzlich aus der Finsternis zwei rotgl�hende Augen auf, so
gro� wie Fu�b�lle. Rasch zogen Lukas und Jim die Decken vor
den Fenstern zu und lugten nur noch durch einen winzigen
Spalt hinaus. Jetzt mu�te es sich entscheiden, ob Emmas
Drachenverkleidung echt wirkte. Wenn nicht -ja, was dann
geschehen w�rde, war nicht auszudenken!
Langsam, ganz langsam rollte die Lokomotive auf die beiden
rotgl�henden Fu�b�lle zu. Sie geh�rten zu einem Drachen,
dessen Leib etwa dreimal so gro� und dick war wie Emma. Er
hatte einen widerlich langen Hals, der zu einer Spirale gerin-
gelt auf seinen Schultern lag. Darauf sa� ein Kopf von der
Gr��e und Form einer Kommode. Das Scheusal hockte auf-
recht mitten auf dem Weg. Es schien ganz unm�glich, an ihm
vorbeizukommen. Den langen, stachelbespickten Schwanz
hatte es elegant �ber die linke Schulter geworfen, und mit der
rechten Tatze kratzte es sich unerh�rt nachl�ssig seinen fetten
gelbgr�nen Bauch, auf dem ein dicker Nabelknopf wie ein
Schlu�licht funkelte.
Als Emma vor ihm stehenblieb, streckte das Scheusal ruckartig
seine Halsspirale aus und betrachtete die Lokomotive von
allen Seiten. Dabei brauchte es weder aufzustehen noch her-
umzugehen. Das war das Praktische an diesem schlauchartigen
K�rperteil. Nachdem der Drache Emma eingehend gepr�ft
hatte, verbreitete sich ein freundliches Grinsen auf seinem
Gesicht, was ihm einen �u�erst unsympathischen Ausdruck
verlieh.
"Hua! Hua! Hua!" lachte der Drache mit einer Stimme, die
sich anh�rte wie ein ganzes S�gewerk. "Du hast aberrrrr ein
Parrrr h�bsche, gl�nzzzzzende Augen!" Und dann lachte er
wieder: "Hua! Hua! Hua!"
"Er h�lt Emma f�r ein Drachenfr�ulein", fl�sterte Lukas.
"Das ist ausgezeichnet."
Der Drache grunzte und zwinkerte schelmisch mit einem roten
Fu�ballauge. Dabei versuchte er, Emma in die Seite zu
kneifen. Sie stie� einen erschrockenen Pfiff aus.
"Hua! Hua! Hua!" lachte der Drache und sch�ttelte seinen
fetten gelbgr�nen Bauch, da� das Schlu�licht auf und
nieder tanzte. "Du gef�llst mirrrr. Hast wirrrrklich h�bsche
Augen. Und stinkst auchchchch so gut nachchchch
Rauchchchchch!"
Emma schlug versch�mt ihre Schein werf er �ugen nieder. Sie
genierte sich entsetzlich und wu�te ganz und gar nicht, was sie
von diesen Komplimenten halten sollte.
Jim und Lukas, die durch den Spalt zwischen den herunterh�n-
genden Decken hinaussp�hten, entdeckten jetzt, da� sich
neben der Haupth�hle noch ein Seitenraum befand, wo im
Feuerschein ein paar Drachen von der gleichen Sorte sa�en.
Offensichtlich warteten sie darauf, ihren Kollegen bei der
Wache abzul�sen. Der versuchte eben, Emma unter dem Kinn
zu krabbeln, wobei er sie bl�de und neckisch anglotzte.
"Ssssssssag mir deine Adrrrrressssse, dann hol' ichchchch
dichchchch sp�terrrr zzzzu einem kleinen Spazzzierrrrrrgang
ab. Ichchch hab' bald dienstfrrrrrrei!"
Emma blickte den Drachen verst�ndnislos an.
"Jetzt wird's brenzlig!" fl�sterte Lukas. "Hoffentlich sch�pft er
keinen Argwohn."
"Chchchch!" fauchte der Drache �rgerlich. "Gesprrr�chig
bissssst du ja nichchchcht gerrrade, du dicke, gerrrrr�ucherrrte
Drrrachenwurrrrst!"
Jim und Lukas wechselten einen besorgten Blick. Doch zum
Gl�ck rief in diesem Augenblick einer der anderen Drachen
aus dem Nebenraum her�ber:
"Achchch, Brrr�ll-Popel, nun la���� dochchch die Kleine in
Rrrrrruhe! Sienst dochchchch, da���� sie mit dirrrr nichchcht
rrrrrreden mag."
"Gott sei Dank!" seufzte Jim leise.
"Grrrrr!" grollte der Drache und spuckte w�tend eine gr�ne
Stichflamme mit lila Rauch aus. "Also machchch, da��� du
weiterrrr kommst! Chchchchch!"
Damit gab er erbost den Weg frei. Lukas zog am Hebel, Emma
setzte sich in Bewegung und rollte so rasch wie m�glich davon.
Vorsichtshalber sorgte Lukas daf�r, da� sie dabei m�glichst
viel Rauch und Funken ausstie�, als ob sie emp�rt und
beleidigt sei, damit der Drache nicht am Ende noch nachtr�g-
lich Argwohn sch�pfte.
Bald hatten sie die H�hle durchquert, und vor ihnen lag die
Stadt der Drachen. Es war auf den ersten Blick zu erkennen,
da� es sich um eine richtige Gro�stadt handelte. Die H�user
waren aus riesigen grauen Steinbl�cken gebaut und Hunderte
von Stockwerken hoch. Die Stra�en glichen finsteren Schluch-
ten. Wenn man den Kopf zur�cklegte und senkrecht nach oben
schaute, konnte man vielleicht gerade noch ein kleines Fleck-
chen Himmel sehen. Aber dieses kleine Fleckchen Himmel
war v�llig verd�stert von den dicken Rauch- und Gasschwa-
den, die �berall aufstiegen. Wie Nepomuk schon erz�hlt hatte,
wurde dieser abscheuliche Brodem von den Drachen verur-
sacht, die zu Tausenden in den Stra�en herumwimmelten und
Feuer und Rauch aus ihren M�ulern, Nasen und Ohren
bliesen. Manche Drachen hatten zu allem �berflu� sogar noch
eine Art Auspuff hinten an der Spitze ihres Schwanzes, aus
dem ebenfalls dicker gr�ner und gelber Qualm dampfte.
Es herrschte ein entsetzlicher L�rm. Die Drachen kreischten,
rasselten, knurrten, polterten, zankten sich, gr�hlten, johlten,
husteten, schrien, heulten, lachten, pfiffen, beschimpften sich,
niesten, keuchten, �chzten, stampften, klirrten, zischten, und
ich wei� nicht, was noch alles.
�brigens gab es die verschiedensten Sorten von Drachen.
Manche waren blo� so klein wie Dackel, andere dagegen
hatten die Ausma�e eines ganzen G�terzuges. Viele patschten
und watschelten dick und schwabblig daher wie Kr�ten von der
Gr��e eines Autos. Wieder andere sahen eher aus wie telegra-
fenstangenlange magere Raupen. Einige hatten �ber tausend
F��e, manche besa�en nur ein einziges Bein, auf dem sie ganz
absonderlich herumh�pften, und noch andere hatten �ber-
haupt keine Beine, sondern rollten sich wie Tonnen die Stra�e
entlang. Das machte nat�rlich einen ohrenbet�ubenden Spek-
takel. Au�erdem gab es sogar Drachen, die Fl�gel hatten. Sie
flogen teils wie Flederm�use, teils schwirrten sie wie riesige
K�fer oder Libellen herum. Sie brummten und rasselten durch
die stickige Luft und flogen gesch�ftig an den vielen Stockwer-
ken hinauf und hinunter. Alle schienen es immerfort ganz
unerh�rt eilig zu haben. Sie rannten hastig durcheinander,
rempelten sich an, stiegen �bereinander weg, trampelten
unbek�mmert auf K�pfe und Glieder der anderen und benah-
men sich �berhaupt sehr unliebensw�rdig.
Wo Jim und Lukas einen Blick in die Fensterh�hlen werfen
konnten, sahen sie Drachen bei den verschiedensten Besch�fti-
gungen. Manche kochten zum Beispiel gerade auf dem Feuer,
das aus ihren Nasenl�chern spr�hte, Kaffee, oder buken
Pfannkuchen. Nat�rlich handelte es sich dabei um Drachen-
kaffee und Drachenpfannkuchen aus Teer und Knochenmehl,
gew�rzt mit Gift und Galle, Glasscherben und rostigen Rei�-
n�geln.
Nur etwas konnten die beiden Freunde nirgends entdecken:
Kinder. Weder Drachenkinder noch andere. Richtige Drachen
bekommen n�mlich keine Kinder. Sie haben das auch gar nicht
n�tig, weil sie nicht sterben, au�er wenn jemand sie t�tet. Von
allein sterben sie nie, sondern werden einfach immer �lter.
Und andere Kinder gab es nat�rlich erst recht nicht, und das
war sehr gut. Sie h�tten ja nirgendwo einen Platz zum Spielen
gehabt. Auf den Stra�en w�ren sie einfach totgetrampelt
worden, und Wiesen oder so etwas �hnliches gab es nicht. Es
gab auch keine B�ume zum Hinaufklettern. Es gab �berhaupt
nichts Gr�nes. Rund um diese unz�hligen Stra�enschluchten
mit ihrem Gestank und ihrem L�rm stieg der Rand des gro�en
Kraters auf wie eine riesenhafte dunkle Mauer. Wie man sieht,
trug diese Stadt nicht zu Unrecht ihren Namen: Kummer-
land.

Einundzwanzigstes Kapitel
in dem Jim und Lukas eine Schule in "Kummerland" kennen-
lernen

Als Emma eine Weile in den Stra�en umhergeirrt war, tauchte


eine unvorhergesehene Schwierigkeit auf. Wie sollten die
beiden Freunde in dieser riesigen Stadt jemals die "Alte
Stra�e" finden? Sie konnten ja nicht einfach aussteigen und
jemand danach fragen. Es gab nur die eine M�glichkeit: Sie
mu�ten sich aufs Geratewohl auf die Suche machen. Das
konnte allerdings Stunden dauern, aber da half nun einmal
nichts. Doch sie hatten Gl�ck. Schon an der n�chsten Stra�en-
kreuzung entdeckte Lukas, als er vorsichtig zwischen den
Decken hinauslugte, an einer Ecke ein Steinschild mit der
Aufschrift:

ALTE STRASSE

Jetzt brauchten sie nur noch den Hausnummern zu folgen, die


�ber den Eing�ngen eingemei�elt waren. Kurze Zeit sp�ter
hatten sie auch schon das Haus Nummer 133 gefunden.
"Hast du Angst, Jim?" fragte Lukas leise.
Jim dachte schnell nochmal an den Scheinriesen, und da� alles
von nahem besehen vielleicht gar nicht so gef�hrlich sein
w�rde, wie es jetzt schien. Entschlossen sagte er:
"Nein, Lukas."
Und dann f�gte er, um bei der vollen Wahrheit zu bleiben,
hinzu: "Jedenfalls nicht viel."
"Sch�n", meinte Lukas, "dann kann's also losgehen."
"Ja", antwortete Jim, "es kann losgehen."
Lukas lenkte Emma vorsichtig durch das riesige Haustor. Sie
kamen in ein Treppenhaus, das so ger�umig war wie eine
Bahnhofshalle. Die Treppe f�hrte in einer gewaltigen Spirale
immer rundherum, h�her und h�her hinauf. Es war nicht zu
erkennen, wo sie endete. Fahle D�sternis lag �ber dem gro�en
Raum. Merkw�rdigerweise bestand die Treppe nicht aus Stu-
fen, sondern sie stieg wie eine gewundene Stra�e aufw�rts. In
ganz Kummerland durfte es n�mlich keine Stufen geben, und
der Grund daf�r ist leicht einzusehen: Gro�e Stufen h�tten die
kleinen dackelartigen Drachen nicht ersteigen k�nnen, und
niedrige Stufen mu�ten wieder viel zu unbequem f�r die
g�terzuggro�en Drachen sein. Also wurden Stufen ganz weg-
gelassen. Au�erdem hatte diese L�sung noch einen anderen
Vorzug. Eben kam n�mlich ein Drache von oben herunterge-
saust. Er hatte sich einfach auf seinen horngepanzerten
Schwanz gesetzt und rutschte wie auf einem Rodelschlitten die
Treppenspirale abw�rts.
Die beiden Freunde waren sehr zufrieden, da� es keine Stufen
gab, da sie f�r Emma ein un�berwindliches Hindernis darge-
stellt h�tten. So konnten sie nun ganz bequem hinauffahren.
Und das taten sie auch, immer rundherum, bis sie in der dritten
Etage ankamen. Vor der ersten T�re links hielten sie an. Sie
war so hoch und breit, da� ein zweist�ckiger Autobus ohne
Schwierigkeiten durchgekommen w�re. Aber leider war die
�ffnung mit einer riesigen Steinplatte verschlossen:

FRAU MAHLZAHN
GEF�LLIGST 3MAL KLOPFEN
BESUCH UNERW�NSCHT

war darauf eingemei�elt. Darunter befand sich ein steinerner


T�rklopfer in Gestalt eines Totensch�dels, der einen Ring
zwischen den Z�hnen hielt.
Lukas las Jim leise die Inschrift vor.
"Sollen wir klopfen?" fragte Jim zweifelnd.
Lukas sch�ttelte den Kopf. Er sp�hte vorsichtig nach allen
Seiten hinaus. Als er sah, da� kein Drache in der N�he war,
stieg er rasch entschlossen aus und stemmte sich mit aller Kraft
gegen die gro�e Steinplatte. Tats�chlich, sie lie� sich mit
�u�erster Anstrengung bewegen. Lukas schob sie aus dem
Weg, soweit es ging, dann kletterte er in das F�hrerhaus
zur�ck.
"Besser, wir haben Emma bei uns", erkl�rte er fl�sternd,
setzte die Lokomotive in Bewegung und fuhr so ger�uschlos
wie m�glich in die Wohnung hinein. Drinnen hielt er noch
einmal an, kroch hinaus und schob die Steinplatte wieder zu.
Dann winkte er Jim. Der Junge kletterte vorsichtig aus dem
F�hrerh�uschen.
"Darf man denn einfach ohne Erlaubnis mit einer Lokomotive
in eine fremde Wohnung hineinfahren?" fl�sterte er besorgt.
"In diesem Fall geht es nicht anders", antwortete Lukas leise.
"Jetzt m�ssen wir erst mal die Lage auskundschaften."
Sie lie�en Emma stehen, sch�rften ihr aber ein, sich ja
mucksm�uschenstill zu verhalten. Dann schlichen sie, Lukas
voran und Jim hinter ihm drein, den langen finsteren Flur
entlang. An jeder T�r�ffnung blieben sie stehen und lugten
vorsichtig in die R�ume hinein. Nirgends war jemand zu sehen,
weder ein Mensch, noch ein Drache. Alle M�bel in den
Zimmern waren ganz und gar aus Steinen: Steintische, Stein-
sessel, Steinsofas, auf denen Steinkissen lagen, und an einer
Wand hing sogar eine gro�e Uhr, ganz und gar aus Steinen,
deren Tick-Tack unheimlich steinern durch die Stille klang.
Fenster gab es nicht, statt ihrer befanden sich in den W�nden
ziemlich hoch oben L�cher, durch die tr�bes Tageslicht herein-
fiel.
Als die beiden Freunde sich vorsichtig dem anderen Ende des
Ganges n�herten, h�rten sie pl�tzlich aus dem letzten Zimmer
eine schrille, h��liche Stimme, die laut und w�tend aufbr�llte.
Dann war es wieder still. Jim und Lukas lauschten angespannt.
Jetzt kam es ihnen vor, als vern�hmen sie ganz leise, kaum
h�rbar, eine �ngstliche Kinderstimme, die stockend etwas
aufsagte. Die Freunde wechselten einen bedeutungsvollen
Blick. Rasch schlichen sie auf die T�r dieses Raumes zu und
sp�hten hinein.
Vor ihnen lag ein gro�er Saal, in dem drei Reihen steinerner
Schulb�nke standen. An diesen Pulten sa�en etwa zwanzig
Kinder aus den verschiedensten L�ndern, Indianerkinder und
wei�e Kinder und kleine Eskimos und braune Jungen mit
Turbanen auf dem Kopf, und in der Mitte sa� ein ganz
entz�ckendes kleines M�dchen mit zwei schwarzen Z�pfen
und einem zarten Gesicht wie eine mandalanische Porzellan-
puppe. Das war ohne Zweifel Prinzessin Li Si, die Tochter des
Kaisers von Mandala.
Alle Kinder waren mit Eisenketten an die Schulb�nke gefes-
selt, so da� sie sich zwar bewegen, aber nicht weglaufen
konnten. An der hinteren Wand des Saales stand eine gro�e
steinerne Schultafel, und daneben erhob sich wie ein Kleider-
schrank ein riesiges Pult aus einem Felsblock. Dahinter sa� ein
ganz besonders scheu�licher Drache. Er war noch ein gutes
St�ck gr��er als Emma, die Lokomotive, aber sehr viel
d�nner, geradezu mager. Er hatte eine spitze Schnauze, die mit
dicken Warzen und Borsten bedeckt war. Die kleinen stechen-
den Augen blickten durch funkelnde Brillengl�ser, und in der
Tatze hielt er einen Bambusstock, den er best�ndig durch
die Luft pfeifen lie�. Ein dicker Adamsapfel tanzte in dem
langen d�nnen Hals auf und nieder, und aus dem gro�en
grausamen Maul ragte ein einziger langer Zahn unsagbar
absto�end hervor. Es war klar: Dieser Drache konnte niemand
anderer sein als Frau Mahlzahn.
Die Kinder sa�en alle sehr aufrecht da und wagten nicht, sich
zu bewegen. Sie hatten ihre H�nde vor sich auf die Pulte gelegt
und blickten mit angstvollen, verst�rten Augen auf den Dra-
chen.
"Das sieht ja aus wie eine Schule", fl�sterte Lukas Jim ins
Ohr.
"O jemine!" hauchte Jim, der noch nie eine Schule gesehen
hatte. "Is' Schule immer so?"
"Gott bewahre!" raunte Lukas. "Manche Schulen sind sogar
ganz nett. Allerdings sind dort keine Drachen als Lehrer,
sondern einigerma�en vern�nftige Leute!"
"Rrrrrruhe!" schrie jetzt der Drache und lie� den Stock durch
die Luft pfeifen. "Werrrr hat da eben gefl�sterrrrt?"
Lukas und Jim verstummten und zogen ihre K�pfe zur�ck.
Angstvolles Schweigen herrschte in der Klasse.
Jims Blick wanderte immer wieder zu der kleinen Prinzessin
hin. Und jedesmal, wenn er sie ansah, gab es ihm einen kleinen
Stich im Herzen. Die kleine Prinzessin gefiel ihm gar zu gut. Er
konnte sich nicht erinnern, jemals vorher jemand getroffen
zu haben, der ihm gleich von Anfang an so sehr gefallen hatte.
Au�er Lukas nat�rlich. Aber das war etwas ganz anderes.
Lukas war nicht gerade sch�n, das konnte man bei aller
Freundschaft nicht behaupten. Aber die kleine Prinzessin war
es. Sie war so reizend und schien dabei so zart und zerbrech-
lieh, da� Jim sofort den Wunsch hatte, sie zu besch�tzen. Alle
Angst war pl�tzlich wie weggeblasen, und er war fest entschlos-
sen, Li Si zu befreien, koste es, was es wolle!
Der Drache funkelte die Kinder mit seinen Brillengl�sern
w�tend an und schrie mit einer schrillen, keifenden Stimme:
"Achchchch, ihrrr wollt mirrrr nichchcht antworrrten, werrr da
eben gefl�sterrrt hat? Na, warrrtet nurrrrr!"
Der Adamsapfel tanzte erbost auf und nieder, und pl�tzlich
kreischte das Ungeheuer:
"Wiiiiiviiiiel issssst - siiiieben mal achchcht? Du da!"
Ein Indianerjunge, auf den der Drache mit dem Stock gezeigt
hatte, sprang auf. Er war noch sehr klein, vielleicht erst vier
oder f�nf Jahre alt. Aber er hatte schon drei Federn in seinem
schwarzen Haarschopf. Wahrscheinlich war er ein H�uptlings-
sohn. Er blickte Frau Mahlzahn aus gro�en verst�rten Augen
an und stammelte:
"Sieben mal acht ist - sieben mal acht - das ist - das ist -"
"Das ist, das ist!" keifte der Drache giftig. "Wirrrd's bald?"
"Sieben mal acht ist zwanzig", sagte der kleine Indianer junge
entschlossen.
"Ssssso?" zischte der Drache h�hnisch, "wassss du nichchchcht
sagst, Zwanzig ist dasssss?"
"Nein, n-n-n-nein!" stotterte der kleine Indianerjunge ver-
wirrt. "Ich wollte sagen f�nfzehn."
"Schlu�����!" schrie der Drache schrill und funkelte den
kleinen Indianer mit seinen Brillengl�sern an. "Du wei���t es
also nichchcht? Du bisssst dassss d�mmste und faulste Kind,
das ich kenne. Und Dummheit und Faulheit m�sssssen be-
strrrrraft werrrden!"
Damit stand der Drache auf, ging auf den Jungen zu, legte ihn
�ber die Bank und hieb w�tend auf ihn ein. Als die Exekution
vor�ber war, setzte sich der Drache befriedigt schnaufend
wieder hinter sein Pult. Dem kleinen Indianer standen die
Augen voller Tr�nen, aber er weinte nicht. Indianer sind ja
bekanntlich sehr tapfer.
Jim war vor Zorn und Emp�rung ganz fahl im Gesicht gewor-
den, trotz seiner schwarzen Hautfarbe.
"So eine Gemeinheit!" knirschte er.
Lukas nickte. Er konnte nicht reden, sondern ballte nur die
F�uste.
Jetzt fragte der Drache lauernd:
"Wiiiiiviiiiel isst also siiiieben mal achchcht? Li Si?"
Jims Herz setzte einen Schlag aus.
Es durfte nicht geschehen, da� auch die kleine Prinzessin
Pr�gel bekam! Aber es war ja ganz unm�glich, da� sie die
Antwort auf so eine schwere Frage wu�te. Er mu�te sofort
etwas unternehmen!
Aber Jim hatte nicht bedacht, da� Li Si ein mandalanisches
Kind war, und da� mandalanische Kinder schon mit vier
Jahren die schwersten Rechnungen bew�ltigen k�nnen.
Die kleine Prinzessin stand auf und sagte mit einer Stimme, die
so s�� klang wie das Gezwitscher eines kleinen Vogels:
"Sieben mal acht ist sechsundf�nfzig."
"Achchch!" fauchte der Drache �rgerlich, weil es n�mlich
richtig war. "Und wi�iev�iel isssst drrrreizehn weniger
sechchchsss?"
"Dreizehn weniger sechs", antwortete Li Si mit ihrer Vogel-
stimme, "ist sieben."
"Bahhhh!" machte der Drache w�tend, "du kommst dirrr
wohll sehrrr klug vorrrr, weil du alles wei���t, wasssss? Du bist
ein ganz frrrreches, eingebildetes Ding, verrrrstehst du? Aber
warrrte nurrrr, ob du auchchch das kannssst: Sag mirrr soforrt
das Einmaleins mit siiiiieben auf! Aber ein bi���chen schnell,
wenn's beliii�ebt!"
"Einmal sieben ist sieben", begann Li Si, und es klang, als
s�nge eine Nachtigall. "Zweimal sieben ist vierzehn, dreimal
sieben ist einundzwanzig ...", und so fuhr sie fort und sagte das
ganze Einmaleins mit sieben richtig auf. Jim h�tte es nie f�r
m�glich gehalten, da� sich so etwas so h�bsch anh�ren k�nnte.
Der Drache lauschte gespannt, aber nur, um einen Fehler zu
entdecken. Dabei lie� er den Stock boshaft durch die Luft
pfeifen.
Jetzt fl�sterte Lukas:
"Jim!"
"Ja?"
"Hast du Mut?"
"Ja."
"Gut, Jim. H�r zu: Ich wei� jetzt, wie wir's machen. Wir
werden dem Drachen noch eine Gelegenheit geben, die Kinder
freiwillig herauszur�cken. Wenn er nicht darauf eingeht, dann
m�ssen wir Gewalt anwenden, obwohl ich Gewalt nicht leiden
kann."
"Wie wollen wir's denn machen, Lukas?"
"Du mu�t hingehen und mit ihm verhandeln, Jim. Erz�hl dem
Drachen, was du willst. Das �berlasse ich dir. Aber verrate ihm
nichts von Emma und mir! Ich warte mit Emma hier drau�en,
und wenn es sein mu�, dann kommen wir dir zu Hilfe. Alles
klar?"
"In Ordnung", sagte Jim entschlossen.
"Mach's gut!" fl�sterte Lukas und schlich davon, um die
Lokomotive zu holen.
Inzwischen war die kleine Prinzessin mit dem Einmaleins fertig
geworden. Sie hatte keinen Fehler gemacht. Aber gerade
deshalb war der Drache erst recht w�tend. Er lief auf Li Si zu,
knuffte sie und schrie:
"Sssssssssso, und nun bildessst du dirrrr wohl ein, du k�nntest
michch damit �rrrrgerrrrn, da� du keinen Fehlerrrr ge-
machchcht hast, du hochchchn�siges und eingebildetes
G�rrrrrr! Wassssss? Wiiiiie? Antworrrrrrrrte, wenn man dich
frrrrrragt!"
Die Prinzessin blieb stumm. Was h�tte sie auch antworten
sollen?
"Wieviel ist drei und vier?" fragte der Drache lauernd.
"Sieben", antwortete Li Si.
Der Drache funkelte sie b�se an. "Und wenn ich dir sage, da�
es achcht isssst?"
"Dann ist es trotzdem sieben", sagte die kleine Prinzessin.
"Wenn ich dir sage, da� es achchcht ist", fauchte der Drache,
"dann issst es achchccht! Verrrrstanden?"
"Nein, sieben", fl�sterte Li Si.
"Wasss!" zischte der Drache, "du willst mir widersprechen?
Ich wei� selbst, da� es sssssieben issst. Aber du sollst gehorrrr-
chen! Du bist hochchchm�tig und eitel. Und Hochchmut und
Eitelkeit m�ssssen bestrrrrrraft werrrrrden! Also, sag, da� es
achchcht isssst!"
Li Si sch�ttelte stumm den Kopf.
Eben wollte der Drache die kleine Prinzessin �ber die Bank
legen, als pl�tzlich eine helle zornige Jungenstimme rief:
"Einen Augenblick, Frau Mahlzahn!"
Der Drache wandte sich erstaunt um und sah einen kleinen
schwarzen Jungen in der T�r stehen, der ihn furchtlos an-
blickte.
"Sie d�rfen Li Si nichts tun", sagte Jim fest.
"He, du frrrrrecher schwarrrrzer Drrrreckspatz!" grunzte der
Drache verbl�fft. "Wo kommst du denn her, und werrrr bist du
�berrrrhaupt?"
"Ich bin Jim Knopf", antwortete Jim ruhig. "Ich komm' von
Lummerland, um die Prinzessin Li Si zu befreien. Und die
andern Kinder auch."
Durch die Schar der Kinder ging ein Tuscheln und Fl�stern,
und alle schauten Jim mit gro�en Augen an. Besonders die
kleine Prinzessin war sehr beeindruckt, wie der kleine schwar-
ze Junge da so gefa�t und mutig dem riesigen Ungeheuer
gegen�ber trat.
Der Drache teilte schnell nach allen Seiten ein paar P�ffe und
Kn�ffe aus und kreischte emp�rt: "Rrrrruhe! Wassss f�llt euch
denn ein, ihrrrr ungezogene Rrrrrassselbande!"
Dann wandte er sich wieder zu Jim und fragte mit scheinheili-
ger Freundlichkeit, wobei er die Lippen ganz spitz machte:
"Hat dich die ,Wilde Drrrrreizehn' zzzzu mirrrr geschickt,
mein Kleinerrrrr?"
"Nein", erwiderte Jim, "mich hat niemand geschickt."
In den stechenden Augen des Drachen flackerte es unsicher.
"Wasss hei����t dassss?" zischelte er. "Bissst du etwa von
allein zu mirrr gekommen? Vielleichchcht gar, weil du
michchchch gerrrrn hast?"
"Nein", antwortete Jim, "das nicht. Aber ich will das Geheim-
nis meiner Herkunft erforschen, und da k�nnten Sie mir
vielleicht dabei helfen."
"Warrrrum gerrrrade ichchchch?" fragte der Drache lauernd.
"Weil auf dem Paket, in dem ich nach Lummerland gekommen
bin, eine Dreizehn als Absender gestanden hat und als Adresse
Frau Malzaan oder so �hnlich."
"Achchchch!" stie� der Drache �berrascht hervor, und ein
boshaftes Grinsen verbreitete sich langsam �ber sein warzen-
bedecktes Gesicht. "Duuuuu bist das also, mein Herzzzzzchen!
Ich habe dichchch schon seit langer Zzzzzzeit erwarrrrrtet."
Jim lief ein kalter Schauer �ber den R�cken, aber er fa�te sich
sofort wieder und fragte h�flich:
"K�nnen Sie mir vielleicht sagen, wer meine richtigen Eltern
sind."
"Du brrrrauchst nicht l�ngerrrr zu suchen, mein Goldkind",
kicherte der Drache. "Du geh�rrrrst n�mlich mirrrrrrrrr!"
"Das hab' ich zuerst auch gemeint", entgegnete Jim entschlos-
sen. "Aber jetzt wei� ich, da� ich mit Ihnen nichts zu tun
hab'."
"Aberrr ich habe dichchchch dochchch von der ,Wilden Drei-
zehn' gekauft!" knurrte der Drache und blinzelte hinterli-
stig.
"Das is' mir gleich", versetzte Jim. "Ich fahr' lieber wieder
nach Lummerland."
"Wirrrrrklich?" fragte der Drache t�ckisch. "Wirrrrst du
mirrrr das antun? Wassss du nicht sagst, mein B�rrrrrrrsch-
chen!"
"Ja", sagte Jim. "Und die Prinzessin werd' ich mitnehmen.
Und die andern Kinder auch."
"Aberrr wenn ich nun die Kinderrrr nicht herrrrausgebe?"
erkundigte sich der Drache, immer noch mit lauernder Sanft-
heit.
"Sie werden schon m�ssen, Frau Mahlzahn!" antwortete Jim
und wechselte einen raschen Blick mit der kleinen Prin-
zessin.
Jetzt brach der Drache in ein kreischendes Hohngel�chter
aus:
"Hi hi hi hi h� Hat man schon je einen solchen Dummkopf
gesehen!? Ho ho ho ho ho! Er issst wahrhaftig von allein
zzzzzzu mirrrr gekommen! Da bisssst du mirrrr ja sch�n in die
Falle gegangen. Har har har!"
"Sie sollten lieber nicht so laut lachen!" rief Jim zornig.
"Geben Sie die Kinder freiwillig heraus oder nicht?"
Der Drache mu�te sich geradezu die Seiten halten vor Heiter-
keit.
"Nein!" prustete er. "Nein, du schmutzige kleine Krrrrabbe,
das werrrde ich bestimmt nichchchcht tun."
Pl�tzlich brach sein Gel�chter ab. Er funkelte Jim gef�hrlich an
und knurrte:
"Alle diese Kinderrrr geh�rrrren mirrrr, mirrrr ganz allein,
verrrstehst du? Niemand hat mehr ein Rrrrrecht auf sie. Ich
habe sie alle von der ,Wilden Dreizehn' gekauft. Ich habe daf�r
bezzzzahlt! Jetzt geh�rrrren sie mirrrrrrrr!"
"Aber woher hat die ,Wilde Dreizehn' die Kinder, die sie ihnen
verkauft?" fragte Jim und blickte dem Drachen fest in die
Augen.
"Das geht dich garrrr nichts an!" fauchte der Drache erbost.
"Doch, Frau Mahlzahn!" antwortete Jim tapfer. "Das geht
mich schon was an. Die kleine Prinzessin zum Beispiel is'
geraubt worden!"
Der Drache geriet v�llig au�er sich vor Wut. Er peitschte den
Boden mit seinem langen Schwanz und kreischte:
"Das ist mirrrrr ganzzzz gleich! Jetzt geh�rt sie jedenfalls
mirrrrrrr!!!!!!! Und du geh�rrrrst auch mirrrrrrrr!!!!!!! Und
deine Heimat wirst du niemals wiedersehen, du
Schwachchchchchkopf! Ich lasse dich nie wieder forrrrrrrrrrrrrrttttttt!"
Dabei stampfte er langsam auf Jim zu.
"Chchchchchchch!" fauchte er. "Zzzzzzzur Begr�sssssung
werde ich dich erst einmal t�chchchchchtig durrrrrchpr�geln,
mein Herzzzzzchen, da����� dir dein vorlautes Mundwerrrrrk
verrrrrrrgeht!"
Und er griff mit seiner riesigen Tatze nach dem Jungen. Aber
Jim wich geschickt aus. Der Drache schlug mit dem Stock um
sich, aber die Hiebe gingen ins Leere. Wie ein Wiesel lief Jim
um das gro�e steinerne Pult und die Schulb�nke herum. Der
Drache blieb ihm hart auf den Fersen, aber es gelang ihm nicht,
den Jungen zu erwischen. Er wurde immer erboster, und vor
Wut und �rger lief er rot und gr�n an, und auf seinem Leib
bildeten sich �berall Warzen und Beulen. Es war wirklich ein
�u�erst unappetitlicher Anblick.
Jim geriet allm�hlich au�er Atem. Er mu�te husten und nach
Luft ringen, denn der Drache spuckte fortw�hrend Rauch und
Feuer. Wo mochte nur Lukas bleiben? Er hatte doch verspro-
chen, mit Emma zu Hilfe zu kommen. Der ganze gro�e Raum
war bereits voller Qualm, und Jim konnte kaum noch sehen,
wohin er lief. Da endlich erscholl Emmas heller Pfiff. Der
Drache fuhr herum und erblickte durch die Rauchschwaden
ein furchterregendes Unget�m, das mit hellflammenden Au-
gen auf ihn zu kam. Dieses Ungeheuer schien zwar nicht ganz
so gro� zu sein wie er selbst, aber dicker und kr�ftiger.
"Wasssss wollen Sie hierrrrr?" kreischte der Drache in �u�er-
ster Wut. "Werrrrr hat Ihnen errrrrlaubt... ?"
Weiter kam er nicht mehr, denn Emma brauste wie ein Orkan
auf ihn los und versetzte ihm mit ihren Puffern einen heftigen
Sto�. Der Drache schlug mit seinen m�chtigen Tatzen und dem
langen gepanzerten Schwanz zur�ck. Und nun entspann sich
zwischen den beiden ein Zweikampf von furchtbarer Wild-
heit.
Der Drache heulte und kreischte und fauchte und spie ununter-
brochen Feuer und Rauch gegen Emma und setzte ihr so hart
zu, da� es eine ganze Weile fraglich schien, wer die Oberhand
behalten w�rde. Aber Emma lie� sich nicht einsch�chtern. Sie
spuckte ebenfalls aus Leibeskr�ften Funken und Rauch und
rollte wieder und wieder zu einem neuen Angriff vor. Nach und
nach ging dabei ihre Drachen Verkleidung in St�cke, und es
kam immer deutlicher zum Vorschein, da� sie kein Ungeheu-
er, sondern eine Lokomotive war.
Die Kinder, die angekettet auf ihren B�nken bleiben mu�ten
und nicht weglaufen konnten, verfolgten den Zweikampf
anfangs voller Entsetzen. Als sie aber die wahre Natur des
fremden Drachen entdeckten, jubelten sie und feuerten Emma
begeistert an:
"Eine Lokomotive!" schrien sie. "Bravo, Lokomotive! Hoch
die Lokomotive!"
Schlie�lich holte Emma zu einem letzten Anlauf aus und traf
den Drachen noch einmal mit aller Wucht, und der Drache fiel
um und lag hilflos auf dem R�cken und streckte alle viere von
sich. Lukas sprang aus dem F�hrerh�uschen und rief:
"Schnell, Jim! Wir m�ssen ihn fesseln, ehe er wieder zu sich
kommt!"
"Aber womit?" fragte Jim, noch v�llig atemlos.
"Hier, mit unseren Ketten!" schrie aufgeregt der kleine India-
ner. "Nehmt ihm den Schl�ssel ab. Er tr�gt ihn an einer Schnur
um den Hals!"
Jim sprang zu dem Drachen und bi� den Strick mit seinen
Z�hnen durch. Dann schlo� er geschwind die Schl�sser an den
Ketten der n�chstsitzenden Kinder auf. Als er zu der kleinen
Prinzessin kam, bemerkte er, da� sie err�tete und mit einer
allerliebsten Bewegung ihr K�pfchen wegdrehte.
"Das Biest kommt schon wieder zur Besinnung!" rief Lukas.
"Mach schnell!"
Sie wickelten eine Kette um die Schnauze des Drachen, damit
er auf jeden Fall das Maul nicht mehr aufrei�en konnte.
Danach fesselten sie ihm die Vorder- und Hinterbeine.
"So!" seufzte Lukas befriedigt und wischte sich den Schwei�
von der Stirn, als Jim den Schl�ssel im letzten Schlo� umdreh-
te. "Jetzt kann nicht mehr viel passieren."
Nachdem Jim alle Kinder befreit hatte, gab es nat�rlich
zun�chst einmal ein riesiges Hallo. Alle waren ganz au�er
Rand und Band vor Freude. Sie lachten und jubelten und
schrien durcheinander, und die Kleinsten h�pften herum und
klatschten in die H�nde.
Lukas und Jim sa�en l�chelnd inmitten des Trubels. Die
Kinder dr�ngten sich um sie und bedankten sich wieder und
wieder. Auch zu Emma gingen sie hin, lobten sie geb�hrend
und klopften sie auf den dicken Leib. Ein paar Jungen kletter-
ten sogar schon auf ihr herum und begutachteten alle Einzel-
heiten. Emmas verbeultes Gesicht strahlte vor Vergn�gen und
R�hrung.
Lukas ging auf den Flur hinaus und legte den schweren Riegel
an der steinernen Wohnungst�r vor.
"So, Leute", sagte er zu den Kindern, als er zur�ckkam,
"vorl�ufig sind wir in Sicherheit. Niemand kann uns jetzt
�berraschen. Wir haben ein bi�chen Zeit. Ich schlage vor, wir
beraten erst mal, wie wir am besten aus dieser ungem�tlichen
Drachenstadt herauskommen k�nnen. Durch die Eingangs-
h�hle, wo wir hereingekommen sind, ist die Flucht zu gef�hr-
lich, f�rchte ich. Erstens ist Emmas Verkleidung kaputt gegan-
gen, und zweitens haben wir auch nicht alle im F�hrerh�uschen
Platz. Die Drachenw�chter w�rden bestimmt was merken. Wir
m�ssen uns also einen anderen Plan ausdenken."
Eine Weile dachten alle angestrengt nach, aber keinem fiel
eine L�sung ein. Pl�tzlich fragte Jim mit gerunzelter Stirn: "Li
Si, wo hast du eigentlich damals deine Flaschenpost ins Wasser
geworfen?"
"In den Flu�, der hinter unserm Haus entspringt", antwortete
die Prinzessin.
Jim und Lukas wechselten einen Blick der Verwunderung, und
Lukas schlug sich aufs Knie und rief: "Also doch! Sollte
Nepomuk uns angeschwindelt haben?"
"Kann man den Flu� von hier aus sehen?" erkundigte sich
Jim.
"Ja", antwortete die Prinzessin, "kommt, ich zeige ihn
euch."
Sie f�hrte die beiden Freunde in einen Raum auf der gegen-
�berliegenden Seite des Flurs.
Dort standen etwa zwanzig kleine steinerne Betten. Es war der
Schlafsaal, in den der Drache jeden Abend die Kinder einge-
sperrt hatte. Wenn man eines der Betten an die Wand schob
und sich darauf stellte, dann k�nnte man oben durch ein
Felsenloch hinausschauen. Und tats�chlich - dort unten lag in
der Mitte eines merkw�rdigen dreieckigen Platzes ein riesiges
rundes Brunnenbecken, in dem ein m�chtiger Quell goldgel-
ben Wassers entsprang, das �ber die R�nder des steinernen
Brunnens str�mte und einen breiten Flu� bildete, der sich
durch den d�steren Grund der H�userschluchten davon-
schl�ngelte.
Nachdenklich blickten Lukas und Jim auf diesen Ursprung des
Gelben Flusses hinunter, denn da� es sich um diesen handelte,
war nicht zu bezweifeln. Inzwischen waren alle Kinder in den
Schlafsaal her�bergekommen und standen erwartungsvoll um
die beiden Freunde herum.
"Wenn Li Sis Flaschenpost mit der Str�mung bis nach Mandala
geschwommen ist", meinte Jim z�gernd, "dann m��ten wir's
doch vielleicht auch k�nnen."
Lukas nahm die Pfeife aus dem Mund.
"Donnerwetter, Jim", brummte er, "das ist eine Idee! Nein,
das ist mehr als eine Idee, das ist bereits ein fertiger Plan und
zwar der k�hnste! Es wird eine Fahrt ins vollkommen Unbe-
kannte." Er kniff die Augen zusammen und paffte unterneh-
mungslustig vor sich hin.
"Ich kann aber nicht schwimmen", wandte ein kleines M�d-
chen �ngstlich ein.
Lukas schmunzelte.
"Macht nichts, kleines Fr�ulein. Wir haben n�mlich ein pr�ch-
tiges Schiff. Unsere gute dicke Emma schwimmt wie ein
Schwan. Allerdings brauchen wir dazu Teer oder Pech, um alle
Ritzen zu kalfatern."
Aber das war zum Gl�ck keine Schwierigkeit, denn Pech gab es
in der Vorratskammer des Drachen gleich mehrere F�sser voll
- wovon die beiden Freunde sich sofort �berzeugen konnten.
Es geh�rte ja zu den haupts�chlichsten Nahrungsmitteln der
Bewohner von Kummerland.
"Pa�t auf, Leute", sagte Lukas, "wir warten am besten, bis es
Nacht ist. Im Schutz der Dunkelheit treiben wir mit der
Str�mung auf unserer Lokomotive aus der Drachenstadt hin-
aus, und morgen fr�h sind wir schon weit weg von hier."
Die Kinder stimmten dem Plan begeistert zu.
"Gut", schlug Lukas vor, "dann ist es am vern�nftigsten, wir
legen uns jetzt alle ein bi�chen aufs Ohr und schlafen auf
Vorrat. Einverstanden?"
Das waren alle. Zur Sicherheit schlo� Jim noch das Klassen-
zimmer ab, in dem Emma auf den gefesselten Drachen aufpa�-
te, dann machten es sich alle auf den steinernen Betten im
Schlafsaal gem�tlich, so gut es eben ging, und schlummerten
ein. Nur Lukas sa� in einer Ecke des Raumes in einem riesigen
steinernen Ohrenbackenstuhl, schmauchte seine Pfeife und
bewachte die Tr�ume der Kinder.
Der kleine Indianer tr�umte von seinem heimatlichen Wigwam
und von seinem Gro�onkel, dem H�uptling "Wei�er Adler",
der ihm eine neue Feder verlieh. Und der kleine Eskimo
tr�umte von einem kugeligen Schneehaus, �ber dem die
Nordlichter am Himmel spielten, und von seiner wei�haarigen
Tante Ulubolo, die ihm eine Tasse hei�en Lebertran vorsetzte.
Und das kleine M�dchen aus Holland sah im Traum die
unerme�lichen Tulpenfelder seiner Heimat und mitten drin
das kleine wei�e H�uschen seiner Eltern, vor dem viele
m�hlensteingro�e runde K�se lagen. Und die kleine Prinzessin
ging im Traum an der Hand ihres Vaters �ber eine zierliche
Br�cke aus Porzellan.
Jim Knopf war im Traum in Lummerland. Er sa� in der kleinen
K�che bei Frau Waas. Die Sonne schien zum Fenster herein,
und er erz�hlte von seinen Abenteuern. Und die kleine
Prinzessin Li Si sa� neben Frau Waas und h�rte ihm voll
Bewunderung zu.
So tr�umte jedes Kind von seinem Lande, und w�hrenddessen
brach allm�hlich die Dunkelheit herein, und es n�herte sich die
Stunde des Aufbruchs.

Zweiundzwanzigstes Kapitel
in dem die Reisenden unter die Erde geraten und wundervolle
Dinge sehen

Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Die steinerne Uhr


im Nebenzimmer schlug zehnmal. Es war Zeit.
Lukas weckte die Kinder. Sie z�ndeten einige Pechfackeln an,
um Licht zu haben. Dann holten sie aus der Vorratskammer
eines der Teerf�sser, hoben es mit vereinten Kr�ften auf den
Herd in der Drachenk�che und machten ein m�chtiges Feuer
darunter, bis der schwarze Brei zu brodeln anfing. Als es
soweit war, holte Lukas die Lokomotive Emma aus dem
Klassenzimmer her�ber in die K�che, und dann machte er sich
mit Jim zusammen daran, alle Ritzen an den Fenstern und
T�ren des F�hrerh�uschens wasserdicht zu verschlie�en, in-
dem sie vorsichtig das hei�e Pech hineinschmierten. Die
Kinder schauten ihnen verwundert zu.
"Was wollen wir eigentlich mit dem Drachen anfangen?"
fragte Jim w�hrend der Arbeit. "Sollen wir ihn gefesselt liegen
lassen?"
Lukas �berlegte eine Weile, dann sch�ttelte er den Kopf.
"Nein, dann w�rde er bald verhungern. Wir haben ihn besiegt,
und es w�re nicht sehr gro�m�tig, wenn wir uns jetzt an einem
wehrlosen Gegner so grausam r�chen w�rden. Obwohl er es
nat�rlich verdient h�tte."
"Aber wenn wir ihn frei lassen", meinte Jim besorgt, "dann
wird er bestimmt L�rm schlagen und uns nicht fortlassen."
Lukas nickte gedankenvoll. "Also bleibt uns nichts anderes
�brig, als ihn mitzunehmen. Ich m�chte auch noch ganz gern
einiges von ihm wissen. Au�erdem soll er nat�rlich eine
gerechte Strafe bekommen."
"Aber er ist doch viel zu schwer!" rief Jim. "Emma wird
untergehen, und au�erdem bleibt f�r uns selbst kein Platz
mehr �brig, wenn er mitf�hrt."
"Richtig", antwortete Lukas und schmunzelte, "darum wird
sich das Biest dazu bequemen m�ssen, hinter uns her zu
schwimmen."
"Dazu m��ten wir ihm aber die Fesseln abnehmen", wandte
Jim ein und zog seine Stirn kraus. "Er ist furchtbar stark und
wird sich str�uben."
"Glaub' ich nicht", erwiderte Lukas und lachte vergn�gt. "Das
machen wir ganz einfach. Das eine Ende der Kette befestigen
wir an Emmas Hinterteil und das andere an dem einzigen Zahn
des Drachen. Der steht ja so weit heraus, da� wir ihm dazu das
Maul ruhig zugebunden lassen k�nnen. Ehe wir abfahren,
befreien wir seine Vorder- und Hinterbeine. Und wenn er sich
str�ubt mitzukommen, dann wird er das am eigenen Zahn
ziemlich unangenehm sp�ren. Wirst sehen, er wird so folgsam
sein wie ein Lamm."
Diesen Plan fanden alle sehr gut. Sobald sie mit dem Kalfatern
fertig waren, rollten sie Emma in das Klassenzimmer zur�ck.
Als der Drache sie kommen sah, hob er den Kopf. Er war
wieder ganz munter, wie es schien. Allerdings war er zu gut
gefesselt, als da� er h�tte gef�hrlich werden k�nnen. Er mu�te
sich vorerst damit begn�gen, b�sartig mit den Augen zu
funkeln und ab und zu gelbe Rauchschwaden aus Ohren und
Nasenl�chern zu blasen.
Nachdem ihm Lukas jedoch erkl�rt hatte, da� er hinter ihnen
drein schwimmen sollte, fuhr er in die H�he und r�ttelte
verzweifelt an seinen Ketten.
"H�r auf!" sagte Lukas streng. "Es hilft dir nichts, also sei
vern�nftig."
Der Drache schien es einzusehn, jedenfalls lie� er den Kopf auf
den Boden sinken, schlo� die Augen und tat, als sei er tot.
Allerdings erntete er dadurch kein Mitleid, wie er vielleicht
gehofft hatte.
Beim Schein der Pechfackeln holte Lukas eine Zange aus dem
Werkzeugkasten und h�ngte alle restlichen Ketten, die noch
auf den Schulb�nken lagen, zu einer einzigen zusammen.
Darauf befestigte er das eine Ende dieser langen Kette an
Emmas Hinterteil und das andere an dem gro�en Zahn des
Drachen. Dieses Ende machte er besonders sorgf�ltig fest,
damit das Untier nicht etwa unterwegs seine Fessel abstreifen
konnte.
Als er fertig war, befahl er den Kindern, auf die Lokomotive
hinaufzuklettern und Platz zu nehmen. Nur er und Jim blieben
noch unten. Nachdem alle sa�en, stellte Lukas sich vorne
neben Emma, um sie zu f�hren, da er ja nun nicht mehr ins
Innere des H�uschens hineinkonnte. Dann gab er Jim einen
Wink, der daraufhin die Fesseln an den Vorder- und Hintertat-
zen des Drachens l�ste und schnell beiseite sprang.
"Komm, Emma!" sagte Lukas.
Die Lokomotive fuhr an, und die Kette spannte sich. Der
Drache schlug die Augen auf und erhob sich schwerf�llig.
Kaum hatte er jedoch begriffen, da� seine F��e frei waren, da
versuchte er mit aller Kraft, sich gegen die Kette zu stemmen,
ganz wie Jim es vorausgesehen hatte. Aber im gleichen Augen-
blick entrang sich seiner Brust ein schmerzliches St�hnen,
denn der Zahn war seine empfindliche Stelle und tat durch den
starken Zug ganz verflixt weh. Es blieb ihm nichts anderes
�brig, als wohl oder �bel hinter Emma her zu trotten. Dabei
war deutlich zu sehen, da� er vor Wut fast platzte. Seine
kleinen Augen gl�hten in allen Farben.
Als sie die Wohnungst�r erreicht hatten, rief Lukas den
Kindern zu: "L�scht die Fackeln aus! Das Licht w�rde uns
verraten!"
Nachdem das geschehen war, zog er mit Jirn zusammen die
schwere steinerne T�r auf, und dann bewegte sich der seltsame
Zug leise und in vollst�ndiger Dunkelheit �ber die Treppenspi-
rale abw�rts ins Erdgescho� und auf die Stra�e hinaus.
Ein paar Drachen, die sich versp�tet hatten, stampften auf der
gegen�berliegenden Stra�enseite vor�ber. Die Kinder wagten
kaum zu atmen. Zum Gl�ck bemerkten die Bestien nichts,
erstens wegen der Finsternis, und zweitens, weil sie wie
gew�hnlich viel zu sehr damit besch�ftigt waren, sich �ber
irgend etwas zu �rgern und vor sich hin zu schimpfen.
Vorsichtig lenkte Lukas die Lokomotive um das Haus herum,
und bald war der Flu� erreicht. Das Wasser strahlte ein
seltsames schwaches Goldlicht aus. Es leuchtete von selbst, so
da� man seine eiligen Wellen durch die Nacht schimmern
sah.
Lukas brachte Emma zum Stehen und untersuchte das Ufer.
Es fiel flach nach dem Wasser zu ab. Befriedigt kam er wieder
zur�ck und raunte zu den Kindern hinauf:
"Bleibt nur ganz ruhig sitzen! Und du, meine gute dicke
Emma", fuhr er fort, .mu�t jetzt noch einmal Schiff spielen.
Mach's gut! Ich verlasse mich auf dich."
Damit drehte er den Hahn an der Unterseite des Kessels auf,
und das Wasser aus Emmas Innerem lief gluckernd ab. Als der
Kessel leer war, drehte er den Hahn wieder zu und schob
gemeinsam mit Jim die Lokomotive so nah an das absch�ssige
Ufer heran, da� sie von allein weiterrollen konnte. Rasch
sprangen die beiden Freunde hinauf und kletterten zu den
Kindern auf das Dach.
"Festhalten!" rief Lukas ged�mpft, als Emma sanft in den Flu�
hineinglitt. Die Str�mung war ziemlich stark. Sie erfa�te
sogleich die schwimmende Lokomotive und trieb sie mit sich
fort.
Der Drache, wasserscheu wie alle seinesgleichen, stand noch
am Ufer und stellte sich entsetzlich an. Er hatte auch allen
Grund dazu, denn er wu�te wohl, da� die Ber�hrung mit dem
Wasser sein Feuer ausl�schen und obendrein noch seinen
Schmutz abwaschen w�rde, und das kam ihm ganz unvorstell-
bar schrecklich vor. Zun�chst machte er noch ein paar kl�gli-
che Versuche, sich gegen die ziehende Kette zu stemmen, dann
lief er eine Weile am Ufer hinter der Lokomotive her, aber
schlie�lich kam eine Br�cke, und nun half alles nichts mehr. Er
piepte nur noch ein paarmal leise durch die Nase wie ein
kleiner Hund, mehr konnte er mit der zugeketteten Schnauze
ja nicht sagen, dann ergab er sich in sein Schicksal und
plantschte und prustete in die Wellen hinein. Erst zischte und
dampfte es, und als sich die Wolken etwas verzogen hatten,
zeigte sich, da� der Drache ausgezeichnet schwimmen konnte,
wenn er mu�te. So trieben sie eine Weile vollkommen lautlos
durch die n�chtliche Drachenstadt.
Wo mochte dieser Flu� nur hinf�hren? Hatte Nepomuk die
beiden Freunde angelogen, und ging der Strom doch durch das
"Land der tausend Vulkane"? Oder gab es da vielleicht
irgendein Geheimnis, von dem der Halbdrache nichts gewu�t
hatte?
Die Str�mung nahm jetzt merklich zu. Sie wurde geradezu
rei�end. Soweit in der Dunkelheit etwas zu sehen war, n�her-
ten sich die Reisenden dem Stadtrand und damit der riesigen
Kraterwand, welche die Stadt wie eine Festungsmauer
umgab.
"Achtung!" rief Lukas pl�tzlich, der mit Jim zusammen ritt-
lings auf dem vordersten Ende des Kessels sa�. Alle duckten
sich, und dann ging es hinein in die v�llig undurchdringliche
Finsternis eines Felsentors. Immer schneller sch�ssen sie da-
hin. Ringsum war nichts mehr zu erkennen. Nur das Toben und
Zischen der entfesselten Wassermassen dr�hnte in ihren
Ohren.
Lukas machte sich Sorgen wegen der Kinder. Wenn er mit Jim
allein gewesen w�re, h�tte ihm die Gefahr weiter nicht viel
ausgemacht. Sie beide waren ja inzwischen an die wildesten
Abenteuer gew�hnt. Aber die Kinder, wie w�rden sie diese
Fahrt �berstehen? Sie waren doch zum Teil noch ziemlich
klein, und au�erdem waren ja auch M�dchen dabei. Sicher
hatten sie scheu�liche Angst. Aber jetzt konnten sie schlie�lich
alle nicht mehr zur�ck, und es war auch v�llig unm�glich,
ihnen bei diesem Donnerget�se Trost und Mut zuzusprechen.
Lukas konnte nichts tun als abwarten, was geschehen w�rde.
Die rasende Fahrt ging abw�rts, immer hinunter, tiefer und
tiefer. Die Kinder dr�ckten die Augen zu und klammerten sich
fest aneinander und an die Lokomotive. H�ren und Sehen
verging ihnen bei diesem Sturz, der kein Ende zu nehmen
schien, als sollte es ins Innere der Erde gehen.
Endlich, endlich lie� die Str�mung etwas nach, und die sch�u-
menden Wellen beruhigten sich. Und abermals nach einer
Weile zog der Flu� wieder so still und eilig dahin, wie zu
Anfang der Fahrt, nur da� die Reisenden sich jetzt tief, tief
irgendwo unter der Erdoberfl�che befanden. Als sie nach und
nach ihre Augen wieder zu �ffnen wagten, sahen sie ein eigen-
artiges und wundervolles buntes Zauberlicht durch die Dun-
kelheit schimmern. Aber es war noch nichts deutlich erkenn-
bar. Lukas wandte sich zu den Kindern um und rief: "Haben
wir auch niemand verloren? Sind wir noch vollz�hlig?"
Die Kinder waren noch recht benommen und brauchten eine
ganze Weile, um nachzuz�hlen, ob sie noch alle da waren.
Aber schlie�lich konnten sie Lukas melden, da� alles in
Ordnung sei.
"Und was macht der Drache?" fragte Lukas nach hinten.
"H�ngt er noch an der Kette? Lebt er noch?"
Ja, auch dem Drachen war nichts Ernstliches passiert, au�er
da� er ziemliche Mengen Wasser hatte schlucken m�ssen.
"Wo sind wir eigentlich?" wollte ein kleiner Junge mit einem
Turban auf dem Kopf wissen.
"Keine Ahnung", antwortete Lukas, "ich hoffe, es wird bald
heller, dann werden wir ja sehen." Und er z�ndete sich seine
Pfeife an, die ihm bei der Schu�fahrt in die Tiefe ausgegangen
war.
"Jedenfalls sind wir bestimmt auf dem Weg nach Fing!"
tr�stete Jim, weil er sah, da� ein paar von den Kleinsten
anfangen wollten zu weinen.
Die Kinder beruhigten sich schnell und begannen, neugierig
herumzuschauen. Das schwache Zauberlicht hatte sich mittler-
weile zu einer purpurroten D�mmerung verst�rkt, in deren
Schein zu erkennen war, da� der Flu� gerade durch eine hohe,
gew�lbte H�hle zog. Die Helligkeit kam von Hunderttausen-
den von roten Edelsteinen, die in armlangen Kristallen an den
W�nden und an der Decke wuchsen. Diese Rubine funkelten
und glitzerten und glommen wie unz�hlige Laternen. Es war
ein ganz unbeschreiblicher Anblick.

Nach einer Weile �nderte sich das Licht. Es wechselte in ein


leuchtendes Gr�n hin�ber und wurde ausgestrahlt von einem
ganzen Wald riesiger Smaragde, die wie gewaltige Eiszapfen
von der Decke der H�hle fast bis auf die Wasseroberfl�che
herunter hingen. Einige Zeit sp�ter zog der Flu� durch eine
niedrige, langgestreckte Grotte, in der violette Beleuchtung
herrschte, hervorgebracht von Millionen feinster Amethystkri-
stalle, die wie Moos die Felsw�nde �berzogen. Dann wieder
durchquerten sie eine Halle, die in hellstem Glanz erstrahlte,
so da� die Kinder fast die Augen schlie�en mu�ten. Dort
hingen gewaltige Trauben von klaren, blitzenden Diamanten
an der Decke wie Hunderte von Kronleuchtern.
So ging es immer weiter. Die Kinder hatten l�ngst aufgeh�rt zu
schwatzen. Anfangs fl�sterten sie sich noch hin und wieder
etwas zu, aber schlie�lich verstummten sie ganz und versanken
v�llig im Anschauen dieser unterirdischen Wunderwelt.
Manchmal trieb die Str�mung die Lokomotive so nahe an die
W�nde der H�hlen heran, da� jedes der Kinder sich ein paar
Juwelen abbrechen und zur Erinnerung mitnehmen konnte.
Wie viele Stunden so vergangen waren, h�tte wohl niemand
von der Reisegesellschaft sagen k�nnen, als Lukas bemerkte,
da� die Str�mung pl�tzlich wieder betr�chtlich zunahm. Die
Felsw�nde r�ckten enger und immer enger zusammen und
nahmen allm�hlich eine rote F�rbung an, hin und wieder von
breiten wei�en Streifen und Zickzacklinien unterbrochen.
Zugleich wurde das farbige Zauberlicht immer schw�cher,
denn es gab keine Edelsteine mehr. Schlie�lich war es stock-
dunkel wie zu Anfang der unterirdischen Reise. Nur noch ganz
selten blitzte der Strahl eines vereinzelten Kristalls durch die
Finsternis. Dann h�rte auch das auf. Das Wasser begann
wieder zu gurgeln und zu zischen, und die Reisenden machten
sich schon auf eine neue Sturzfahrt in noch tiefere Tiefen
gefa�t.
Aber diesmal stand ihnen eine sehr viel erfreulichere �berra-
schung bevor. Zum zweitenmal durchf�hren sie ein Felsentor,
und auf dem sch�umenden Wasser scho� Emma mit ihren
Passagieren und dem Drachen im Schlepptau ins Freie
hinaus!
Eine wunderbare klare Sternennacht empfing sie. Der Flu�
zog jetzt in einem breiten Bett ruhig und majest�tisch dahin.
Zu beiden Seiten waren die Ufer von gewaltigen, uralten
B�umen einges�umt. Ihre St�mme waren durchsichtig wie
farbiges Glas! Der Nachtwind rauschte in den Zweigen, und
zugleich war von �berall her ein zartes Klingen zu h�ren wie
von abertausend winzigen Gl�ckchen. Und nun glitt die Loko-
motive unter einer Br�cke hindurch, die sich in zierlichem
Bogen �ber den Flu� spannte - eine Br�cke aus schimmern-
dem Porzellan!
Fassungslos vor Staunen blickten die Reisenden umher. Die
erste, die schlie�lich ihre Sprache wiederfand, war die kleine
Prinzessin Li Si.
"Hurra!" rief sie, "das ist Mandala! Wir sind in meinem Land!
Jetzt sind wir gerettet!"
"Aber das kann doch nicht sein!" sagte Jim. "Von Mandala
nach Kummerland haben wir viele Tage gebraucht, und jetzt
sind wir doch h�chstens ein paar Stunden unterwegs."
"Kann mir's auch nicht denken", brummte Lukas verdutzt.
"Wenn das nur keine T�uschung ist!"
Jim kletterte auf den Schornstein, um bessere Aussicht zu
haben. Forschend betrachtete er die ganze Gegend, dann
schaute er zur�ck. Das Felsentor, aus dem sie vor ein paar
Minuten gekommen waren, befand sich am Fu�e eines gewalti-
gen Gebirges, das sich quer durch das ganze Land zog. Jeder
einzelne Gipfel war rot und wei� gemustert. Es gab keinen
Zweifel mehr, es war "Die Krone der Welt".
Jim stieg vom Schornstein herunter und sagte langsam und
beinahe feierlich zu den Kindern, die ihn erwartungsvoll
anstarrten:
"Wahrhaftig, wir sind in Mandala!"
"Jim!" jubelte die kleine Prinzessin, "o Jim, ich freue mich, ich
freue mich, ich freue mich!"
Und da sie gerade neben ihm stand, gab sie ihm vor lauter
Freude einen Ku� auf den Mund. Jim stand wie vom Blitz
ger�hrt.
Die Kinder lachten und schrieen und umarmten einander,
kurz, sie tobten so, da� Emma ganz bedenklich zu schwanken
anfing und beinahe umgekippt w�re, wenn Lukas nicht zur
Ruhe gemahnt h�tte.
"Ich kann mir die Sache nur so erkl�ren", sagte er zu Jim, als
Emma wieder ruhig dahinschwamm, "da� wir unterirdisch ein
ganz m�chtiges St�ck Weg abgek�rzt haben. Was meinst du,
Jim?"
"Bitte?" fragte Jim. "Hast du was gesagt?"
Und er bem�hte sich sichtlich, seine f�nf Sinne wieder in ihre
richtige Ordnung zu bekommen, denn es war ihm noch immer,
als tr�umte er.
"Schon gut, alter Junge", brummte Lufcas und schmunzelte in
sich hinein. Er hatte nat�rlich gemerkt, warum sein Freund
au�er der kleinen Prinzessin nichts mehr rings um sich her sah
und h�rte. Also wandte er sich zu den Kindern und schlug vor,
jedes sollte ihm seine Geschichte erz�hlen. Sie h�tten ja
sowieso noch ein gutes Ende bis nach Ping zu fahren, und er sei
gespannt, zu h�ren, wie jedes von ihnen eigentlich nach
Kummerland zu dem Drachen gekommen w�re.
Damit waren alle einverstanden. Lukas z�ndete sich eine neue
Pfeife an, und dann begann als erstes der Kinder die kleine
Prinzessin Li Si ihre Geschichte zu erz�hlen.

Dreiundzwanzigstes Kapitel
in dem die Prinzessin von Mandala ihre Geschichte erz�hlt und
Jim sich ganz pl�tzlich �ber sie �rgern mu�

"Es war in den gro�en Ferien", so begann Li Si zu erz�hlen,


"und ich hatte wie jedes Jahr an den Meeresstrand fahren
d�rfen. Mein Vater hatte mir sogar erlaubt, sieben Freundin-
nen einzuladen, damit ich mich nicht langweilen sollte. Und
dann waren noch drei �ltere Hofdamen mitgefahren, die auf
uns achtgeben sollten.
Also, wir wohnten alle zusammen in einem kleinen h�bschen
Schlo� aus himmelblauem Porzellan. Gleich vor der Haust�r
rauschte das Meer auf den goldenen Sand.
Die Hofdamen sagten uns jeden Tag, da� wir nur in der N�he
des Schlosses spielen sollten und da� wir ja nicht weiter weg
laufen d�rften, damit uns nichts passiert. Zuerst sah ich es ja
auch ein und blieb immer in Rufweite, aber als die Hofdamen
uns jeden Tag immer wieder dasselbe sagten, obwohl wir ja alle
ganz folgsam gewesen waren, da wurde mein Widerspruchs-
geist pl�tzlich wach. Ich habe leider einen furchtbar starken
Widerspruchsgeist. Kurz und gut, eines Tages lief ich weg und
wanderte auf eigene Faust am Meeresstrand entlang. Nach
einer Weile konnte ich von weitem sehen, wie die Hofdamen
und die Freundinnen anfingen, mich zu suchen. Aber statt zu
rufen, versteckte ich mich in einem Binsenbusch. Nach einer
Weile kamen meine Spielkameradinnen und die Hofdamen
ganz in der N�he vor�ber, und alle riefen immerfort meinen
Namen und schienen schrecklich �ngstlich und aufgeregt zu
sein. Aber ich sa� in meinem Versteck und muckste mich
nicht.
Nach einer Weile kam der Suchtrupp wieder zur�ck, und ich
h�rte, wie sie sagten, sie wollten jetzt in der anderen Richtung
gehen, und ich k�nnte ja unm�glich so weit fortgelaufen sein.
Ich lachte mir ins F�ustchen, und als sie weg waren, schl�pfte
ich aus meinem Versteck und wanderte weiter am Strand
entlang, immer weiter von dem Schlo� fort. Ich sammelte
h�bsche Muscheln in meine Spielsch�rze und dabei sang ich ein
kleines Lied vor mich hin, das ich inzwischen gedichtet hatte,
um mir die Zeit zu vertreiben. Es ging so:

Ach wie herrlich, ach wie sch�n,


ganz allein am Strand zu gehn.
Ich bin die Prinzessin Li Si,
weil ich nicht will, mich finden nie sie!
Hum didel dum,
Schrum!

Ich habe das �brigens ganz allein gedichtet, und es war ziemlich
schwer auf Li Si einen passenden Reim zu finden. W�hrend ich
so ging und sang, merkte ich pl�tzlich, da� der Strand gar nicht
mehr so sch�n sandig war, sondern da� ich schon seit einer
ganzen Weile am Rand einer Felsenk�ste entlanglief, die steil
ins Meer abfiel. Mir war gar nicht mehr ganz wohl, aber das
wollte ich vor mir selber nicht zugeben. Ich ging also immer
weiter. Auf einmal sah ich drau�en auf dem Meer ein Segel-
schiff auftauchen, das in rasend schneller Fahrt n�her kam,
direkt auf die Stelle der K�ste zu, wo ich stand. Es hatte
blutrote Segel, und auf dem gr��ten war mit schwarzer Farbe
eine riesige 13 aufgemalt."
Hier �berlief ein Schauer Li Si, und sie schwieg einen Augen-
blick.
"Jetzt wird's interessant!" brummte Lukas und wechselte einen
bedeutungsvollen Blick mit Jim. "Erz�hle weiter!"
"Das Schiff legte direkt vor mir an der K�ste an", fuhr die
Prinzessin, die noch in der Erinnerung etwas bla� geworden
war, fort. "Ich war so erschrocken, da� ich wie angewurzelt
stehen blieb. �brigens war das Schiff so gro�, da� seine
Seitenwand noch ein ganzes St�ck h�her war als die Felsenk�-
ste, auf der ich stand. Und nun sprang ein gro�er Mann zu mir
herunter, der unbeschreiblich erschreckend aussah. Er hatte
einen ganz sonderbaren Hut auf dem Kopf, auf dem ein
Totensch�del mit zwei gekreuzten Knochen gemalt war. Er
trug eine bunte Jacke und Pluderhosen und hohe Stulpenstie-
fel. Und in seinem G�rtel steckten viele Dolche und Messer
und Pistolen. Unter seiner gro�en Hakennase hing ein langer
schwarzer Schnurrbart, der bis auf den G�rtel herunter reich-
te. Er hatte auch gro�e goldene Ohrringe, und seine Augen
waren klein und standen so eng beieinander, da� es aussah, als
ob er immer schielen w�rde.
Als er mich sah, rief er: "Ha, ein kleines M�dchen! Das ist ein
pr�chtiger Fang!'
Er hatte eine ganz rauhe, tiefe Stimme, und ich wollte schnell
davonrennen, aber er packte mich an meinen Z�pfen und
lachte. Dabei sah man seine Z�hne, die gro� und gelb waren
wie bei einem Pferd. Er sagte: 'Du kommst uns gerade recht,
du kleine Kr�te!' Ich schrie und wehrte mich, aber jetzt war
nat�rlich niemand da, der mir helfen konnte. Der gro�e Mann
hob mich hoch und warf mich - hopp! - auf das Schiff hinauf.
W�hrend ich durch die Luft flog, dachte ich noch: ,Wenn ich
doch nur nicht ... ' und wollte eigentlich fertig denken:
'weggelaufen w�re!' Aber dazu kam ich nicht mehr, weil ich
n�mlich im selben Moment oben auf dem Schiffsdeck von
einem anderen Mann aufgefangen wurde, der dem vorigen so
ganz und gar bis aufs letzte Haar gleich sah, da� ich im ersten
Augenblick meinte, es w�re derselbe. Aber das war ja nicht gut
m�glich. Als ich nun auf die Planken des Verdecks niederge-
stellt wurde und mich umschauen konnte, sah ich, da� auf dem
Schiff noch eine ganze Menge M�nner waren, die alle einander
so zum Verwechseln �hnlich sahen wie ein Ei dem anderen.
Zuerst steckten mich die Seer�uber in einen K�fig. Es war so
eine Art gro�es Vogelbauer, das an einem dicken Haken am
Mastbaum aufgeh�ngt war. Jetzt war auf einmal mein ganzer
Mut von vorher verschwunden, und ich weinte so, da� meine
Spielsch�rze ganz na� wurde, und ich bat die M�nner, mich
doch wieder frei zu lassen. Aber die Kerle k�mmerten sich
�berhaupt nicht mehr um mich. Das Schiff segelte in Windesei-
le davon, und bald war die K�ste verschwunden und weit und
breit nur noch Wasser.
So verging der erste Tag. Am Abend kam einer der Burschen
und steckte mir ein paar Scheiben trockenes Brot zwischen die
Gitterst�be. Auch einen kleinen Krug mit Trinkwasser schob
er in meinen K�fig. Aber ich hatte keinen Hunger und r�hrte
das Brot nicht an. Nur von dem Wasser nippte ich ein wenig,
denn von der hei�en Sonne und dem vielen Weinen war ich
sehr durstig geworden.
Als es dunkel zu werden anfing, z�ndeten die Seer�uber einige
Laternen an, dann rollten sie ein gro�es Fa� in die Mitte des
Verdecks und setzten sich im Kreis darum herum. Jeder hatte
einen gro�en Humpen und f�llte ihn an dem Fa�, und dann
fingen sie an zu trinken und mit gr�hlender Stimme w�ste
Lieder zu singen. Eines davon habe ich sogar behalten, weil sie
es immer und immer wieder sangen. Wahrscheinlich war es ihr
Lieblingslied. Es ging so:

'Dreizehn Mann sa�en auf einem Sarg,


Ho! Ho! Ho! - und ein Fa� voller Rum.
Sie soffen drei Tage, der Schnaps war stark,
Ho! Ho! Ho! - und ein Fa� voller Rum.
Sie liebten das Meer und den Schnaps und das Gold.
Ho! Ho! Ho! - und ein Fa� voller Rum.
Bis einst alle dreizehn der Teufel holt
Ho! Ho! Ho! - und ein Fa� voller Rum.'

�brigens versuchte ich die M�nner zu z�hlen, aber das war


schwierig wegen des flackernden Lichts und weil sie einander
so �hnlich waren. Ich glaube aber, es waren tats�chlich drei-
zehn, wie sie in ihrem Lied gesungen hatten. Pl�tzlich verstand
ich auch, warum sie eine 13 auf ihre Segel gemalt hatten."
Hier unterbrach Jim die Erz�hlung der kleinen Prinzessin und
bemerkte: "Und ich verstehe jetzt, warum der Absender auf
meinem Paket eine 13 war."
"Welcher Absender auf was f�r einem Paket?" frage Li Si. "Du
hast schon bei deiner Verhandlung mit dem Drachen so etwas
erw�hnt, und ich wollte es dich schon l�ngst fragen."
"Wenn ihr nichts dagegen habt", mischte sich jetzt Lukas ins
Gespr�ch, "dann soll jetzt erst mal Li Si ihre Geschichte zu
Ende erz�hlen, damit alles h�bsch der Reihe nach geht.
Nachher erz�hlt dann Jim, was ihm passiert ist. Sonst gibt's nur
ein Durcheinander."
Das sahen alle ein, und Li Si fuhr in ihrer Erz�hlung fort:
"Wie die Seer�uber so beisammen sa�en und tranken, konnte
ich �brigens merken, da� sie sich sogar untereinander dauernd
verwechselten.
Das schien sie allerdings nicht weiter zu st�ren. Offenbar
wu�te keiner von ihnen genau, wie er eigentlich hie� und ob er
nun der eine war oder der andere. Es schien ihnen auch
ziemlich egal zu sein, das zu wissen, weil sie ja sowieso alle
gleich waren. Nur ihren K�ptn konnten sie sofort erkennen,
denn der hatte zum Unterschied von ihnen allen einen roten
Stern am Hut stecken. Ihm gehorchten alle widerspruchslos.
Am zweiten Tag a� ich dann doch ein wenig von dem trocknen
Brot, weil ich sehr hungrig war. Sonst war alles genauso wie am
Tag vorher. Als es Abend geworden war und die Seer�uber
wieder um das Branntweinfa� herumsa�en, h�rte ich, wie der
K�ptn zu den anderen sagte:
'H�rt zu, Br�der! Morgen um Mitternacht treffen wir uns
wieder an der verabredeten Stelle mit dem Drachen. Er wird
sich freuen.'
Dabei schaute er zu mir hinauf und grinste.
'Das ist gut, K�ptn', h�rte ich einen der anderen sagen, 'da
gibt's wieder neuen Schnaps. War ja auch die h�chste Zeit. Das
Fa� da ist schon beinah leer.'
Da� diese Worte irgendwas mit mir zu tun hatten, war mir klar,
wenn ich auch nicht wu�te was. Wie mir zumute war, k�nnt ihr
euch vorstellen.
In der n�chsten Nacht wehte ein schneidender Wind und jagte
schwarze Wolkenfetzen am Vollmond vor�ber, so da� es
abwechselnd hell und wieder finster wurde. Ich fror schrecklich
in meinem K�fig. Gegen Mitternacht sah ich pl�tzlich einen
Moment lang am Horizont etwas durch die Dunkelheit blin-
ken, auf das sich unser Schiff zubewegte. Als wir n�her kamen
und der Mond wieder f�r einige Augenblicke hervorleuchtete,
erkannte ich, da� es ein paar nackte, schroffe Klippen aus
blankem Eisen waren, die aus dem Meer aufragten. Und auf
einer dieser Klippen sa� wartend ein riesiger Drache. Seine
schwarzen Umrisse hoben sich deutlich gegen den sturmzer-
fetzten Himmel ab.
'Chchchchch!' fauchte er, als das Seer�uberschiff neben ihm
anlegte, dabei scho� eine giftgr�ne und eine violette Stichflam-
me aus je einem seiner Nasenl�cher. 'Habt ihrrrrr wiederrrrr
was f�rrrrr michchchchch, ihrrrrr Burrrrrschen?' 'Und ob!' rief
der Kapit�n zu ihm hin�ber. 'Diesmal ist's ein besonders feines
kleines M�dchen!'
'Ssssssssso?' zischte der Drache und grinste boshaft. 'Und was
wollt ihrrr daf�rrr haben, ihrrr alten Gaunerrrrrrr?'
'Dasselbe wie immer', antwortete der Kapit�n. 'Ein Fa� voll
echtem Kummerl�nder Branntwein, Marke Drachengurgel.
Das ist der einzige Schnaps auf der Welt, der mir und meinen
Br�dern scharf genug ist. Wenn du nicht willst, fahren wir
wieder ab.'
Sie handelten noch eine Weile hin und her, aber schlie�lich gab
der Drache das Fa� voll Branntwein heraus, auf dem er die
ganze Zeit gesessen hatte, und daf�r bekam er von den
Seer�ubern den K�fig mit mir drin. Nachdem sie schlie�lich
noch ausgemacht hatten, wann sie sich das n�chste Mal treffen
wollten, verabschiedeten sie sich. Eine kurze Weile war durch
das Pfeifen des Windes noch der Gesang der Dreizehn zu
h�ren, dann verschwand das Schiff in der Ferne.
Der Drache nahm jetzt meinen K�fig und hielt ihn in die H�he,
um mich eingehend und gr�ndlich zu mustern. Endlich sagte
er: 'Ssssso, mein Kind. Mit Puppenspielen, Faulenzen, Spa-
zierrrrrengehn, Ferrrrrrien und all diesem Firrrrrlefanz ist es
jetzzzzzzt ein f�r allemal vorrrrrbei. Es wird h�chchchste
Zzzzzzeit, da���� du einmal den Errrrnst des Lebens kennen-
lerrrrrrnst.'
Und dann wickelte er meinen K�fig in eine dicke, vollkommen
undurchsichtige Decke, so da� ich nun ganz und gar im
Dunkeln sa�, und von allem, was drau�en vorging, nichts mehr
sah und kaum etwas h�rte.
Zun�chst schien allerdings gar nichts zu geschehen. Ich wartete
und begann mich schon zu fragen, ob der Drache mich
vielleicht einfach stehen gelassen hatte. Aber wozu hatte er
mich denn eingehandelt? Wie lange dieses Warten dauerte,
wei� ich nicht mehr, weil ich n�mlich einschlief. Es wird euch
vielleicht wundern, wieso man in einer so aufregenden Situa-
tion einschlafen kann, aber ihr m��t bedenken, da� ich seit
dem Augenblick, als mich die Seer�uber fingen, kaum ein
Auge zugetan hatte vor Angst und auch wegen der K�lte des
Windes. Unter der Decke war es warm und dunkel und - kurz,
ich schlief ein.
Pl�tzlich schreckte ich auf. Ich h�rte entsetzlichen L�rm. Es
war ein Rattern und ein Zischen und ein Kreischen, ihr k�nnt
es euch nicht vorstellen. Und dazu wurde mein K�fig hin- und
hergesch�ttelt, und dann ging es hinauf und hinunter, da� mir
im Magen so komisch wurde, als s��e ich in einer Achterbahn.
Das dauerte vielleicht eine halbe Stunde, dann h�rte es
pl�tzlich auf. Eine Weile blieb es ganz still, schlie�lich f�hlte
ich, wie mein K�fig niedergestellt wurde. Das Tuch wurde
fortgenommen, und als ich mich umsah - ich brauche es euch ja
nicht weiter zu beschreiben, denn ihr alle habt ja die Wohnung
von Frau Mahlzahn kennengelernt. Das einzige, was mich
tr�stete, war, da� ich nicht ganz allein und verlassen in all dem
Ungl�ck war, sondern da� es noch andere Kinder gab, denen
es ebenso ging.
Ja, jetzt ist eigentlich nicht mehr viel zu erz�hlen. Das Leben,
das jetzt anfing, war schrecklich langweilig und traurig. Wir
sa�en jeden Tag von morgens bis abends an die Schulb�nke
gefesselt und mu�ten lesen, schreiben, rechnen und noch
anderes lernen. Mir erging es eigentlich noch am glimpflichsten
von allen, weil ich schon lesen, schreiben und rechnen konnte
wie alle mandalanischen Kinder in meinem Alter. Aber meine
Klassenkameraden mu�ten es zum Teil erst lernen, und der
Drache qu�lte sie ganz gemein. Wenn er �brigens keine gute
Laune hatte, und das war fast immer, dann war es ganz egal, ob
wir Fehler machten oder nicht, wir wurden auf jeden Fall
angeschrien und verhauen.
Sobald es Nacht wurde, schlo� der Drache uns von den B�nken
los und trieb uns mit P�ffen in den Schlafsaal hin�ber. Abend-
essen bekamen wir eigentlich nie, weil Frau Mahlzahn jeden
Tag einen anderen Grund fand, uns zur Strafe ohne Essen ins
Bett zu schicken. Unterhalten durften wir uns auch nicht, nicht
einmal fl�sternd. Das war streng verboten. Der Drache setzte
sich jeden Abend so lange zu uns, bis er sicher war, da� wir alle
schliefen.
Aber eines Nachts war es mir gelungen, ihn zu t�uschen. Kaum
war er gegangen, stand ich auf - mein Bett stand ganz an der
Au�enwand - kletterte auf das Kopfende hinauf und schaute
durch das Felsenloch hinaus. Ich sah sofort, da� es viel zu hoch
war, um zu fliehen, aber ich entdeckte den Flu�, der unten
vorbeizog. Ich �berlegte, was ich tun k�nne, und pl�tzlich fiel
mir eine kleine Puppenflasche ein, die ich in meiner Spielsch�r-
ze gefunden und als Andenken an zu Hause aufgehoben h�tte.
Sofort stand mein Plan fest. Rasch und leise weckte ich die
anderen Kinder und sagte ihnen, was ich vorhatte. Eines hatte
einen Bleistiftstummel und ein anderes ein Fetzchen sauberes
Papier. Dann schrieb ich den Brief, tat den Zettel in das
Fl�schchen, und dann kletterte einer der Jungen, der gut
werfen konnte, auf mein Bett und warf die Flaschenpost durch
das Felsenloch hinaus in den Flu�.
Von da an hofften wir, da� vielleicht irgendein netter Mensch
das Fl�schchen eines Tages finden und zu meinem Vater
bringen w�rde. So warteten wir Tag f�r Tag - bis ihr kamt und
uns befreitet. Und jetzt sind wir hier."
So beendete die kleine Prinzessin ihre Erz�hlung. Nach ihr
berichteten nun die anderen Kinder der Reihe nach, wie es
ihnen ergangen war. Da waren zum Beispiel f�nf braune
Kinder mit Turbanen, die alle auf einmal �berfallen worden
waren, als sie mit ihren Elefanten zusammen ein abendliches
Erfrischungsbad im Flu� nahmen. Der kleine Indianerjunge
dagegen hatte sich beim Fischen mit seinem Kanu zu weit auf
das Meer hinaus gewagt. Das Eskimokind wiederum hatte auf
einem Eisberg gesessen, mit dem es unterwegs nach dem
Nordpol war, um dort seine Gro�tante zu besuchen. Einige der
Kinder waren auf Ozeandampfern gefahren, die unterwegs,
mitten auf dem Meer, von den Piraten �berfallen und erobert
worden waren. Alles Geld und alle wertvollen Dinge, ebenso
die Kinder, hatten die Seer�uber auf ihr eigenes Schiff hin�ber
gebracht und dann den ausgeraubten Dampfer mit Mann und
Maus versenkt.
Es mu�ten wirklich vollkommen gewissenlose und verwegene
Burschen sein, diese Dreizehn.
So verschieden die Erlebnisse der Kinder auch waren, sobald
sie einmal die eisernen Klippen erreicht hatten, war es ihnen
allen ganz gleich ergangen wie der kleinen Prinzessin. Wie sie
von dort in die Steinwohnung des Drachen gekommen waren,
konnte keines von ihnen sagen.
Zu guter Letzt erz�hlte Jim auf das Dr�ngen der Kinder,
besonders der kleinen Prinzessin hin, was er und Lukas alles
erlebt hatten, ehe sie den Weg in die Drachenstadt fanden.
"Und eines wei� ich jetzt genau", beendete er seinen Bericht,
noch ganz in Gedanken an die Schule, die er in Kummerland
gesehen hatte: "Lesen und Schreiben m�cht' ich �berhaupt
nicht lernen. Und Rechnen auch nicht. Dazu hab' ich keine
Lust."
Li Si blickte ihn von der Seite an, zog die Augenbrauen hoch
und sagte: "Ach, kannst du es denn noch nicht?"
"Nein", antwortete Jim. "Ich brauch's ja auch nicht."
"Aber du bist doch schon mindestens ein Jahr �lter als ich!"
meinte Li Si verwundert. Und dann f�gte sie hinzu: "Wenn du
willst, dann zeig' ich dir, wie es geht."
Jim sch�ttelte den Kopf.
"Ich find', das sind ganz �berfl�ssige Sachen, die blo� l�stig
sind und zu nichts n�tzen. Das Lernen h�lt einen nur von
wichtigen Dingen ab. Ich bin bis jetzt ganz gut ohne Lesen und
Schreiben ausgekommen."
"Da hat er ganz recht!" rief der kleine Indianer.
"Nein", sagte die kleine Prinzessin mit Nachdruck, "diese
Sachen sind schon n�tzlich. Wenn ich zum Beispiel nicht
schreiben gelernt h�tte, dann h�tte ich keine Flaschenpost
abschicken k�nnen, und niemand h�tte uns gerettet."
"Die ganze Flaschenpost h�tte dir aber nichts geholfen",
widersprach Jim, "wenn wir euch nicht herausgeholt h�tten."
"Jawohl!" rief der kleine Indianer. "So?" antwortete die kleine
Prinzessin ein wenig schnippisch, "dir hat eben Lukas der
Lokomotivf�hrer geholfen. Aber was w�re aus euch und aus
uns geworden, wenn Lukas ebensowenig h�tte lesen k�nnen
wie du?"
Jim wu�te nicht mehr, was er antworten sollte. Er sp�rte, da�
Li Si vielleicht nicht ganz unrecht hatte, aber gerade deshalb
�rgerte er sich. Wie kam die kleine Prinzessin dazu, ihm solche
weisen Lehren zu geben? Immerhin hatte er sie vor kurzem erst
unter Lebensgefahr befreit. Mut und Tapferkeit waren doch
wohl etwas mehr wert als Gescheitheit. Jedenfalls hatte er nun
einmal keine Lust zu lernen und damit basta!
Jim machte ein so finsteres Gesicht, da� Lukas ihm lachend auf
die Schulter schlug und rief: "Jim, alter Junge, schau mal dort
hin!"
Und er zeigte zum �stlichen Horizont, auf den sie sich mit der
Str�mung des Flusses zubewegten. Dort ging eben mit unbe-
schreiblicher Pracht die Sonne auf, so da� alle Wellen gl�nzten
wie pures Gold. Und kurz darauf sahen die Reisenden in der
Ferne noch etwas anderes golden blinken und glei�en: Es
waren die tausend D�cher von Fing.

Vierundzwanzigstes Kapitel
in dem Emma eine seltene Auszeichnung bekommt und die
Reisenden ausgiebig und ganz verschieden fr�hst�cken

Es dauerte nicht lang, da hatten Lukas und Jim mit Hilfe der
Kinder die Lokomotive an Land gezogen. Auch der Drache
kroch aufs Ufer und blieb vor Ersch�pfung wie tot liegen. Es
war ihm anzusehen, da� ihm vorderhand die Lust vergangen
war, sich schlecht zu benehmen.
Etwa eine halbe Stunde sp�ter hatten Lukas und Jim Emma
wieder landflott gemacht. Die kalfaterten T�ren waren vom
Pech befreit, der Kessel war wieder voll Wasser, und darunter
prasselte ein lustiges Feuer.
Alle waren so eifrig bei der Arbeit, da� keiner von den
Reisenden den mandalanischen Landgendarm bemerkte, der
auf einem hochr�drigen Fahrrad in einiger Entfernung die
Landstra�e entlangkam. Als er die Gruppe der Reisenden
bemerkte, hielt er an und �berlegte, ob es sich vielleicht um
irgendwelche gef�hrlichen ausl�ndischen Truppen handeln
k�nne. Nachdem er aber festgestellt hatte, da� es fast nur
Kinder waren, lie� er diese Vermutung fallen und fuhr etwas
n�her heran. Als er jedoch um das letzte Geb�sch herum
einbog, w�re er um ein Haar auf den Schwanz des Drachen
gefahren. Zu Tode erschrocken ri� er sein Rad herum und
jagte davon, als ob hundert Teufel hinter ihm her w�ren. Mit
heraush�ngender Zunge erreichte er die Hauptstadt und mel-
dete seinem Vorgesetzten, was er gesehen hatte.
"Mann" rief der, "das ist die gr��te Gl�cksnachricht, die
�berhaupt m�glich ist! Daf�r wird Sie der Kaiser mindestens
zum Generalgendarm ernennen, Sie Gl�ckspilz!"
"Wiewiewieso?" stotterte der Gendarm.
"Ja, wissen Sie denn wirklich nicht, was Sie da gesehen
haben?" schrie der Vorgesetzte in h�chster Aufregung. "Daf�r
gibt es doch nur eine Erkl�rung: Es sind die beiden ehrenwer-
ten Lokomotivf�hrer mit ihrer Lokomotive. Und wenn sie
tats�chlich den Drachen mitgebracht haben, dann mu� auch
unsere Prinzessin Li Si bei ihnen sein. Wir m�ssen sofort dem
Kaiser Meldung machen!"
Und die beiden Gendarmen rannten zum kaiserlichen Palast.
Allerdings nicht ohne die Neuigkeit unterwegs durch alle
Gassen zu schreien.
Es ist einfach nicht zu beschreiben, was f�r eine Aufregung in
der Hauptstadt auf diese Nachricht hin entstand. Wie ein
Lauffeuer flog die Botschaft von Mund zu Mund, und in
k�rzester Zeit wu�te jedermann in Fing, bis herab zum winzig-
sten Kindeskind, was f�r ein �beraus freudiges Ereignis noch
diesen Morgen bevorstand. Und da auch nicht einer in der
ganzen Stadt war, der nicht auf irgendeine Weise mithelfen
wollte, den Empfang der Heimkehrer so festlich wie m�glich
zu gestalten, waren in k�rzester Zeit alle Stra�en, durch die die
Lokomotive auf ihrem Weg zum Palast kommen mu�te, mit
Blumen, B�ndern, Fahnen, Luftschlangen und Transparenten
geschm�ckt. Und zu beiden Seiten der Stra�en stand die
Menschenmenge dicht gedr�ngt und wartete auf den Einzug
der ehrenwerten Helden.
Und schlie�lich kamen sie. Schon lange ehe sie zu sehen waren,
h�rte man viele Stra�en weit die brausenden Hochrufe aus
hunderttausend Kehlen. Emma mu�te langsam fahren, denn
der angekettete Drache war so schwach, da� er sich nur noch
m�hsam und Schritt f�r Schritt hinter ihr herschleppen konnte.
Im F�hrerh�uschen standen Lukas und Jim und winkten aus
den Fenstern nach links und rechts. Auf dem Dach sa�en die
Kinder, und in ihrer Mitte stand Li Si, die kleine Prinzessin. Sie
war zeitweilig kaum noch zu sehen in den Wolken von Blumen,
die die Mandalanier aus allen Fenstern der vielst�ckigen
H�user andauernd �ber die Ank�mmlinge aussch�tteten, und
die anderen, die die Stra�en s�umten, winkten mit Papierf�hn-
chen und warfen ihre runden H�te in die Luft und schrieen
"Hoch!" und "Bravo!" und "Vivat!" und was man eben bei
solchen Gelegenheiten in Mandala sonst noch so schreit.
�brigens konnte man noch den ganzen Tag lang in allen
Kaufl�den alles umsonst bekommen, was man nur haben
wollte. Denn niemand hatte an diesem Freudentag Lust, Geld
zu verdienen. Jeder wollte jedem Geschenke machen. So sind
die Mandalanier eben, wenn sie sehr gl�cklich sind.
Hinter dem Drachen - nat�rlich in respektvollem Abstand -
bildete sich ein Zug von singenden und lachenden Mandalaniern,
die so ausgelassen tanzten, da� ihre Z�pfe wie Propeller
kreiselten. Und je n�her die Lokomotive dem kaiserlichen
Palast kam, desto l�nger wurde dieser Festzug.
Der Platz vor dem Palast war gedr�ngt voll von jubelnden
Leuten. Und als Emma schlie�lich vor den neunundneunzig
Silberstufen anhielt, sprangen oben die Fl�gel der gro�en
Ebenholzt�re auf, und der Kaiser kam mit wehendem Gewand
die Treppe heruntergeeilt. Hinter ihm sah man Ping Pong, der
sich an einem Zipfel des kaiserlichen Mantels festhielt, um
mitzukommen.
"Li Si!" rief der Kaiser, "meine liebe, kleine Li Si!"
"Vater!" rief Li Si, sprang einfach von dem Dach der Lokomo-
tive herunter, und der Kaiser fing sie in seinen Armen auf und
dr�ckte sie an sich und k��te sie immer wieder. Alle Mandala-
nier auf dem Platz waren ger�hrt und schneuzten sich und
wischten sich die Augen vor Ergriffenheit.
Inzwischen begr��ten Lukas und Jim den kleinen Fing Pong
und bewunderten den winzig kleinen goldenen Schlafrock, den
er jetzt anhatte. Ping Pong erkl�rte ihnen, da� er mittlerweile
anstelle des abgesetzten Herrn Pi Pa Po zum Oberbonzen
ernannt worden sei, und die beiden Freunde gratulierten ihm
herzlich.
Als der Kaiser schlie�lich mit der Begr��ung seiner Tochter
fertig war, wandte er sich Lukas und Jim zu und umarmte sie
beide. Er konnte vor Freude kaum sprechen. Dann sch�ttelte
er all den anderen Kindern die H�nde und sagte:
"Jetzt kommt erst einmal herein, meine Lieben, und st�rkt
euch mit einem guten Fr�hst�ck. Ihr seid doch gewi� sehr
hungrig und m�de. Jeder von euch darf sich w�nschen, was er
am liebsten mag."
Schon wollte er sich umdrehen, um seine G�ste in den Palast zu
f�hren, da zupfte ihn Ping Pong am �rmel, fl�sterte ihm etwas
zu und zeigte unauff�llig mit dem Daumen auf Emma.
"Richtig!" rief der Kaiser best�rzt, "wie konnte ich das nur
vergessen!"
Er winkte nach der Ebenholzt�r hinauf. Jetzt erschienen dort
zwei Leibw�chter. Der eine trug einen gro�en Stern aus purem
Gold in den H�nden, der so gro� war wie ein Suppenteller. Der
andere hielt wie eine Schleppe eine riesengro�e Schleife, die an
dem Stern befestigt war. Es war blaue Seide, auf der mit
silbernen Buchstaben gestickt stand:

[BILD]

Und nun hielt der Kaiser folgende kleine Ansprache:


"Liebe Emma! Es gibt heute auf der ganzen Welt keinen
gl�cklicheren Menschen als mich, weil ich meine kleine Toch-
ter wiederbekommen habe. An deinem verbeulten Gesicht
sehe ich, da� du f�r sie gro�e Gefahren erduldet und K�mpfe
ausgestanden hast. Als ein kleines Zeichen meiner gro�en
Dankbarkeit m�chte ich dir gerne diesen Orden verleihen. Ich
habe ihn von meinen Hofgoldschmieden f�r den Fall eurer
gl�cklichen Heimkehr anfertigen lassen. Ich wei� zwar nicht,
ob Lokomotiven gro�en Wert auf Orden legen. Aber ich
m�chte gern, da� in Zukunft alle Leute sehen sollen, was f�r
eine besondere Lokomotive du bist. Darum nimm ihn hin und
trage ihn!"
W�hrend die beiden Leibw�chter Emma die Schleife mit dem
Stern umh�ngten, brachen die abertausend Mandalanier er-
neut in brausende Hochrufe aus.
Inzwischen hatte Fing Pong, der vor lauter Aufregung immer-
fort in die H�he h�pfte und herumrannte und sich keinen
Augenblick still halten konnte, nach dem Oberhoftierw�rter
des kaiserlichen Parks geschickt und ihm ausrichten lassen, er
solle sofort mit seinen Gehilfen kommen und den Drachen
abholen. Kaum war die Zeremonie der Ordensverleihung
vor�ber, da kam dieser auch schon mit sechs starken Knechten
und einem riesigen K�fig, der auf R�dern fuhr und von vier
Pferden gezogen wurde. Der Drache war so kleinlaut, da� er
ohne Str�uben in den K�fig hineintrottete, nachdem Lukas ihn
von der Kette befreit hatte. Als das Fuhrwerk davonrollte,
fragte Lukas:
"Wo bringt ihr ihn denn hin? Ich mu� n�mlich noch mit ihm
reden."
"Wir sperren ihn vorl�ufig einmal in das alte Elefantenhaus",
antwortete Ping Pong mit wichtiger Miene. "Du kannst ihn
jederzeit besuchen, ehrenwerter F�hrer einer ordenge-
schm�ckten Lokomotive."
Lukas nickte befriedigt und folgte mit Jim und den anderen
Kindern dem Kaiser und der kleinen Prinzessin in den Palast,
um im Thronsaal erst einmal gem�tlich zu fr�hst�cken.
Emma konnte nat�rlich nicht mit, sondern mu�te auf dem
Platz zur�ckbleiben, aber den ganzen Tag dr�ngten sich die
Mandalanier um sie, die jetzt selbstverst�ndlich kein bi�chen
Angst mehr vor ihr hatten. Sie f�tterten sie mit �l, weil ein
weiser Mann irgendwo gelesen hatte, da� Lokomotiven gerne
�l m�gen, und putzten an ihr herum und wuschen ihr den
Schmutz ab und rieben sie mit feinen T�chern blank, bis sie
schlie�lich strahlte und blinkte, als ob sie neu w�re.
W�hrenddessen sa�en der Kaiser und Li Si mit ihren G�sten
auf der Terrasse vor dem Thronsaal in der Morgensonne beim
Fr�hst�ck. Und wie versprochen, bekam jedes Kind das, was
es am liebsten mochte.
Der kleine Eskimo zum Beispiel a� Walfischschnitten und
trank dazu eine gro�e Tasse Lebertran. Der Indianerjunge
bekam Maisbrot und am Spie� gebratene B�ffelscheiben, und
danach rauchte er aus seiner kleinen Friedenspfeife genau vier
Z�ge, in jede Himmelsrichtung einen.
Kurz und gut, jedes Kind hatte das, was es bei ihm zu Hause
gab. Das waren nat�rlich lang entbehrte Gen�sse! Jim und
Lukas taten sich an frischen Honigsemmeln und einer gro�en
Kanne Kakao g�tlich. Und zum erstenmal seit langer Zeit griff
auch der Kaiser wieder t�chtig zu.
Als der Oberhofkoch Schu Fu Lu Pi Plu erschien, um sich zu
erkundigen, wie es den ehrenwerten G�sten schmeckte, wurde
er von Jim und Lukas mit fr�hlichem Hallo begr��t. Der
Oberhofkoch hatte sich �brigens zur Feier des Tages wieder
seine allergr��te Kochm�tze aufgesetzt, die so gro� war wie
ein Federbett. Der Kaiser fragte ihn, ob er sich nicht ein
bi�chen zu ihnen setzen wolle, um die Geschichten der Kinder
und der beiden Freunde mit anzuh�ren. Herr Schu Fu Lu Pi
Plu hatte gerade etwas Zeit und nahm gerne Platz.
Nach der Reihe erz�hlten nun alle noch einmal ihre Abenteuer
dem gespannt lauschenden Kaiser. Als sie damit fertig waren
und auch alles aufgegessen hatten, meinte Lukas:
"Ich schlage vor, Leute, wir legen uns jetzt alle f�r eine Weile
aufs Ohr. Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich
jedenfalls bin zum Umfallen m�de."
Die meisten der Kinder hatten schon mehrmals heimlich
geg�hnt, und das kleinste war bereits vor einer ganzen Weile
auf seinen Kissen eingeschlafen. So waren alle recht froh �ber
den Vorschlag.
"Nur noch eine Frage zuvor, meine Freunde!" sagte der
Kaiser.
"Habt ihr Lust, ein paar Wochen bei uns zu Gast zu bleiben
und euch erst einmal richtig zu erholen? Ihr seid herzlich
eingeladen. Oder", f�gte er l�chelnd hinzu, "wollt ihr vielleicht
lieber sofort in eure Heimatl�nder fahren?"
"Ach, bitte, wenn es sich machen lie�e", antwortete der kleine
Indianer, "ich m�chte lieber schnell nach Hause. Je eher, je
lieber."
"Ich auch! Ich auch!" riefen die anderen Kinder.
"Gut", meinte der Kaiser verst�ndnisvoll, "ich h�tte euch
nat�rlich sehr gern noch eine Weile zu Gast gehabt. Aber ich
sehe ein, da� ihr lieber heim wollt. Mein Oberbonze Fing Pong
wird veranlassen, da� sofort ein Schiff ausger�stet wird."
"Danke!" sagte der kleine Indianer erleichtert.
F�r jeden war inzwischen ein eigenes Gemach vorbereitet
worden, in dem ein wundervolles Himmelbett stand. Man
kann sich vorstellen, wie herrlich die Kinder, die so lange Zeit
auf steinernen Betten hatten liegen m�ssen, in den weichen
Seidenkissen schlummerten.
Die beiden Freunde hatten nat�rlich ein gemeinsames Zimmer
bekommen, in dem ein zweist�ckiges Himmelbett stand. Jim
zog seine Schuhe aus und kletterte �ber eine kleine Leiter in
die obere Etage hinauf. Er hatte sich noch kaum auf den
seidenen Decken ausgestreckt, als er auch schon fest einge-
schlafen war.
Lukas dagegen sa� auf dem Rand der unteren Etage und
st�tzte nachdenklich das Kinn in die Hand. Ihm gingen ver-
schiedene sehr schwierige Fragen durch den Kopf:
Die kleine Prinzessin war nun also gl�cklich wieder bei ihrem
Vater.
Auch die �brigen Kinder w�rden bald zu Hause sein. Soweit
war alles gut. Aber was sollte aus ihm und Jim werden? Sie
beide konnten ja nicht einfach nach Lummerland zur�ckkeh-
ren. Einmal deshalb, weil K�nig Alfons ganz bestimmt sehr
erbost dar�ber war, da� sie damals, ohne etwas zu sagen, mit
Emma die Insel verlassen hatten, anstatt seinen Anordnungen
zu folgen. Es bestand wenig Aussicht, da� er ihnen jetzt ohne
weiteres erlauben w�rde, wiederzukommen. Und selbst wenn
der K�nig nicht mehr b�se auf sie w�re, k�nnten sie nicht
zur�ckkehren, weil sonst alles wieder ganz genauso sein w�rde
wie damals, als sie sich entschlossen hatten, alle drei wegzufah-
ren. Schlie�lich war Lummerland inzwischen ja nicht gr��er
geworden. Sollten sie sich nicht vielleicht doch von der dicken,
alten Emma trennen, sie hier in Mandala lassen und nur zu
zweit nach ihrer Insel zur�ckfahren? Lukas stellte sich vor, was
er ohne Emma in Lummerland tun w�rde. In Gedanken
versunken sch�ttelte er den Kopf. Von Emma konnte er sich
nicht trennen. Jetzt, nach all den Abenteuern, die sie zusam-
men erlebt hatten und in denen sie so treu und zuverl�ssig
gewesen war, weniger denn je. Nein, das war auch keine
L�sung. Aber vielleicht war der erhabene Kaiser damit einver-
standen, da� sie hier blieben und eine Eisenbahnlinie quer
durch Mandala legten. Das war nat�rlich ein bi�chen traurig,
denn Mandala war trotz allem ein fremdes Land, aber es war
die einzige M�glichkeit, und irgendwo mu�ten sie ja bleiben,
wenn sie nicht immer weiter durch die Welt fahren wollten.
Lukas seufzte, stand auf und ging leise aus dem Zimmer, um
sich mit dem Kaiser zu besprechen. Er fand ihn auf der
Terrasse vor dem Thronsaal unter einem Sonnenschirm sitzend
und in einem Geschichtenbuch lesend.
"Verzeihen Sie, wenn ich st�re, Majest�t", sagte Lukas, als er
auf ihn zutrat.
Der Kaiser schlug sein Buch zu und rief erfreut:
"Mein lieber Lukas, das ist ausgezeichnet, da� wir uns einmal
allein unterhalten k�nnen. Ich m�chte n�mlich gerne mit
Ihnen eine Angelegenheit von gro�er Wichtigkeit ins Reine
bringen."
"Das m�chte ich auch", antwortete Lukas ernst, w�hrend er
dem Kaiser gegen�ber Platz nahm, "aber sagen Sie erst, was
Sie auf dem Herzen haben."
"Wie Sie sich vielleicht erinnern", begann der Kaiser, "habe
ich mich �ffentlich verpflichtet, meine Tochter demjenigen zu
verm�hlen, der sie aus der Drachenstadt befreit."
"Ja, das haben Sie getan, Majest�t", antwortete Lukas.
"Aber nun seid ihr ja zwei", fuhr der Kaiser fort. "Was ist da zu
tun? Wer von euch beiden soll sie denn bekommen?"
"Das ist ganz einfach", meinte Lukas bed�chtig. "Derjenige,
den sie selbst am liebsten mag und dem sie zuerst einen Ku�
gegeben hat."
"Und wer ist das?" fragte der Kaiser gespannt.
"Jim Knopf nat�rlich", sagte Lukas. "Wenn ich mich nicht irre,
haben die beiden sich sehr gern -", und schmunzelnd setzte er
hinzu: "Wenn sie sich auch vorl�ufig �ber manche Dinge noch
nicht ganz einig geworden sind, zum Beispiel, ob es n�tig ist,
lesen und schreiben zu lernen. Jedenfalls passen sie sehr gut
zueinander, finde ich. Und au�erdem war es Jim, der Li Si
befreit hat. Dar�ber besteht kein Zweifel. Ich und Emma, wir
haben ihm blo� dabei geholfen."
"Ach, das freut mich aber wirklich", erwiderte der Kaiser
befriedigt. "Ich bin �brigens ganz Ihrer Meinung, lieber
Freund. Die beiden passen wirklich sehr gut zueinander. Zwar
sind sie noch ein bi�chen zu klein, um zu heiraten, aber sie
k�nnen sich ja zun�chst einmal verloben."
"Das �berlassen wir den beiden am besten selbst", schlug
Lukas vor.
"Richtig", stimmte der Kaiser zu, "wir wollen uns nicht zu sehr
einmischen. Aber sagen Sie, lieber Lukas, wie kann ich mich
denn nun bei Ihnen bedanken? Leider habe ich nur diese eine
Tochter, sonst w�rde ich Ihnen ebenfalls eine Prinzessin zur
Frau geben. Doch das geht ja nun leider nicht. Haben Sie
vielleicht irgendeinen Wunsch, den ich erf�llen kann? Bitte,
sprechen Sie ihn aus! Aber es soll wirklich ein gro�er Wunsch
sein, der gr��te, den Sie haben."
"Den k�nnen Sie mir nicht erf�llen, Majest�t", antwortete
Lukas und sch�ttelte langsam den Kopf. "Der w�re n�mlich,
da� ich mit Jim und Emma zusammen nach Lummerland
zur�ckkehren k�nnte. Aber Sie wissen ja, warum wir von dort
weggefahren sind. Die Insel ist nicht gro� genug f�r uns alle. Es
w�re ein Wunder n�tig, um diesen Wunsch in Erf�llung gehen
zu lassen. Aber ich habe eine andere Bitte, Majest�t: Lassen
Sie mich eine Eisenbahnlinie quer durch Mandala anlegen.
Das w�re n�tzlich f�r Sie und Ihre Untertanen, und meine gute
alte Emma k�me endlich wieder auf ordentliche Schienen."
"Mein verehrter Freund", sagte der Kaiser mit leuchtenden
Augen, "ich danke Ihnen, da� Sie bei uns bleiben wollen. Sie
bereiten mir eine gro�e Freude damit. Ich werde sofort
befehlen, da� Ihnen das sch�nste und l�ngste Eisenbahngleis
mit den prunkvollsten Bahnh�fen gebaut wird, das die Welt je
gesehen hat. Ich hoffe Ihnen dadurch ein wenig zu helfen, Ihre
geliebte Heimatinsel nach und nach vergessen zu k�nnen."
"Danke sch�n", antwortete Lukas. "Sie meinen es gut, Maje-
st�t. Das ist sehr nett von Ihnen."
In diesem Augenblick trat der kleine Fing Pong auf die
Terrasse heraus, verneigte sich tief und piepste:
"Erhabener Kaiser, das Schiff f�r die Kinder liegt im Hafen.
Heute abend gegen Sonnenuntergang ist es bereit, in See zu
stechen."
"Sehr sch�n", erwiderte der Kaiser und nickte Fing Pong zu,
"du bist wirklich ein au�erordentlich t�chtiger Oberbonze."
Lukas stand auf.
"Ich glaube, f�rs erste haben wir alles besprochen, Majest�t.
Wenn Sie nichts dagegen haben, dann lege ich mich jetzt auch
schlafen. Ich bin todm�de."
Der Kaiser w�nschte ihm angenehme Ruhe, und Lukas ging in
das Zimmer mit dem zweist�ckigen Himmelbett zur�ck. Jim,
der von der Abwesenheit seines Freundes nichts gemerkt
hatte, atmete ruhig und tief im Schlaf. Lukas streckte sich auf
dem unteren Bett aus, und w�hrend er schon am Einschlum-
mern war, dachte er: "Was Jim wohl dazu sagen wird, da� wir
hierbleiben und nicht nach Lummerland heimfahren? Oder
wird er vielleicht noch lieber allein nach Hause zur�ckkehren
wollen und mich und Emma verlassen? Ich k�nnt's schon
verstehen."
Und Lukas seufzte tief, und dann schlief auch er.

F�nfundzwanzigstes Kapitel
in dem Frau Mahlzahn sich verabschiedet und ein Brief aus
Lummerland ankommt

Es war gegen Mittag, als Lukas und Jim durch heftiges Pochen
an die T�r aus dem Schlaf geweckt wurden.
"Macht auf! Macht auf! Es ist sehr wichtig!" h�rten sie ein
piepsendes Stimmchen rufen.
"Das is' Fing Pong", sagte Jim, kletterte aus der 1. Etage
herunter und �ffnete die T�r.
Herein scho� der winzige Oberbonze, ganz au�er Atem, und
zwitscherte: "Verzeiht, ihr erhabenen Freunde, wenn ich eure
Ruhe so unsanft unterbreche, aber ich soll einen sch�nen Gru�
vom Drachen ausrichten, und ihr sollt doch so freundlich sein
und sofort zu ihm kommen, es w�re dringend."
"Nanu!" brummte Lukas, etwas ungehalten. "Was soll denn
das bedeuten? Er soll sich gef�lligst gedulden."
"Er sagte", schnatterte Fing Pong, "er m�sse sich von euch
verabschieden, aber er wolle euch vorher noch etwas mittei-
len." "Verabschieden?" fragte Lukas verdutzt. "Was f�llt denn
dem ein?"
"Ich glaube, es ist ernst", meinte Fing Pong mit besorgter
Miene. "Er macht so einen sonderbaren Eindruck, als ob er...
als ob er ..."
"Als ob er was?" forschte Lukas. "Sprich nur zu Ende."
"Ich wei� nicht recht", stie� der kleine Oberbonze hervor. "Ich
glaube, er stirbt."
"Er stirbt?" rief Lukas und wechselte einen best�rzten Blick
mit Jim. Das hatten sie nat�rlich, trotz allem, wieder nicht
gewollt. "Na, das w�re eine sch�ne Geschichte!"
Rasch schl�pften sie in ihre Schuhe und folgten Fing Pong eilig
in den Garten des Palastes. Sie fanden den Drachen in einem
gro�en, halb verfallenen Pavillon, der vor Jahren als Stall f�r
die kaiserlichen wei�en Elefanten gedient hatte. Hier lag er
hinter dicken Gitterst�ben, hatte den Kopf auf die Tatzen
gelegt und hielt die Augen geschlossen, als ob er schliefe.
Fing Pong hielt sich vorsichtig im Hintergrund, w�hrend Lukas
und Jim nahe an die Gitterst�be herantraten.
"Na, was gibt's denn?" fragte Lukas. Seine Stimme klang
unwillk�rlich ein wenig freundlicher, als er beabsichtigt
hatte.
Der Drache antwortete nicht, r�hrte sich auch nicht, statt
dessen geschah etwas sehr Merkw�rdiges. Es war n�mlich, als
liefe pl�tzlich von der Spitze der Schnauze �ber den ganzen
riesigen Leib bis zum Schwanzende ein goldener Schimmer.
"Hast du das gesehen?" fl�sterte Lukas, und Jim antwortete
ebenso leise: "Ja, was kann er nur haben?"
Jetzt �ffnete der Drache langsam seine kleinen Augen, die
aber nicht mehr wie fr�her t�ckisch funkelten, sondern nur
noch sehr, sehr m�de aussahen.
"Danke, da� ihr gekommen seid", murmelte der Drache mit
schwacher Stimme. "Verzeiht, aber ich kann nicht mehr lauter
sprechen. Ich bin so schrecklich m�de - so schrecklich
m�de ..."
"H�r mal, er schnarrt und zischt gar nicht mehr", fl�sterte Jim.
Lukas nickte. Dann fragte er laut:
"Sagen Sie, Frau Mahlzahn, Sie werden doch nicht sterben?"
"Nein", antwortete der Drache, und es war, als ob f�r eine
Sekunde ein L�cheln �ber sein h��liches Gesicht huschte. "Es
geht mir ganz gut, macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe
euch nur rufen lassen, um mich bei euch zu bedanken ..."
"Wof�r denn?" fragte Lukas, zum erstenmal genauso verbl�fft
wie Jim, der vor Staunen wieder mal kugelrunde Augen
bekam.
"Daf�r, da� ihr mich �berwunden habt, ohne mich zu t�ten.
Wer einen Drachen �berwinden kann, ohne ihn umzubringen,
der hilft ihm, sich zu verwandeln. Niemand, der b�se ist, ist
dabei besonders gl�cklich, m��t ihr wissen. Und wir Drachen
sind eigentlich nur so b�se, damit jemand kommt und uns
besiegt. Leider werden wir allerdings dabei meistens umge-
bracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, so wie bei euch und
mir, dann geschieht etwas sehr Wunderbares ..."
Der Drache schlo� die Augen und schwieg eine Weile, und
wieder lief dieser merkw�rdige goldene Schimmer �ber seinen
Leib. Lukas und Jim warteten stumm, bis er seine Augen
wieder �ffnete und mit noch matterer Stimme fortfuhr:
"Wir Drachen wissen sehr viel. Aber solange wir nicht �ber-
wunden worden sind, fangen wir damit nur Arges an. Wir
suchen uns jemand, den wir mit unserem Wissen qu�len
k�nnen - so wie ich zum Beispiel die Kinder. Ihr habt es ja
gesehen. Wenn wir aber verwandelt sind, dann hei�en wir
'Goldener Drache der Weisheit', und man kann uns alles
fragen, wir wissen alle Geheimnisse und l�sen alle R�tsel.
Aber das kommt alle tausend Jahre nur einmal vor, weil eben
die meisten von uns get�tet werden, ehe es zur Verwandlung
kommt."
Wieder schwieg der Drache, und zum drittenmal huschte der
goldene Schimmer �ber ihn hin. Aber diesmal war es, als
bliebe eine winzige Spur des Goldes an seinen Schuppen
h�ngen, nur so viel wie der Hauch von Glanz, den man an den
Fingern beh�lt, wenn man einen Schmetterling ber�hrt hat. Es
dauerte ziemlich lange, bis er wieder seine Augen aufschlug
und kaum noch h�rbar weitersprach:
"Das Wasser des Gelben Flusses, in dem ich geschwommen
bin, hat mein Feuer ausgel�scht. Jetzt bin ich sterbensm�de.
Wenn der goldene Schimmer das n�chste Mal �ber mich gehen
wird, werde ich in einen tiefen Schlaf versinken, und es wird
aussehen, als w�re ich tot. Aber ich werde nicht sterben. Ich
werde ein ganzes Jahr lang reglos liegen. Bitte, sorgt daf�r, da�
mich niemand ber�hrt in dieser Zeit. Nach einem Jahr, von
dieser Stunde an, werde ich aufwachen und ein 'Goldener
Drache der Weisheit' sein. Dann kommt zu mir, und ich werde
euch alle Fragen beantworten. Denn ihr beide seid meine
Herren, und was ihr mir befehlt, werde ich tun. Um euch aber
meine Dankbarkeit zu beweisen, m�chte ich euch schon jetzt
einen Gefallen tun. Ein wenig von meiner zuk�nftigen Weis-
heit habe ich n�mlich schon, wie ihr an dem goldenen Schim-
mer sehen k�nnt, der an mir h�ngengeblieben ist. Wenn ihr
also etwas wissen wollt, dann fragt mich. Aber eilt euch, es
bleibt wenig Zeit."
Lukas kratzte sich hinter dem Ohr. Jim zupfte ihn am �rmel
und fl�sterte ihm zu: "Lummerland!"
Lukas verstand sofort und fragte:
"Emma, die Lokomotive, Jim Knopf und ich, wir sind alle drei
von Lummerland fortgegangen, weil f�r einen von uns kein
Platz mehr war. Was sollen wir tun, damit wir wieder zur�ck
k�nnen, ohne da� es zu eng wird. Lummerland ist n�mlich nur
sehr klein."
Eine ganze Weile sagte der Drache nichts, und Jim f�rchtete
schon, er sei eingeschlafen. Aber schlie�lich kam die nur noch
gehauchte Antwort:
"Stecht morgen genau bei Sonnenaufgang in Richtung Lum-
merland in See. Am zweiten Tag eurer Heimreise werdet ihr
um zw�lf Uhr mittags auf dem Punkt 321 Grad 21 Minuten l
Sekunde westlicher L�nge und 123 Grad 23 Minuten und 3
Sekunden n�rdlicher Breite einer schwimmenden Insel begeg-
nen. Ihr d�rft euch aber nicht versp�ten, sonst treibt sie vorbei,
und ihr findet sie nicht mehr. Diese Art von Inseln ist sehr
selten. Nehmt euch auch ein paar Zweige von Korallenb�umen
mit, die vom Meeresgrund emporwachsen, und werft sie neben
Lummerland ins Wasser, genau dort, wo ihr die schwimmende
Insel verankert. Aus den Korallenzweigen werden B�ume
wachsen, die die Insel von unten st�tzen, und bis Jim ein ganzer
Untertan sein wird, ist daraus ein festes Eiland geworden,
ebenso haltbar und sicher wie Lummerland ... verge�t
nicht ..."
"Bitte!" rief Jim, der sah, da� der Drache die Augen schlo�,
"woher haben mich die Dreizehn geraubt, eh' sie mich in das
Postpaket gesteckt haben?"
"Ich ... kann nicht...", fl�sterte der Drache. "Verzeiht...
das ... ist eine... lange... Geschichte... aber... jetzt..."
Er verstummte, und zum letztenmal lief der goldene Schimmer
�ber seine Schuppen.
"Lebt .... wohl ... lebt ... wohl", hauchte er kaum noch
vernehmbar.
Dann sank er auf die Seite.
Es sah tats�chlich ganz so aus, als w�re er gestorben. Nur, da�
der Goldglanz sich verst�rkt hatte.
"Da ist nichts mehr zu machen", sagte Lukas ged�mpft. "Wir
m�ssen bis n�chstes Jahr warten. Aber der Rat, den er uns
gegeben hat, ist nicht schlecht. Vorausgesetzt, da� die Ge-
schichte mit der schwimmenden Insel stimmt."
"Was sich gerade mit dieser bisher so unerfreulichen Person
ereignet hat", bemerkte Fing Pong, der inzwischen seine
Furcht �berwunden hatte und zu den beiden Freunden getre-
ten war, "ist h�chst r�tselhaft und geheimnisvoll. Wenn es euch
recht ist, so wollen wir zum erhabenen Kaiser gehen und ihm
davon berichten."
Damit raffte er seinen winzigen goldenen Schlafrock zusam-
men und schritt eilig davon. Lukas und Jim folgten ihm ...

Eine Viertelstunde sp�ter sa�en sie alle drei dem Kaiser im


Thronsaal gegen�ber und besprachen mit ihm das Gesche-
hene.
"Wahrhaftig", sagte der Kaiser endlich, "ich habe in meinem
langen Leben viel gesehen und geh�rt, aber nichts scheint mir
so wunderbar, meine Freunde. Selbstverst�ndlich werde ich
veranlassen, da� die Verwandlung des Drachen durch nichts
und niemand gest�rt wird."
"Dann k�nnten wir also morgen fr�h beruhigt in Richtung
Lummerland in See stechen und sehen, ob wir der schwimmen-
den Insel wirklich begegnen", meinte Lukas und paffte hoff-
nungsvoll. "Das w�re nat�rlich schon sehr viel wert."
"Meinst du", fragte Jim, "da� K�nig Alfons der Viertel-vor-
Zw�lfte uns erlauben w�rde, die Insel neben Lummerland zu
pflanzen?"
"Aber warum sollte er das denn nicht?" rief der Kaiser
verwundert. "Er wird sich sehr dar�ber freuen."
"So einfach ist das leider nicht, Majest�t", meinte Lukas. "Wir
haben Ihnen n�mlich noch nicht erz�hlt, da� Jim und ich
damals mit Emma einfach auf und davon sind, bei Nacht und
Nebel sozusagen. Niemand auf Lummerland wu�te etwas
davon. Der K�nig und Frau Waas werden vermutlich ziemlich
b�se auf uns sein. Sie werden sagen, Jim sei ausgerissen, und
ich h�tte die Schuld. Von ihrem Standpunkt aus haben sie ja
auch nicht ganz unrecht. Vielleicht wollen sie nicht, da� wir
zur�ckkommen."
"Ich werde mitfahren", bot der Kaiser an, "und K�nig Alfons
alles erkl�ren."
Doch in diesem Augenblick schlug sich der kleine Fing Pong
pl�tzlich vor die Stirn und rief:
"Ach du liebe Zeit! Du liebe Zeit! Ich bitte euch f�nftausend-
mal um Vergebung, ihr ehrenwerten Lokomotivf�hrer!"
"Was is' denn passiert?" erkundigte sich Jim.
"Etwas Schreckliches ist passiert, etwas ganz Entsetzliches!"
piepste Fing Pong au�er sich. "�ber all dem Trubel mit eurer
Ankunft und der Ausr�stung des Schiffes f�r die Kinder und
der Geschichte mit dem Drachen habe ich das Wichtigste
vergessen. Ach, ich Ungl�ckswurm! Ich verge�liches Fliegen-
gehirn!"
"Beruhige dich Ping Pong!" mahnte der Kaiser, "und sage uns,
was es gibt!"
"Schon vor drei Tagen ist ja ein Brief f�r die beiden ehrenwer-
ten Lokomotivf�hrer angekommen", jammerte der Oberbon-
ze. "Ein Brief aus Lummerland!"
"Was? Her damit!" riefen Jim und Lukas wie aus einem
Mund.
Ping Pong raste davon, wie er bisher nur einmal gerast war,
damals, als es um die Rettung der beiden Freunde vor der
Palastwache ging.
"Woher k�nnen sie denn in Lummerland wissen, wo wir sind?"
fragte Jim aufgeregt.
"Na, erinnerst du dich denn nicht mehr?" sagte Lukas. "Wir
haben ihnen doch geschrieben, eh' wir in die Drachenstadt
aufbrachen. Das mu� der Antwortbrief sein. Jetzt mu� es sich
entscheiden. Wo bleibt denn Fing Pong?"
Aber noch bevor Lukas ausgesprochen hatte, war der winzige
Oberbonze schon wieder da und �berreichte Lukas einen
ziemlich dicken Brief, der mit rotem Siegellack verschlossen
und mit dem Wappen K�nig Alfons des Viertel-vor-Zw�lften
versehen war. Die Adresse lautete:

An Lukas den Lokomotivf�hrer


und Jim Knopf
zur Zeit in Fing (Hauptstadt von Mandala)
Kaiserlicher Palast.

Und auf der R�ckseite stand:

Absender: K�nig Alfons der Viertel-vor-Zw�lfte


Frau Waas
Herr �rmel
Lummerland

Lukas ri� den Umschlag auf, und seine dicken Finger zitterten
ein wenig, als er das Papier auseinanderfaltete. Es waren drei
Bl�tter. Er las vor, was auf dem ersten stand:
"Lieber Lukas der Lokomotivf�hrer! Lieber Jim Knopf!
Durch euren Brief wissen wir ja nun Gott sei Dank endlich, wo
ihr seid. Glaubt mir, als wir merkten, da� ihr nicht mehr hier
wart, trauerte das ganze Volk von Lummerland, das hei�t,
soviel vom Volk eben noch da war. Auch ich selbst trauerte
ganz erheblich. Alle Fahnen auf meinem Schlo� tragen seither
Trauerflor. Es ist sehr still und einsam geworden auf unserer
kleinen Insel. Niemand pfeift mehr zweistimmig in den Tun-
nels, wie Lukas und Emma es taten, und niemand rutscht
mehr von dem gro�en Gipfel herunter wie Jim Knopf. Wenn
ich an Sonn- und Feiertagen um Viertel vor zw�lf ans Fenster
trete, ist kein Jubel mehr zu h�ren. Meine restlichen Unterta-
nen stehen so traurig da, da� es mir das Herz bricht. Das gute
Erdbeereis von Frau Waas will keinem von uns mehr
schmecken.
Das hatte ich nat�rlich nicht beabsichtigt, als ich damals
anordnete, die dicke alte Emma abzuschaffen. Ich habe inzwi-
schen eingesehen, da� diese Ma�nahme f�r uns alle keine
befriedigende L�sung darstellt.
Darum bitte ich euch nun alle drei, zur�ckzukehren, so bald ihr
k�nnt. Wir sind euch bestimmt nicht b�se und hoffen nur, da�
auch ihr uns nicht mehr b�se seid. Ich wei� mir zwar noch
immer keinen Rat, was einmal werden soll, wenn Jim Knopf
gr��er wird und eine eigene Lokomotive und ein eigenes
Eisenbahngleis braucht, aber wir werden schon irgendeinen
anderen Ausweg finden. Also kommt bald!
Mit besonders huldvoller Gnade schreibt dies
K�nig Alfons der Viertel-vor-Zw�lfte."
"Lukas!" stammelte Jim, dessen Augen gr��er und gr��er
geworden waren, "das bedeutet doch..."
"Augenblick!" sagte Lukas, "es geht noch weiter."
Er faltete das zweite Papier auseinander und las:
"Mein lieber kleiner Jim! Lieber Lukas!
Wir sind alle furchtbar traurig und wissen gar nicht mehr, was
wir anfangen sollen ohne euch. Ach Jim, warum hast du mir
denn nichts davon gesagt, da� du unbedingt fortfahren woll-
test. Ich h�tte es schlie�lich schon verstanden. Und ich h�tte
dir wenigstens ein paar warme Sachen zum Anziehen mitgege-
ben und ein paar Taschent�cher, weil du sie doch immer so
schnell schmutzig machst. Vielleicht mu� du jetzt frieren, und
am Ende erk�ltest du dich noch. Ich mache mir schreckliche
Sorgen um dich. Ist das auch nicht zu gef�hrlich, in die
Drachenstadt zu fahren? Gib nur sch�n acht auf dich, da� dir
nichts passiert, und sei immer recht brav, mein kleiner Jim.
Und wasch dir auch immer sch�n den Hals und die Ohren,
h�rst du? Ich wei� ja nicht, was Drachen eigentlich f�r Leute
sind, aber sei auf jeden Fall stets h�flich. Und wenn ihr die
Prinzessin nach Hause gebracht habt, dann komm schnell zu
deiner Frau Waas.
PS: Lieber Lukas! Nun hat Jim also erfahren, da� ich nicht
seine wirkliche Mutter bin. Vielleicht ist es ja Frau Mahlzahn,
an die damals das Paket adressiert war. Ich bin sehr traurig,
aber andererseits freue ich mich f�r meinen kleinen Jim, wenn
er jetzt seine richtige Mama findet. Ich hoffe nur, sie ist nicht
allzu b�se auf mich, weil ich ihn bei mir behalten habe. Bitten
Sie doch Frau Mahlzahn, da� der Junge nach Lummerland zu
Besuch kommen darf, damit ich ihn nochmal sehen kann. Oder
vielleicht hat sie Lust mit herzukommen? Dann w�rde ich sie
auch kennenlernen, das w�re das allerbeste. Und nicht wahr,
Sie sorgen schon daf�r, da� Jim sich nicht in Gefahr begibt? Er
ist so ein leichtsinniger kleiner Bub. Herzliche Gr��e!
Frau Waas."
Lukas faltete nachdenklich das Blatt zusammen. Jim hatte
Tr�nen in den Augen. Ach ja, das war Frau Waas, wie sie leibte
und lebte, so lieb und gut!
Nun las Lukas auch noch den dritten Brief vor:
"Sehr gesch�tzter Herr Lokomotivf�hrer! Mein lieber Jim
Knopf!
Hiermit schlie�e ich mich der Bitte Seiner Majest�t und
unserer allseits verehrten Frau Waas auf das innigste an. Ich
komme mir nahezu �berfl�ssig vor, seit Jim mir keine Streiche
mehr spielt. Und Sie, Herr Lokomotivf�hrer, sind ein Mann,
dessen Rat und Tat niemand in ganz Lummerland entbehren
kann. Meine Wasserleitung tropft, und ich vermag sie nicht in
Ordnung zu bringen. Kehren Sie doch freundlichst beide
umgehend zur�ck!
Mit vorz�glicher Hochachtung! Ihr sehr geehrter Herr
�rmel!"
Jim mu�te wieder lachen und wischte sich die Tr�ne ab, die ihm
�ber die schwarze Backe gelaufen war. Dann fragte er:
"Jetzt k�nnten wir doch eigentlich morgen fr�h losfahren?"
Lukas schmunzelte:
"Fragt sich nur noch, womit. Mu� unsere gute dicke Emma
wieder mal herhalten, oder k�nnten wir ein Schiff bekommen,
Majest�t?"
"Ich schlage vor, wir fahren auf meinem Staatsschiff", erwider-
te der Kaiser.
"Wir?" fragte Lukas �berrascht. "Haben Sie ,wir' gesagt?"
"Nat�rlich", erwiderte der Kaiser, "Sie beide, meine Tochter
Li Si und ich selbst. Ich m�chte n�mlich gerne Frau Waas
kennenlernen, die mir eine sehr liebe und achtenswerte Frau
zu sein scheint. Au�erdem mu� ich doch auch K�nig Alfons
den Viertel-vor-Zw�lften besuchen, da unsere beiden L�nder
ja vermutlich in absehbarer Zeit diplomatische Beziehungen
ankn�pfen werden."
Dabei blickte er l�chelnd auf Jim.
"Donnerwetter!" rief Lukas lachend, "das wird ja ein tolles
Gedr�nge auf Lummerland geben. Unsere Insel ist n�mlich
wirklich sehr klein, Majest�t."
Dann wandte er sich an Fing Pong und erkundigte sich:
"K�nnen wir morgen fr�h in See stechen?"
"Wenn ich sogleich meine Befehle erteile", piepste der Ober-
bonze, "dann ist das Staatsschiff bis morgen fr�h bereit."
"Famos", antwortete Lukas, "dann erteile doch bitte gleich
deine Befehle!"
Fing Pong h�pfte in die H�he und rannte davon. F�r einen so
winzigen Oberbonzen war das alles ja eigentlich ein bi�chen
viel, aber daf�r war er nun eine Respektsperson in Mandala
und durfte einen goldenen Schlafrock tragen. W�rden bringen
eben B�rden, wie schon ein altes mandalanisches Sprichwort
sagt.

Sechsundzwanzigstes Kapitel
in dem die Kinder Abschied nehmen und eine schwimmende
Insel eingefangen wird

Zum Nachmittagstee wurden alle Kinder geweckt und kamen


zum Kaiser und den beiden Freunden auf die Terrasse heraus.
Dann a�en alle gemeinsam. Als sie fertig waren, gingen sie
hinunter auf den Platz vor dem Palast. Dort standen jetzt in
einer langen Reihe viele zierliche mandalanische Kutschen mit
kleinen wei�en Pferdchen davor. Die W�gelchen waren bunt
bemalt und hatten seidene Baldachine, zum Schutz gegen die
Sonne. Das erste war besonders pr�chtig, darin nahm der
Kaiser mit seiner Tochter Platz. Die Kinder verteilten sich in
den anderen Kutschen, immer zwei oder drei in einer. Nat�r-
lich durften sie selber lenken. Lukas und Jim wollten lieber mit
Emma fahren.
Der Zug setzte sich in Bewegung, an der Spitze der Kaiser mit
Li Si und am Schlu� Emma mit den beiden Freunden. Unter
brausenden Hochrufen des Volkes ging es aus der Stadt hinaus,
immer auf der geraden Stra�e, auf der Jim und Lukas einmal
gekommen waren. So gelangten sie schlie�lich gegen Abend
zur M�ndung des Gelben Flusses, wo der Seehafen lag.
An der Mole lagen zwei gro�e Segelschiffe. Matrosen kletter-
ten in der Takelage herum, und andere zogen mit "Ho ruck!
Hoooo ruck!" riesige Segel in die H�he. Eines der beiden
Schiffe war schon fast fertig zur Abfahrt und mu�te nur noch
auf g�nstigen Wind warten. Bei Einbruch der Dunkelheit
sollte es mit den Kindern davonsegeln, um sie in ihre Heimat-
l�nder zu bringen. Das andere Schiff hatte noch keine Segel
gesetzt. Dort waren die Matrosen noch mit dem Einladen des
Proviants besch�ftigt. Es war noch viel sch�ner und pr�chtiger
als das andere. An seinem haushohen Bug war eine gro�e
goldene Figur zu sehen, die ein Einhorn darstellte. Links und
rechts daneben war folgender Name aufgemalt:

PUNG GING

So hie� ja der Kaiser von Mandala. Also war das wohl das
Staatsschiff, das am n�chsten Morgen nach Lummerland in See
stechen sollte.
Als die Sonne untergegangen war, begann pl�tzlich ein sanfter,
aber anhaltender Wind vom Lande her zu wehen. Der Kapit�n
des Kinder schiff es, ein lustiger alter Seeb�r mit einer runden,
roten Nase, kam von seinem Schiff herunter und meldete, da�
alles zur Abfahrt bereit sei.
Der Kaiser rief seine kleinen G�ste zusammen und sagte:
"Meine lieben Freunde und Freundinnen! Mit Bedauern ver-
nehme ich, da� die Stunde der Trennung geschlagen hat. Es
war eine gro�e Freude f�r mich, euch alle kennenzulernen. Ich
w�nschte, wir k�nnten noch eine Weile zusammenbleiben,
aber ihr wollt in eure fernen Heimatl�nder, und das ist
durchaus verst�ndlich, wenn man bedenkt, wie lange ihr schon
von zu Hause fort seid. Gr��t eure Eltern, Verwandten und
Freunde von mir und schreibt bald, ob ihr gut angekommen
seid. Und wenn ihr Lust habt, dann besucht mich doch bald
einmal wieder. Vielleicht in den n�chsten gro�en Ferien, ja?
Ihr seid jederzeit herzlich willkommene G�ste. Und was die
dreizehn Piraten betrifft, die euch geraubt haben, so k�nnt ihr
ganz beruhigt sein. Sie werden ihrer gerechten Strafe nicht
entrinnen. Ich werde in n�chster Zeit ein Kriegsschiff ausr�-
sten, das sie gefangen nehmen wird. Und nun lebt wohl, meine
Lieben!"
Danach ergriff Lukas das Wort.
"Tja, Leute", sagte er und paffte heftig, "ich kann nicht viele
Worte machen. Tut mir leid, da� wir uns schon wieder trennen
m�ssen, aber es ist ja nicht f�r immer -"
"Bestimmt nicht!" rief der kleine Indianerjunge dazwischen.
"Schreibt Jim und mir auch mal eine Ansichtspostkarte, damit
wir sehen, wie es bei euch zu Hause ist. Und wenn ihr uns
besuchen wollt, dann kommt nur nach Lummerland. Wir
freuen uns. Und jetzt also gute Fahrt und auf baldiges Wieder-
sehen!"
Nun gab es ein allgemeines H�ndesch�tteln und Abschiedneh-
men, und jedes Kind bedankte sich noch einmal bei Jim und
Lukas, und nat�rlich auch bei der guten dicken Emma, f�r die
Rettung und beim Kaiser von Mandala f�r seine Freundlich-
keit. Dann gingen die Kinder unter F�hrung des Kapit�ns an
Deck ihres Schiffes. Als alle oben an der Reling standen,
begann im Hafen ein ungeheures Feuerwerk. Das war eine
�berraschung, die der kleine Fing Pong sich ausgedacht hatte.
Die Raketen stiegen meilenhoch in den Nachthimmel und
spr�hten und leuchteten in den m�rchenhaftesten Farben.
Dazu spielte eine mandalanische Musikkapelle ein Abschieds-
lied. Und die Wellen des Meeres rauschten wunderbar dazu.
Dann wurde der Anker gelichtet und das Schiff setzte sich
langsam und majest�tisch in Bewegung. Alle riefen "Auf
Wiedersehen!" und winkten. Jeder war ger�hrt und hatte
Tr�nen in den Augen. Am meisten heulte nat�rlich Emma,
obgleich sie wie gew�hnlich nicht ganz verstand, was eigentlich
los war. Sie hatte eben ein sehr zartes Gem�t und war ganz
erheblich ger�hrt, einfach so.
Langsam glitt das Schiff auf das n�chtliche Meer hinaus und
entschwand den Blicken der Zur�ckbleibenden. Jetzt lag der
Hafen pl�tzlich ganz still und verlassen da.
"Es scheint mir das beste", schlug der Kaiser vor, "wenn wir
heute nacht schon an Bord unseres Schiffes schlafen. Es sticht
morgen noch vor Tagesgrauen in See, und wenn wir jetzt schon
an Bord gehen, dann brauchen wir nicht so fr�h aufzustehen.
Beim Fr�hst�ck sind wir schon weit drau�en auf dem Meer."
Die beiden Freunde und die kleine Prinzessin waren nat�rlich
sofort einverstanden.
"Dann wollen wir jetzt von Fing Pong, meinem Oberbonzen,
Abschied nehmen", meinte der Kaiser.
"Ja, f�hrt er denn nicht mit?" fragte Jim.
"Das geht leider nicht", antwortete der Kaiser. "Jemand mu�
mich doch w�hrend meiner Abwesenheit vertreten. Fing Pong
ist der Richtige dazu. Er ist zwar noch sehr klein, aber schon
sehr f�hig, wie ihr gesehen habt. Au�erdem nehme ich nicht
an, da� sich w�hrend meiner Reise hier sehr viel ereignen wird.
Fing Pong kann ja ein anderes Mal nach Lummerland fahren,
diesmal soll er f�r mich regieren."
Aber der winzige Oberbonze war nirgends zu entdecken. Sie
suchten den ganzen Hafen nach ihm ab, und schlie�lich fanden
sie ihn. Er sa� in einer der kleinen Kutschen und war, von den
ungeheuren Anstrengungen des Tages ersch�pft, fest einge-
schlafen.
"H�re, Fing Pong", sagte der Kaiser sanft.
Der Oberbonze fuhr auf, rieb sich die Augen und fragte etwas
weinerlich:
"Ja - bitte - ist etwas nicht in Ordnung?"
"Es tut mir leid, da� ich dich wecken mu�", fuhr der Kaiser
l�chelnd fort. "Wir m�chten uns nur von dir verabschieden. Du
wirst mich w�hrend meiner Abwesenheit vertreten. Ich wei�,
da� ich mich auf dich verlassen kann."
Fing Pong verneigte sich tief vor dem Kaiser und der kleinen
Prinzessin. Dabei fiel er vor lauter Verschlafenheit beinahe
um. Jim konnte ihn gerade noch halten. Er sch�ttelte ihm die
winzige Hand und sagte:
"Besuch uns auch bald mal, Ping Pong!"
"Und gr��e Herrn Schu Fu Lu Pi Plu von uns!" f�gte Lukas
hinzu.
"Sehr gern", murmelte Ping Pong, dem die Augen schon
wieder zufielen. "Gewi� werde ich das tun - ich werde alles tun
- alles - sobald meine Pflichten - oh, ihr ehrenwerten Lokomo-
tivf�hrer - lebt �ber alle Ma�en wohl - und - und - und -"
Dabei g�hnte er und piepste: "Entschuldigt bitte, aber ihr wi�t
ja, ein S�ugling in meinem Alter ..."
Damit war er eingeschlafen, und sein leises Schnarchen h�rte
sich an wie das Zirpen einer Grille.
Als die beiden Freunde mit Li Si und dem Kaiser auf ihr Schiff
gingen, fragte Lukas:
"Meinen Sie, da� Ping Pong den Regierungsgesch�ften ge-
wachsen ist?"
Der Kaiser nickte l�chelnd:
"Ich habe alles vorbereitet. Es kann nichts passieren. Es soll
eine Auszeichnung f�r den kleinen Oberbonzen sein, weil er so
t�chtig war."
Dann schauten sie noch nach, ob Emma, die die Matrosen
inzwischen auf das Schiff transportiert hatten, auch gut unter-
gebracht war. Sie stand auf dem Hinterdeck und war mit Seilen
fest angebunden, damit sie nicht herunterrollen konnte, wenn
das Schiff auf den Wellen schaukelte. Sie schlief auch schon
und schnaufte leise und regelm��ig vor sich hin.
Es war alles in bester Ordnung.
Also w�nschten die beiden Freunde dem Kaiser und Li Si eine
gute Nacht, dann gingen sie alle in ihre Kaj�ten und legten sich
schlafen.
Als sie am n�chsten Morgen erwachten, schwamm das Schiff
schon weit drau�en auf dem Meer. Es war strahlendes Wetter.
Ein kr�ftiger, anhaltender Wind bl�hte die riesigen Segel.
Wenn es so blieb, dann w�rde die R�ckfahrt nach Lummerland
nicht einmal halb so lange dauern wie damals die Reise auf der
Emma nach Mandala.
Nach dem Fr�hst�ck, das sie mit dem Kaiser und der kleinen
Prinzessin gemeinsam einnahmen, gingen Jim und Lukas zum
Kapit�n auf die Kommandobr�cke hinauf und erkl�rten ihm
die Sache mit der schwimmenden Insel, die ihnen am zweiten
Tag p�nktlich um zw�lf Uhr mittags bei 321 Grad 21 Minuten
und l Sekunde westlicher L�nge und 123 Grad 23 Minuten und
3 Sekunden n�rdlicher Breite begegnen sollte.
Der Kapit�n, dessen Gesicht so von Wind und Wetter gegerbt
war, da� die Haut aussah wie ein alter lederner Handschuh,
sperrte vor Staunen Mund und Nase auf.
"Da soll mich doch gleich ein betrunkener Haifisch bei�en!"
brummte er. "Ich fahre jetzt schon ein halbes Jahrhundert zur
See, aber eine schwimmende Insel hab' ich noch nie gesehen.
Woher wi�t ihr denn so genau, da� morgen mittag gerade dort
eine vorbeikommt?"
Die beiden Freunde sagten es ihm. Der Kapit�n kniff ein Auge
zu und knurrte: "Ihr wollt mich wohl verulken?"
Aber Jim und Lukas versicherten, da� es ihr voller Ernst sei.
"Na", sagte der Kapit�n schlie�lich und kratzte sich hinter dem
Ohr, "wir werden ja sehen. Wir kommen n�mlich sowieso
morgen mittag genau �ber den Punkt, den ihr angegeben habt.
Falls das Wetter so bleibt."
Die beiden Freunde stiegen wieder zum Kaiser und der kleinen
Prinzessin hinunter. Dann setzten sie sich an eine windge-
sch�tzte Stelle auf das Vorderdeck und spielten zu viert
Mensch-�rgere-dich-nicht. Li Si kannte das Spiel noch nicht,
und Jim erkl�rte es ihr. Und nachdem sie es zweimal gespielt
hatten, konnte sie es schon besser als die drei anderen und
gewann in einem fort. Jim w�re es lieber gewesen, wenn sie sich
ein wenig ungeschickt angestellt h�tte. Dann h�tte er ihr helfen
k�nnen. Aber so war sie es, die ihm gute Ratschl�ge gab und
die Gescheitere war. Das war ihm nat�rlich nicht besonders
angenehm.
Als sie dann sp�ter beim Mittagessen sa�en, erkundigte sich
der Kaiser:
"Sagt einmal, Jim und Li Si, wann soll denn eigentlich eure
Verlobung gefeiert werden?"
Die kleine Prinzessin wurde ein wenig rot und sagte mit ihrer
Vogelstimme: "Das mu� Jim bestimmen."
"Ja", sagte Jim, "ich wei� auch nicht. Ich richt' mich ganz nach
dir, Li Si."
Aber sie schlug die Augen nieder und sch�ttelte den Kopf.
"Nein, du mu�t es sagen."
"Also", erkl�rte Jim nach kurzem Nachdenken, "dann feiern
wir die Verlobung, wenn wir in Lummerland sind."
Damit waren alle einverstanden. Und der Kaiser meinte: "Die
Hochzeit k�nnt ihr dann sp�ter feiern, wenn ihr gro� genug
seid."
"Ja", sagte die kleine Prinzessin, "wenn Jim lesen und schrei-
ben kann."
"Ich will aber nicht solche Sachen lernen!" rief Jim.
"Doch, bitte, Jim!" bat Li Si. "Du mu�t lesen, schreiben und
rechnen lernen! Tu es f�r mich!"
"Warum?" fragte Jim. "Du kannst es doch selbst, wozu soll ich
es denn auch noch lernen?"
Die kleine Prinzessin senkte ihr K�pfchen und sagte leise und
stockend: "Jim, ich kann doch nicht - es ist n�mlich - es geht
doch nicht - also, ich m�chte eben, da� mein Br�utigam nicht
nur mutiger ist als ich, er soll auch viel kl�ger sein, damit ich ihn
bewundern kann."
"So", sagte Jim und machte ein verstocktes Gesicht.
"Also ich finde", brummte Lukas beg�tigend, "wir sollten uns
dar�ber jetzt nicht streiten. Vielleicht will Jim selber eines
Tages lesen und schreiben lernen, und dann wird er's auch tun.
Und wenn er nicht will, ist es auch gut. Wir sollten ihm das
ruhig selbst �berlassen, meine ich."
Danach wurde �ber diese Sache nicht weiter gesprochen, aber
Jim mu�te doch noch ab und zu an das denken, was die kleine
Prinzessin zuletzt gesagt hatte.

Es war am n�chsten Tag kurz vor Zw�lf Uhr mittags, und die
vier sa�en gerade beim Essen, als pl�tzlich der Matrose hoch
oben im Mastkorb durch die hohle Hand herunterrief:
"Laaaaaand in Sicht!"
Alle sprangen auf und rannten nach vorne zum Bug, um
Ausschau zu halten. Jim, der ein St�ckchen in die Takelage
hinaufgeklettert war, sah es als erster.
"Eine Insel!" schrie er aufgeregt. "Da - eine ganz kleine
Insel!"
Und als sie n�her kamen, sahen auch die anderen das kleine
Eiland, das anmutig durch die Wellen dahintrieb.
"He!" rief Lukas zum Kapit�n hinauf, "was sagen Sie jetzt?"
"Ich will mich von einem erk�lteten Walro� platt walzen
lassen!" antwortete der Kapit�n. "Wenn ich's nicht selber
s�he, w�rde ich's nicht glauben. Wie fangen wir das Ding denn
ein?"
"Habt Ihr vielleicht zuf�llig ein gro�es Fischernetz an Bord?"
fragte Lukas.
"Haben wir!" rief der Kapit�n zur�ck. Er gab den Matrosen
Befehl, die Netze auszulegen. Das geschah, w�hrend das Schiff
in einem gro�en Kreis um das Eiland herumfuhr. Das letzte
Ende lie�en sie nicht ins Wasser, sondern machten es auf Deck
fest. Und als sie schlie�lich an ihren Ausgangspunkt zur�ckge-
kehrt waren, holten sie auch den Anfang des Netzes wieder
ein, und nun lag das schwimmende Eiland wie in einer gro�en
Schlinge im Schlepptau des Segelschiffes. Die Matrosen zogen
es nahe heran, damit man es genau betrachten konnte.
Der Drache hatte wirklich ein Lob daf�r verdient, da� er den
Freunden gerade diese Insel angegeben hatte. Eine bessere
gab es wohl auf der ganzen Welt nicht.
Sie war zwar noch etwas kleiner als Lummerland, aber beinahe
noch h�bscher. Drei gr�ne Rasenterrassen, auf denen ver-
schiedene B�ume standen, erhoben sich stufenweise. Unter
den B�umen waren �brigens drei durchsichtige, wie sie in
Mandala wuchsen.
Dar�ber freute sich die kleine Prinzessin besonders. Um die
Insel herum lief ein flacher Sandstrand, der ganz famos zum
Baden geeignet war. Und auf der obersten Terrasse entsprang
ein kleiner Bach und rauschte in mehreren Wasserf�llen bis ins
Meer hernieder. Nat�rlich gab es auch eine Menge wunder-
sch�ner Blumen und bunter V�gel, die in den Zweigen der
B�ume ihre Nester gebaut hatten.
"Wie gef�llt dir die Insel, Li Si?" fragte Jim.
Und sie waren sich einig dar�ber, da� sie beide bald wieder eine gro�e
Fahrt ins Ungewisse unternehmen w�rden.
"O Jim, sie ist einfach wundervoll!" sagte die kleine Prinzessin
begeistert.
"Is' sie nicht vielleicht ein bi�chen klein?" erkundigte sich Jim.
"Ich mein', im Verh�ltnis zu Mandala."
"O nein!" rief die Prinzessin. "Ich finde ein kleines Land viel
h�bscher als ein gro�es. Besonders wenn es eine Insel ist."
"Dann is' ja alles in Ordnung", meinte Jim zufrieden.
"Man k�nnte ein paar sch�ne Tunnels bauen", stellte Lukas
fest. "Quer durch die Terrassen durch. Was meinst du, Jim? Es
soll ja deine Insel werden."
"Tunnel?" sagte Jim nachdenklich. "Das w�r' famos. Aber ich
hab' ja noch nicht einmal eine Lokomotive."
"Willst du denn immer noch Lokomotivf�hrer werden?" fragte
Lukas.
"Freilich", antwortete Jim ernsthaft. "Was denn sonst?"
"Hm", brummte Lukas und zwinkerte mit einem Auge. "Viel-
leicht habe ich schon was f�r dich in Aussicht."
"Eine Lokomotive?" rief Jim aufgeregt.
Aber Lukas wollte noch nichts N�heres sagen, so sehr Jim auch
bat und bettelte. "Wart ab, bis wir nach Lummerland kom-
men", mehr war aus ihm nicht herauszubringen.
"Hast du �brigens schon einen Namen f�r die neue Insel, Jim?"
mischte sich schlie�lich der Kaiser ins Gespr�ch. "Wie wirst du
sie taufen?"
Jim �berlegte eine Weile, dann schlug er vor: "Wie w�r's mit
Neu-Lummerland? "
Damit waren alle einverstanden, und so blieb es gleich dabei.

Siebenundzwanzigstes Kapitel
in dem Verlobung gefeiert wird und dieses Buch mit einer
freudigen �berraschung endet

Es war ein paar Tage sp�ter, an einem strahlenden Morgen,


etwa um sieben Uhr, als Frau Waas aus der T�r ihres Kaufla-
dens trat, den sie soeben ge�ffnet hatte. Herr �rmel streckte
den Kopf aus dem Fenster seines Hauses, um festzustellen, ob
er heute seinen Schirm mitnehmen m��te oder nicht. Da sahen
beide gleichzeitig das riesige, prunkvolle Schiff neben Lum-
merland im Meer liegen.
"Was ist denn das f�r ein sonderbares Schiff?" fragte Frau
Waas. "Das vom Postboten ist doch viel kleiner. Au�erdem
hat es auch kein Posthorn am Bug, sondern ein vergoldetes
Einhorn. Was kann das bedeuten?"
"Leider kann ich Ihnen keine Auskunft geben, meine Verehr-
teste", antwortete Herr �rmel. "Sehen Sie doch nur, es hat
eine ganze Insel im Schlepptau! Oh, ich ahne Schreckliches!
Das sind vielleicht Inselr�uber, die es auf Lummerland abgese-
hen haben."
"Meinen Sie?" fragte Frau Waas unsicher. "Ja, was machen wir
denn da?"
Aber noch ehe Herr �rmel antworten konnte, h�rte man vom
Schiff her einen Freudenschrei, und dann sprang Jim mit einem
halsbrecherischen Satz �ber die Reling ans Land.
"Frau Waas!" schrie er.
"Jim!" rief Frau Waas.
Und dann st�rzten sie sich in die Arme und begr��ten sich.
Und das dauerte begreiflicherweise eine ganze Weile.
Inzwischen kamen auch Lukas und Li Si und der Kaiser an
Land, und schlie�lich wurde sogar Emma vorsichtig vom Schiff
heruntertransportiert und auf ihre alten Gleise gesetzt, auf
denen in der Zwischenzeit Moos und Gras gewachsen war.
Emma trug noch immer den gro�en goldenen Orden mit der
blauen Schleife und stie� in einem fort kleine Freudenpfiffe
aus.
Als Herr �rmel, der ganz fassungslos vor Staunen dastand,
endlich begriffen hatte, wer da gekommen war, rannte er sofort
zum Schlo� zwischen den beiden Gipfeln hinauf und polterte
aufgeregt gegen die T�r.
"Aber ja doch, ich komme ja schon! Was ist denn?" h�rte man
K�nig Alfons den Viertel-vor-Zw�lften schlaftrunken und
verwirrt im Innern brummen.
"Majest�t!" rief Herr �rmel atemlos, "entschuldigen Sie gn�-
digst, aber es ist von h�chster Wichtigkeit! Lukas der Lokomo-
tivf�hrer ist eben angekommen und Jim Knopf und ein kleines
M�dchen und ein alter Herr, der sehr vornehm aussieht, und
ein Schiff ist da mit einer Insel im Netz ..."
Aber weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick flog die
T�r des Palastes auf, und der K�nig st�rzte heraus. Er hatte
nur ein Nachthemd an und bem�hte sich, im Laufen seinen
Schlafrock aus rotem Samt �berzuziehen. Seine Krone hatte er
sich in aller Eile schon auf den Kopf gest�lpt.
"Wo?" fragte er aufgeregt, denn er hatte seine Brille ver-
gessen.
"Einen Augenblick, Majest�t!" fl�sterte Herr �rmel. "So
k�nnen Sie doch die Leute nicht empfangen!" Und er half dem
K�nig ordentlich in den Schlaf rock hinein. Dann rannten sie
zusammen zum Schiff hinunter, und vor lauter Eile verlor der
K�nig einen schottisch karierten Pantoffel, so da� er humpelnd
unten ankam.
Nun, und dann gab es ein Begr��en und H�ndesch�tteln und
Umarmen, das �berhaupt kein Ende nehmen wollte. Lukas
machte den Kaiser von Mandala und K�nig Alfons den Viertel-
vor-Zw�lften miteinander bekannt, und Jim stellte Li Si vor,
und als endlich alle sich begr��t und vorgestellt hatten, gingen
sie in das Haus von Frau Waas zum Fr�hst�cken. Es wurde
nat�rlich so eng in der winzigen K�che, da� keiner sich mehr
umdrehen konnte. Aber einer so gl�cklichen Gesellschaft, wie
sie an diesem Morgen auf Lummerland beisammen war,
machte das nur Vergn�gen.
"Wo wart ihr denn �berall?" rief Frau Waas, w�hrend sie den
Kaffee in die Tassen go�. "Ich platze vor Neugierde. Was habt
ihr alles erlebt? Wer ist Frau Mahlzahn? Ist sie nett? Warum ist
sie nicht mitgekommen? Erz�hlt doch!"
"Ja, erz�hlen, erz�hlen!" riefen Herr �rmel und K�nig Alfons
der Viertel-vor-Zw�lfte.
"Nur Geduld!" wehrte Lukas schmunzelnd ab. "Das braucht
seine Zeit, alles zu erz�hlen."
"Ja", sagte Jim, "wenn wir gefr�hst�ckt haben, wollen wir
euch erst mal die Insel zeigen, die wir mitgebracht haben."

Das Fr�hst�ck dauerte nicht lange, denn nat�rlich waren


alle viel zu aufgeregt, um gro�en Hunger zu haben. W�hrend
sie zum Schiff hin�bergingen, sagte Frau Waas leise zu
Lukas:
"Ich habe das Gef�hl, Jim ist in der Zwischenzeit viel erwach-
sener geworden."
"Schon m�glich", meinte Lukas und paffte vor sich hin. "Er hat
ja auch eine ganz sch�ne Menge Abenteuer erlebt."

Die neue Insel war inzwischen von den Matrosen mit Anker-
ketten und Stahltrossen so dicht neben Lummerland festge-
macht worden, da� man mit einem Schritt hin�berspringen
konnte. Nat�rlich hatten sie auch nicht vergessen, was Lukas
ihnen aufgetragen hatte, n�mlich an der Stelle, wo jetzt das
kleine Eiland lag, vorher einige �ste von Korallenb�umen im
Meer zu versenken, wie es der Drache angeraten hatte. In ein
paar Jahren, wenn die B�ume bis an die Meeresoberfl�che
gewachsen waren, w�rde die neue Insel ebenso fest gegr�ndet
sein wie Lummerland.
Unter Jims F�hrung betrat die Gesellschaft den neuen Grund
und Boden und ging ein wenig darauf spazieren. Sehr viel Platz
war nat�rlich nicht da, aber der wenige, der da war, war daf�r
besonders h�bsch.
"Das ist die L�sung des Problems!" rief K�nig Alfons der
Viertel-vor-Zw�lfte in einem fort. "Wer h�tte aber auch an so
etwas gedacht! Nun brauche ich mir keine Sorgen mehr zu
machen! Zum erstenmal seit langer Zeit werde ich wieder in
Frieden schlafen k�nnen."
Und als Jim verk�ndete, da� er die Insel Neu-Lummerland
getauft habe, da kannte die Freude des K�nigs keine Grenzen
mehr. Mit vor Stolz ger�tetem Gesicht erkl�rte er: "Ich werde
mich in Zukunft, K�nig der Vereinigten Staaten von Lummer-
land und Neu-Lummerland' nennen!"
W�hrend sie wieder in das Haus von Frau Waas zur�ckgingen,
nahm K�nig Alfons den Kaiser von Mandala etwas beiseite
und schlug ihm vor, eine Telefonleitung zwischen Ping, der
Hauptstadt von Mandala, und Lummerland zu legen. Der
Kaiser fand diese Idee ausgezeichnet, weil sie dann auch
sp�ter, so oft sie wollten, miteinander sprechen konnten. Er
ging also zum Kapit�n des Staatsschiffes und erteilte ihm den
Auftrag, nach Mandala zu fahren und bei der R�ckkehr nach
Lummerland unterwegs ein langes Telefonkabel durch das
Meer zu legen. Das Schiff stach sofort in See, und der Kaiser
ging in die K�che von Frau Waas, wo die anderen inzwischen
um Jim und Lukas sa�en und gespannt zuh�rten, wie die
beiden von ihren Abenteuern berichteten. Sie erz�hlten alles
ganz ausf�hrlich, von der n�chtlichen Abreise auf der kalfater-
ten Emma angefangen bis zu ihrer R�ckkehr.
Immer wenn es besonders gef�hrlich und aufregend zuging,
dann wurde Frau Waas ganz bla� und murmelte nur:
"Ach du lieber Himmel!" oder "Du meine G�te!"
Solche Angst stand sie noch nachtr�glich um ihren kleinen Jim
aus. Der einzige Trost war f�r sie, da� der Junge ja gesund und
munter vor ihr sa� und da� also alles am Ende gut ausgehen
m�sse.

Etwa eine Woche sp�ter kam das Schiff zur�ck, und die
Matrosen hatten richtig das viele tausend Meilen lange Kabel
unterwegs ins Meer versenkt. Das eine Ende war an dem
diamantenbesetzten Telefon im Thronsaal des kaiserlichen
Palastes angeschlossen, und das andere wurde jetzt an dem
goldenen Telefon von K�nig Alfons dem Viertel-vor-Zw�lften
befestigt. Dann telefonierte der Kaiser zur Probe erst einmal
mit Fing Pong, ob auch alles in Mandala in Ordnung w�re. Ja,
es war alles in Ordnung.
Man war �bereingekommen, da� in vier Wochen die Verlo-
bung der Prinzessin Li Si mit Jim Knopf gefeiert werden sollte.
Und w�hrend der ganzen Zeit n�hte und arbeitete Frau Waas
abends an einer �berraschung f�r die beiden Kinder. Schnei-
dern war ja ihre besondere Leidenschaft.
Der Kaiser und Li Si wohnten w�hrend dieser vier Wochen mit
dem K�nig zusammen in dem Schlo� zwischen den beiden
Gipfeln. Das war nat�rlich etwas eng, aber sie schr�nkten sich
gerne ein, denn auf Lummerland war es einfach gar zu sch�n.
Nicht einmal das Schl��chen aus himmelblauem Porzellan, das
die kleine Prinzessin in den gro�en Ferien zu bewohnen
pflegte, konnte sich mit dieser Insel vergleichen.

Eines Tages war es soweit, die vier Wochen waren um. Der Tag
der Verlobung war gekommen. Als erstes bekamen die beiden
Kinder die �berraschungen, die Frau Waas f�r sie vorbereitet
hatte.
F�r Jim hatte sie einen himmelblauen Lokomotivf�hreranzug
geschneidert, genauso einen wie Lukas hatte, blo� kleiner.
Und nat�rlich war auch eine richtige Schirmm�tze dabei. F�r
die kleine Prinzessin hatte sie ein wundersch�nes kleines
Brautkleid gen�ht, mit einem Schleier und einer langen seide-
nen Schleppe. Nat�rlich zogen die beiden ihre neuen Sachen
sofort an.
Dann schenkte Li Si Jim zur Verlobung eine Tabakspfeife, so
eine wie Lukas hatte, blo� viel neuer und auch nicht so gro�.
Und Jim schenkte Li Si ein kleines, zierliches Rubbelbrett zum
W�schewaschen. Die kleine Prinzessin freute sich riesig, denn
so etwas hatte sie nat�rlich bisher nie in die Hand nehmen
d�rfen, wegen ihres hohen Standes, obwohl sie wie alle
Mandalanier f�r das W�schewaschen begeistert war.
Und schlie�lich gaben sie sich einen Ku�, und K�nig Alfons
der Viertel-vor-Zw�lfte erkl�rte im Namen der Vereinigten
Staaten von Lummerland und Neu-Lummerland, da� sie nun
verlobt seien. Die Untertanen warfen ihre H�te in die Luft,
und auch der Kaiser von Mandala schrie mit allen zusammen
aus Leibeskr�ften: "Das Brautpaar, es lebe hoch! hoch!
hoch!"
Und die Matrosen auf dem kaiserlichen Staatsschiff entz�nde-
ten einen gro�en B�ller, den sie eigens mitgebracht hatten,
und sch�ssen Salut und winkten und schrien Vivat, w�hrend
Jim und Li Si sich bei den H�nden nahmen und feierlich auf den
beiden Inseln herumzogen.
Das Fest ging den ganzen Tag fort. Nachmittags rief Fing Pong
an, um dem Verlobungspaar zu gratulieren. Alle waren ver-
gn�gt und ausgelassen. Nur Lukas schien noch auf irgend etwas
zu warten.
Als es Abend geworden war und die Dunkelheit hereinbrach,
wurden auf Lummerland und Neu-Lummerland Hunderte von
Lampions aufgeh�ngt. Und dann ging der Mond auf, und da
das Meer an diesem Abend ganz still und glatt war, spiegelten
sich all die bunten Lichter im Wasser. Ein unvergleichlicher
Anblick, wie sich denken l��t.
Frau Waas hatte sich f�r diesen Anla� ganz besondere M�he
gegeben und nicht nur Vanilleeis und Erdbeereis, sondern
auch Schokoladeneis gemacht. Und jeder mu�te zugeben, da�
es das beste Eis war, das er je gegessen hatte. Sogar der
Kapit�n, der doch weit auf der Welt herumgekommen war.
Und das wollte schon etwas hei�en.
Jim war gerade ein wenig an den Strand gegangen, um von hier
aus in aller Ruhe die Lichterpracht zu betrachten. Er stand
ganz versunken in den m�rchenhaften Anblick, da f�hlte er
pl�tzlich eine Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er drehte
sich um. Es war Lukas, der ihm mit dem Finger winkte.
"Komm mal mit, Jim", raunte er geheimnisvoll.
"Was is'" fragte Jim.
"Du wolltest doch immer eine Lokomotive haben, alter Junge.
Den passenden Anzug hast du ja schon", antwortete Lukas
schmunzelnd.
Jims Herz begann zu klopften.
"Eine Lokomotive?" fragte er, und seine Augen wurden
gr��er und gr��er. "Eine richtige Lokomotive?"
Lukas legte den Finger an die Lippen und zwinkerte Jim
verhei�ungsvoll zu. Dann nahm er ihn an der Hand und f�hrte
ihn zu der kleinen Bahnstation, wo Emma stand und schnaufte.
"H�rst du was?" fragte er.
Jim lauschte. Er h�rte nur das Schnaufen von Emma. Aber da
- t�uschte er sich nicht? Da war doch noch ein anderes, ganz
leises kurzes Zischen zu h�ren? Und jetzt klang es wie ein
leiser, hoher, kleiner Pfiff.
Jim blickte Lukas mit gro�en, fragenden Augen an. Lukas
nickte l�chelnd, f�hrte ihn zu Emmas Kohlentender und lie�
ihn hineinblicken.
Da sa� eine ganz kleine Lokomotive und schaute Jim mit
gro�en, dummen Babyaugen an. Sie schnaufte emsig vor sich
hin und stie� winzigkleine Rauch W�lkchen aus. Es schien
�brigens eine sehr gute kleine Babylokomotive zu sein, denn
sie versuchte schon sehr tapfer, sich auf ihren R�derchen zu
halten und zu Jim hinzurollen, wobei sie allerdings immer
wieder umfiel. Aber das beeintr�chtigte ihre gute Laune
durchaus nicht.
Jim streichelte die Kleine.
"Ist das Emmas Kind?" fragte er leise.
Er war tief ger�hrt.
"Ja," sagte Lukas, ."ich wu�te schon seit einer ganzen Weile,
da� sie eines kriegen w�rde. Aber ich habe dir nichts davon
gesagt, um dich zu �berraschen."
"Soll ich sie bekommen?" fragte Jim ganz atemlos vor
Gl�ck.
"Wer denn sonst?" antwortete Lukas und paffte. "Mu�t sie
eben gut pflegen. Sie wird bald gr��er werden. In ein paar
Jahren ist sie so gro� wie Emma. - Wie soll sie denn hei�en?"
Jim nahm sie auf den Arm und streichelte sie. Nach einigem
Nachdenken sagte er:
"Wie f�ndest du Molly?"
"Das ist ein guter Lokomotivenname", antwortete Lukas
nickend. "Aber leg sie jetzt wieder zur�ck. Vorl�ufig mu� sie
noch bei Emma bleiben."
Jim setzte Molly wieder in den Tender und ging mit Lukas zu
den anderen zur�ck und erz�hlte ihnen, was er bekommen
hatte, und nat�rlich wollten alle die kleine Lokomotive sehen.
Jim f�hrte sie hin und zeigte sie ihnen, und sie wurde allerseits
geb�hrend bewundert. Die kleine Molly merkte davon aller-
dings nichts, denn sie war inzwischen friedlich eingeschlafen
und nuckelte vor sich hin.
Ein paar Tage sp�ter fuhren der Kaiser und die kleine Prinzes-
sin nach Mandala zur�ck, denn Li Si sollte nat�rlich vorerst
noch bei ihrem Vater bleiben. Auch wollte die kleine Prinzes-
sin gern wieder in eine Schule gehen - in eine richtige,
nat�rlich, nicht in eine drachenhafte. Und so etwas gab es ja
auf Lummerland nicht. Aber die beiden Kinder konnten sich
so oft besuchen, wie sie Lust hatten, denn das Staatsschiff
segelte von nun an oft zwischen Lummerland und Mandala hin
und her. Au�erdem durften sie nat�rlich auch das Telefon
ben�tzen, wenn K�nig Alfons der Viertel-vor-Zw�lfte es nicht
gerade brauchte. Er brauchte es allerdings die meiste Zeit, weil
er ja nun diplomatische Beziehungen zum Kaiser von Mandala
hatte.
Auf Lummerland kehrte das alte friedliche Leben wieder ein.
Herr �rmel ging mit seinem steifen Hut auf dem Kopf und dem
Regenschirm unter dem Arm spazieren. Er war haupts�chlich
Untertan und wurde regiert. Er war eben nur so da. Genau wie
fr�her.
Lukas fuhr mit Emma �ber das kurvenreiche Gleis von einem
Ende der Insel zum anderen. Und manchmal pfiffen sie
zweistimmig, was sich sehr h�bsch anh�rte, besonders in den
Tunnels, weil es da hallte.
Jim war nat�rlich meistens mit der Pflege seiner kleinen Molly
besch�ftigt und hatte kaum noch Zeit, Herrn �rmel zu �rgern
oder von einem der Gipfel herunterzurutschen. Er wurde eben
langsam erwachsen.

An sch�nen Abenden aber sah man Jim und Lukas immer


nebeneinander an der Landesgrenze sitzen. Die untergehende
Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem
Licht eine goldene, funkelnde Stra�e vom Horizont bis vor die
F��e der beiden Lokomotivf�hrer. Und ihre Blicke folgten
dieser Stra�e, die in weite Fernen f�hrte, in unbekannte
L�nder und Erdteile, niemand konnte sagen, wohin. Und dann
sagte vielleicht der eine von ihnen:
"Wei�t du noch, damals bei Herrn T�r T�r? Ich m�chte
wissen, wie es ihm jetzt geht."
Und der andere antwortete:
"Erinnerst du dich noch, als wir durch die Region der 'Schwar-
zen Felsen' fuhren und vor dem 'Mund des Todes' alles
verloren schien?"
Und sie waren sich einig dar�ber, da� sie beide bald wieder
eine gro�e Fahrt ins Ungewisse unternehmen w�rden. Es gab
noch viele R�tsel, die sie erforschen mu�ten ... Und eines
Tages wollten sie auch herausbekommen, woher die Seer�uber
Jim Knopf geraubt hatten, als er noch ganz klein war. Aber
dazu mu�ten die beiden Freunde die wilden Dreizehn, die ja
noch immer die Meere unsicher machten, erst suchen und
besiegen. Und das w�rde ganz bestimmt keine Kleinigkeit
sein.
Und w�hrend sie Zukunftspl�ne schmiedeten, schauten sie auf
das Meer hinaus, und die gro�en und kleinen Wellen rauschten
dazu an den Landesgrenzen.

--- Das Ende ---

Scanner: Bloodronin
pdf2ascii: 5/2003

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