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Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
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Titel: Gebunden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–6
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 8 Teilen // Heft 1–8
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[1]

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.[1]
1.

An einem herrlichen Juliabend spazierte eine kleine Gesellschaft den breiten Weg entlang, der hinter der reizend gelegenen Stadt Thun in die Berge hinauf führt.

Es waren drei Herren und zwei Damen.

Ich kenne sie, sie sind meine Landsleute. Der Eine der Herren, den beiden Anderen an Jahren voraus und nicht leicht zu übersehen wegen seiner mächtigen Nase und den großen, klugen, zugleich gutmüthigen Augen, ist der Gerichtsrath Pfaff, ein Junggeselle, der sich zu Hause täglich an der Actenarbeit einige Stunden „die Beine verläuft“, seine Ferien aber zu weiteren Reiseausflügen zu benutzen pflegt, wohl der einzige Luxus, den er sich gönnt. Uebrigens reist er gern „mit Familie“, das heißt mit einem jungen „Collegen“, für den er die Kosten aus seiner Tasche bestreitet. Diesmal scheint er außer dem Referendar Hell, dem schlanken jungen Manne mit dem blonden Bärtchen und der Brille, auch dessen jüngeren Bruder, den Philologen, auf seine Rechnung genommen zu haben.

Die beiden Damen gehören also eigentlich nicht „zur Familie“; sie sind nur „unterwegs angetroffen“, übrigens aber nicht nur Bekannte, sondern entfernte Verwandte des Raths. Der verstorbene Mann der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame, Oberstlieutenant von der Wehr, war sein Vetter in irgend einem Grade, den näher festzustellen schwerlich der Mühe lohnt, und das sehr junge, hochaufgeschossene Fräulein mit dem langen, aschblonden Haare unter dem breiten Florentiner, Irmgard, ist dessen Tochter und einziges Kind. Sie wurden aus Gesundheitsrücksichten auf Reisen geschickt, sind vor etwa acht Tagen in Thun angekommen und haben dort, weil ihnen das Städtchen auf den ersten Blick ungemein gefiel, für längere Zeit Quartier belegt. Am Dampfbootsplatze haben sie den Gerichtsrath mit seinen Begleitern getroffen und ihn ohne Mühe vermocht, sich einen Ruhetag in ihrer Gesellschaft zu gönnen.

Ein richtiger Ruhetag scheint’s nun wohl nicht werden zu wollen. Die Sehnsucht der beiden jungen Herren, die zum ersten Male die Schweiz und überhaupt ein Bergland sahen, waren die Schneehäupter jenseits des Sees, und am liebsten hätten sie sicher gleich Vormittags die Reise ohne Aufenthalt zu Schiff fortgesetzt, um ihnen am Abend schon ganz nahe zu sein. Nun meinten sie, sich wenigstens „im Steigen üben“ zu müssen. Sie hatten es anfangs auf der mehr ebenen Straße für ihre Pflicht gehalten, der jungen Dame Gesellschaft zu leisten, wie sie sich aber auch abwechselnd bemühten, ein Gespräch in Gang zu bringen, das Fräulein antwortete immer möglichst knapp, schien für witzige Bemerkungen gar kein Ohr zu haben, lächelte bestenfalls sehr überlegen und war offenbar nur besorgt, die Würde ihrer fünfzehn oder sechszehn Jahre in Gegenwart der Mama und des Onkels gebührend zu wahren. Vielleicht hinderte sie auch das schwarze Kleid, das sie wie ihre Mutter trug, sich der Lustigkeit zu überlassen, mit der ihre Begleiter sie vergebens anzustecken suchten.

Die Brüder hatten daher die junge Dame aufgegeben und waren bald voraus, bald hinter den Uebrigen, bald seitwärts links über ihnen auf einem steileren Richtpfade, bald rechts eine Strecke

[2] hinab nach dem Seeufer zu. So waren sie an einer Reihe hübscher Villen vorübergegangen, und noch immer schien dieselbe nicht abbrechen zu wollen, wenn schon der Raum zwischen den einzelnen Häusern allmählich breiter wurde.

„Was halten wir uns immer auf der bequemen Straße?“ rief der Referendar endlich ungeduldig. „Wie wär’s, wenn wir einmal hier links abschwenkten und auf diesem reizenden Ziegenpfade aufstrebten? Er geht noch weit über den berühmten Jägerstieg an der Spitze unserer heimischen Wolfsschlucht. Erreichen wir jene hochgelegene Wiese, so lohnt uns sicher der prachtvollste Fernblick. Was sagen Sie dazu, meine Damen?“ Er war schon eine Strecke hinauf geeilt und sprach die letzten Worte von einem vorspringenden Steine wie von einer Kanzel aus. Sein Bruder folgte ihm auf dem Fuße.

„Ja, was sagen Sie zu diesen Sausewinden, beste Cousine?“ fragte der Rath lachend. „‚Nur um’s Himmelswillen nicht auf der bequemen Straße bleiben!‘, das ist Paragraph eins ihres Reisegesetzes, aber ich muß bekennen, daß man meist gut dabei fährt, wenn man sich ihnen fügt. Heute aber steht den Damen ein Veto zu, und ich werde dafür sorgen, daß es respectirt wird.“

Irmgard sah ihre Mutter an, neugierig, was sie wohl antworten werde. Es wäre ihr gewiß gar nicht so unlieb gewesen, wenn sie zugestimmt hätte.

Frau von der Wehr schien mit einem flüchtigen Blicke die Höhe schätzen zu wollen. „Ich möchte den jungen Leuten nicht das Vergnügen verkümmern,“ äußerte sie dann mit leiser, etwas leidend klingender Stimme, indem sie ihren Arm sanft aus dem des Rathes zog. „Folgen Sie Ihren Reisegefährten, lieber Cousin! Ich setze mich mit Irmgard auf diese Steinbank, und wenn’s uns zu lange währt, gehen wir langsam voraus nach der Stadt zurück.“

„Aber warum sind wir nicht mit von der Partie, Mama?“ fiel das Töchterchen, wie sich vergessend, lebhaft ein.

Das bleiche Gesicht der Mutter wandte sich mit dem Ausdrucke der Ueberraschung ihr zu. Irmgard wurde roth, senkte die langen blonden Augenwimpern und spielte mit dem silbernen Kettchen an dem Griffe ihres Sonnenschirmes. „Ich meinte,“ erläuterte sie halb verlegen, halb ärgerlich, „weil wir sonst – wenn wir allein sind – immer die allergewöhnlichsten Wege gehen und heute einmal Gelegenheit wäre, den See von da oben … Aber wie Du willst – es kam mir nur so.“ Sie biß die Lippe mit den kleinen Zähnen, sicher mit sich selbst unzufrieden, daß sie ihren Wunsch verrathen hatte.

„Wenn Du mich allein lassen willst, liebe Irmgard …“

„Ich bleibe,“ fiel Irmgard schnell und entschieden ein, indem sie sich zugleich der Steinbank näherte.

Der Rath hüstelte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wie wär’s, verehrte Cousine,“ äußerte er lächelnd, „wenn Sie mir erlaubten, Ihnen hier Gesellschaft zu leisten? Ich gestehe, daß es mich, in Voraussicht der morgenden Strapazen, wenig reizt, dem Himmel einige hundert Fuß näher zu kommen. Das junge Volk könnte ja nach Gefallen ausschwärmen und wird sich nach einer halben Stunde leicht zu uns zurückfinden.“

Frau von der Wehr bedachte sich ein Weilchen. „Willst Du die Herren begleiten?“ fragte sie, wohl einer Ablehnung gewiß.

Sie täuschte sich. „Sehr gern, Mama,“ antwortete das Mädchen. „Ich möchte einmal da hinauf. Vom See aus habe ich auf der Höhe ein Haus gesehen, das eine wunderschöne Lage hat. Wer dort wohnen könnte! – dachte ich mir. Und vielleicht ist’s oben gar nicht so reizend. Ich meinte nur, weil es so hoch und so ganz allein steht.“

„Gut, geh’ nur!“ sagte die Mutter.

Die jungen Leute waren bald auf der Bergstiege hoch über ihnen. Der Referendar jodelte lustig.

Frau von der Wehr und der Rath nahmen auf der Steinbank Platz. „Sind da meine kleinen Junggesellenersparnisse nicht trefflich angelegt?“ fragte Letzterer, hinaufhorchend. „Diese naturwüchsige Freude an der schönen Welt! Man fängt mit der Jugend noch einmal an zu leben. Sie sollten sich rasch entschließen, beste Cousine, uns in die Berge zu begleiten. Es ist gerade die mäßigste Jahreszeit für’s Berner Oberland.“

„Das wäre nichts für mich,“ antwortete Frau von der Wehr kopfschüttelnd. „Die geringste Anstrengung ermattet mich, und meine Stimmung ist meist so wenig heiter, daß ich es für meine Pflicht halten muß, mich möglichst in die Einsamkeit zurückzuziehen.“

„Ah! Bei Ihren dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahren!“ wendete der Rath mißbilligend ein. „Aelter können Sie kaum sein. Ich denke, Sie waren siebenzehn, als Sie heiratheten – gerade halb so alt wie mein Cousin, der sich doch noch mit Recht zu den jüngeren Herren zählte.“

„Ich bin leider weit über meine Jahre alt,“ entgegnete die Dame mit einem Seufzer, der durchaus aufrichtig klang.

„Man sieht’s Ihnen doch nicht an,“ meinte der Rath, sie mit seinen klugen und freundlichen Augen wohlgefällig musternd. Man hätte ihm zustimmen müssen.

„Darf ich ein offenes Wort sprechen, beste Cousine?“ begann Pfaff nach kurzer Pause wieder, da sie nicht antwortete und halb abgewendet mit der Spitze des Schirmes Figuren in den Sand zeichnete. „Sie machen sich zu viel Gedanken über Dinge, die nicht zu ändern sind. Alles hat seine Zeit, auch die Trauer um die Todten, und wenn man noch die besten Ansprüche an’s Leben hat –“

„Lieber Herr Rath!“

„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, gnädige Frau! Ich bin nun einmal im Zuge und will meine Weisheit loswerden. Gefällt sie Ihnen nicht, so werde ich’s für keinen Verlust erachten, in die Luft gesprochen zu haben. Hier ist gerade die rechte Zeit und der rechte Ort zu einer Erörterung dieser Art. Sehen Sie, hinab über den spiegelhellen See, in die Ferne zu den himmelhohen Bergen mit dem rosigen Weiß ihrer Schneespitzen! Ist das nicht ein Anblick, der das Herz weiter macht? Wozu sich verschließen gegen die Stimme eines Freundes, der’s gut meint?“

„Sie wissen nicht –“

„Ich weiß Alles, ich bedenke Alles. Sie haben ein trauriges Schicksal gehabt. Die besonderen Umstände waren nur zu sehr geeignet, in Ihrem weichen Gemüthe Eindrücke zu befestigen, die im Augenblicke für unauslöschlich gelten konnten. Aber sind sie’s denn wirklich für alle Zeit? Sollten sie’s sein? Mein Cousin war gewiß ein braver Mann, in seiner Art ein ungewöhnlicher Mann, und ich glaube gern, daß er Sie von Herzen lieb gehabt hat, so wenig er auch zu den zärtlichen Naturen gehörte, die ihr Gefühl leicht zu erkennen geben. Er ist als der tapfere Führer seines Bataillons in dem ruhmreichsten Kriege, den je die deutsche Nation geführt hat, auf dem Schlachtfelde von feindlichen Kugeln getroffen worden und nach schweren Leiden in Ihren Armen gestorben. Er hatte nach seinem einzigen Kinde verlangt, und Sie hatten Irmgard mitgenommen. Die sehr beschwerliche Reise durch Feindesland, immer mit der Befürchtung zu spät anzukommen, die Sorge um das Kind, der Anblick der Schlachtfelder, das traurige Wiedersehen im Feldlazarett, der Abschied … Weiß ich Alles? Bedenke ich Alles? Aber es sind Jahre darüber vergangen, und Sie sind zu jung, um für immer mit dem Leben abzuschließen. Wozu noch heute und selbst hier auf der Reise dieses schwarze Kleid, das recht absichtlich an das Betrübliche erinnert – wozu?“

Frau von der Wehr hatte sich vorgebeugt und mit dem Schirm einen kleinen Stein hin- und hergeschoben. Eine Thräne fiel auf die schwarze Spitzenmanschette an ihrer Hand. „Das schwarze Kleid ist mir nicht mehr ein Traueranzug –“ sagte sie leise.

„Und was sonst?“ fragte der Rath. „Darf ich’s wissen?“

„Es ist ein Kleid, das mich der beschwerlichen Aufgabe überhebt, täglich darauf zu denken, wie ich mich kleiden soll – es harmonirt durchaus mit meiner Stimmung, kommt meinem Bedürfniß entgegen, von dem heiteren Schwarm der Menschen gemieden zu werden, ist wirklich in Allem eins mit mir.“ Die schöne Frau seufzte schwer. „Sie können mir das nicht nachfühlen. Mein ganzes Leben …“

„Sprechen Sie sich aus!“ bat der Rath, als sie zögerte.

Sie schüttelte den Kopf. „Brechen wir ab davon! Ich erkenne Ihre gute Absicht an, mir eine Wohlthat zu erweisen – es steht nur nicht in meiner Macht …glauben Sie mir, es steht nicht in meiner Macht, sie anzunehmen. Sie können mich nicht verstehen.“

„Gut! ich dringe nicht weiter in Sie. Aber muß denn auch Irmgard empfinden wie Sie? Ein so junges Geschöpf … es ist unnatürlich. Warum geht auch Irmgard noch immer schwarz gekleidet?“

[3] „Es ist durchaus nicht meine Anordnung. Ich habe im Gegentheil alle meine Bemühungen angewendet – schon ein Jahr nach dem Tode des Vaters – sie zu einem Wechsel zu vermögen. Vergebens! Sie berücksichtigen nicht die besondern Umstände und die ganz eigene Natur des Mädchens. Mein Mann liebte seine einzige Tochter mit einer Zärtlichkeit, die sonst, wie Sie sehr richtig bemerkten, seinem Wesen fremd war. Seine soldatische Rauhheit, sein heftiges Aufbrausen, seine Strenge – nie äußerten sie sich gegen Irmgard; kein Wunder, daß ihm sein Kind eine schwärmerische Neigung entgegenbrachte. Während seiner Abwesenheit im Felde betete Irmgard stündlich für ihn – die Aufregung machte sie krank. Und dann die Nachricht von seiner tödtlichen Verwundung, die ihr nicht vorenthalten werden durfte, die Reise, der Anblick seines Krankenlagers, der letzte Kampf – er beschäftigte sich in den Stunden vor seinem Tode nur noch mit ihr, küßte sie wieder und wieder, hielt ihre Hand, als er hinüberging. Irmgard kann das nicht vergessen, und sie leidet auch nicht, daß man’s in Vergessenheit bringen will. Sie hat in sich religiöse Vorstellungen ausgebildet, die ihr eine Art von geistigem Rapport mit dem geliebten Todten ermöglichen, und sie würde mich für die liebloseste Seele halten, wenn ich hier Widerspruch versuchen wollte. Sie hat ein tiefes, aber auch verschlossenes Gemüth; es ist sehr schwer, durch Erziehung auf sie zu wirken, und nun in einem Alter, in dem von unserem Geschlecht die Mahnung zur Vernünftigkeit auch von den gutartigsten Naturen als ein Eingriff in das Allerheiligste der Idealwelt abgelehnt zu werden pflegt. … Lieber Cousin, ich bekenne mich gern als eine sehr schwache Mutter, aber hier würde auch eine strengere nichts ändern.“

Während so über Irmgard gesprochen wurde, stieg sie hinter den Brüdern her mit sicheren Schritten den ziemlich steilen Felsenpfad hinan. Die Bergwiese zog sich in einem langen, nicht sehr breiten Streifen um den dahinter höher aufstrebenden Fels hin. Ein guter Weg durchschnitt sie der Länge nach; er gewährte wahrscheinlich an einer anderen Stelle einen viel bequemeren Auf- und Abstieg. Auch hier fehlte es nicht an Häuschen, die zur Aufnahme von Fremden bestimmt sein mochten. Sie gingen an mehreren derselben vorüber. Und dort weit ab – nahe dem Felsvorsprung, auf den ein neuer Zickzackweg führte, dessen Windungen im Sonnenlicht sich scharf in die graue Masse zeichneten – lag auch die kleine Villa, anscheinend das letzte Haus. Es war wohl schon im vorigen Jahrhundert gebaut worden und nicht mehr im besten Stande. Das Wasser aus den zerbrochenen Rinnen hatte die Wände geschwärzt; über einem Eckfenster war die Wölbung eingesunken; die Stuckverzierung hatte sich hier und dort gelöst. Man hätte den Raum für unbewohnt halten können, wenn nicht zwei Fenster innen mit weißen Leinentüchern halb verhängt gewesen wären, eine Vorrichtung, die durchaus Jemand voraussetzte, der zu gewissen Tageszeiten die zu dreiste Sonne abhalten wollte. Uebrigens stand die Thür weit offen, wie zum Eintritt einladend.

Die Reisenden hielten ein Weilchen vor der Terrasse. Man hatte sich ein Ziel gesetzt und interessirte sich nun auch für dasselbe. Da sich Niemand an den Fenstern blicken ließ, wurden die jungen Herren dreister, schritten die Stufen hinauf und blickten in den offenen Flur, dann bald auch rundum durch die kleinen Scheiben in die inneren Gemächer hinein. Während Irmgard stehen blieb, verschwanden sie hinter der Rückseite des Hauses und tauchten an der entgegengesetzten Ecke wieder auf. Der Referendar zuckte sehr bezeichnend die Achseln, indem er zugleich die leeren Hände zeigte, und sein Bruder rief hinüber. „Keine Menschenseele! Das ganze Haus wie ausgestorben. Nicht einmal ein dienender Geist zu bemerken, den man zur Entschuldigung seiner Neugierde um ein Glas Wasser bitten könnte. Treten Sie nur dreist näher, mein Fräulein!“

„Aber ist denn da irgend etwas Bemerkenswertes zu sehen?“ fragte Irmgard.

„Vielleicht doch! In dem großen Zimmer, das schon ein kleiner Saal genannt werden kann, hat ein Maler sein Atelier aufgeschlagen. Es steht auch ein Bild auf der Staffelei, dessen Gegenstand man aber von außen nicht gut erkennen kann. Es scheint eine Thiergruppe vorstellen zu sollen.“

Dem Fräulein machte das einsame Haus nun erst recht den Eindruck des Geheimnißvollen. Ihre Phantasie arbeitete schon lebhaft, und es war ihr zu Muthe, als ob da irgend ein kleines Abenteuer erlebt werden müßte. Sie trat nun ebenfalls näher.

Auch die Thür nach dem Atelier war unverschlossen. „Zu stehlen ist da in der That nicht viel,“ bemerkte der Jurist, als sie Umschau hielten. In der Nähe des Fensters, jetzt hinter den Vorhang zurückgeschoben, stand die Staffelei; auf den Stühlen in der Nachbarschaft lagen allerlei Mal-Utensilien, auf einem Tische Blätter von verschiedener Größe mit Umrißzeichnungen. An den Wänden waren unregelmäßig Oel- und Aquarellskizzen mit Nägeln befestigt. Auf einem kleinen Tische unter dem in die Wand eingelassenen Spiegel stand eine große Cigarrenkiste ohne Deckel neben kleinen Figuren von Gyps und Bronze; es lagen darin beschriebene Zettel, Karten und dergleichen Papiere, die natürlich nicht näher in Augenschein genommen wurden.

Das Bild stellte eine Viehheerde dar, die bei heranziehendem Gewitter unter einem Felsvorsprunge Schutz suchte und den Platz schon von einer Gesellschaft vorsichtiger Reisender mit ihrem Führer besetzt fand, die hier im Trockenen den Regen vorüberziehen lassen wollten. Der Schreck der wunderlich costümirten Damen und andererseits das Stutzen und Ausweichen der schönen Thiere, das neugierige Vorschauen des alten Hirten und das ärgerliche Zuspringen eines kleinen zottigen Hundes, der sich für berufen hielt, den Seinigen Platz zu schaffen, war mit großer Lebendigkeit und Naturtreue ausgedrückt und zugleich recht humoristisch zur Erscheinung gebracht. Jede einzelne Figur gab zu Aeußerungen der Bewunderung Anlaß. „Das Bild wäre ich im Stande, auf dem Rücken bis in die Heimath zu schleppen,“ versicherte der Referendar, und Irmgard, die mittheilsamer geworden war, erklärte mit Kennerblick: der das gemalt habe, sei ein Künstler von Gottes Gnaden; sie hätte sich’s gleich gedacht, daß hier aus der einsamen Höhe kein ganz gewöhnliches Menschenkind hausen könne.

„Schade, daß uns seine interessante Bekanntschaft entgeht!“ meinte der Philologe.

„Nach seinem Bilde zu schließen, ein recht gemüthlicher Mann!“ bemerkte der Referendar dazu. „Aber es wird Zeit zu gehen.“

Irmgard zögerte. „Sollen wir uns nun so fortstehlen?“

„Wir haben uns ja ohne Erlaubniß eingeführt, mein Fräulein.“

„Umsomehr hätten wir Grund, auf gute Art zu erkennen zu geben, daß wir unsere Visite abgestattet haben.“

Der Referendar lachte. „Sie wollen, daß wir als wohlerzogene Europäer auch in dieser Kunsteinsiedelei keine Regel des gesellschaftlichen Anstandes unbeachtet lassen. Ja – ein Fremdenbuch liegt nicht aus; ich würde mit Vergnügen einen Namen eintragen, von dem noch Niemand weiß, ob er nicht einmal hochberühmt werden wird.“

„Sie haben doch eine Visitenkarte bei sich?“

„Ich –? Nein, wahrhaftig nicht. Zu Hause im Frack–“

Irmgard sah ihn ein wenig über die Achsel an. „Aber ich,“ betonte sie scharf im Gefühl ihrer Ueberlegenheit. „Ich weiß nur nicht, ob es sich schicken würde …“

„Aber warum sollte sich’s nicht schicken, höflich zu sein? Das ist ein sehr guter Gedanke! Kneifen Sie ohne Bedenken die vorschriftsmäßige Ecke Ihres Kärtchens ein und deponiren Sie dasselbe in diesem Cigarrenkasten, der zur Aufnahme von dergleichen Artigkeiten bestimmt zu sein scheint!“ Er zog sein Taschenbuch hervor, schrieb etwas hinein und riß die Seite aus. „Ich finde mich auf diese Weise mit meinen gesellschaftlichen Pflichten ab.“

„Das könnte genügen,“ wendete die junge Dame ein, das gestickte Täschchen mit den Visitenkarten unentschlossen in der Hand hin- und herwendend.

„Nein, das gilt nicht,“ rief der Referendar. „Ziehen Sie sich nicht zurück! Wir haben dieses kleine Abenteuer nun einmal gemeinsam bestanden und müssen nun auch gemeinsam aus diesem Cigarrenkasten heraus unsere Aufwartung machen.“

„Wer weiß, was er sich dabei denkt …“

„Ja – wenn Sie nicht den Muth haben, ihn denken zu lassen, was er will –“

„Ah! den Muth –?“ Sie zog die Schultern auf „Gut! ich thu’s.“ Sie warf das Kärtchen zu seiner Bleifederschrift.

Die Herren klatschten Beifall. Es schallte laut in dem großen, langen Gemache, von dem eben die letzten Strahlen der Sonne schieden. Irmgard sah sich scheu um und schritt nach der [4] Thür. „Nun aber rasch zurück und gerade aus hinunter!“ bat sie, „die Mutter wartet gewiß schon; bergab geht’s auch ohne Pfad.“ Während sie noch am Rande den passendsten Abstieg suchten, näherte sich auf dem Wiesenwege eine alte Frau dem Hause. Sie trug einen Korb am Arme, aus dem der Hals einer Flasche und das Blattwerk von Gemüse hervorschaute. Hinter ihr ging ein Knabe, der ein breites Weidengeflecht auf dem Kopfe balancirte, in dem sich Fische befanden. Sie sahen sich nach den Reisenden um, sprachen sie aber nicht an und verschwanden hinter dem Hause, zu dem sie wahrscheinlich gehörten.

In hellem Lachen ging’s hurtig bergab. Die auf der Steinbank hatten indessen schon verabredet, zu Wasser nach der Stadt zurückzukehren. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche des Sees. Nicht weit unter ihnen am Ufer lagen Böte. In wenigen Minuten waren sie erreicht.

Der Referendar ließ dem Schiffer nicht lange die Ruder; er wollte ihm beweisen, daß er auch „vom Wasser etwas verstehe“. Und wie man nun so auf leichtem Kahne über das weiche Naß hinglitt, eine rothgoldige Furche ziehend, und mit wonnigem Behagen die feuchtkühle Luft athmete und zu den leuchtenden Berghäuptern aufschaute, an denen die Schattenlinie höher und höher stieg, fing der Eine und Andere an etwas zu summen. Die Töne stimmten zusammen, und ohne Verabredung wurde eine bekannte Melodie vernehmbar. Die Ruder hoben und senkten sich im Tacte dazu.

Oben hinter den Fenstern der einsamen Villa ließ sich ein Lichtschein bemerken. Irmgard, die sich an ihrer Mutter Schulter gelehnt hatte, zuckte wie erschreckt. Sie hätte ihre Visitenkarte gern wieder in ihrem Täschchen gehabt.

2.

Der Maler war aus den Bergen zurückgekehrt, nicht lange nachdem seine alte Haushälterin mit dem Mundvorrath für die nächsten Tage eingetroffen war und ein Herdfeuer angefacht hatte, um ein frugales Nachtmahl zu bereiten.

Ein kleiner Bursche, in der Kleidung eines Sennhirten, trug ihm ein Reißbrett und den Malkasten. „Du kannst es morgen früh wieder abholen,“ sagte er ihm beim Abschied. „Ich bin mit eurer Lisi und ihrem prächtigen Kälbchen noch lange nicht fertig. Mindestens noch drei Tage brauch’ ich. Und Deiner Schwester lange Zöpfe und rothe Backen müssen auch auf das Bild – sag ’s ihr nur!“

Er war draußen stehen geblieben, während der Knabe sein Gepäck im Zimmer absetzte, nahm den breitrandigen Strohhut ab und trocknete die hohe kahle Stirn. So weit sich’s in der Dämmerung erkennen ließ, war er ein Mann in den Vierzigern, knochig und sehnig, ein recht struppiger, dazu ungleich beschnittener Bart umlief das Kinn; die dunkeln Augen lagen tief unter den vorgewölbten Stirnknochen. Er ging um’s Haus herum, klopfte an’s Fenster der Küche und rief hinein. „Ich bin zurück, Ursel. Ist meine Suppe bald fertig?“ – „Bald, Herr Werner,“ war die Antwort. Das Feuer flammte heller auf.

Der Maler zündete eine Cigarre an, lehnte sich mit der Schulter gegen den Pfosten der offenen Hausthür und blickte über den See hinaus. Eben ließ sich von dort her die Melodie der „Loreley“ vernehmen. Er zuckte mitleidig die Achseln. „Glückliche Menschen,“ murmelte er, „die nicht wissen, was es bedeuten soll, daß sie traurig sind. Sie wundern sich über ihre Traurigkeit und singen sie weg. Wenn die Wellen Schiffer und Kahn verschlungen haben, ist ihnen wieder leicht um’s Herz. Sie zahlen ihr Fährgeld und trotten vergnügt weiter. Närrisches Volk!“

Ursel rief ihn zum Essen. Er verzehrte sein frugales Mahl mit gutem Appetit und begab sich bald zur Nachtruhe.

Am anderen Morgen war Werner früh auf und beschäftigte sich mit dem Bilde auf der Staffelei. „Es fehlt doch der rechte Zug von Heiterkeit,“ sagte er, „den so etwas haben muß. Grimassen – Grimassen! Licht und Schatten thun’s nicht allein und das ‚treu nach der Natur‘ ebenso wenig. Wenn … ja, wenn! Pah! es wird auch so seinen Abnehmer finden. Fort damit, sobald die Farben getrocknet sind! Robert braucht Geld.“

Werner dachte an den Sohn seiner Schwester, den er unterstützte.

Als er dann vor dem Spiegel Toilette machte, das spärliche Haar über der knochigen Stirn glättete und den wilden Bart kämmte, fiel sein Blick zufällig auf den Kasten und seinen Inhalt von Papieren. Er hob das oberste Blättchen auf und las: „Hugo Hell, Tribunals-Referendarius – dankt für den unerwarteten Kunstgenuß.“ Werner wiegte verwundert den Kopf hin und her, und der Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Hugo Hell? Ich erinnere mich nicht … Aber gleichviel – er hat mein Atelier mit seiner Gegenwart beglückt und das Bedürfniß gehabt eine Spur seines Daseins zurückzulassen. – Ah! auch eine zierliche Visitenkarte.“

Der Maler hob sie auf und stutzte. „Von der Wehr?“ Er ließ die Hand über Stirn und Augen gleiten und sah wieder auf die Karte. „Von der Wehr – es steht da. Aber nicht Elisabeth von der Wehr – Irmgard. Vielleicht …“ er athmete schwerer – vielleicht ihre Tochter. Die Jahre vergehen rasch, wenn man sie nicht zählt. Ihre Tochter! Ich kann sie mir nur nicht vorstellen als – Mutter einer erwachsenen Tochter. Elise – das jugendliche Gesichtchen – die zierliche Gestalt … Werner schüttelte den Kopf; sein Blick fiel in den Spiegel. „Aber der da – der sieht heut auch anders aus. Die Stirn kahl, die Haut fahl …“ Er öffnete mit einem Schlüssel die Schieblade des Tisches und hob ein Bild in Medaillenform heraus. „Das konnten sie mir nicht nehmen – das war mein künstlerisches Eigenthum. So sah ich Dich – und so wirst Du in meiner Erinnerung leben bis an’s Ende meiner Tage.“

Er blickte mit dem Ausdruck innigster Betheiligung auf das Bild. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, das Gesicht wurde milde und freundlich. Nun hielt er die kleine Visitenkarte mit der zierlichen Namensunterschrift neben das Medaillon, als ob er beide vergleichen wollte, lächelte und schüttelte wieder den Kopf. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. „Wozu das – wozu? Es ist ja alles vorbei – längst vorbei. Es kommt nie mehr wieder. Wenn wirklich ihre Mutter … aber nein! Diese da ist’s doch nicht. Die Frau eines … was weiß ich? Die Mutter dieser jungen Dame, die ihre Visitenkarte – mir –“

Sein Gedankengang schien unterbrochen zu werden. „Mir“ – wiederholte er wie aufmerkend mit ganz anderer Betonung. Er behielt Bild und Karte in den Händen und schritt im Zimmer auf und ab. „Warum ließ sie mir diese Karte zurück? Wußte sie –? Sollte ihre Mutter ihr gesagt haben –? Aber wie konnte ihre Mutter meinen Aufenthalt erkunden? Niemand kennt mich hier, Niemand weiß … Unmöglich, ganz unmöglich! Ein zufälliges Zusammentreten der Namen – nichts weiter.“

Werner verschloß das Bild wieder. Das Blättchen mit der Bleifederschrift zog jetzt seine Aufmerksamkeit mehr als vorhin auf sich. „Referendar Hell – der hat sie jedenfalls hierher begleitet. Vielleicht der Bräutigam. … Was geht’s mich an? Neugieriges Touristenvolk, das sich hierher verirrte und …“

Ursel kam und meldete, daß der kleine Senne schon auf ihn warte.

„Ist gestern Jemand hier gewesen?“ fragte er.

Die Alte besann sich. „Wohl möglich, Herr Werner! Als ich aus der Stadt zurückkam, begegnete ich hier oben zwei Herren und einer jungen Dame.“

„Zwei Herren?“

„Wie ich sage. Sie wollten eben den Berg hinab und schienen mir vom Hause her zu kommen.“

„Der Eine der Herren war noch ein junger Mann –?“

„Der Andere auch.“

„So – so! Und die Dame?“

„Ja, beschreiben kann ich sie nicht; sie trug ein schwarzes Kleid …“

„Ein schwarzes Kleid … so, so! Ein schwarzes Kleid …“

„Kann der Martin nach dem Malkasten kommen?“

„Noch nicht, Ursel; ich bin noch nicht fertig; ich habe noch … ich werde ihn rufen.“

Der Maler lief unruhig durch das Zimmer. „Ein Zufall! Warum ein Zufall? Und was ist ein Zufall? Eine Verkettung von Umständen, deren Zusammenhang uns kurzsichtigen Menschen dunkel erscheint. Wenn man’s Schickung nennt … Vielleicht ist’s eine Schickung. Der Name mahnt –“

„Er blieb am Fenster stehen und drückte die Stirn gegen die Scheiben. Woran? An verlorenes Liebesglück, an eine zerstörte Jugend, an ein Leben voll Qual und Pein in der Entsagung. Daran! Nein, ich will nicht noch einmal Thorheit!“


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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 2, S. 21–26
Fortsetzungsroman – Teil 2


[21] Werner schien entschlossen und rief den Knaben herein, der mit dem Enkel der alten Ursel gespielt hatte. Aber es dauerte diesmal sehr lange, bis er die Sachen zusammenfand, und endlich, als der Junge schon bepackt war, nahm er sie ihm doch wieder ab und sagte: „Laß es für heute! Mir ist nicht ganz wohl. Komm’ morgen um diese Zeit wieder! Das für Deine Mühe!“ Er warf ihm ein Geldstück zu, so groß wie es der arme Bursche noch selten in der Hand gehabt hatte.

Es zog ihn doch hinab zur Stadt, sich Gewißheit zu verschaffen. „Ist Elise, ist Frau von der Wehr wirklich in der Nähe,“ monologisirte er nun aus einer anderen Tonart, „und war ihre Tochter hier in meinem Hause, warum ihnen feige aus dem Wege gehen? Nach so langen Jahren, unter so veränderten Umständen – wir werden einander sehr ruhig und gesetzt begegnen. Die gnädige Frau belächelt wahrscheinlich lange schon die Verirrung ihres kindischen Herzens, wenn sie überhaupt noch daran denkt. Ich habe sie nicht ausgesucht, aber wenn es sein soll – ich hätte den Muth, sie zu sehen. Neben dem Herrn Gemahl … gut! Auch das – um so besser! Am Ende ist doch eine Visite der anderen werth. Eine Visite – was weiter?“

Er machte zu steigender Verwunderung der alten Haushälterin sorgfältige Toilette und sagte, er wollte zur Stadt. So etwas mochte seit langer Zeit nicht passirt sein.

Werner lief mehr, als er ging. Der innere Zwang wurde so mächtig in ihm, daß er jeden weiteren Versuch einer Rechtfertigung vor sich selbst aufgab. Als er zum See hinabkam, fuhr in einiger Entfernung das Dampfboot vorüber. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf und eilte am Flusse hin nach der Stadt. Er erkundigte sich im Fremdenbureau nach Gästen des Namens von der Wehr. Es wurde ihm eine Pension genannt. In dem alleingelegenen Hause, an das sich ein schattiger Garten anschloß, antwortete man ihm: „Die Damen bewohnen die obere Etage, sind aber augenblicklich im Pavillon.“

Er war am Ziel.

Mit klopfendem Herzen durchschritt er den Laubgang. Die Glasthüren des Pavillons standen offen. Es saßen in demselben zwei schwarzgekleidete Damen. Die eine zeichnete und hielt dabei den Kopf über das Blatt gebeugt; die andere hatte eine Stickerei unter den Händen. Wie der Fremde sich mit immer rascheren Schritten näherte, blickte diese auf, erst flüchtig, dann plötzlich gespannt aufmerksam. Die Stickerei fiel ihr in den Schooß; sie erhob sich, trat schnell bis zur Schwelle und streckte dem Heraneilenden die Hände entgegen. „Max Werner!“

„Elise!“ Er ergriff ihre Hände und küßte sie stürmisch. „Sind Sie es, sind Sie es wirklich? O, daß ich diesen Tag erlebe!“

Irmgard hatte erschreckt aufgeschaut. Ein fremder Mann mit einem wilden Barte – und ihre Mutter empfing ihn so sonderbar erregt – und er erlaubte sich gar, sie beim Vornamen zu rufen? Frau von der Wehr schien wirklich die gewohnte Haltung ganz verloren zu haben. Ihr sonst so bleiches Gesicht war wie mit Purpur übergossen. Thränen standen ihr in den Augen, und sie mußte sich vor Rührung abwenden, als der Gast, selbst kaum eines Wortes mächtig, zitternd die Frage an sie richtete: „Darf ich denn wirklich eintreten – finde ich noch …“

Jetzt bemerkte sie die Unruhe, die sich ihrer Tochter bemächtigt hatte. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, winkte ihr zu und sagte: „Ein lieber Freund Deiner Mutter, Irmgard – einst ihr Lehrer – Herr Max Werner, Maler.“

Irmgard erinnerte sich nicht, den Namen schon gehört zu haben. Sie stand auf, verneigte sich kühl und klappte ihre Mappe zu, als fürchtete sie, er könnte bei seiner Dreistigkeit gleich eine Besichtigung ihrer Zeichnungen vornehmen wollen. Er aber betrachtete den aschblonden Kopf aufmerksam und hielt ihr die Hand hin. „Sie hätte ich kaum irgendwo verkennen können, mein Fräulein, die Aehnlichkeit mit Ihrem Herrn Vater ist erstaunlich,“ bemerkte er.

Irmgard sah nicht auf und wickelte die Bänder der Mappe um den Finger. In die dargebotene Hand schlug sie nicht ein.

„Aber wie erfuhren Sie,“ nahm die Mutter ablenkend das Wort, „daß wir –“

Der Maler nickte lächelnd, hielt aber den Blick auf Irmgard gerichtet. „Diese junge Dame thut, als ob ich ihr ganz fremd wäre,“ scherzte er, „und doch hat sie mir die erste Visite abgestattet, wofür ich ihr nicht genug dankbar sein kann.“

Irmgard schrak zusammen. „Ich, mein Herr?“

„Sie! Wenn Sie wirklich Irmgard von der Wehr heißen und wenn dies …“ er griff in die Brusttasche, „wenn dies Ihre Karte ist. Hoffentlich entgeht mir nun auch die Bekanntschaft Ihres Begleiters, des Referendars Hell, nicht, den ich mir als einen sehr liebenswürdigen jungen Mann vorstelle.“

Irmgard drückte die kleinen Zähne in die Unterlippe und maß ihn mit einem kriegerischen Blick. „Meine Karte – allerdings … es war sehr unbesonnen,“ stammelte sie, die Farbe wechselnd. „Sie also wohnen –“

„In dem stillen Hause oben auf dem Berge, das Sie gestern

[22] Abend mit einem Besuche beehrten. Ich merke nun wohl, daß Sie nicht ahnten, wen Sie durch dieses Kärtchen herabbeschwören würden. Machen Sie aber nur gute Miene zum bösen Spiel und nehmen Sie mit dem struppigen Menschen vorlieb, der sich Ihnen vorstellt!“

Er trieb den Scherz in dieser Weise weiter, um sich über seine eigene Beklommenheit hinwegzuhelfen, aber auf Irmgard verfehlte die leichte Art der Sprache ganz die gehoffte Wirkung. Sie hatte ihrer Mutter von dem Zurücklassen der Karte nichts gesagt und benahm sich nun wie ein Kind, das über einem dummen Streich ertappt wird und dem Angeber zürnt. Der Aerger trieb ihr Thränen in die Augen. „Warum ließ ich mich auch überreden!“ schmollte sie.

Ihre Mutter begriff nun den Zusammenhang. „Das hat sich wundersam gefügt,“ sagte sie leise, sehr wundersam. „Aber warum weinst Du, Närrchen? Herr Max Werner ist ja, wie ich Dir sagte, ein lieber Freund.“

Irmgard löschte mit den feinen Fingerspitzen die herabrollenden Thränen von der Backe fort. „Ich weine auch nicht,“ entgegnete sie trotzig, „es hat mich nur so erschreckt, weil ich Dir nicht … Ich gehe auf mein Zimmer. Hast Du etwas im Hause zu bestellen?“

„Nichts weiter, als daß ich das Frühstück hier im Pavillon aufgestellt wünsche.“

„Und wenn Sie die Güte haben wollten, mein Fräulein, mich Ihrem Herrn Vater zu melden,“ setzte der Maler hinzu, in der Meinung, eine Pflicht der gesellschaftlichen Höflichkeit nicht versäumen zu dürfen.

Das Mädchen blickte mit scheuer Verwunderung zurück. „Meinen Vater? Sie wissen nicht …“

Auch Frau von der Wehr schien peinlich berührt, sie legte die Hand auf den Mund, als ob sie um Schweigen bitten wollte.

Werner wurde erst jetzt auf die schwarzen Kleider der Damen aufmerksam. „Ach, mein Gott –“ stammelte er ganz verschüchtert, „sollte sich etwas ereignet haben, wovon ich in meiner Einsiedelei …“

Irmgard eilte fort, dem Hause zu. „Mein Mann wurde bei Gravelotte schwer verwundet,“ sagte Frau von der Wehr nach einer Pause mit so leiser Stimme, daß die Worte dem Maler kaum verständlich wurden; „er ist wenige Wochen darauf – verstorben.“

Werner griff an seine Stirn. „Todt!“ rief er. „Ihr Mann todt – und Sie sind Wittwe.“

„Nun schon seit Jahren.“

Er rieb mit der flachen Hand die Stirnhaut, als müßte er die plötzlich abgespannten Nerven durch ein äußerliches Reizmittel wieder zur Thätigkeit zwingen. „Seit Jahren,“ wiederholte er, „seit Jahren. Und ich wußte nichts – erfuhr nichts. Wie konnte ich auch? Ich hatte ja geflissentlich jede Verbindung – mit der Heimath abgebrochen. Seit meiner Schwester Tod – erhielt ich keinen Brief mehr von dort … mein Neffe stand im Kriege bei der Südarmee. Ich wollte – für Sie verschollen sein, Elise, um nicht Ihre Ruhe …“

Die schöne Frau senkte den Blick. „Sie hatten Ihren Zweck vollkommen erreicht,“ bestätigte sie. „Ich kannte Ihren Aufenthalt nicht, hätte Sie gar nicht unter den Lebenden gewußt, wenn nicht von Zeit zu Zeit auf Ausstellungen ein Bild mit Ihrem mir bekannten Malerzeichen –“

„Sie erinnerten sich meiner,“ rief er, „Sie hatten mich nicht vergessen? O, wie Sie mich heute empfangen haben – nein, nein! Sie hatten mich nicht vergessen!“

„Gewiß nicht,“ sagte sie, „die Glücklichen vergessen.“

„Und Sie waren - nicht …“

„Fragen Sie nicht – jetzt nicht!“

„Sie trauern noch immer …“

„Um ein verkümmertes Leben. Ich glaubte nie mehr froh werden zu können.“

„Ihr Gemahl –“

„Er war ein Ehrenmann und ist auf dem Felde der Ehre gestorben – Ehre seinem Andenken!“

„Ehre seinem Andenken – todt! todt – der Mann todt –“ Er schien in sich hineinzuträumen, bis sein Auge den Blick völliger Starrheit annahm. Dann raffte er sich auf. „Ich nehme Abschied für heute,“ sagte er; „und wenn ich auch morgen noch nicht den Muth haben sollte … lassen Sie mir Zeit, mit diesen Geschehnissen fertig zu werden, die auf einmal Alles – Alles – Leben Sie wohl! Ich sehe Sie wieder, Elise!“ Er stürmte fort.

3.

Werner hielt sich erst eine Weile auf dem Wege, der nach seinem Hause führte. Als er aber an der Felsecke vortrat, wendete er sich links und stieg einen steilen Bergpfad hinauf, ohne Ausruhen höher und höher. Die Mittagssonne brannte heiß aus das kahle Gestein. Sobald er den Wald erreicht hatte, gab er den Fußpfad auf und streifte wegelos durch das dichte Laubholz. Als er aus der oberen Lichtung hinaustrat, waren viele Stunden vergangen.

Nun zwang ihn die Ermüdung doch zur Rast. Er setzte sich auf einen Stein, stützte das Gesicht an die Hände und blickte träumerisch über die grünen Baumwipfel weg nach der Stadt in der Tiefe. Als die Sonne unterging, rief er ihr zu: „Morgen, wenn Du aufgehst, soll ein neues Leben beginnen.“ Er fand nicht weit vom Waldrande ein üppiges Mooslager, darauf legte er sich und überließ sich seinen Gedanken. Während seiner einsamen Wanderung war ihm vieles Vergangene wieder gegenwärtig geworden. Er hatte sich nun damit gleichsam von Neuem abzufinden gehabt.

Die Tage seines bisherigen Lebens, was waren sie anders als die alte, ewig neue Geschichte von gescheiterten Hoffnungen, von Liebesnoth und Liebesleid? Seine Wiege stand in einem saarländischen Bauernhause. Bei dem Pfarrer in dem Kirchdorfe Heiligen-Kreuz sah er einige Bilderwerke, die ihn zum Zeichnen anregten. Man wurde auf seine Talente aufmerksam und gab ihn zu einem Malermeister in Königsberg in die Lehre. Bald war er seinem Meister über den Kopf gewachsen. Der brave Mann dachte menschenfreundlich genug, seine Kunstfertigkeit nicht für sich auszunützen. Er stellte ihn in der Akademie vor und ließ ihm mehrere Stunden des Tages zu seinen Studien und Uebungen frei. Als er das Handwerk ausgelernt hatte, beschloß er, sich ganz der Kunst zu widmen. Es fehlte ihm bald auch nicht an eigenem Verdienste, da ihn der Director der Anstalt wohlhabenden Familien als Lehrer empfahl. So kam er in das Haus des reichen Kaufmanns Fränkel. Elise, die Tochter des Hauses, die er unterrichten sollte, war damals erst dreizehn Jahre alt, aber sie wurde sechszehn, während er die Stunden regelmäßig fortsetzte, und der Ton zwischen Lehrer und Schülerin blieb der vertraulichste, daß sie einander liebten, war Beiden gewiß, ehe noch diese gegenseitige Neigung sich in Worten ausgesprochen hatte. Erst als Elise in die Gesellschaft eingeführt wurde, regte sich bei Werner das eifersüchtige Gefühl, sich den Besitz der Geliebten zu sichern. Er sagte ihr Alles und beschwor sie, ihm für’s Leben anzugehören.

Sie ließ ihm keinen Zweifel, daß sie ihn liebe, aber doch bemächtigte sich ihres Wesens eine Bangigkeit und Unruhe, die ihn seines Glückes nicht froh werden ließ. Die Frage des ängstlichen Mädchens: „Was wird der Vater dazu sagen?“ brachte ihn ganz außer Fassung.

Als Max Werner bei dem Vater seinen Antrag anbrachte, lachte dieser ihn aus. „Sie sind ein Narr!“ Und nun bot Fränkel Alles auf, jede Beziehung seiner Tochter zu dem Maler abzuschneiden, und als dieser Versuch, wenn er auch äußerlich gelang, an der beharrlichen Liebe des Mädchens scheiterte, kam der reiche Mann eines Tages in die Werkstatt des Künstlers. „Gut,“ sagte er, „ich will nachgeben, wenn ich die Gewißheit erhalte, daß beide Theile sich über ihr Gefühl nicht täuschen. Lassen Sie meiner Tochter zwei Jahre Zeit, ihr Herz zu prüfen. Aber die unumgängliche Bedingung ist, daß bis zum Ablauf dieser Zeit jede Verbindung zwischen Ihnen und ihr aufhört. Unternehmen Sie eine Studienreise nach Italien – es wird mir eine Ehre sein, einem so lebensvollen Manne dazu die reichlichen Mittel zu gewähren.“

Werner durfte an dem Ernst der Worte Fränkel’s nicht zweifeln, leider glaubte er auch an die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung und stimmte zu. Er wußte ja jetzt, daß Elise ihn nicht aufgegeben hatte. So reiste er nun mit leichterem Herzen ab. Nach zwei Jahren – es war in Rom, wohin er sich gewandt hatte – erhielt Werner einen Brief: Elisens Verlobungsanzeige.

Er kannte ihren Verlobten, den Hauptmann von der Wehr; [23] er gehörte zu den stolzesten Officieren des Corps, aber auch zu den tüchtigsten, galt allgemein für einen schönen und trotz seiner rauhen Art liebenswürdigen Mann.

Werner’s gekränkter Stolz verbot ihm, an Elise zu schreiben. Mit den Jahren aber wurde seine Stimmung milder, mitleidiger. Er nannte nun nicht mehr Verrath, was nur Schwäche gewesen sein konnte; er stellte sich vor, wie schwer man dem weichherzigen Mädchen den Kampf gemacht habe. Aber er kehrte nicht mehr in die Heimath zurück; eine tiefe Melancholie bemächtigte sich seiner und trieb ihn unstät in den einsamsten Gegenden Italiens und Siciliens um. Er verzichtete auf jedes Lebensglück, malte nur, um sich den nothwendigsten Unterhalt zu erwerben und die unerträglich langsam schleichende Zeit zu tödten. Erst als seine Schwester sich mit der Bitte an ihn wandte, sich ihres begabten Sohnes anzunehmen, der zu studiren wünsche, erwachte wieder lebendiger in ihm der Thätigkeitstrieb. Es freute ihn, nun doch einen Lebenszweck zu haben. Er wanderte nach der Schweiz und entdeckte das einsame Haus; der Eigenthümer, dem es wegen seiner Entlegenheit von der Stadt keinen Nutzen gebracht hatte, überließ es ihm gern für eine geringe Summe. Seine Bedürfnisse blieben auch hier die bescheidensten. Aber er malte nun eifriger, um seinen Neffen unterstützen zu können, der ihn dann auch besuchte und wegen der Aehnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter seine ganze Neigung gewann.

Das waren die Schicksale des Malers gewesen, den Irmgard, jenem dunkeln Zuge des Herzens folgend, der mitunter so wundersam leitet, aus seiner Klause herausgestöbert hatte, um ihm ein ungeahntes Wiedersehen zu bereiten.

Langsam ging er in seine Einsiedelei zurück und schlief bis an den hellen Morgen. So wohl und frisch wie lange nicht, stellte er sich sogleich an die Staffelei und malte fleißig einige Stunden lang. Die alte Ursel hörte ihn singen und schüttelte verwundert den Kopf dazu. Das war ihr wieder etwas Neues an ihrem sonst so grämlichen Herrn.

Er hatte eigentlich erst am nächsten Tage wieder nach der Stadt gehen wollen. Nun, gegen Abend, überlegte er doch, ob er nicht schon ruhig genug sei, Elise wiedersehen zu können. Es geschah so ganz unabsichtlich, daß er vor dem Spiegel stehen blieb und sich mit einer Art von Neugierde betrachtete. „Alt und grau,“ klagte er mit selbstquälerischer Uebertreibung, „weit über meine Jahre alt und grau. Oder zähle ich falsch? Wäre ich wirklich alt – zu alt für mein junges Glück? Wenn früh der Herbst gekommen ist, was nützt dem welken Laub der Sonnenschein! Hat Alles seine Zeit – auch der Widerstand gegen die Zeit? Nein, noch will ich hoffen. Hoffnung ist Jugend.“

Er nahm wieder das Medaillonportrait aus der Schublade, trat an’s Fenster und betrachtete es mit liebevoll prüfenden Blicken. „Sie ist’s nicht mehr,“ murmelte er, „und ist’s doch noch. Dieses Auge, ja, ja, so schlag sie’s wieder auf, als sie mich freundlich begrüßte. Wie schön sie ist – und jetzt wie vornehm in ihrer ganzen Haltung!“ Das gab ihm zu denken. „Ob sie zurückkehren kann, wie ich? Ob sie damals wirklich nur dem Zwange folgte, als sie … Und dann war sie eines Andern Frau, und saß an seinem Sterbebette, und – und die Tochter! Vielleicht blieb ich wirklich nur – der alte Freund, der gekränkte Freund, dem sie nun milde begegnet, da sie sich ihm verschuldet weiß. Sie kann nicht empfinden wie ich. Und doch, dieses Auge, es leuchtete darauf eine Freude auf, die vom tiefsten Herzen kam. Muth – Muth!“

Er eilte hinab in die Stadt und kehrte erst spät in seine Klause zurück. –

Nun änderte sich seine ganze Lebensweise. Bald war er nur noch Schlafgast in seinem Hause. Wenige Morgenstunden brachte er arbeitend vor seiner Staffelei zu; den größten Theil des Tages verlebte er unten in der Stadt in der Gesellschaft der beiden Damen. Stundenlang saß er im Pavillon, sah Elise auf die Hand, wenn sie arbeitete, lauschte entzückt ihren Worten, wenn sie sprach, und studirte mit heimlichen Blicken ihr Gesicht, wenn sie schwieg. Dann begleitete er sie und Irmgard bei weiten Spaziergängen und bei Fahrten auf dem See. Sie wurden unzertrennliche Gefährten, und es schien sich ganz von selbst zu verstehen, daß jeder folgende Tag sein müsse, wie der eben vergangene.

Bei alledem gewöhnte sich Irmgard nicht leicht an den sonderbaren Menschen, der ihrer Mutter so auffallend zugethan war und von dem sie doch vorher nie gesprochen hatte. Je mehr Mühe er sich gab, dem scheuen und doch wieder so selbstständigen Kinde Vertrauen einzuflößen, desto eigensinniger zog sie sich von ihm zurück. Der erste Eindruck schien bestimmend bleiben zu sollen. Der Mann, der viele Jahre wie außer der Welt gelebt hatte und mit seinen Erinnerungen an eine Zeit anknüpfte, über die für sie ein undurchdringliches Dunkel gebreitet war, behielt ihr etwas unheimlich Räthselhaftes. Der Machteinfluß, den seine Persönlichkeit so sichtlich auf die Mutter übte, beängstigte ihr so leicht erregbares Gemüth.

Ihre Mutter war wirklich eine ganz Andere geworden. Die ernste, immer nachdenkliche, oft schwermüthige Frau, die mit dem Leben abgeschlossen zu haben schien, die sich nur noch als ein Werkzeug betrachtete, das schwere Loos ihrer Mitmenschen zu mildern und Fremder Glück zu fördern, zeigte sich nun heiter und unternehmungslustig, ermunterte Irmgard zum Frohsein, betheiligte sich lebhaft bei der Unterhaltung über die weltlichsten Dinge, scherzte und lachte gern. Unrd warum modelte sie nun gar ihren Anzug? Es war Irmgard ein Stich in’s Herz, als sie eines Morgens von ihrem Kleide die schwarze Halskrause trennte und sie durch ein weißes Krägelchen ersetzte. Als dann gar nach einigen Tagen ein farbiges Band folgte, wurde sie ganz irre an ihrer Mutter. Sie wagte nicht ihrer Befremdung Worte zu geben, aber sie hielt sich den ganzen Tag über von ihr fern, zeigte ein finsteres Gesicht und gab mürrische Antworten, wenn sie doch nicht ausweichen konnte.

Weitere Ausflüge wurden unternommen, Dampfschifffahrten über die Seen, Bergtouren in’s Oberland; mitunter war man Tage lang unterwegs. Immer war Max Werner ihr Begleiter und Führer. Was Irmgard ein wenig mit der Nothwendigkeit versöhnte, sich seine Gesellschaft gefallen lassen zu müssen, war die reiche Ausbeute von landschaftlichen Skizzen, die sie jedes Mal nach Hause zurückbrachte. Er wußte so sicher die Standpunkte zu bezeichnen, von denen eine günstige Aufnahme zu erwarten war, daß ihr viel öfter als früher etwas gelang. Hätte sie ihm dafür nur dankbar sein können!

Wiederholt kreuzten sie auch die Spuren des Gerichtsraths Pfaff und der beiden lustigen Brüder. Endlich traf man auch mit ihnen zusammen, als sie eben die letzte Station machten, um dann geradesten Wegs in die nordische Heimath zurückzukehren. Der Referendar hatte diesmal mit seiner Galanterie gegen das Fräulein noch viel weniger Glück als beim ersten Begegnen. Irmgard ließ ihn empfinden, daß er recht eigentlich ihre Mißstimmung verschuldete. Warum hatte er ihr auch zugeredet, das Kärtchen im Atelier des fremden Malers zurückzulassen? Den Grund ihrer üblen Laune erfuhr er natürlich nicht. Als die Reisenden klagten, daß die schönen Ferien so schnell zu Ende gegangen seien, sagte sie dem Gerichtsrathe, der sich nicht genug über seiner verehrten Cousine frisches Aussehen freuen konnte: „Ich wünschte, Mama entschlösse sich, mit Ihnen zugleich aufzubrechen und nach Hause zurückzukehren.“ Die Aeußerung fiel so laut, daß sie von Frau von Wehr nicht überhört werden konnte. –

Eines Vormittags kündigte Werner an, daß sein Bild diesen Morgen fertig geworden sei, und lud feierlich zur Besichtigung ein. Er hatte früher nie den Wunsch ausgesprochen, Elise möchte sein stilles Heim besuchen. Nun schien die Erklärung dafür gegeben: er hatte abwarten wollen, bis er ihr ein würdiges Werk seiner Hand zeigen könnte. Sie sprach ohne Rückhalt ihre Freude über die Einladung aus und sagte ihr Kommen schon für diesen Nachmittag zu. Das hatte er so vorausgesetzt. Es sei zu ihrem Empfange alles bereit, versicherte er lächelnd, nur müsse sie versprechen, nichts Anderes zu sehen, als das Bild. Irmgard klagte über Kopfweh. Sie wollte damit ihr Zurückbleiben entschuldigen. Aber ihre Mutter erklärte nun, daß dann der Spaziergang überhaupt unterbleiben müsse. Das wollte sie doch nicht zu verantworten haben.

So stiegen die Drei nun in die Berge hinauf. Werner war in der heitersten Stimmung. Er reichte Frau von der Wehr den Arm und führte sie die bequemsten Wege zur Höhe. Irmgard folgte abseits allein, eine kleine Mappe in der Hand, und betheiligte sich wenig am Gespräch. Auf der Wiese, nicht [24] weit von der Villa, bat sie um die Erlaubniß, zurückbleiben und das Haus mit seinen Umgebungen zeichnen zu dürfen; beim Rückwege werde man nicht auf sie warten wollen. Der Maler wählte ihr die günstigste Stelle neben einem großen Stein aus, der die Mappe stützen konnte, und gab ihr Weisungen, wie sie das Blatt einzurichten habe. Ihre Mutter widersprach nicht.

An der Thür stand die alte Ursel mit ihrem Enkel, Beide in Kirchentoilette. Sie eilte, nachdem sie die Dame begrüßt hatte, voran in’s Haus und öffnete ein Zimmer linker Hand gerade über dem Atelier. Es war ganz neu, aber im Geschmacke der alten Ledertapete, der Stuckarbeit an der Decke und des Parquets möblirt. Auf einem mit feinstem Linnen gedeckten Tische in der Mitte waren drei Couverts von buntem Porcellan hergerichtet; einige Flaschen Wein und Schüsseln mit kalten Speisen standen darauf, zum Gebrauche einladend.

Elise trat an’s Fenster und prüfte die Aussicht. „Wenn’s Ihnen genehm ist,“ sagte sie, „so setzen wir uns nicht eher zu Tische – falls diese gedeckte Tafel wirklich auf uns wartet – bis Irmgard mit ihrer Aufnahme fertig ist und uns folgt. Zunächst verlangt mich’s, Ihr Bild zu sehen; darin ist mir meine Tochter voraus, und bis ich das Versäumte nachgeholt habe, ist sie da. Dann dürfen wir auch einen Rundgang um die Terrasse nicht unterlassen; die Aussicht hier von halber Höhe ist bezaubernd.“

Er nickte ihr verständnißvoll zu und führte sie, ohne etwas zu entgegnen, nach seiner Werkstatt hinüber. Auch diese hatte ein verändertes Aussehen. Die Spinnengewebe waren aus den Ecken fortgefegt, Vorhänge von feinem Stoffe hingen in gefälligen Falten an Fenstern und Thüren; einige Bilder in Goldrahmen zierten die Wand; die Studien waren besser geordnet, und vor der Staffelei lud ein kleines Sopha zum Sitzen und behaglicheren Beschauen des neuen Werkes ein. Ueber das Bild auf der Staffelei war eine grüne Decke gehängt. Er bat „die gnädige Frau“ Platz zu nehmen und zog die Hülle dann fort. Ein Ausruf der freudigsten Ueberraschung belohnte ihn. Er galt nicht dem Gegenstande, den sie ja aus der Beschreibung kannte, sondern der lebendigen Wirkung der Malerei. Ihre Befriedigung darüber äußerte sich mit so warmem Enthusiasmus, daß an der Aufrichtigkeit ihres Gefallens kein Zweifel bleiben konnte. Dann folgten einige Minuten stillen Beschauens, und dann hatte das Auge so viele liebenswürdige Motive gefunden, daß nun der Mund nicht länger mit lebhafter Anerkennung der einzelnen Theile der Composition zurückhalten konnte.

Werner hatte anfangs seinen Platz neben der Staffelei behalten, er konnte so am besten von ihrem Gesichte den Eindruck seines Werkes ablesen. Nun aber war er längst schon einen Schritt vorgetreten und hatte, während er ihre Erklärungen bestätigte oder ergänzte, die Partien, auf die sie sich bezogen, mit der Hand umzirkelt und abgegrenzt. Je mehr das Bild sie fesselte, desto mehr beschäftigte es auch ihn. Er ließ es in allen Figuren wieder in sich und vor ihr entstehen, und dann stellte er sich in einige Entfernung davon hinter das Sopha, gleichsam um nun selbst nachzusehen, ob es gelungen sei. Er stützte sich dabei auf die Polsterlehne und berührte ihre Schulter. Das Blut rann heiß durch seine Adern zum Herzen.

„Was ich nicht am wenigsten bewundere,“ sagte sie, bald auf das Bild, bald mit einer reizenden Wendung des Kopfes zu ihm halb zurückschauend, „ist ein Umstand, den nur Ihre vertrautesten Freunde würdigen können.“

„Und der wäre?“ fragte er gespannt.

„Wer die traurige Lage kennt, in der Sie sich nach Ihrer eigenen Schilderung bis vor Kurzem befunden haben, das Gefühl der trostlosesten Verlassenheit, das Ihre Stimmung beherrscht haben muß, wird Ihren Muth bewundern, einen so heiteren Gegenstand zu wählen, und Ihre Fähigkeit, ihn so echt humoristisch auszuführen. Der Widerspruch ist nicht leicht zu beseitigen.“

„O doch!“ antwortete er, sich vorbeugend, sodaß er ihr Profil sehen konnte. „Es ist freilich ein sehr erklärlicher Irrthum, daß der Mensch und der Künstler im Moment des Schaffens dieselbe Person sind – aber doch ein Irrthum. In jedem Künstler liegt nicht nur ein bestimmtes Maß des Könnens, sondern auch eine bestimmte Anschauungsform, in der er leistungsfähig ist. Er giebt sie sich nicht – sie ist in ihm; sie beherrscht und zwingt ihn unter ihr Gesetz. Es giebt für ihn nur die Wahl, so zu schaffen, wie ihm die Bedingungen von der Natur vorgeschrieben sind, oder – gar nicht zu schaffen. Wohl ist eine Störung seiner rein menschlichen Empfindungen denkbar, die jeden Schaffenstrieb aufhebt – das ist ein entsetzlicher Zustand, der auch mir nicht fremd geblieben ist – aber wenn dieser Störung keine Zerstörung folgt, wenn eine Selbstrettung durch Thätigkeit möglich ist, dann wird auch jedes künstlerische Schaffen eine Befreiung von der Angst und Noth der den Menschen bedrückenden Stimmung, und leicht geschieht es, daß er gerade zum Gegensatz strebt, um sich leichter von sich weg zu helfen.“

„So ist es wieder ein schönes Vorrecht des Genies,“ antwortete sie, „Heilmittel zu besitzen, die uns gewöhnlichen Sterblichen nicht zu Gebote stehen.“

„Sollte denen, die Sie gewöhnliche Sterbliche nennen, der Weg zu diesem Heil wirklich verschlossen sein?“ fragte er. „Befreiung in meinem Sinne ist Hingabe, volle Hingabe an ein Anderes, Uebermächtiges. Wer das findet –“

„Sie haben Recht,“ fiel sie ein. „Auch wir können das Vergessen eigenen Leides suchen, indem wir mit ganzer Hingabe bemüht sind, die Thränen unserer Mitmenschen zu trocknen. Wohlthun – das ist etwas. Aber ist dies sein Grund, so bleibt doch immer etwas zurück: es fehlt die rechte Liebe.“

„Wie dort in der Kunst!“ rief er, „und nur die rechte Liebe schafft das Liebenswürdige. Glauben Sie mir, auch dem Bilde da fehlte vor einigen Wochen noch viel zu dem vollen Leben, das Ihnen jetzt daraus entgegenlacht. Alle die Linien und Farbzusammenstellungen waren da – ich hätte kaum noch etwas hinzuthun können. Und fertig ist’s doch erst geworden, seit ich Sie fand, Elise, und durch Sie wieder ein anderer Mensch geworden bin. Da erst sind diese hellen, lachenden Lichter aufgesetzt worden; da erst lernten alle diese Augen sprechen, aus geschickt gruppirten Puppen wurden Figuren mit dem künstlerischen Schein des Lebens.“

Die schöne Frau stand auf und trat näher an die Staffelei heran, als wollte sie das Einzelne genauer betrachten. Aber ihr klopfte stürmisch das Herz. Er hatte das Gespräch auf sie selbst hingelenkt – wo hinaus sollte es, wenn die Wogen seiner Empfindung höher gingen? Und Irmgard kam noch nicht.

Er folgte ihr mit einem Blick, der ganz sehnsüchtiges Verlangen war, die hohe Gestalt in sich hineinzuziehen. Die Hand krampfte sich auf der Brust zusammen. Entschlossen trat er an sie heran. „Elise,“ sagte er mit bewegter Stimme, „sollen zwei Menschen, die wissen, daß sie sich einander in allem Heiligsten angehören, auf der Erde für immer getrennt und glücklos hinwandern müssen? Sollen sie ihr kümmerliche Heil nur in der Kunst des Vergessens suchen? Giebt es für sie nicht eine Befreiung von allem Leid, das sie sich auf den Irrwegen des Lebens selbst zufügten, in der vollsten und reinstes Hingabe an einander? Sagen Sie nicht, es sei zu spät! Nie kommt zu spät, was eine ewige Dauer haben soll. Elise, wenn Sie mich doch liebten – doch –“

Er umfaßte sie und zog sie an sich. Sie widerstand nicht, lehnte die glühende Stirn auf seine Schulter und weinte still. „Man hatte mir ja gesagt, Sie hätten mich aufgegeben,“ schluchzte sie, „und ich mußte es wohl glauben, denn mein Vater … Nein, keine Anklage! Meine Schwäche war’s – meine Muthlosigkeit und dann meine Gleichgültigkeit gegen Alles, was über mich bestimmt wurde.“

„Keine Anklage!“ wiederholte er und küßte ihr die Thränen vom Auge fort. „Ich war geliebt – ich bin geliebt. Was dazwischen lag, ist verronnen wie ein wüster Traum. Fort mit der Erinnerung daran! Hier ist Glück; hier ist Leben.“

Er blickte, trunken von Seligkeit, in ihre schönen Augen, die nun ganz freudige Verheißung waren.

So standen sie eine Weile. Da wurde hinter ihnen die Thür geöffnet und gleich wieder, wie mit einem heftigen Ruck geschlossen.

Sie blickten erschreckt auf und zurück. Es war Niemand eingetreten. „Die Ursel wahrscheinlich,“ sagte er.

„Oder Irmgard.“

[26] „Irmgard!“ Er schien sich erst jetzt zu besinnen, daß zu ihrem Bunde noch ein Dritter gehörte. „Sie wird überrascht sein. Sie hat eine merkliche Scheu vor mir.“

„Vielleicht ahnt sie längst –“

„Ah, aber das wäre doch kein Grund –“

Elise schwieg. Sie war nachdenklich geworden. Sie gingen Arm in Arm im Zimmer auf und ab. Was hatten sie nicht Alles einander zu sagen! Eine Stunde verging; sie glaubten wenige Minuten allein gewesen zu sein.

Endlich beunruhigte sich Elise doch wegen Irmgard’s Ausbleiben. „Vielleicht wartet sie auf uns drüben,“ gab sie zu bedenken.

Sie war nicht dort. Nun traten sie auf die Terrasse hinaus. Ueber dem großen Stein war Niemand zu bemerken. Sie könne sich dahinter gestellt haben, meinte Werner, um noch eine andere Aufnahme zu versuchen. Sie gingen bis dahin, fanden aber die Stelle leer.

Ursel wurde befragt. Sie hatte gar nicht zum Fenster hinausgesehen, sondern sich nur mit ihrem Spinnrocken beschäftigt. Aber ihr Enkel behauptete, das Fräulein sei schon vor einer langen Weile in’s Haus eingetreten. Er hatte sie neugierig beobachtet, so lange sie zeichnete. Dann war auch er seinen Geschäften nachgegangen.

Elise beschlich eine Ahnung, die sie beunruhigte. „Ich muß hinab nach der Stadt,“ sagte sie. „Sicher ist Irmgard schon voraus, und es ist mir ängstlich, sie allein zu lassen.“

„Wir hätten zusammen so froh das Verlobungsfest feiern können,“ klagte Werner. „Es giebt heute einen Sonnenuntergang, wie wir ihn noch nie erlebt haben.“

„Man muß nicht zu viel auf einmal fordern,“ begütigte sie, sich zum Rückwege rüstend. „Ging uns doch nur eben die Sonne auf.“

„Ja, wenn Du’s so verstehst …“

Sie verabschiedeten sich von Ursel. „Ich denke, die gehen anders, als sie gekommen sind,“ knurrte die Alte. Sie revidirte das Eßzimmer. „Die liebe Gottesgabe ganz unberührt! Nun hat’s keinen Zweifel.“


Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 3, S. 41–44
Fortsetzungsroman – Teil 3


[41]

4.

Irmgard war mit ihrer Skizze unzufrieden gewesen. In der Umrißzeichnung sah das Haus so gewöhnlich aus, es fehlte ihm das, was es ihr beim ersten Besuche so interessant gemacht hatte, und was wohl mehr mit der Stimmung, als mit dem Auge zu erfassen war. Diese Stimmung fehlte heute. Sie hatte nach einigen vergeblichen Versuchen durch Andeutungen von Licht und Schatten eine mehr charakteristische Wirkung hervorzubringen, das Blatt in die Mappe geworfen und war nach der Villa gegangen. Da sie den Eingang zum Atelier kannte, hatte sie nicht Bedenken getragen, die Thür zu öffnen. Da standen –

Ein furchtbarer Schreck lähmte ihr im Augenblicke die Besinnung. Sie hatte etwas gesehen, wofür es in ihrem Fassungsvermögen gar keine Stelle gab: Ihre Mutter in den Armen eines fremden Mannes –! Dieses Mannes –! ihre Mutter! Wie von einem Schlage vor die Stirn getroffen, trat sie zurück und zog die Thür zu, daß sie geräuschvoll in’s Schloß fiel. Einer Ohnmacht nahe, stand sie eine Weile im Flure, hastig athmend, bald bleich, bald roth. Wachte sie wirklich? War das eine gespenstische Vision gewesen? Sie fühlte einen heftigen Schmerz in der Brust – ein Stechen und Nagen. Es war ihr ein Leid geschehen – das Herz wußte es.

Ihr Blick heftete sich noch immer auf die Thür. Da hinein durfte sie nicht. Die Phantasie malte ihr noch einmal das Bild, das sie so tödtlich erschreckt hatte. Der Kopf schwindelte ihr; sie schwankte seitwärts und sank mit der Schulter gegen die Wand. Aber es war ihr, als ob Jemand hinter ihr rief: fort - fort! keine Secunde länger in diesem Hause! – Sie raffte sich mit aller Kraft auf und eilte über die Wiese hin. Ohne umzuschauen lief sie bergab, bis sie die Landstraße erreichte. Ihre Brust keuchte, aber ohne Aufenthalt setzte sie ihren Weg fort. Wer sie sah, mußte sie auf der Flucht glauben. Erst in der Stadt mäßigte sie ein wenig den Schritt.

In ihrer Wohnung angelangt, eilte sie sofort auf ihr Zimmer und schloß hinter sich die Thür. Der heftige Weinkrampf, der sie befiel, brachte nur Erschöpfung, nicht aber Erleichterung.

Als ihre Mutter nach Hause kam und an der Thür horchte, hörte sie ihr leises Schluchzen. Sie wollte zu ihr, konnte jedoch nicht öffnen. Sie klopfte an, erhielt aber keine Antwort.

Werner wartete im Pavillon. Elise bat ihn, sich für heute zu verabschieden. Irmgard scheine sehr unwohl zu sein; sie würde doch nicht Ruhe haben, außer in der nächsten Nähe des Kindes. Es sei auch besser, sie erführe erst von ihr, was vorgegangen, oder wenigstens die näheren Umstände. „Ich fürchte, sie hat vorzeitig entdeckt,“ setzte sie hinzu, „was sich ihr nur nach gehöriger Vorbereitung hätte enthüllen sollen.“ Er konnte nicht begreifen, was dabei zu fürchten sei. Man brauche doch nur ein Wort zu sprechen. Er hätte am liebsten mit Elise ein kleines Boot bestiegen und sich mit ihr auf den See hinausrudern mögen. Mit ihr allein in stiller Mondnacht auf dem Wasser! Das hatte er immer in Gedanken gehabt beim Gange am Ufer entlang und wohl auch ausgesprochen. Nun mußte er sich gleich vom ersten Tage seines jungen Lebensglückes einen Abzug gefallen lassen. „Ich habe Pflichten,“ sagte sie, als er zögerte; „wenn ich Dir gehören soll, mußt Du sie mit übernehmen.“

„Ich will ihr ja auch der zärtlichste Vater sein,“ entgegnete er. „Aber warum kann sie nicht froh sein mit den Fröhlichen? Sage ihr –“

„Gute Nacht, Liebster, und komm morgen früh. Ich hoffe, es ist dann Alles gut.“

„Was könnte denn nicht gut sein?“

„Geh’ nur! Du begreifst es doch nicht.“

Sie geleitete ihn durch den Garten, drückte seine Hand und rief ihm noch von der Treppe her ein leises Lebewohl nach.

Elise verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Sie hatte wieder und wieder bei Irmgard angeklopft – vergeblich. Die Thür wurde nicht geöffnet. Sie gab es nun auf, ihre Tochter diesen Abend noch zu sprechen, aber sie beschloß wach zu bleiben, wie bei einer Kranken. Immer wieder von Zeit zu Zeit horchte sie an der Thür, das Ohr am Schlüsselloche. Lange noch ließ sich das leise Schluchzen vernehmen. Dann wurde es still innen. Aber gegen Morgen, vielleicht nach kurzem Schlafe, wurde wieder der klagende Laut deutlich hörbar. Die beängstigte Mutter glaubte nun nicht länger zögern zu dürfen. Sie verlangte Einlaß. Als auch darauf keine Antwort erfolgte, drohte sie, die Thür öffnen zu lassen. Nun vernahm sie schleppende Schritte; der Schlüssel wurde umgedreht. Als sie eintrat, wendete sich Irmgard mit einem Schrei ab, warf sich wieder auf das Bett und drückte das Gesicht in die Kissen. Die besorgte Frau ging zu ihr, setzte sich auf die Leiste des Bettgestelles und berührte ihre Schulter leise mit der Hand. „Was ist Dir geschehen, Kind?“ fragte sie.

[42] Das Weinen wurde heftiger.

„Sage mir Alles, Kind, was Dich so ungewöhnlich bewegt hat – gewiß wird Dir dann leichter werden.“

Irmgard schwieg beharrlich.

„Hast Du kein Vertrauen zu mir – Deiner Mutter?“

„Habe ich denn noch eine Mutter?“ fragte das Mädchen schluchzend und mit schmerzlichstem Ausdrucke.

„Weshalb zweifelst Du daran?“

Wieder blieb die Antwort aus.

„Wenn Du Dich verletzt glaubst, Kind – ist es nicht besser, sich offen auszusprechen, als sich so unvernünftig dem Kummer hinzugeben? Worüber hast Du Dich zu beschweren?“

„Ach! es läßt sich ja gar nicht sagen … nicht einmal zu Ende denken.“

Elise suchte sie aufzurichten. „Sieh’ mich an!“ sagte sie. „War ich Dir nicht immer eine gute und treue Mutter? Kannst Du das nun so plötzlich vergessen haben?“

Irmgard hielt die Hände auf die Augen gedrückt; zwischen den feinen Fingerchen quollen die Thränen hervor. „Ich kann Dich nicht ansehen,“ rief sie, „ich sehe immer Einen neben Dir …“ Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. Nicht ohne Widerstreben ließ sie den Kopf an die mütterliche Brust lehnen.

„Ich vermuthete das Richtige,“ nahm nach kurzem Schweigen die Mutter wieder das Wort. „Es hat Dich gestern erschreckt, mich und den Maler Werner – so nahe verbunden zu sehen. Ich bin meiner Tochter eine Erklärung schuldig. Freilich sollte sie kaum noch nöthig sein. Es war wenige Minuten vor Deinem Eintreten zu einer Aussprache zwischen uns gekommen – wir waren ein Verlöbniß eingegangen.“

„Und - was soll daraus werden?“

„Du fragst sonderbar, Kind.“

„Ich frage nur, damit Du siehst – daß es – ganz unmöglich ist.“

„Was wäre unmöglich?“

„Mutter! Und mein Vater?“

„Werner wird Dich lieben wie ein zweiter Vater.“

Irmgard machte sich mit einer leidenschaftlich heftigen Bewegung los und richtete sich auf. „Ich will aber keinen zweiten Vater haben,“ rief sie, „ich kann keinen zweiten Vater haben – er soll mich nicht lieben, denn ich – ich – ich hasse ihn. O mein Gott, mein Gott!“

„Du wirst ruhiger und verständiger darüber denken lernen.“

„Nie, nie, nie! Mutter – wenn das geschieht … ich hoffe, ich würde es nicht erleben. Aber wenn Gott nicht so barmherzig sein wollte, mir einen raschen Tod zu schenken – ich müßte mich von Dir trennen und ihn irgendwo in der Fremde erwarten. Ich – könnte Dich nicht mehr wie meine Mutter ehren und lieben.“

Frau von der Wehr sah finster vor sich hin. „Das sind recht unkluge Aeußerungen, Kind,“ sagte sie. „Mit Kummer bemerke ich, daß Du Deine Empfindungen überspannst und Dir dadurch die Versöhnung mit einem Ereignisse erschwerst, das Dir wohl in freundlicherem Lichte erscheinen könnte, wenn Du – nicht nur an Dich selbst denken möchtest. Deiner Mutter Glück –“

„Denke ich an mich selbst?“ fiel das Mädchen schluchzend ein. „Nein, nein, nein! Gott weiß es, der in unsere Herzen sieht und dem sich nichts verbirgt. An meinen Vater denke ich – an meinen Vater! Und an den solltest auch Du denken, Mutter. Dein Glück! – Kannst Du glücklich sein, wenn Du den Platz, den er in Deinem Herzen hat, einem anderen Manne einräumst? Kannst Du glücklich sein, wenn Du sein Andenken nicht treu bewahrst? Weißt Du denn nicht, daß der Tod die Menschen nicht scheidet – daß er im Himmel lebt und Deiner in Liebe harrt? Mutter – Mutter! Wie willst Du einmal ihm drüben begegnen?“

Elise lächelte. „Er ist ein seliger Geist und ganz in Gott, mein liebes, frommes Kind. Der Erde Freude und Leid kümmert ihn nicht mehr, und wenn wir zu ihm kommen werden, werden auch wir alles Irdischen ledig sein. Mann und Weib, Vater und Kind – das gilt drüben nicht. Geist im Geiste sein, Licht im Lichte – das ist unsere Hoffnung.“

Irmgard schüttelte ablehnend den Kopf. „Nein, so fasse ich’s nicht,“ antwortete sie. „Lebt er nicht in uns? Beglücken wir ihn nicht durch unsere Liebe? Betrüben wir ihn nicht durch jeden Gedanken, der unser Herz von ihm ablenkt? Kannst Du ihn in Dir sterben lassen, Mutter?“

Sie warf sich ungestüm an der Mutter Brust und hielt sie krampfhaft mit den Armen umschlungen, als könnte sie so ihre Flucht hindern. Frau von der Wehr erwiderte ihre Liebkosungen, aber nicht in derselben leidenschaftlichen Weise; sie wollte nur beschwichtigen, beruhigen. „Du weißt nicht Alles,“ sagte sie. „Max Werner war mir schon lange mehr, viel mehr, als Du ahnen konntest.“

Irmgard hob den Kopf und sah sie mit ganz verstörten Augen an. „Wie? Lange schon? Du hast ihn ja doch nicht gesehen seit meines Vaters Tode bis zu dem Tage, als ihn meine Unvorsichtigkeit hierher lockte. Wie kannst Du sagen –“

„Nicht seitdem, Kind, aber lange bevor ich Deinen Vater –“

„Wie? Du hättest diesen Mann, der Dein Lehrer war –“ Sie drückte die Hand auf die Stirn. „Ich verstehe Dich wohl nicht recht. Ich bin ganz verwirrt – o, mein armer Kopf! Du liebtest meinen Vater, deshalb wurdest Du seine Frau. Wie hat Dir ein Anderer vorher etwas sein können, was er Dir jetzt noch sein soll?“

„Und doch!“

„Aber dann wäre ja Alles Lüge, Mutter, dann … Nein, um Gotteswillen, nein! Laß Dich erbitten, Mutter – thu’s nicht!“

Elise preßte die Lippen gegen die Zähne. „Irmgard,“ begann sie nach einer Weile ernst, „ich hätte Dich gern bei dieser Angelegenheit mehr wie eine Freundin behandelt, der ich ein herzliches Vertrauen schenke, als wie ein Kind, dem ich meine Entschlüsse ankündige und von dem ich Gehorsam erwarte. Aber ich sehe ein, daß ich Dich für reifer und verständiger hielt, als Du bist. Aus Vernunftgrunde willst Du nicht hören; aus der Traumwelt hinauszutreten, in der Du befangen bist, und die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, lehnst Du ab; mit maßloser Leidenschaftlichkeit ergiebst Du Dich Deinem Kummer – zum Richter über Deine Mutter wirfst Du Dich auf. Wie kannst Du erwarten, daß ich mich Deiner Unvernunft, Deinem kindischen Trotze füge? Was ich lange, lange gelitten habe, das weißt Du nicht. Und nun mein Schicksal sich freundlich wendet, willst Du Dich drohend mir in den Weg stellen und mich in’s Leid zurückscheuchen? Das wird Dir nicht gelingen. Ich habe nicht unbedacht gehandelt, und so nimm denn das Geschehene als etwas Unwiderrufliches! Sei mein gutes Kind – füge Dich mit mildem Sinne in das, was Dein trotziges Widerstreben vergebens zu wenden versuchen würde!“

Irmgard rang die Hände. „Wenn ich’s könnte, Mutter!“ rief sie, „aber ich weiß es: Dein Hochzeitstag wird mein Todestag sein.“

Frau von der Wehr stand auf und ging nach ihrem Zimmer zurück, sich noch einige Stunden Ruhe zu gönnen. Sie fühlte, daß die Fortsetzung des Gesprächs jetzt ganz nutzlos sein müßte, nur das Gemüth des armen Kindes noch mehr erbittern könne. Ihr Gram mußte sich erschöpfen; da er sich so heftig äußerte, war Hoffnung, daß er bald der ruhigeren Ueberlegung Raum lassen werde. Sie bereitete sich aus dem Sopha eine Lagerstätte und schlief ein, als sie Irmgard nicht mehr weinen hörte.

Sie wurde durch die Meldung geweckt, daß Herr Max Werner im Pavillon warte. Er schickte ihr einen Strauß frischer Feldblumen, die er am Morgen gepflückt hatte, nachdem er das Boot verlassen. Sie drückte das Gesicht tief hinein und labte sich an dem würzigen Geruche. Irmgard lag ganz still auf dem Bett. Sie trat zu ihr und beobachtete die Schlafende, die zum Erschrecken bleich war; die Augenlider schienen nur unvollkommen zu schließen und wie durchsichtig über den dunklen Sternen zu flimmern. Die Adern an den Schläfen pulsirten sichtbar; die Lippen und die Hände zuckten mitunter, als ob sie durch eine schmerzliche Berührung aufgeschreckt würde. Die Mutter nickte traurig: „Mein armes, armes Kind! Was mich so unnennbar glücklich macht, ist Dir das schwerste Leid.“

Wernner fand sie zu seiner Ueberraschung ernst und bekümmert. Er erfuhr, was vorgegangen war, und wurde nun selbst einen Augenblick nachdenklich, meinte dann aber, man müsse eine so innerliche Natur sich selbst überlassen, ruhig seinen Weg weitergehen und auf den Anschluß warten. „So eine junge Seele hat ihre Ideale,“ sagte er, „und meint, das Leben danach [43] formen zu können. Wenn nun das Leben sich nicht fügen will, scheint es plötzlich allen Werth verloren zu haben. Das richtige Verhältnis findet sich mit der Zeit von selbst.“

Elise ließ sich gern überreden. Nach einigen glücklichen Stunden, in denen mehr von der Zukunft als von der Vergangenheit gesprochen wurde, ging sie hinaus, nach Irmgard zu sehen, und Werner begleitete sie. „Stellen wir uns nur gleich so vor,“ rieth er, „wie sie uns nun immer vor Augen haben soll: als ein Paar, das untrennbar zusammengehört. Jedes vorsichtige Ausweichen kann einzig und allein die Aussöhuung erschweren und zu neuen Kämpfen ermuthigen. Was überwunden werden muß, überwindet sich am leichtesten durch eine einzige kräftige Anstrengung, die durch die Umstände gefordert wird. Man muß sie schnell herbeiführen.“

Aber er täuschte sich. Kaum vernahm Irmgard, die aufgestanden war, seine Stimme im Vorzimmer, als sie wie ein gescheuchtes Reh floh und nach wenigen Schritten mit einem gellenden Aufschrei zu Boden stürzte. Ihre Stirn blutete. Durch Umschläge von kaltem Wasser aus der Ohnmacht erweckt, fiel sie in ein nervöses Zittern, das von den Händen ausging und sich bald dem ganzen Körper mittheilte. Sie hielt die Augen fest geschlossen. Werner suchte sie durch freundliche Vorstellungen zu beruhigen. „Fort – fort – fort!“ waren die einzigen Worte, die sie sprach und die sie immer wiederholte.

Elise zog ihn sanft hinaus. „Wir werden sie tödten,“ sagte sie dumpf.

Gegen Abend stellte sich ein heftiges Fieber ein mit Erscheinungen, die zu den schwersten Besorgnissen veranlassen mußten. Sie verlor minutenlang die Besinnung und phantasirte. Der Arzt wurde gerufen, er kam vor Nacht noch einmal und brachte einen Collegen mit. Sie schienen die Krankheit sehr ernst zu nehmen. Kein Zweifel: ein schweres Nervenfieber war im Anzuge.

Schon am nächsten Tage verhehlten die Aerzte nicht, daß Gefahr für das Leben sei. Sie steigerte sich von Stunde zu Stunde. Fortwährend sprach Irmgard mit ihrem Vater; sie gab ihm die zärtlichsten Namen und bewegte die Lippen, als ob sie ihn küßte. Ihre Mutter nannte sie nicht. Die letzten Ereignisse schienen ganz aus ihrem Gedächtnisse entschwunden, aber manchmal putzte sie sich, wie zu einem Fest, mit Bändern und Blumen – und dann war’s ein Todtenfest. „Sei nicht traurig!“ sagte sie oft, „sei nicht traurig! Ich wache bald wieder auf und bin dann immer bei Dir. Aber Du mußt mich nicht vergessen.“

Die Mutter sorgte mit übermenschlicher Anstrengung Tag und Nacht an ihrem Bette. Es war ihr ein furchtbarer Gedanke, daß ihr einziges Kind sterben könne, ein Opfer ihrer Liebe. Sündlich erschien ihr diese Liebe, wenn sie ein solches Opfer fordern könnte. Dieses junge aufknospende Leben für ein schon halbverwelktes Dasein! Wie war der Gedanke zu ertragen? Und wenn ihr Irmgard erhalten blieb – was dann?

Manchmal, wenn sie so in sich hineingrübelte, glaubte sie wahnsinnig werden zu müssen. Ihr Werk war’s ja, daß Irmgard empfand, wie sie empfand, daß sich ihr die häßliche Wahrheit verschlossen hatte und ein freundliches Trugbild den Schein der Wirklichkeit erhielt. Sie selbst hatte ja diese Täuschung, daß sie eine glückliche Frau gewesen, eingeleitet, genährt, zu einer Macht anwachsen lassen. Wie bitter war die Fracht zu kosten! Hieß das eine gerechte Vergeltung? Durfte sich so eine gute That strafen? Und doch! Sie hatte den Mann nicht geliebt, dem sie zum Bunde für’s Leben die Hand reichte. Nun rächte ihn sein Kind. –

Die Krankheit nahm nach der Krisis unerwartet einen günstigen Verlauf. Diese schwächlichen Constitutionen, meinten die Aerzte, ertragen eine solche Revolution im Nervensystem mitunter viel leichter, als die starknervigsten Menschen, aber um sich nicht früh zu verbrauchen, bedürfen sie der Beruhigung, der Schonung und Kräftigung. So ungefähr äußerten sich die Aerzte, ohne zu ahnen, welche Pflicht sie der Mutter auferlegten.

Das erste Wort, das Irmgard wieder bei voller Besinnung sprach, schnitt ihr tief in’s Herz. „Nicht wahr, liebe Mutter,“ sagte sie, mit schwacher Kraft, ihre Hand an die Lippen ziehend, „es war nur ein böser Traum?“

„Es war ein Traum,“ antwortete die arme Frau resignirt. Ihre Augen wurden feucht, aber sie drängte die Thränen zurück. Irmgard dufte sie nicht leiden sehen.

Und einige Tage später, als die Besserung rasche Fortschritte gemacht hatte: „Reisen wir bald von hier ab, Mutter?“

„Sobald Dein Zustand es erlauben wird.“

„O, ich werde mich recht beeilen, gesund zu werden, wenn ich weiß, daß ich damit unsere Abreise beschleunigen kann.“

„Warum strebst Du aber so eifrig fort?“

Sie senkte die Augen und lächelte. „Es ist eine recht kindische Furcht,“ antwortete sie, „aber ich kann sie nicht los werden. Ich fürchte immer, der Mann, der da oben in dem einsamen Hause wohnt, hat Macht über uns und kann von Neuem unsern Frieden stören. Wir müssen recht weit fort von ihm, damit wir ihm nie mehr begegnen.“

„Wenn Du ihn aber kennen wolltest, wie er ist – so gut und treu –“

In den Augen des kranken Mädchens flammten gleich wieder jene unruhigen Lichter auf, die ihre Beängstigung verriethen. „Nein, das sage nicht,“ entgegnete sie; „er hat uns vom Herzen des Vaters reißen wollen, und er zürnt uns gewiß, daß es ihm nicht gelungen ist. Laß uns bald zurück in die Heimath – recht bald!“

Dann, an einem Morgen, als Irmgard erwachte, sah sie ihre Mutter auf dem Stuhle an ihrem Bette sitzen und weinen. Sie richtete sich auf, legte den Arm um ihren Hals und sagte: „Warum weinst Da, Mutter? Hättest Du vielleicht doch glücklicher sein können, wenn ich gestorben wäre? Weshalb hat mich der liebe Gott denn leben lassen?“

„Nein, nein!“ rief Elise überrascht, „das sind nicht gute, fromme Gedanken, liebes Kind. Was Gott that, das ist wohlgethan, und ich will ihm danken. Es ist uns nur manchmal traurig um’s Herz, wenn wir an überwundenes Leid denken – und dann fließen die Thränen unaufhaltsam. Sie trocknen auch wieder.“

Irmgard küßte ihre Augen. Sie war nun nach der Krankheit viel milder in ihrem ganzen Wesen, viel zärtlicher und anschmiegender geworden. „Ja, wir haben viel Leid erfahren,“ sagte sie, „aber es soll uns Freude daraus erwachsen, wenn es uns ein Band wird, das uns unzertrennlich eint. Weißt Du, wie ich mir’s ausgedacht habe? Wir bleiben immer zusammen – Mutter und Tochter – lebenslang. Ich habe mir ein Gelübde gethan, daß ich mich nicht von Dir trenne, daß ich keinem Menschen angehören will, als Dir. Das werde ich halten.“

Die Mutter wollte antworten, aber Irmgard schloß ihr den Mund mit Küssen.

„Nein, sage mir nichts dagegen,“ bat sie, „es macht mich so glücklich, Dir beweisen zu können, wie wenig mir alles Andere ist und wie lieb ich Dich habe. Du bleibst bei mir, und ich bleibe bei Dir. Was zwei Menschen einander sein können, das bemühen wir uns, einander zeitlebens zu sein. Wir werden zusammen alt und grau, und vielleicht legt der gütige Gott der frommen Wittwe die Jahre zum Leben zu, die sie vor dem alten Jüngferchen voraus hat, und wir schließen zu gleicher Zeit die Augen. Bis dahin aber wollen wir thätig sein zum Wohle der Menschen. Man nennt uns reich. Um so besser, wenn wir’s wirklich sind; wir werden dann weniger beschränkt sein in unseren Wünschen für Andere und täglich unsere Freuden vermehren können. Wenn wir ein großes Krankenhaus gründen und es den Diakonissen anvertrauen, werden nicht Tausende, die darin Linderung ihrer Schmerzen oder Heilung finden, uns segnen? Wenn wir dann thätig sind mit den treuen Pflegerinnen und mit der Zeit selbst würdig befunden werden, ihren Namen zu theilen und uns ihre Schwestern zu nennen, was können wir dann vermissen, Mutter? Sage mir: so soll es sein! und ich bin bald ganz gesund.“

Elise streichelte ihr blondes, seidenweiches Haar, indem sie den Kopf an ihre Brust drückte und so verhinderte, daß Irmgard zu ihr aufschauen konnte. Auf dem Gesichte der Mutter lag ein Zug von Herbigkeit und Strenge, der ihm etwas Schreckhaftes gab. Die großen Augen blickten gerade aus in’s Weite; die Stirn hatte sich gefurcht, und um die Lippen zuckte ein bitteres Lächeln. „Es soll so sein,“ antwortete sie langsam und feierlich. „Daß Du nie bereuen mögest, Dich mir gelobt zu haben! Bedenke wohl: Wenn hinter mir jetzt die Pforte zufällt, so schließt sie sich für immer, und Du wirst ausharren müssen bei mir, wie [44] Du Dich auch nach der Freiheit sehnst, denn Dir selbst wirst Du Wort halten wollen. Heute fühlst Du so, und morgen vielleicht –“

„Nie, nie anders!“ versicherte Irmgard mit schwärmerischem Eifer. „Ich wünschte, es wäre ein Opfer, das ich Dir zu bringen hätte, dann würde ich glauben, Deine Liebe verdienen zu können. Jetzt empfange ich nur, was mich für’s ganze Leben glücklich macht. Glaube mir!“

„Es soll so sein,“ wiederholte die Mutter, sog mit der Lippe die Thräne ein, die sich von der Wimper löste und über die Wange tropfte, kleidete Irmgard an und führte sie im Zimmer auf und ab. Sie brauche nun schon nicht mehr fremde Hülfe, meinte dieselbe; so gekräftigt fühle sie sich.

Aus den Fenstern hatte man keine Aussicht nach dem Garten. Werner, wenn er dort oft viele Stunden auf die Geliebte wartete, durfte also nicht befürchten, von Irmgard gesehen zu werden. Er tröstete sich damit, daß die Krankheit „alle die ungesunden Säfte heraustreiben“ werde, die jetzt „den Hang des lieben Kindes zu schwermüthiger Schwärmerei nährten“. So lange Gefahr für das Leben war, bekümmerte auch er sich in seiner unruhigen Weise um die Kranke und trat gern gegen sie bei Elise zurück. Je mehr aber die Besserung vorschritt, desto ungeduldiger verlangte seine Liebe nun auch ihr Recht. Er richtete sich nach und nach im Pavillon ganz häuslich ein, stellte dort eine Staffelei auf und malte, um „die Stunden zwischen den Minuten auszufüllen“, die Elise ihm schenkte. Es war ihm ganz unerklärlich, daß sie von Tag zu Tag, statt heiterer, immer trübsinniger wurde und seinen dringenden Fragen, wie sich die nächste Zukunft gestalten solle, geflissentlich auswich. Dann erschreckte sie ihn hin und wieder durch ein Wort über Irmgard, das eine Ausöhnung mit dem „unverständigen Kinde“ fast hoffnungslos erscheinen ließ. Jetzt erst fing er an bedenklich zu werden, ob sein Glück Bestand haben könne.

Elise pflegte die späte Abendstunde zu benutzen, um mit ihm im Garten zu promeniren oder bei der Lampe im Pavillon zu sitzen. An einem Abend forderte sie ihn zu seiner Ueberraschung auf, mit ihr einen Spaziergang in’s Freie hinaus zu machen.

„Ich möchte eine Stunde mit Dir allein sein,“ sagte sie, als sie auf die Straße getreten waren und sie ihren Arm in den seinigen gelegt hatte, „und dort im Garten, glaube ich, beobachtet man uns aus den Fenstern der Wirthsleute.“

„Mir kann’s nichts Lieberes geben,“ antwortete er, ihre Hand drückend. „Wohin gehen wir?“

Sie schwieg ein paar Secunden lang und setzte den Weg nach dem Flusse zu fort. „Möchtest Du auf den See hinaus, Max?“ fragte sie dann, mit hellen Augen zu ihm umblickend.

„Das wäre mir das Allerliebste,“ rief er. „Ich habe nur nicht gewagt es vorzuschlagen, weil Du’s bis jetzt immer abgelehnt hast.“

„Ich wollte mich nicht so weit von Hause entfernen,“ sagte sie; „nun aber hat’s keine Gefahr mehr. Meine Kranke wird morgen in den Garten gehen.“

„Ah! Das ist ein großer Fortschritt. Es ist rasch gegangen in den letzten Tagen.“

„Gott sei Dank!“

„Also morgen in den Garten. Dann werde ich sie doch endlich begrüßen dürfen?“

Elise schwieg darauf.

„Sie weiß doch, daß ich jetzt mein Atelier im Pavillon habe?“ fragte er nach einer Weile.

Sie sah zur Erde. „Ich glaube nicht, daß davon gesprochen ist.“

„Dann ist’s wohl besser, sie sieht eher meine Malerei als mich?“

„Ich denke so.“

Sie kamen an den Halteplatz der Böte. Werner war wählerisch. Er fand endlich ein hübsches, schmales Fahrzeug, blau und weiß angestrichen, nach seinem Geschmack.

„Doch ohne Fährmann?“ flüsterte er dem geliebten Weibe zu.

„Wie Du willst,“ antwortete sie, „heute ganz wie Du willst.“

Er drückte ihre Hand, während er sie hinein hob. Sie nahm auf der mittleren Bank Platz, während er sich ihr auf der anderen gegenüber setzte.

Pfeilschnell ging’s auf’s Wasser hinaus. Er schien nicht schnell genug die Menschen am Lande und die Häuser und das Ufer aus dem Gesicht bekommen zu können.

Sie stützte den Ellenbogen auf’s Knie und das Kinn in die Hand und sah ihn freundlich an, oder an ihm vorüber auf die fernen, schon von der Nacht umdämmerten Berge.

Als sie so eine weite Strecke gefahren waren und auch kein Boot sich mehr in der Nähe zeigte, zog er die Ruder ein, beugte sich vor, faßte ihre Hände und küßte sie auf die Stirn. Er legte den Arm um ihre Schulter, hob mit der Hand den Kopf und drückte einen langen, langen Kuß auf ihren Mund. „Haben wir nicht Raum neben einander?“ fragte er, rückte zur Seite und zog sie vorsichtig, damit das Boot nicht ängstlich schwankte, neben sich auf den Sitz. Er hielt sie dabei immer umfaßt und legte die freie Hand auf ihre glühende Wange und lehnte ihren Kopf an seine Schulter und suchte wieder ihre Lippen zu seligen Küssen.

„So habe ich mir’s geträumt in jener ersten Nacht,“ raunte er ihr zu, „die ich hier auf dem See verwachte. Aber kein Traum ist so herrlich, wie diese Wirklichkeit.“

Sie zog seine Hand an ihren Mund. „Auch mir erfüllt sich ein schöner Traum,“ sagte sie, „aber es sind viele, viele Jahre vergangen, seit ich ihn träumte, und so – kühn war er nicht.“

Er wollte wissen, was sie geträumt hatte.

„Wir fuhren ganz allein auf einem weiten Wasser,“ erzählte sie, „wie heut. Und ich wußte nicht was ich Dir war. Da legtest Du leise Deine Hand auf meine Hand, und ich fühlte das Klopfen Deines Herzens. So fuhren wir schweigend weiter und weiter und endlos weiter, bis ich erwachte, und mein erster Gedanke war: er liebt dich. Heut wird’s mein letzter Gedanke sein, bevor ich die Augen schließe: er liebt dich. Und sollte dann auch ein böser Traum –“

„Wie sollte nach dieser glückseligsten Stunde –?“ mahnte er.

„Nicht wahr? Sie gehört uns?“ sagte sie, „sie wird uns bleiben. Und alles Widrige, was uns darnach treffen könnte, wird nun nichts als ein Traum sein, der uns wohl kurze Zeit ängstigen kann, aus dem wir aber erwachen müssen zu einem Tage, dessen Sonne nicht untergeht.“

Er verstand sie nicht und antwortete: „Gewiß – gewiß!“ Er meinte, sie könne nichts sprechen, als was ihre Liebe bestätigte.

Endlich erinnerte sie an die Heimfahrt. Von den Bergen her fing es kühl zu wehen an, und unter dem Boot plätscherten die Wellen. Er legte wieder die Ruder ein.

Sie stiegen aus und befestigten das Boot. Der Fährmann lag auf einer Bank und schlief fest. Sie gingen Arm in Arm durch die menschenleeren Straßen.

„Wenn’s hier endete,“ sagte Elise, als das Haus nicht mehr weit war, „wär’s nicht genug des Glückes gewesen?“

Er schwieg und drückte ihre Hand.

„Komm morgen nicht,“ bat sie an der Thür.

Er glaubte zu wissen weshalb, und nickte zustimmend. „Es wird mir sehr, sehr schwer werden – aber ich werde morgen viel Zeit haben, darüber nachzudenken.“

Sie umschloß ihn noch einmal mit ihren Armen und küßte seinen Mund. „Lebe wohl – lebe wohl, mein Theuerster!“ rief sie ihm zu und verschwand. – –

Den nächsten Tag packte Frau von der Wehr die Koffer und ordnete alle ihre Angelegenheiten im Hause.

„Reisen wir denn wirklich, liebste Mutter?“ fragte Irmgard überglücklich.

„In kleinen Touren der Heimath zu,“ war die Antwort; „morgen mit dem Frühesten.“

Sie schrieb bis spät in die Nacht hinein.

Als Werner am Vormittag eintraf, fand er die Wohnung geräumt. Man übergab ihm einen Brief, den die fremden Herrschaften für ihn zurückgelassen.

Er öffnete ihn im Pavillon, aber nachdem er die ersten Zeilen gelesen hatte, entfiel er seiner zitternden Hand. „So war’s gemeint,“ bebten seine entfärbten Lippen, „das war für’s ganze Leben!“


Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 4, S. 59–62
Fortsetzungsroman – Teil 4


[59]

5.

Ein Jahr war vergangen.

Wieder neigte sich die Julisonne um dem klaren blauen Himmel dem nordwestlichen Horizonte zu, aber sie beschien diesmal ein ganz anderes Landschaftsbild. Nichts von hochaufstrebenden Gebirgsmassen, tiefen Flußthälern mit freundlichen Ortschaften, hellen Seen und eiszackigen Fernen – ringsum ebenes Land, Feld, Haide, Wald, für den Wanderer eine weite Aussicht, von Zeit zu Zeit abschließend mit einem schmalen blauen Streifen Wasser, der die Ostsee bedeutet. Wir befanden uns im ostpreußischen Samlande, jenem Viereck, das sich so augenfällig in’s Meer hinauslegt und von den beiden Nehrungen wie von zwei Bändern gehalten zu werden scheint, damit es nicht von der Landkarte herunterfalle. Wer sonst nichts von ihm weiß, hat doch gehört, daß an seiner Küste der edle Bernstein gewonnen wird, und so mag es ihm gefallen, sich auch einmal mit seiner landschaftlichen Natur bekannt zu machen.

Der Stellwagen von Königsberg hatte längst schon den letzten „Berg“ hinter dem anmuthig gelegenem Kirchdorf Pobethen überwunden und schleppte sich nun durch den tiefen Sand der Landstraße dem Dorfe Rantau zu, das von der Nordküste nur noch eine viertel Meile entfernt liegt. Es hatte in Wochen nicht geregnet; die Räder wühlten sich tief ein, und die müden Pferde schleiften langsam, Schritt für Schritt, die Hufe über den Boden hin, eine dichte Staubwolke um sich herum aufwirbelnd. Die acht das grüne Leinwanddach tragenden Stangen schüttelten sich knarrend; der Sand glitt surrend über die Räder hin, und die Gesellschaft auf dem Wagen schien schläfrig geworden; nicht einmal die Peitsche des Kutschers wollte kräftig knallen: man mußte sich in sein Schicksal ergeben und mit der Hoffnung trösten, daß man sich in dem nicht fernen Seebade-Orte Neu-Kuhren noch diesen Abend von allen Strapazen der staubigen Fahrt erholen werde.

Der junge Mann, der den Eckplatz vorn besetzt hatte, schien nicht so geduldig zu sein. „Ich halt’s nicht länger aus,“ rief er seinem Nachbar zu, der sich krampfhaft bemühte, eine Cigarre in Brand zu halten. „Dieser Staub – man kaut ihn förmlich zwischen den Zähnen. Und ich wette darauf – zwanzig Schritte weiter haben wir die frischeste Seeluft. Wollen Sie gütigst mein geringes Gepäck ein wenig in Ihre Obhut nehmen? Ich mache Ihnen Raum.“ Ohne den Wagen halten zu lassen, schwang er sich um die Verdeckstange und sprang mit einem geschickten Satz ab. Im eigentlichsten Sinne des Wortes machte er sich dann sofort aus dem Staube, indem er über den trockenen Seitengraben setzte und jenseits der kümmerlichen Weidenstümpfe auf dem festeren Fußpfade munter ausschritt. „Ah, hier lebt man auf,“ versicherte er.

„Wissen Sie, daß ich gute Lust hätte, Ihnen zu folgen?“ sagte der Raucher.

„So springen Sie doch ab!“

„Ganz gut! Aber wer beaufsichtigt Ihr Gepäck, das Sie so freundlich waren mir anzuvertrauen?“

„Legen Sie die Rolle lang auf’s Gesäß! – sie wird nicht hinabgleiten – und die Ledertasche unter dasselbe! Es thut nichts, wenn sie einige Fußtritte erhält.“

„Und meine eigenen Sachen?“

Eine mitleidige Dame, die schon diverse Schachteln und Päckchen auf dem Schooße hielt, erbot sich zu der „kleinen Gefälligkeit“, darauf zu achten, daß nichts hinausfalle. Sie speculirte vielleicht auf den leer werdenden Raum.

„Nun denn ohne Zögern,“ rief der Herr, die Cigarre kräftig anpaffend, und sprang über Bord.

Nun ihn die Staubwolke nicht mehr verschleiert, müssen wir uns erinnern, das Gesicht mit dem blonden Bärtchen und den munteren Augen schon einmal gesehen zu haben. Richtig! Es ist der Referendar Hell, der in diesem Jahr sehr bescheiden seine Ferien am heimischen Seestrande zuzubringen gedenkt. Die Bekanntschaft des Herrn, der zuerst abgestiegen war, hatte er erst während der Fahrt gemacht. Beim Anblick der Hügel, die man etwas kühn die samländische Schweiz nennt, hatte sich die Erinnerung an die vorjährige Reise in einigen articulirten Seufzern entladen. Sein Gefährte zeigte sich an dem Alpenlande sehr bewandert – er hätte einen Onkel dort, sagte er – und so war man bald in ein lebhaftes Gespräch gekommen, ohne auf eine gegenseitige Vorstellung zu warten.

„Ich bin an den Actenstaub bereits ziemlich gewöhnt,“ versicherte der Referendar, nun wieder Seite an Seite mit dem Fremden, „aber was hier in der Luft herumwirbelt, fällt selbst einem Juristen zu schwer auf die Lunge.“ Er räusperte sich. „Rauchen Sie eine Cigarre?“

Der Andere dankte. „Ich schlage Ihnen vor,“ sagte er, „hier links abzubiegen. Am Ende dieser breiten Viehtrift muß ein Richtsteig um das Dorf herumführen. Wir verlieren dann den abscheulichen Marterkasten von Wagen ganz aus den Augen.“

[60] Er wartete die Zustimmung nicht ab.

„Sie scheinen hier genau bekannt zu sein,“ meinte der Referendar.

„Ich bin wenige Meilen von hier geboren,“ erklärte sein Führer, „und habe als Knabe oft die Gegend durchstreift.“

Hell sah ihm mit einem prüfenden Blick unter den breiten Strohhut. Hier im Samlande geboren? Er hätte ihn eher für einen Süddeutschen gehalten, der sich lange Zeit in Italien umhergetrieben. Die dunkle Gesichtsfarbe, das braune lockige Haar, der krause Bart und das glänzende Auge schienen dafür zu sprechen. „Sie besuchen wohl nach langer Abwesenheit die Ihrigen?“ fragte er neugierig.

„Vielleicht,“ antwortete der Fremde, „obgleich das nicht gerade der Zweck ist, der mich herführt. Ich finde in der Heimath vieles verändert. Meine Mutter ist todt, mein Vater hat zum zweiten Mal geheirathet und stand mir nie so nahe wie sie. Ich bin seit meinem zehnten Jahre auswärts erzogen und ausgebildet worden, habe mich dann viel im Auslande aufgehalten, um meine Studien zu vervollständigen, und finde dort kaum noch die Menschen, die ich verstehe und die mich verstehen.“

„Sie sind …?“

„Architekt. Ich war zuletzt in Berlin beschäftigt und wurde von dort aus einer reichen Dame empfohlen, die in Königsberg ein großes Siechenhaus zu bauen beabsichtigt. Ich habe die Pläne entworfen und wollte ihr dieselben vorlegen, erfuhr aber in ihrer städtischen Wohnung, daß sie kürzlich für den Sommer nach Rauschen verzogen ist, und gedenke sie nun dort aufzusuchen. Der Bau soll im Herbste, spätestens im nächsten Frühjahr beginnen.“

„Die Dame ist eine Frau von der Wehr – nicht wahr?“

„Ganz richtig – so heißt sie. Ihr Mann war Oberst – und ist im Kriege gefallen. Das hat sie sich so sehr zu Herzen genommen, daß ihr ein wohlthätiges Werk in großem Stil Bedürfniß geworden. Nun – wenn das Haus nach meinen Entwürfen gebaut wird, geht ein hübsches Vermögen zu frommen Zwecken drauf, die mich übrigens nur so weit kümmern, als sie meine architektonischen Ideen beeinflussen müssen.“

„Es ist von dem Project viel gesprochen worden.“

„Das kann ich mir vorstellen. Dem Mittelalter war diese Art von Frömmigkeit gewohnter, aber warum soll sie nicht auch in unsern Tagen einmal herzlich gut gemeint sein? Ich mache mich auf ein paar Original-Figuren gefaßt.“

„Sie kennen Frau von der Wehr nicht?“

„Weder diese alte Dame, noch ihre – ich hätte beinahe gesagt: noch ältere – Tochter, von der in den Briefen viel die Rede ist, als der eigentlichen Stifterin. Alte Jungfern scheinen wirklich manchmal älter zu sein, als ihre Mütter.“

Der Referendar lachte, „Sie gehen gründlich fehl. Frau von der Wehr ist eine Dame Mitte der Dreißiger und noch immer so schön, daß sie auch einem jungen Mann gefährlich werden könnte.“

„So –!“

„Und was Fräulein Irmgard anbetrifft –“

„Irmgard! Ein Name, passend für das Personen-Verzeichniß eines Ritterschauspiels, in dem einige Gespenster unseliger Ahnen umgehen. Ich habe sie mir lang und hager vorgestellt, mit scharfkantigen Schultern, hohen Halse, sehr edler Nase, blonden, in dünnen Spiralen an den bleichen Wangen niederringelnden Locken und ziemlich großen Händen. Uebrigens eine milde, gottgefällige Seele, erhaben über jede Versuchung der Welt. Trifft das zu?“

Hell lachte noch lauter. „Der Himmel verzeihe Ihnen,“ rief er, „was Ihre Phantasie da gesündigt hat! Sie werden ein reizendes junges Mädchen finden, das den einen einzigen, allerdings riesengroßen Fehler hat, durchaus nicht heiraten zu wollen; ich füge hinzu: ohne deshalb das männliche Geschlecht principiell zu hassen. Das Fräulein ist sehr liebenswürdig, und ich selbst …“

„Ah! Sie selbst –?“

Der Referendar sah verschämt lächelnd zur Erde. „Ich habe wenigstens die Genugthuung, nicht der Einzige gewesen zu sein, der einen Korb erhalten hat. Ich denke, wenn er mit der friedlichen Erklärung erteilt wird, daß man dem Ehestande überhaupt abgeschworen habe, ist die Sache nicht so empfindlich, daß man Grund hätte, sie geheim zu halten.“

„Sie scheinen sich glücklicherweise auch schnell getröstet zu haben.“

„Pah! ich habe nun einmal keine Anlage zum Ritter Toggenburg. Uebrigens eilt es mir nicht; ich mache erst im nächsten Winter das Staatsexamen und komme immer noch zur Zeit unter die Haube – oder unter den Pantoffel. Ich glaube, meine Frau wird es mit mir einmal sehr leicht haben.“

„Um so bedauerlicher, daß Fräulein Irmgard ihren Vortheil so schlecht verstanden hat.“

„Spotten Sie nur! Die Sache hat aber auch noch eine andere Seite. Eine junge schöne Dame –“

„Auch schön, wie die Mama?“

„Bildschön. Eine junge schöne Dame von kaum siebenzehn Jahren, sage ich, die das Heirathen verschworen hat und mit ihrem sehr namhaften Vermögen ein Spital gründen will … Sie werden mir zugeben, daß da etwas im Herzen nicht ganz richtig sein kann –“

„Oder im Köpfchen.“

„Sei dem, wie ihm sei: es hat immer seine Gefahr für den Mann, der etwa doch in einer schwachen Stunde Gehör findet.“

„Wenn er nicht ein ganzer Mann ist.“

„Nehmen Sie sich in Acht!“

„Ach, ich –! Ich habe in aller Herren Ländern schöne Frauen gesehen, und gefährlich ist mir noch keine geworden. Es scheint, daß ich gar kein Organ für das Gefühl mitbekommen habe, das man Verliebtsein nennt. Halten Sie mich deshalb weder für einen Philister, noch für eine kalte Seele! Aber ich habe eine angeborene Abneigung gegen alles, was sich mir in verschwommener Farbe und unklarer Form darstellt. Ich baue nicht nur mit Ziegelsteinen, sondern auch mit Empfindungen, und was meinem Herzen etwas sein soll, muß sich darin auf sicherm Fundament nach allen Regeln der Kunst zu einer planen Gefühlsdarstellung ausbauen. Ich kann eine Landschaft enthusiastisch bewundern, aber nur dann, wenn sie mir in ihren Grundlinien imponirt; ich lasse mich von einem Drama fortreißen, wenn es in seinem architektonischen Ausbau glücklich ist; ich bin entzückt von einer Musik, die aus wenigen charakteristischen Tönen hervorwächst, bei allem Reichthum der Wandlungen des Motivs einheitlich bleibt und sich in der Höhe für das empfindsame Ohr verständlich gliedert, statt in einem Tonschwall zu verschwimmen. Das Gefühl, das eine schöne Frau in mir erregt, hält diesen kritischen Anforderungen nicht Stand; es ist zu unruhig, zu unbestimmt, zu formlos, zu sehr Farbe und zu wenig Grundriß, zu viel Façade und zu kümmerlicher Innenbau – verzeihen Sie diese rein technische Begriffsbestimmung!“

„Aber bei so ketzerischen Ansichten müssen Sie ein Junggeselle bleiben.“

„Das ist ja doch noch nicht das Schlimmste. – Warum sind denn übrigens die Damen nach Rauschen gezogen? Für eine reiche Frau, die an Comfort gewöhnt ist, kann in dem Fischerdorf kaum ein angemessenes Quartier zu finden gewesen sein, die Verhältnisse müßten sich denn seit meiner Knabenzeit sehr geändert haben.“

Der Referendar zuckte die Achseln. „Und Frau von der Wehr logirt, wie ich gehört habe, nicht einmal im Gasthause, sondern hat auf dem Berge eine Wohnung gemietet. Sie will nun einmal möglichst aus der Gesellschaft, möglichst in die Einsamkeit; da mag der stille Ort mit seiner ländlichen Idylle gerade ihren Wünschen entsprechen. Irmgard zeichnet gern nach der Natur und ist dort ganz ungestört.“

„Also auch Dilettantin mit dem Bleistift! Nun – man wird’s ja überwinden, selbst wenn ein Tuschkasten dabei sein sollte. Einmal wieder nach Rauschen zu kommen, ist mir lieb. Ich trieb mich als Junge in den Sommermonaten viel dort um, den Malern aufzulauern – dachte damals selbst daran, einer zu werden, wie mein Onkel. Es war mir eine Seligkeit, ihnen Mappe, Farbenkasten und Schirm tragen zu dürfen und gar über die Schulter zuzugucken; all’ die naturwüchsigen Schönheiten unserer Haide, unserer Strandberge, unserer Schluchten und Buchten lernte ich mit ihren Augen sehen – da prägen sie sich dem Gedächtniß unvergeßlich ein. Es ist doch ein Stückchen Erde, das der liebe Gott bei sehr guter Laune geschaffen hat, und was mir besonders daran gefällt: es sieht noch immer beinahe [61] so aus, als ob es eben erst aus seinen Händen hervorgegangen wäre. Sehe ich sonst ein anziehendes Landschaftsbild, so denke ich mir immer gern: was möchtest du da hineinbauen als Kunstschmuck? Auf jenen Plan, wie ich ihn in der Erinnerung festhalte, paßt nichts der Art – der Leuchtthurm auf der Spitze von Brüsterort hat ja schon seinen Baumeister gefunden.“

Unter solchen Gesprächen waren sie wieder auf die Landstraße eingelenkt und näherten sich nun den ersten Häusern von Neu-Kuhren, während in ziemlicher Entfernung hinter ihnen die „Journalière“ herankeuchte. Sie mäßigten den Schritt, um ungefähr mit ihr zugleich am Logirhause anzulangen, wo sie ihre Fahrgäste abzusetzen pflegte. Der Referendar überreichte eine Visitenkarte. „Darf ich auch um Ihren Namen bitten?“

„Robert Harder. – Wir sehen uns wohl in diesen Tagen noch?“

„Ich hoffe es. Ein Tänzchen unter dem berühmten Birnbaum ist schwerlich Ihre Leidenschaft, sonst –“

„Also der Birnbaum steht noch? Schon ein recht alter Herr, aber, wie es scheint, in seinen Neigungen noch immer sehr jugendlich. Leben Sie wohl! Man scheint Ihnen dort zu winken.“

Wirklich war unter der Halle des Logirhauses ein Herr vorgetreten und auf Hell mit ausgestreckter Hand zugeschritten. Es war der Gerichtsrath Pfaff, der seinen jungen Freund herzlich bewillkommnete. „Gut, daß Sie endlich anlangen!“ rief er ihm zu, „man rechnet schon stark auf Sie im Vergnügungscomité.“

Als der Referendar sich nach seinem Begleiter umsah, hatte dieser schon seine Tasche und Rolle vom Wagen genommen und sich ohne Aufenthalt auf den Weg gemacht. –

Harder hatte noch eine Stunde bis Rauschen. Es war sieben Uhr, die Luft abgekühlt und der Weg auf der Uferhöhe mit seinen häufigen Ausblicken auf’s blaue Meer und das buchtenreiche Gestade zu einem Spaziergange sehr einladend. Das Gepäck beschwerte ihn wenig, er hatte die Tasche umgehängt und die lange Papierrolle wie ein Gewehr über die Schulter gelegt. Die Badegäste, die vom Strande herauf oder links aus dem Birkenwäldchen kamen, fanden die fremde Erscheinung merkwürdig genug, um einen neugierigen Blick darauf zurückzuwerfen.

Er kümmerte sich wenig darum, pfiff eine Melodie vor sich hin und schritt rüstig aus. So kam er bald an einem Gutshause vorüber, durchschritt ein niedriges Gehölz, passirte die ersten Häuser des Dorfes Leppoenen, wo sich eine Rettungsstation für Schiffbrüchige befindet, und bog hinter demselben rechts ab auf einen Richtpfad, der aus das hochgelegene, unter alten Bäumen versteckte Dorf Sassau führte. Er warf einen Blick auf das niedrige Bauernhäuschen am halbausgetrockneten Teich, in dem vor Jahren Ferdinand Gregorovius manchen Sommer zugebracht hatte, dichtend und von dem Lande träumend, in dem er seine zweite Heimath finden sollte. Er war ihm dann in Rom begegnet, als er mit fürstlichem Anstande irgend eine Fürstlichkeit in den Ruinen der Kaiserpaläste herumführte. Er hätte ihn gern angesprochen und ihm gesagt, wie dankbar er ihm stets für die freundliche Erinnerung gewesen, die er am lateinischen Ufer dem schönen samländischen Nordstrande in bewegten Worten widmete – aber es ergab sich keine Gelegenheit. Das fiel ihm nun wieder ein, und er stand eine Minute lang still. Unwillkürlich kamen ihm Goethe’s Verse in den Sinn: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht.“

Von der Höhe schritt er dann abwärts zwischen hochwogenden Kornfeldern dem Bache zu, der sich im Lauf der Jahrtausende ein breites Thal ausgewaschen hatte. Drüben wurde es geschlossen durch die lange Kette der schneeweißen Sandberge, die des Meeres Nähe verkündigten. An einigen Stellen, Sassau gerade gegenüber, war die Linie durch tiefe Einbuchten unterbrochen, durch die der fliegende Sand über die grünen Weidestrecken bis zu den Erlen am Bache fortgeweht war; es sah aus, als ob weiße Zungen, kürzer und länger, sich ausstreckten, um das grüne Land zu verschlingen. Dort hatten die Bernsteingräber den Uferberg abgetragen, um tief unten aus der Asche versargter Wälder das edle Harz auszuheben. Die Felder der Dorfschaft waren nun freilich schutzlos.

Vor und unter dem Wanderer warf die scheidende Sonne ihre gluthrothen Strahlen lang über die Fortsetzung des Thalgrundes hin, der ganz mit Strauchwerk, Laubbäumen und dunklen Tannen darüber bewachsen schien. Doch ragten einige Dächer mit weißen Schornsteinen daraus hervor, und ein bläulicher Rauch stieg aus ihnen geradeaus in die unbewegte Luft, sich sonst abhebend gegen das dämmerige Grün des Hintergrundes und den goldigen Himmel.

„Wie schön – wie schön!“ rief er, „da ist mein stilles Rauschen.“

Er hatte es nicht mehr weit bis zum Gasthause am Anfang des Dorfes. Dort bat er um Logis und fragte nach dem alten Wirth, den die muntern Stadtherren immer scherzweise „Herr Commerzienrath“ titulirten und der nach jedem Seidel Bier besonders in seinen Keller hinabzusteigen pflegte, oft erst eine schwere Geduldsprobe für die Durstigen. Er sei kürzlich verstorben, hieß es. Diese Trauerbotschaft hinderte ihn nicht, sich zum Abendessen die frischen Dorsche schmecken zu lassen, die der neue Wirth vorsetzte.

Am andern Morgen war Robert Harder schon früh auf. Er hatte mehre Stunden Zeit, bis er wagen durfte, sich bei den Damen zu melden. So spazierte er denn an der Wassermühle und den uralten Linden vorüber den großen Mühlenteich entlang, über den am jenseitigen Ufer waldbewachsene Hügel aufstiegen, während sich zu seiner Rechten in drei oder vier Absätzen die Bauer- und Fischerhäuschen den Berg hinanbauten, sämmtlich weiß getüncht und meist umgeben von grünen Obstgärten. Es war ein herzerfreuender Anblick. Am Ende des Dorfes hinter dem malerisch verfallenen Nachtwächterhäuschen stieg der sandige Weg wieder hoch auf zwischen einzelnen, von den Seestürmen zerzausten Fichten. Man gewann eine weite Aussicht über Land und Meer. Harder schritt auf den eine halbe Stunde entfernten Wald zu, der von den Strandbergen bis zur See hinabzusteigen schien.

Eine halbe Stunde mochte er so langsam fortgewandert sein, als er seitwärts vom Wege die ihm wohlbekannten, unregelmäßigen Erderhöhungen bemerkte, die einen Begräbnißplatz der heidnischen Preußen anzeigen. Ursprünglich mitten auf der freien Haide gelegen, die sich noch jetzt nicht weit davon an den Uferbergen entlang zieht, hat dann der Pflug des Landmanns sie scharf umrissen, sodaß sie nun wie kleine Inseln, bewachsen mit braungrünem Haidekraut und niedrigem Birkengestrüpp, aus den Feldern hervorragen. Vertiefungen an den Seiten bezeichnen die Stellen, an denen die Neugier Nachgrabungen veranstaltet hat, und die Steine, die zwischen dem Wachholder und den blauen Glockenblumen lose herumliegen, waren vielleicht früher im Innern um die Aschenurnen geschichtet.

Die Aufmerksamkeit des Architekten wurde jedoch mehr auf eine junge Dame gelenkt, die auf einem breiten Steine am Rande des Grabens saß, vor sich auf den Knieen eine kleine Mappe liegen hatte und eifrig zeichnete. Der Strohhut mit den blauen Bändern lag neben ihr im Haidekraut. Sie saß abgewendet von dem sich Nähernden, sodaß er anfangs nur die schlanke Gestalt, die fein aufgerundeten Schultern, den sanftgebogenen Nacken und das aschblonde Haar bewundern konnte, das am Hinterkopfe mit einer Spange hoch gewulstet war und unter dem Knoten wellig hinabglitt. Als er dicht an ihr vorüberging, sah sie ein wenig zur Seite und zeigte ihm so das zierliche und doch kräftige Profil. Ein rascher Blick überzeugte sie, daß der Mann ihr ganz fremd war, sie rückte aber doch auf dem Steine ein wenig herum, ihre Mappe zu verdecken, als wollte sie ihre Beschäftigung nicht bemerken lassen.

Das war es vielleicht, was Robert Harder reizte, stehen zu bleiben und die anmuthige Gestalt genauer in Augenschein zu nehmen. „Entschuldigen Sie gütigst eine Frage!“ begann er das Gespräch. „Früher führte nicht weit von hier ein Fußsteig nach der Gausupschlucht und durch dieselbe zum Waldhäuschen. Ist er inzwischen eingegangen?“

„Keineswegs,“ antwortete eine helle Stimme. „Gehen Sie nur hundert Schritte weiter und Sie müssen rechts den Pfad zwischen den Kornfeldern bemerken.“

Das Gesicht des jungen Mädchens wandte sich ihm dabei nicht zu; die Eile, mit der die Worte gesprochen wurden, ließ erkennen, daß das Fräulein seine baldige Entfernung wünschte.

Es kam ihm aber durchaus nicht darauf an, schnell das Ziel seiner Wanderung zu erreichen. Die junge Dame, die so früh aufgebrochen war, um ihr Skizzenbuch mit einer Abbildung [62] der alten Grabstätten zu bereichern, und die selbst dem Beschauer eine so reizende Staffage bot, interessirte ihn. „Sie zeichnen die Kapurnen?“ fragte er. „Wer weiß, wie lange man sie noch schonen wird?! Ueber die niedrigen ist längst schon der Pflug hinweggegangen, und auch hier schneidet er in jedem Jahr tiefer in’s Haideland ein, so spärlich auch die Frucht ist, die aus dieser Scholle wächst. Will man sich das Andenken an diese charakteristischen Denkmale eines untergegangenen Volkes bewahren, so wird man zu dem Versuch geführt werden müssen, sie bildlich darzustellen, so wenig sie auch als Bild bedeuten können.“

Nun hob sich doch der blonde Kopf des Mädchens, aber die Augenbrauen waren zusammengezogen und die Lippe trotzig aufgeworfen, als wollte der kleine Mund fragen: was geht’s Dich eigentlich an?

Harder ließ sich dadurch nicht abschrecken. „Ein Bild gäb’s vielleicht doch,“ fuhr er fort, „aber es gehört nicht diese frische, scharfe Morgenbeleuchtung dazu, sondern die Dämmerung des Abends. Eben müßte dort hinter uns im Nordwesten die Sonne untergegangen sein und gegenüber die graue Wolkenwand nach dem Rande zu röthlich beleuchten. Ueber der Erde müßte schon die Dämmerung liegen und diesen braunen Erdhügeln mit den weißen Birkenstämmchen und ihrem beweglichen Laube unsichere, ein wenig gespenstische Umrisse geben; hoch oben am kalten Nachthimmel könnte die Mondsichel stehen. Denken Sie sich noch ein paar Hütejungen dazu, die unter dem Schutz der Steine gegen den Wind ein Feuer anzuzünden bemüht sind, dessen Rauchflocken an dem zweiten, entfernten Grabe vorüberhuschen, so kann es an Stimmung nicht fehlen. Wollen Sie das nicht einmal versuchen?“

„Es würde mir schwerlich gelingen,“ antwortete die Dame – eine noch sehr junge Dame, wie er sich jetzt überzeugte – nach kurzem Bedenken leise und zögernd. „Ich zeichne eben nur die Umrisse und sehe sie deshalb gern möglichst bestimmt.“

„Ich sage auch nicht, daß man die Skizze in der Abenddämmerung aufnehmen sollte,“ entgegnete er. „Was der Maler da hinzudichtet, muß er der Natur zu günstiger Zeit ablauschen, und es ist genug, wenn sein Auge es festhält.“

„Sind Sie ein Maler?“

„Nein! aber ich habe einmal versucht, ob aus mir einer werden könne. An malerischen Anschaungen hat es mir nicht gefehlt, aber bei der Ausführung beherrschte immer zu sehr die Form die Farbe. Nach Lessing’s paradoxem Ausspruch hätte ich vielleicht ein großer Maler werden können, wenn ich ohne Hände geboren wäre.“

Sie sah ihn mit großen Augen fragend an, brachte die Anspielung in ihrem Citatenschatze glücklich unter, nickte verständnisvoll und senkte erröthend die Augen. Eine Antwort gab sie nicht, vielleicht um anzudeuten daß sie eine Fortsetzung des Gesprächs, so sehr es sie auch zu fesseln anfing, nicht wünschte.

Harder hatte, halb seitwärts, halb hinter ihr stehend, an der runden Schulter vorbei auf das Blatt geschielt, aber nur die schärfsten Linien erhascht. „Ist’s erlaubt, einmal die Zeichnung zu betrachten?“ fragte er nun, an die Stelle gebannt.

Sie legte den Arm darüber. „Ach – es ist noch nichts fertig.“

„Eben weil noch nichts fertig ist. Ich kann Ihnen vielleicht mit einem guten Rathe dienen, der später jedenfalls zu spät käme.“

„Mein Herr…“

Er trat einen Schritt näher, beugte sich und zog ihr sanft die kleine Mappe unter dem Arm hervor. Sie war nicht bemüht, dieselbe festzuhalten, nahm aber ihren Hut aus dem Haidekraut auf und erhob sich von ihrem Steinsitze. Ihr Blick konnte sagen wollen: ist der aber ein dreister Mensch! Und doch wurde der Unwille sehr gemildert durch die Neugierde, wie er die Zeichnung finden werde. So stand sie denn auch, den Hut mit den langen, blauen Bändern in der Hand, ganz still neben dem Steine und beobachtete den Fremden, der sehr ernst ihr Werk musterte.

„Die Umrisse sind ganz richtig,“ sagte er nach einer Weile, „und doch glaubt man einen ganz anderen Gegenstand zu sehen, als den die landschaftliche Natur bietet.“

„Nicht wahr? es sieht ganz anders aus, als in Wirklichkeit,“ fragte sie, durch sein Bedenken verträglicher gestimmt, als dies eine Schmeichelei hätte erreichen können. „Aber wie kommt das?“

„Weil Sie bei der ersten Anlage einen technischen Fehler gemacht haben – einen großen Fehler.“

„Ah – !“ Die Lippe hob sich wieder trotzig und die Hand streckte sich nach der Mappe aus. Das war doch zu ungalant.

„Sie haben die Kapurnen, auf die es Ihnen doch allein ankam, zu sehr in die Ferne gerückt,“ fuhr er fort, „und nun sehen sie fast wie waldbewachsene Berge aus, während sie in Wahrheit wenig über drei oder vier Meter Höhe haben dürften. Der Vordergrund muß verkürzt werden und das Birkengesträuch einen Behang von größeren Blättern erhalten, damit man sich ganz in der Nähe weiß. Eine menschliche Figur als Maßstab wäre sehr wünschenswert.“

„Ich sagte Ihnen ja, daß noch nichts fertig sei.“

„Ganz recht. Aber so kann auch nichts fertig werden. Wollen Sie mir einmal den Bleistift erlauben?“

Sie reichte ihn halb widerwillig hin. Er zog einige rasche Striche über das Blatt und gab ihr dasselbe mit der Mappe und dem Stifte zurück. „So etwa! Nun werden Sie sich schon zurecht finden. Zeichnen Sie nur das Haidekraut und die Glockenblumen recht bestimmt und kräftig aus! Auch das giebt das Gefühl der Nähe und des räumlich Beschränkten.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie kühl und förmlich, ohne auf das Blatt zu sehen. Die dreiste Art des Fremden, dem sie sich doch nicht hatte entziehen können, verletzte sie.

Er mußte es wohl bemerken. „Ich störe nicht weiter,“ äußerte er, den Hut ziehend, ließ noch immer den Blick prüfend über die schlanke Gestalt gleiten und entfernte sich mit raschen Schritten.

Der Fußpfad war bald aufgefunden. Nach einer Weile schaute er zurück. Die junge Dame stand noch neben dem Steine und schien nun das Blatt aufmerksam zu betrachten. Dann wandte sie sich, vielleicht weil sie sein Stehenbleiben bemerkte. Als er nach weiteren hundert Schritten nochmals zurückschaute, ging sie dem Dorfe zu.

Es that ihm nun leid, daß er sie verscheucht hatte; er wunderte sich über sich selbst, daß er nicht an ihr vorübergegangen war. „Ein recht feines Gesichtchen,“ kritisirte er, „und sehr merkwürdige dunkelblaue Augen – ich möchte keinem rathen, zu tief hineinzusehen. So viel frisches Leben neben den uralten Grabstätten – der Gegenstand ist anziehend.“

Mit solchen Gedanken beschäftigt, lenkte er in einen Seitenausläufer der Schlucht ein, kletterte bis zu dem Steingerölle hinunter, das sich am Bache hin im Grunde aufgeschichtet hatte, gewann den Seestrand und kehrte an denselben bis zu den Badebuden von Rauschen zurück. Nachdem er sich durch ein Bad erquickt hatte, wanderte er über die Haide dem Dorfe und seinem Gasthause zu, dort die Visitenstunde abzuwarten.

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 5, S. 75–80
Fortsetzungsroman – Teil 5


[75]

6.

Frau von der Wehr wohnte in dem freundlichen, weißgetünchten Häuschen oberhalb der Schmiede, das einer Wittwe gehörte, die im Sommer ihre Stuben für die Badegäste ausräumte und sich bescheiden nebenan in der Scheune eine Stube herrichtete. Ein wohlerhaltener, ebenfalls mit weißem Kalk angestrichener Staketenzaun umschloß den kleinen Obstgarten. Aus dem Zelt hatte man eine hübsche Aussicht über den Mühlenteich und die grünen Hügel drüben. Wer nicht große Ansprüche machte, konnte dort im Juli und August einen stillen und behaglichen Aufenthalt finden.

Die Dame, die bei ihrer Arbeit im Zelte saß, trug nicht mehr ein schwarzes Kleid, aber das bleiche Gesicht zeigte einen grämlichen Zug, und die Stirn hatte einen finsteren Ausdruck. Das Leidensjahr hatte seine Spur zurückgelassen: diese Augen mochten heimlich viel geweint, dieser Mund oft geseufzt haben. Und doch bedurfte es vielleicht nur eines Sonnenblickes des Glückes, um die eigene Schönheit und Lieblichkeit dieser anmuthigen Erscheinung wieder zur vollen Geltung zu bringen.

Wer ihre letzten Lebensschicksale kannte, hätte vielleicht darauf eine Erklärung für die Wahl gerade dieses Sommeraufenthaltes finden können. Im allerkleinsten Maßstabe wiederholte sich hier die Localität, von der ihre Gedanken nicht lassen konnten. Da war ein wenig Berg und Thal; da glänzte der helle Wasserspiegel, und des Müllers Boot versuchte sich manchmal darauf sogar in Segelfahrten; da hob sich das Ufer staffelartig, besetzt mit kleinen Häusern, und in einem der höchsten und einsamsten wohnte sie selbst bei einer alten Wittwe, die sie immer versucht war Frau Ursel zu nennen. In der Ferne hoben sich zwar nicht die mächtigen Schneehäupter der Alpen, aber ein anderes Natur-Mächtiges mahnte oft an seine Nähe: das Meer mit seinem eintönigen Brausen. Trat sie Abends vor das Zelt und blickte sie auf den Teich hinab, der sich nicht in seiner ganzen Ausdehnung übersehen ließ, so konnte sie denken, jetzt stehe vielleicht Max Werner auf der Terrasse vor seinem Hause und blicke, wie sie, träumend von entschwundenem Glücke, der scheidenden Sonne nach. Was sie bewegte, durfte Niemand wissen, auch Irmgard nicht. Nie mehr war zwischen Mutter und Tochter von den Erlebnissen in Thun gesprochen, nie wieder des Malers Name genannt worden.

Der Architekt fand Frau von der Wehr im Zelte. Er hatte sein Kommen brieflich gemeldet, ohne doch den Tag zu bestimmen, und so kam er erwartet und zugleich unerwartet. Was der Referendar in Betreff ihrer äußeren Erscheinung mitgeteilt hatte, bestätigte sich ihm vollkommen, aber ebenso gab sich auch schon in den ersten Minuten eine krankhafte Erregbarkeit zu erkennen, die ihn, da er ihren Grund nicht ahnte, peinlich berühren mußte. Kaum hatte er sich vorgestellt und seine Absicht ausgesprochen, die vorläufigen Entwürfe zum Bau des Siechenhauses vorlegen zu wollen, damit die Damen ihre Wahl treffen könnten, als Frau von der Wehr von einem nervösen Zittern befallen wurde, in Thränen ausbrach und mühsam eine Entschuldigung stammelte. Die Erinnerung an ein sehr trauriges Ereigniß, sagte sie, das den Entschluß zu diesem wohlthätigen Werke hervorgerufen habe, überwältige sie.

Harder wollte nach einigen Stunden wiederkommen, aber sie hielt ihn zurück und versicherte, sie werde sich bald wieder beruhigt haben. So war es auch. Der Architekt konnte seine Rolle öffnen und die Zeichnungen auf dem Tische ausbreiten.

Eben war er damit beschäftigt, den Grundriß zu erklären, als Irmgard aus der Thür des Hauses trat und auf das nahe Zelt zuging. Sie trug ihre Mappe wie ein Präsentirbrett, wozu sie auch dem kleinen Malkasten und dem Wasserglase darauf dienen sollte. Der Architekt, der sich über den Tisch gebeugt hatte, richtete sich auf, um zu grüßen, und hob plötzlich den Kopf höher, als er sah, wer sich näherte. Auch Irmgard stutzte; das Wasser im Glase kam in eine schaukelnde Bewegung und floß über den Rand. Ein Blick aus den Tisch überzeugte sie, mit wem sie’s zu thun habe.

„Sie sind …?“ sagte sie und stockte.

„Der Architekt Robert Harder,“ ergänzte er lächelnd, „der sich den Damen vorstellen möchte, die ihn mit einem Bau zu beauftragen die Güte hatten. Ich habe zufällig schon heute früh das Vergnügen gehabt –“

„Sie also waren der Fremde, von dem Irmgard erzählte, als sie ungewöhnlich schnell von ihrem Morgenspaziergange zurückkehrte,“ sagte Frau von der Wehr, dem Mädchen freundlich zunickend. „Nun, ich finde nicht, daß Herr Harder so gar schreckhaft aussieht.“

„Das habe ich auch nicht behauptet,“ entgegnete Irmgard tief erröthend. „Es erschreckte mich nur, daß ein Fremder mich anredete – es erschreckte mich nicht einmal; nur daß er gleich meine Zeichnungen revidirte –“

„Ich bemerkte zu meinem größten Bedauern,“ fiel Harder

[76] entschuldigend ein, „daß ich Ihnen die stille Morgenstunde verleidet hatte. Hätte ich ahnen können, daß ich Sie vertreiben würde. …Aber es ist einmal geschehen, und nun trifft sich’s ja sehr gut, da ich wegen der Störung schnell um Verzeihung zu bitten im Stande bin und gleichsam die Vorstellung im Voraus abgemacht habe.“ Er deutete auf den Malkasten und das Glas. „Täusche ich mich nicht, so wollten Sie eben die Probe machen, ob mein Vorschlag wegen der dämmerigen Abendstimmung, der roth angehauchten Wolke und der Mondsichel in Farben ausführbar sei. Sie werden es nur nicht zugeben wollen.“

Irmgard zog die Lippe zwischen die Zähne. „Die Aufgabe reizte nach allerdings,“ sagte sie ein wenig trotzig, „und da ich lediglich zu meinem Vergnügen zeichne und male, so ist auch der kühnste Vergleich nicht zu kühn zu nennen.“

„Das will sagen, daß ich mich nicht im mindesten darum zu kümmern habe,“ bemerkte Harder mit einer feierlichen Verbeugung. „Gut! Ich werde abwarten, bis Sie selbst mir das wohlgelungene Blatt vorlegen.“

„Das wird nie geschehen,“ schwebte ihr auf der Zunge, aber sie hatte doch nicht den Muth es auszusprechen. Es war in seiner Art etwas Bestimmtes und Zuversichtliches, das seinen Eindruck nicht verfehlte.

Die Bauzeichnungen wurdet nun durchgesehen. Harder konnte mehrere Entwürfe zur Auswahl vorlegen; er hatte auch ältere Pläne mitgebracht, die sich leicht für den jetzigen Zweck umarbeiten ließen, wenn der Stil den Damen zusagte. Da zeigte sich nun aber sehr bald, daß Mutter und Tochter einen sehr verschiedenen Geschmack bekundeten. Frau von der Wehr gab dem Zierlichen und Gefälligen, Irmgard dem Bedeutenden und Imposanten den Vorzug; während die Mutter ein Haus wünschte, das schon in seinem Aeußeren den armen Kranken recht wohnlich erscheinen möchte, dachte die Tochter weit mehr an das Monument, das dem Andenken ihres Vaters zu setzen sei. Der Architekt, der wieder nur die würdigste Bethätigung seiner Kunst im Sinn hatte, trat Irmgard bei und hatte seine Freude daran, daß das Fräulein schließlich gerade den Entwurf als ihre Wahl bezeichnete, der ihm selbst der liebste war. Er konnte sich nicht enthalten, dies in seiner geraden Weise offen auszusprechen, und Irmgard schien darin sehr befriedigt ein Anerkenntniß ihres guten Geschmacks zu sehen.

Es handelte sich aber denn doch nicht nur nur die Façade, sondern wesentlich auch um die innere Einrichtung, und hier wurde es beiden Damen sehr schwer, sich aus den Grundrissen eine sichere Vorstellung zu machen. Frau von der Wehr meinte endlich, eine Entscheidung sei im Augenblick nicht zu treffen, sie wolle ihren Vetter, Rath Pfaff, benachrichtigen und zu einem Besuch einladen, damit er ihnen Beistand leiste. Ob Harder sich nicht ein paar Tage von den Strapazen der Reise hier erholen wolle? Er versicherte, daß er gern auf ein paar Wochen bleibe.

Frau von der Wehr lud ihn zu Mittag ein. Er sagte unter einer Verbeugung dankend zu.

„Das Beste ist, daß man alle Mahlzeiten hier im Freien einnimmt,“ meinte Irmgard. „Man lebt eigentlich nur im Zelt.“

„Und deshalb werde ich bitten müssen, das Zelt zu räumen,“ setzte die Mutter hinzu, „damit uns der Tisch gedeckt werden kann. Vielleicht zeigt Irmgard Ihnen indessen ein Stück unserer prächtigen Haide.“

„Ich bin bereit,“ sagte das Mädchen, das nun alle Befangenheit verloren hatte, sie lief in’s Haus nach ihrem Strohhute und winkte ihm zu folgen.

„Aber Sie kennen unsere Haide wohl schon?“ fragte sie, als sie auf den sanft ansteigenden Sandweg hinauskamen. „Wenn ich Sie heute früh recht verstand, sind Sie vor längerer Zeit einmal in dieser Gegend gewesen?“

„Freilich – vor längerer Zeit,“ antwortete er zögernd, „und ich war damals auch auf der Rauschener Haide, aber sie wird mir heute ganz neu sein.“

Sie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn mit aufmerksamen Augen an. „Warum?“

Er hielt den Blick tapfer aus. „Weil Sie meine Führerin sind. Haben Sie nicht schon selbst die Erfahrung gemacht, mein Fräulein, daß die Gesellschaft, in der wir einen Ort besuchen, für den Eindruck bestimmend ist?“

Sollte das eine Schmeichelei sein? Es klang gar nicht wie eine solche, und eine Ablehnung wäre daher ungeschickt gewesen. Aber sie fühlte doch auch, daß er nicht nur eine allgemeine Bemerkung zum Besten geben wollte; sie senkte die Augen und gab dem Gespräch rasch eine andere Wendung. „Von unserem Zauberwald wissen Sie sicher nichts,“ sagte sie schalkhaft lächelnd.

„Nicht das Mindeste.“

„Wir nennen ihn so, weil er sich wundersam schwer finden läßt. Wir haben ihn manchmal schon vergebens gesucht, und doch ist er ganz in der Nähe. Diese Sandstreifen zwischen dem Haidekraut sehen aus wie Wege und sind es doch nicht; sie kreuzen einander hinter jedem dieser kleinen Hügel, die gerade hoch genug sind, die Aussicht zu versperren, und schlägt man die falsche Richtung ein, so findet man sich gar nicht wieder zurecht, bis man die See unter sich hat. Aber heute verirre ich mich gewiß nicht.“

„Ein Wald, sollte ich meinen, könnte sich hier doch nicht verstecken.“

„Es ist eben ein ganz kleiner Wald. Er besteht aus lauter reizenden jungen Fichtenstämmchen. Und ein so köstlicher Duft von Harz und Thymian –!“

Sie führte ihren Begleiter sehr zuversichtlich die Kreuz und Quer, bis sie nach einer Weile einen lang hingestreckten Sandhügel vor sich hatten. Nun wurde sie plötzlich stutzig.

„Ich bin doch wieder falsch gegangen,“ sagte sie mit einem Anflug von Verdrießlichkeit. „Es ist wahrhaftig ein Zauberwald – er läßt sich nicht finden, wenn man ihn sucht.“

Der Architekt proponirte, auf den Sandhügel zu steigen; von dort müsse man doch eine Ueberschau haben. Sie folgte zwar, schüttelte aber den Kopf.

Man befand sich hier mitten auf der Haide. Bei weiteren Suchen nach dem Zauberwalde geriethen sie bald auf den Badeweg ungefähr an der Stelle, wo man durch eine tiefe Einsenkung eine reizende Aussicht über den waldumsäumten Wiesengrund hinter dem Mühlenteiche hat.

„Auch das ist ein lohnendes Ziel,“ meinte Harder.

„Aber es bleibt doch ärgerlich, wenn man fehl geht,“ schmollte das hübsche Mädchen. – –

„Bei Tische kam die Rede auf die Kapurnen. Ich möchte für mein Leben gern einmal das Innere einer solchen Grabstätte sehen,“ sagte Irmgard.

„Man könnte ja einen dieser Hügel öffnen,“ schlug der Architekt vor.

„Ach, die dort auf der Haide sind längst ausgeraubt.“

„Sie liegen auch gar zu offenkundig am Wege. Sollte man nicht an einsameren Orten –“

„O, ich glaube zu wissen, wo sie zu finden sind. Wenn man das Buchenwäldchen links an der Gausup durchstreift, trifft man Hügel von derselben Form und sicher von Menschenhand aufgeschüttet. Die Haide mag sich früher da hinein erstreckt haben.“

„Laßt die Todten ruhen!“ sagte Frau von der Wehr feierlich und mit fast finsterem Ausdrucke.

„Die Todten ruhen nicht, Mutter,“ antwortete Irmgard. „Was von ihnen hier zurückbleibt, ist wirklich nur ein Häuflein Asche; wer sie geliebt hat, mag auch diesen irdischer Rest mit treuer Sorge hüten; ist ihr Andenken ausgelöscht, so mag auch Erde wieder zu Erde werden. Sie selbst haben ja doch das ewige Leben.“

Frau von der Wehr antwortete nicht, aber die kleine Falte auf der Stirn furchte sich tiefer, und das Auge blickte eine Secunde lang wie umflort in’s Weite. Harder merkte wohl, daß hier auf der einen wie auf der anderen Seite religiöse Vorstellungen und Erinnerungen wirksam waren, die geschont sein wollten, und hielt deshalb seine Meinung zurück.

Am Nachmittage meinte Frau von der Wehr, sie habe dem Gaste zu Ehren an eine Fahrt nach der Försterei gedacht; man könnte ja im Buchenwäldchen den Wagen halten lassen und eine Strecke zu Fuß gehen. Das gefiel Irmgard, und Harder erklärte, daß er sich den Damen heute und alle Tage völlig zur Verfügung stelle.

Die kleinen Pferde des Bauernfuhrwerks erwiesen sich auf den Sandwegen als tüchtig und ausdauernd, und die Kapurnen wurden glücklich gefunden; Harder merkte sich die Stelle genau, [77] da er etwas in Gedanken hatte. Dann trank man in Hirschau den Kaffee und besuchte die uralte Linde, auf deren hohlem, bemoostem und wundersam verknolltem Stamme ein neuer Wald von mächtigen Stämmen zu wachsen schien.

Der Abend versprach sehr schön zu werden. Man beschloß, auf einem Umwege über Warnicken nach Hause zu fahren. An dem Pförtchen vor dem neuen Hôtel stieg man aus und ging sogleich in den Park. Einige Stufen führen seitwärts in die Wolfsschlucht. Harder bot den Damen seinen Arm, und Frau von der Wehr nahm ihn gern an, aber auch Irmgard weigerte sich nicht, ihm die Hand zu reichen, wenn die feuchten Steinstufen zur Vorsicht mahnten. Die Galanterie schien ihr nicht mehr, wie noch vor einem Jahre, eine sehr überflüssige Tugend zu sein, oder ihr diesmaliger Begleiter, der freilich sonst von galantem Wesen wenig an sich hatte, erfreute sich besonderer Gunst.

Je mehr die Schlucht sich vertiefte, desto mehr erweiterte sie sich auch. Das Laub der Bäume über ihnen wurde lichter, der blaue Himmel wieder sichtbar, und nun ließ sich auch ein sanftes Rauschen vernehmen wie von anschlagenden Wellen. Noch eine Biegung, und vor ihnen in dem dreieckigen Einschnitt des hohen Ufers lag die weitoffene See. Sie traten an den Strand hinaus, der mit Steinblöcken übersäet war. Tief in’s Wasser hinein zog sich das Lager, und an dem Auf- und Abtauchen der dunkeln Massen merkte man das Athmen des Meeres, von dem erfrischende Kühle dem Lande zuwehte. Die Damen ruhten auf einem breiten Stein aus; Robert lagerte sich vor ihnen in den weißen Sand. Bald aber war Irmgard wieder auf. Sie suchte kleine flache Steine, warf sie schräge gegen den Wasserspiegel und merkte, wie oft sie aufschlagen würden. Harder half ihr suchen und ermittelte die schönsten Stücke. Nun meinte sie, man sollte einmal um die Wette werfen, und wurde immer eifriger in neuen Versuchen, seine Geschicklichkeit zu überbieten. Er ließ ihr den Sieg. „Nein, das gilt nicht,“ rief sie, ich habe wohl gesehen, „daß Sie nicht mit aller Kraft werfen.“ Er überholte sie nun so weit, daß sie den Kampf aufgab. „So, nun bin ich zufrieden,“ sagte sie. Das Gesicht glühte ihr.

Man stieg wieder hinauf und wandelte unter den schattigen Riesenbäumen hin, die scharf an der Uferkante gegen das Meer hin Wache stehen. Und dann ein Sonnenuntergang über dem Meere, von der hohen Fuchsspitze aus genossen, und eine Rückfahrt im Mondschein! Das war ein herrlicher Tag, gestand sich der Architekt. Aber wie konnte dieses reizende, jugendfrische Mädchen auf den Gedanken kommen, nicht zu heirathen und ein Siechenhaus zu gründen! philosophirte er. Jede Marotte muß doch wenigstens einen Scheingrund haben, aber hier … Man merkt nicht einmal, daß die Melancholie der Mama ansteckend gewesen. Nun – was kümmert’s mich? Ich baue. –

Am nächsten Vormittag war er schon zeitig im Zelt. Irmgard behandelte ihn jetzt mit aller Vertraulichkeit wie einen alten Bekannten. Sie zeigte ihm unaufgefordert ihre Malerei, bei der sie die Morgenstunden verbracht hatte, und klagte, daß sie den düstern Ton gar nicht treffe. „Ich würde Ihnen schwerlich den Vorschlag gemacht haben,“ sagte er, „wenn ich Sie damals gekannt hätte. Sie müssen immer blauen Himmel und heiteren Sonnenschein malen.“

„O, Sie kennen mich auch jetzt noch gar nicht,“ versicherte sie ganz ernst, „ich kann auch furchtbar schwermüthig sein.“

Er mußte lachen, und sie lachte mit.

„Sie mögen’s glauben oder nicht,“ schmollte sie dann. „Und jedenfalls habe ich das Bild nun einmal angefangen und will’s auch fertig in meiner Mappe sehen.“

„Zum Andenken an den unartigen Menschen,“ setzte er hinzu, „der die Zeichnung tadelte.“

„Gut – auch das!“ sagte sie nach kurzem Besinnen. „Ganz aufrichtig, ich habe mich so sehr über Sie geärgert … aber Sie hatten ganz Recht.“

Er nahm ihr den Pinsel aus der kleinen Hand und legte nach seinem Sinn die Grundfarbe auf. Sie beugte sich vor und sah ihm zu. „Was Sie aber für Courage haben!“ rief sie mit aufrichtiger Bewunderung.

„Ich gebe nur im Ganzen die Stimmung an,“ meinte er, „die Ausführung in allem Einzelnen bleibt Ihnen.“

Abends wurde ein gemeinsamer Spaziergang nach der Sassauer Gräberei unternommen. Der Weg führte den Bach entlang und bald auch an den weißen Sandbergen hin. Man mußte die Sandzungen überschreiten, die sich über das Wiesengrün vorstreckten und an einigen Stellen den Bach halb verschüttet hatten. Das Gespräch kam ganz von selbst auf diesen sehr traurigen Anblick. Da zeige sich recht auffällig die zerstörende Gewalt der Natur, äußerte Harder, in der nur das Uebermächtige Recht habe. Dieser Thalgrund sei recht dazu geschaffen, eine grüne Wiese zu tragen, und jeder Grashalm scheine auch zu sprechen: Ich kann und ich will leben. Und nun lege sich der Sand recht wie eine Leichendecke darüber, nicht den Tod verhüllend, sondern das Leben erstickend. Frau von der Wehr hörte ihm aufmerksam zu.

„Ist es nicht mitunter auch Menschenschicksal,“ sagte sie mit einem leisen Seufzer, „lebendig begraben zu werden? Es giebt solch grünes Leben, über das der Sand hinweht; es wehrt sich gegen seinen Druck; es möchte ihn abschütteln – vergebens. Körnchen sammelt sich zu Körnchen, bis nach Jahren Niemand mehr weiß, was die Wüste deckt.“

Irmgard war nachdenklich geworden; sie blieb einige Schritte zurück. Als Harder nach ihr umschaute, bemerkte er, daß sie die Augen gesenkt hatte. Es war ihr nicht nur eine allgemeine Sentenz, was ihre Mutter so wehmüthig geäußert hatte.

Sie überschritten den Kamm und stiegen auf der anderen Seite in den gewaltigen Kessel hinunter, den die Bernsteingräber gegen die See hin ausgehöhlt hatten. – Der Tag schloß mit einer Fahrt auf dem Mühlenteiche, bei der sich jedoch Frau von der Wehr nicht betheiligte. Sie fahre ungern auf dem Wasser, sagte sie. Dem jungen Manne war es nicht unlieb, mit Irmgard im Boot allein zu sein. Sie wollte in die Bucht, in der die weißen Mummeln schwammen, bückte sich über den Rand des Bootes und zog sie an ihren langen Stengeln aus dem Wasser. Er glaubte sie halten zu müssen, damit sie nicht in den Teich falle. Sie ließ es lachend geschehen. Dann ruderte er langsam am Gebüsche entlang, immer den Blick auf ihre Hand gerichtet, die bemüht war, aus den weißen Blumen einen Kranz herzustellen. „Die Wassernixen tragen solche Kränze,“ sagte sie, „wenn sie im Nebel tanzen.“

„Und für wen ist dieser?“ fragte er.

Sie schien zu überlegen. „Für den Wassermann!“ rief sie dann und schleuderte den Kranz weit hinaus.

Er lenkte das Boot dorthin. „Der will ich sein,“ sagte er und fischte ihn auf. –

Am andern Tage kam Rath Pfaff. Er brachte den Referendar Hell und drei andere junge Herren mit, die zusammen ein Sängerquartett bildeten und Abends auf dem Teiche „eine Vorstellung geben“ wollten. Darauf sollte im Saale des Gasthauses getanzt werden.

Während sie die nöthigen Vorbereitungen trafen, wurden im Zelt die Pläne vorgelegt. „Beste Cousine,“ äußerte sich der Rath, „Sie wissen, daß ich kein Freund von dem ganzen Project bin. Wollen Sie einmal in Ihrem Testamente Ihr Vermögen oder einen Theil davon einem wohlthätigen Zwecke bestimmen, so wird man das sehr löblich finden, und ob Irmgard in ähnlicher Weise über das ihrige verfügen will, wenn sie keine anderen Verpflichtungen hat, kann ihr überlassen bleiben. Jetzt aber gleichsam mit der Welt abschließen, sich ihrer Güter entäußern und alle Gedanken auf den Himmel richten – ich begreife weder das Bedürfniß, noch die Nothwendigkeit. Ich beschwöre Sie, theuerste Cousine, geben Sie ein Vornehmen auf, das zugleich für Ihres Kindes ganzes Leben bestimmend werden muß, für ein Leben, das kaum angefangen hat, sich zu entfalten.“

Frau von der Wehr sah finster vor sich hin. „Es handelt sich um etwas Unabänderliches,“ sagte sie. „Eine nähere Erklärung muß ich Ihnen schuldig bleiben, aber glauben Sie meiner Versicherung, daß hier vollendete Thatsachen den Ausschlag geben. So viel nur darf ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß die Idee von Irmgard selbst ausgegangen ist, daß ihr Wille geschieht.“

Der Rath schüttelte bedenklich den Kopf. „Dann ist sie um so ungesünder. Ein so junges Geschöpf, so unerfahren, ist unkundig der eigenen Wünsche und Neigungen … Beste Cousine, Sie dürfen da nicht als schwache Mutter nachgeben. Wenn ich sehe, welche Veränderungen ein einziges Jahr hervorgebracht hat! Irmgard ist in ihrem ganzen Wesen kaum wiederzuerkennen, [78] und noch ist ihre Entwickelung nicht abgeschlossen. Ich bin überzeugt, sie versteht schon heute nicht mehr, was ihr noch vor wenigen Monaten das allein Richtige schien und –“

Frau von der Wehr unterbrach ihn mit allen Zeichen der Unruhe. „Es giebt Entschlüsse,“ sagte sie, „die man nicht bereuen darf, weil man die Thatsachen nicht mehr ändern kann, auf denen sie beruhten. Irmgard wird bestätigen, daß es nicht von meinem Willen abhängt, den Dingen einen andern Lauf zu geben.“

Irmgard war das Blut in’s Gesicht geschossen. Obgleich sie den Baumeister, der hinter seinen Plänen abwartend stand, nicht ansah, glaubte sie doch zu errathen, daß sie von ihm scharf beobachtet würde. Nun ihre Mutter sich auf sie berief, wich plötzlich wieder alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie lehnte den Kopf an deren Schulter und sagte: „Es war mein Wille.“

Die Worte hatten einen zaghaften Klang, schienen aber doch weitere Einwendungen des alten Herrn nicht zu gestatten. Er fügte sich denn auch und ging auf das Project selbst ein. Irmgard betheiligte sich nun bei dem Gespräche, das zwischen ihm und dem Architekten sehr lebhaft geführt wurde, gar nicht. Es machte auch auf sie keinen bemerklichen Eindruck, daß der Rath sich schließlich für den Entwurf entschied, dem sie selbst den Vorzug gegeben hatte.

Der wackere alte Herr hatte aber seine Bedenken keineswegs als beseitigt angesehen. Sobald sich die Gelegenheit fand mit Harder allein zu sprechen, sagte er diesem: „Es mag ein wunderliches Ansinnen an einen Baumeister sein, seinen Bau selbst vereiteln zu sollen, aber wenn Sie sich einen Gotteslohn erwerben wollen, thun Sie das Ihrige, ihn nicht zu Stande kommen zu lassen! Will meine Cousine eine barmherzige Schwester werden – das mag sich begreifen lassen. Aber Irmgard! Das alte Herz thut mir weh, wenn ich mir vorstelle, daß sie damit wirklich Ernst machen könnte. Lassen Sie’s an Weiterungen nicht fehlen, zögern Sie die Sache hin, erfinden Sie Schwierigkeiten, vertrösten Sie von einem Monat zum anderen! Aus zwölf wird ein Jahr, und in einem Jahre kann sich die Gestalt der Dinge sehr verändern.“

Harder glaubte diesem vertraulichen Ansinnen gegenüber sich die Frage erlauben zu dürfen, welcher Grund denn eigentlich die Damen zu einem so entscheidenden Schritte veranlasse.

„Ja, darüber kann ich nur sehr unvollkommene Auskunft geben,“ antwortete der Rath achselzuckend, „denn daß der Tod des Mannes und Vaters diese Gemüther so tief erschüttert habe, daß sie alle Hoffnung des Gesundens aufgeben müßten, halte ich selbst für unwahrscheinlich. Ich denke mir und reime mir’s aus allerhand Andeutungen zusammen, daß im vorigen Jahre, als die Damen in der Schweiz waren, etwas vorgegangen ist, woraus sie ein Geheimniß machen. Ich sah sie dort in Begleitung eines Herrn, der ganz absonderliche Beziehungen zu haben schien.“

„Zu Irmgard?“ fragte der junge Mann lebhaft.

Der Rath schüttelte den Kopf. „Zu ihrer Mutter. Elise war so froh und glücklich … sie schien vergessen zu haben, was sie Schmerzliches durchlebt hatte. Als ich sie dann wiedersah, hatte sich der traurige Umschlag vollzogen, der seine Nachwirkung noch jetzt äußert. Irmgard aber, die ich damals sehr unliebenswürdig fand, war nun ganz Zärtlichkeit für sie. Reimen Sie sich’s zusammen, wenn Sie’s können! Meinem alten Kopfe will nur so viel einleuchten, daß zwischen Mutter und Tochter eine Differenz gewesen ist, die in diesem wunderlichen Project ihren Abschluß gefunden hat.“

Irmgard war den ganzen Tag über still und nachdenklich. Abends, als das Boot des Müllers, mit hellen Ampeln behängt, unter den Linden vorglitt und das Quartett sich in getragenen Liedern vernehmen ließ, stand sie am Staketenzaun und sah träumend auf den Deich hinab. Robert Harder trat zu ihr und lauschte ebenfalls dem Gesange. Es schien wenigstens so. Aber seine Gedanken waren nur bei seiner schönen räthselhaften Nachbarin.

„Ich habe mit den Herren etwas verabredet,“ sagte er nach einer Weile, „das Sie interessiren wird.“

„Und das wäre?“

„Wir wollen morgen früh im Buchenwäldchen eine der Kapurnen öffnen, die Sie entdeckt haben.“

„Ohne mich?“

„Nein, gerade für Sie.“

„Um welche Zeit soll ich mich bereit halten?“

„Wir werden einige Stunden mit Spaten und Hacke zu arbeiten haben, bis wir auf das Steinlager stoßen, und wir können nicht verlangen, daß Sie uns dabei Gesellschaft leisten, mein Fräulein. Aber ich verspreche Ihnen, daß kein Stein gehoben werden soll, bevor Sie im Walde eintreffen. Richten Sie sich also ganz nach Ihrer Bequemlichkeit ein!“

„Ich danke Ihnen. Sie sollen nicht zu lange auf mich warten dürfen.“

Das bekannte „integer vitae –“ schallte hinauf. „Was heißt das?“ fragte sie.

Er übersetzte ihr die erste Strophe. „Das ist gewißlich wahr,“ sagte sie. „Und im Gegentheile: wer ein unruhiges Herz hat … Spricht der Dichter auch von dem?“

„Nein! Er schildert als höchsten Lohn eines schuldlosen Lebens die Freuden einer das Herz beglückenden Liebe. Hören Sie nur: eines reizenden Mädchens gedenkt er da am Schlusse – seiner Lalage, der hold kosenden und wonnig lächelnden. Die Sänger da auf dem Wasser wissen wohl, was sie singen, plötzlich heben sich die Stimmen und hallen jubelnd aus.“

Sie schwieg darauf. Nach einer langen Pause fragte sie: „Glauben Sie, daß ein Mensch, den wir lieben, uns sterben kann?“

Er wartete verwundert, ob sie sich deutlicher erklären würde. „Sie meinen, ob in unserm Gefühle für ihn …?“

„Nein, nein! Ob er mit dem Tode aufhören kann zu sein, was er uns war, ob wir in Ewigkeit mit ihm verbunden bleiben, ob er immer Anspruch auf unsere Treue hat und uns einmal für sich fordern wird? Wenn die Seele unsterblich ist –“

„Wenn!“

„Zweifeln Sie daran?“

„Man kann da leider nur eine Gewißheit haben.“

„Und welche?“

„Daß es uns Menschen unmöglich ist, zur Gewißheit darüber zu gelangen.“

„Außer durch den Glauben.“

„Ueber den man nicht disputiren soll. Es ist auch ein Glaube an die Sterblichkeit der Seele denkbar, ein sehr frommer Glaube, der jede Selbstsucht abstreift und sich nicht beunruhigt fühlt durch die Zuversicht, daß es nach dem Tode kein Ich und Du geben werde, sondern nur eine Rückkehr der Seele in die große Weltseele, aus der sie der Leib abgeschieden hatte.“

„Und es bliebe uns keine Rückerinnerung?“

„Würden wir ihrer dann bedürfen? Wir wären ja Eins mit Allem.“

Sie stützte den Kopf in die Hand und sah ihn eine Weile fragend an, ohne zu sprechen. Dann sagte sie: „Kann man einen Todten beleidigen?“

„Ihn in uns und uns in ihm,“ antwortete er.

„Und er selbst hätte kein Gefühl der Kränkung, die unsere Untreue ihm zufügt?“

„Wie sollte er? Ist er nicht auch nach Ihrem Glauben ein Wesen, das ganz geistiges Ich ist, nur beschäftigt mit seiner eigenen Vervollkommnung, nur zugewandt dem Lichte, in dem es sich zu verklären trachtet? – Aber sagen Sie mir, warum beschweren Sie sich mit solchen Gedanken?“

„Sie sind nun einmal in mir,“ sagte sie leise, „und Sie wissen nicht …“

„Was weiß ich nicht?“

„Ach! es ist unsagbar.“ – –


Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 6, S. 91–94
Fortsetzungsroman – Teil 6


[91]

7.

Die jungen Herren arbeiteten trotz des frischen Morgens und des Waldschattens im Schweiße ihres Angesichts an der alten Grabstätte der heidnischen Preußen. Sie hatten auf Harder’s Wunsch den höchsten Hügel ausgewählt. Der Referendar war der Eifrigste und Neugierigste; denn Harder hatte Damenbesuch zugesagt, und er merkte wohl, wer gemeint war. „Nun –?“ fragte er heimlich, „haben Sie sich noch so kaltes Blut bewahrt?“

„Vollkommen!“ versicherte Harder. „Es thut mir leid, Ihr Schicksal nicht theilen zu können.“

Der Referendar präparirte eine Cigarre. „Ach!“ sagte er lächelnd, „ich würde Ihnen diese Eroberung von Herzen gönnen; meine kleine Wunde ist längst vernarbt. Ich habe kürzlich eine Bekanntschaft gemacht, wissen Sie –!“ Er legte die Finger auf den Mund, als wollte er sich selbst Schweigen gebieten. Dabei blitzten ihm die Augen. – –

Irmgard hatte ihre Mutter vermocht, sie zu begleiten. Als die Damen anlangten, war eben einer der Spaten auf einen Stein gestoßen. Irmgard wollte nun selbst mithelfen, und man ließ ihr den Willen. Die Steine wurden oben und an der einen Seite gänzlich freigelegt, sodaß sich nun ein roher Bau erkennen ließ: auf einem Viereck von Feldsteinen lagen einige große platte Steine als Decke; vorn war eine Lücke gelassen, die wie eine kleine Thür zu dem Gewölbe erschien. Die Herren wälzten die Platten ab.

Der innere Raum war mit weißem Seesand mehrere Zoll hoch gefüllt gewesen; jetzt zeigte er sich fast überall mit der Erde überschüttet, die durch die breiten Fugen eingedrungen war. Es standen darin zwei Urnen von braungelbem Thon, die eine mit, die andere ohne Deckel. Die größere brach bei der ersten Berührung in kleine Scherben zusammen; die andere leistete, als Irmgard sie behutsam heraushob, mehr Widerstand; nur der Rand bröckelte ab. Sie schüttete den Inhalt von Asche und Kohlenresten auf ein Tuch. Dabei fiel zu ihrer großen Freude auch eine hübschgeformte Fibula von Bronze heraus, wie sie zum Zusammenhalten des Gewandes gebraucht wurde. Im Sande fanden sich noch das Eisengestell eines Pferdezaumes, eine Lanzenspitze, beides stark vom Rost angefressen, ein Häuflein rohbearbeiteter Bernsteinperlen, die zu einer Schnur gehört haben mochten, und einige Münzen aus der späteren römischen Kaiserzeit. Alle Gegenstände wurden von den Herren sehr galant dem Fräulein überreicht, unter dessen glücklichen Auspicien der Fund gemacht worden war.

Harder hielt, als die kleine Gesellschaft sich mit der Entzifferung der schwer leserlichen Inschriften auf den Münzen beschäftigte, eine Nachlese in der Asche, die der zusammengebrochenen Urne entfallen war, indem er sie mit einem spitzen Stöckchen durchsuchte. Dabei blieb etwas auf der Spitze stecken. Er nahm es ab, reinigte es von Erde und steckte es, wie er glaubte, unbemerkt zu sich.

Irmgard aber hatte ihn beobachtet. Als nun die Asche aus dem Tuch wieder in den Steinkasten geschüttet, die Steinplatte darüber gewälzt und die Erde in die Oeffnung des Hügels zurückgeworfen worden war, die kleine Gesellschaft aber den Rückweg antrat, schloß sie sich an Harder an, der absichtlich etwas zurückzubleiben schien, und begann ein Gespräch mit ihm. „Unsere Ausbeute ist recht zufriedenstellend,“ sagte sie. „Die Grabstätte scheint einem Krieger gedient zu haben, das eiserne Mundstück des Zaumes und die Lanzenspitze deuten darauf. Auch ist der Gewandhalter zu groß, um zu einem Frauenkleide gehört zu haben.“

„Ganz recht,“ antwortete er, „aber die Bernsteinperlen gehörten doch wohl einem weiblichen Schmuck an. Wir fanden ja auch zwei Urnen.“

„Aber in der zweiten war nur Asche. Oder haben Sie eine Entdeckung gemacht? Ich bemerkte, daß Sie einen kleinen Gegenstand aufhoben und an sich nahmen.“

„Ich stand also unter scharfer Aufsicht. Nun – eine Unterschlagung war nicht beabsichtigt, wie ich versichern darf.“

„Ach, wie können Sie so sprechen! Es hat ja jeder das beste Recht auf das, was er findet. Und wenn die Herren so freundlich waren –“

„Ich wollte aber auch etwas zu schenken haben, und etwas ganz Besonderes dazu. Wozu brauchten es die Andern zu wissen?“

„Sie machen mich neugierig.“

„In dem Steingehäuse – davon bin ich überzeugt – haben die Aschenurnen eines Mannes und einer Frau gestanden. Ich denke mir, die Frau war seine Frau, und sie starb jung. Er errichtete ihr dieses Grabmal und ließ in dem Steinkasten Raum für seine eigenen Reste. Nach seinem Tode wurde der Hügel geöffnet und seine Urne beigesetzt.“

Irmgard sah ihn überrascht an. „Woraus wollen Sie das schließen?“ fragte sie.

„Aus dem Umstande, daß die erste Urne zerfiel. Sie war die ältere und schon einmal dem Zutritte der Luft ausgesetzt gewesen, vielleicht auch beim Abräumen der Decksteine damals schon beschädigt worden.“

„Das läßt sich hören. Aber warum sagen Sie, daß die Frau jung war, als sie starb? Wissen Sie nicht auch gar, das sie schön gewesen ist?“

[92] „Spotten Sie nur! Ich habe doch meine Gründe. Der Mann muß seine Frau zärtlich geliebt haben, da er neben ihr ruhen wollte und einen so stattlichen Grabhügel für sie ausrichtete. Warum sollen wir nicht annehmen, daß sie ihm früh verstorben war, wenn wir schon dichten? Aber ich mache auch noch einen andern Schluß: junge Frauen schmücken sich gern.“

„Ah! die Bernsteinperlen!“

„Sie nicht allein. Ich darf behaupten, daß die junge Dame eine sehr kleine Hand gehabt hat –“ er warf einen Blick seitwärts – „ich glaube, keine größere Hand, als Sie, mein Fräulein.“

Irmgard versteckte unwillkürlich ihre Hand in den Falten des Kleides. „Als ich? Wie kommen Sie darauf?“

Er griff in die Tasche. „Wenn Sie einmal die Probe gestatten wollen.“ Er trat ganz nahe an sie heran, haschte ihre Hand und zog ihr einen Ring auf den Finger, der eine mehrmals gewundene Schlange darstellte, die Windungen bestanden aus glattem Silberdraht, nur Kopf und Schwanz waren figürlich dargestellt. „Sehen Sie – das Ringelchen paßt vortrefflich.“

Das junge Mädchen wurde blutroth im Gesichte. Die Hand zuckte und entzog sich ihm doch nicht. „Ein Ring?“ stammelte der kaum geöffnete Mund. „Und den fanden Sie in der Asche – und den soll ich …“

„Behalten, wie alle die übrigen Sachen,“ ergänzte er, „vielleicht auch zum Andenken an diesen Tag tragen – zum Andenken an die junge schöne Frau, um die gewiß einmal viel Thränen geflossen sind, die sie verdiente, und die geliebt war, wie die beste und glücklichste ihres Geschlechts.“

„Die geliebt war …“ wiederholte Irmgard ganz leise. Sie sah unverwandt auf den Ring an ihrem Finger, und ihre Augen wurden feucht.

„Und wenn Sie nun die kleine Schlange betrachten,“ fuhr er fort, die sich so zierlich um den Finger ringelt, „so gedenken Sie dessen, daß vor vielen, vielen hundert Jahren einmal ein Augenblick war, dem dieser Ring eine frohe Bedeutung gab. Dann werden Sie selbst froh sein und beglücken wollen. Eine bessere Auslegung weiß ich diesem Funde nicht zu geben.“

Sie ging schweigend neben ihm her, bis sie mit den Vorausgeeilten zusammentrafen. Vielleicht um den Ring nicht sehen zu lassen, zog sie einen Handschuh an. Als ihre Mutter den Ring zu Hause bemerkte, sagte Irmgard: „Er wurde auch in der Kapurne gefunden.“

Es war vielleicht nur Täuschung, wenn Robert Harder sich einredete, sie erröthe jedesmal, sobald ihr Blick von ihm ab auf den Ring streifte. Er wiederholte sich dann in Gedanken, ohne es zu wollen, die Worte, die er zu ihr gesprochen hatte, und meinte, sie müsse die gleiche Erinnerung haben.

Rath Pfaff hatte mit dem Quartett einen weiteren Ausflug nach Brüsterort verabredet, Frau von der Wehr, die sich für verpflichtet hielt, den Architekten als ihren Gast möglichst gut zu unterhalten, erklärte sich zur Mitfahrt bereit. Es wurde deshalb noch ein zweiter Wagen bestellt.

Man bestieg den Leuchtthurm, um die weite Aussicht über die Nord- und Westküste des Samlandes und über das Meer recht aus der Höhe zu genießen. Dann wurde den Tauchern auf der See ein Besuch abgestattet, bei dem sich jedoch die ältere Dame nicht betheiligte, die reiche Bernsteinkammer besichtigt, der Taucherapparat genau in Augenschein genommen und spät erst die Rückfahrt angetreten. Man hatte auf den Mond gerechnet, aber der Himmel hatte sich bewölkt, da ein starker Seenebel aufstieg, und die Leuchte war recht trübe.

Der „Musikwagen“, wie ihn der Referendar nannte, fuhr voran. Das Quartett wurde nicht müde zu musiciren. Auf dem zweiten Wagen saß der Rath neben Frau von der Wehr und hinter ihnen Harder neben Irmgard. Man hatte nicht nöthig zu plaudern, da der Gesang das Ohr beschäftigte – wenigstens schienen die jungen Leute durchaus dieser Meinung zu sein. Es lag wohl an der mangelhaften Construction des Strohgefäßes, daß sie einander näher und näher rückten, wie es aber gekommen war, daß ihre Hände sich gefunden hatten und nun festhielten, dafür wußten sie wahrscheinlich selbst den ausreichenden Grund nicht anzugeben. –

Irmgard befand sich in jenem Traumzustande des Glückes, der sich nur des unendlich wonnigen Gefühls bewußt ist, etwas ganz Neues, Wundersames, bis dahin nie Geahntes zu erleben, in eine reichere und lichtere Welt einzutreten, nicht aber das Bedürfniß hat, sich über diese Veränderung aufzuklären oder ihren Bedingungen nachzuforschen. Sie wußte nicht, „wie ihr geschehen“, beunruhigte sich aber auch nicht darüber, daß sie’s nicht wußte. Nie vorher hatte sie so wenig über sich nachgedacht, nie sich so ganz als eine fühlende Seele empfunden. Es war, als ob alle die Thüren des Hauses, in dem sie sich heimisch wußte, nicht nur geschlossen, sondern gänzlich verschwunden wären und die Wände, wie bloße Täuschungen des Auges, überall freien Durchlaß in einen magisch erleuchteten Garten von lauter unbekannten und doch gar nicht befremdenden Bäumen und Blumen gewährten. So träumte sie, bevor sie einschlief, und so träumte sie wieder, als sie erwachte. Sie liebte, aber sie war weit entfernt, sich zu sagen, daß sie liebe. Sie fühlte sich nur sehr glücklich, sehr glücklich, sehr wohl. Als sie sich des Morgens bei einer Näharbeit tief in den Finger stach, merkte sie es erst, als das Blut tropfte: der körperliche Schmerz war ohnmächtig gegen dieses Gefühl des Wohlseins, das den ganzen Menschen erfaßt hatte.

Erst als Robert Harder kam und ihr zum Gruß die Hand reichte – dieselbe Hand, welche heimlich von der ihren Besitz genommen hatte – erhielt dieses Gefühl eine bestimmte Richtung auf die Person. Ein leises Zittern befiel sie. Unwillkürlich gab sie ihm nicht die rechte, sondern die linke Hand, an der sie den Schlangenring trug, und schien dann darüber zu erschrecken, als der gesenkte Blick ihn streifte. Harder war in seiner ganzen Art milder, weicher als sonst, aber nicht befangen; seine Ruhe und Sicherheit gab auch ihrem Wesen die frühere Unbefangenheit zurück. Er sagte ihr, daß er den Zauberwald gefunden habe und sich getraue, sie ohne Umwege dorthin zu führen. Es war in seinen Worten wieder etwas, das über ihre gewöhnliche Bedeutung hinausging, aber sie forschte nicht nach dem geheimen Sinne; es schien sich ihr ganz von selbst zu verstehen, daß Alles, was er zu ihr sprach, einen geheimen Sinn haben müßte.

Auf die Haide zu gehen, dazu war das Wetter nicht einladend. Die Wolken hatten sich völlig seit der Nacht zusammengezogen, und nun hing die graue einförmige Masse schwer über dem sonst so freundlichen Thale. Der Westwind schüttelte von Zeit zu Zeit dichte Regenschauer hinaus zur großen Freude der Landleute, deren sandige Aecker von der Dürre viel zu leiden gehabt hatten. Zum Glück hatte das Zelt eine feste Decke; die Damen konnten auch während des Regens darin verweilen, und Harder leistete ihnen Gesellschaft.

Irmgard brachte ihre Mappe mit Zeichnungen und ihre Skizzenbücher. Harder hatte schon früher den Wunsch ausgesprochen, sie zu sehen; nun gab sie unaufgefordert, was sie damals verweigert hatte. Er bemühte sich zum Dank dafür ein recht milder Kritiker zu sein. Nur zu loben, war freilich zu sehr gegen seine Art.

Wie er nun so langsam Blatt nach Blatt umschlug und zu jedem seine klugen Bemerkungen machte, schien plötzlich seine Aufmerksamkeit in ungewöhnlicher Weise beansprucht zu werden. Er hob den Kopf, setzte sich aufrecht, brachte die Zeichnung in einige Entfernung vom Auge und sah mit einem fragenden Blicke darauf hin. Irmgard, die seitwärts saß, wußte nicht sogleich, um welche Aufnahme es sich handelte, bemerkte aber sein besonderes Interesse. Wie sie sich nun vorbeugte, um über seinen Arm hin das Blatt zu mustern, fuhr sie erschreckt zurück und griff mit der Hand danach, um es ihm zu entziehen.

„Ach! das ist nichts,“ sagte sie eilig, „eine ganz verunglückte Skizze! Ich hätte sie längst vernichten sollen.“

Er ließ das Blatt nicht los. „Die Perspective ist allerdings verfehlt,“ antwortete er, „und auch das Verhältniß von Höhe und Breite nicht richtig getroffen, aber das ist’s nicht, was mir bei dieser Zeichnung auffällt. Der Gegenstand selbst … Wie sind Sie zu diesem Hause gekommen?“

„Ach, fragen Sie nicht!“ bat sie ängstlich. „Es ist eine unglückliche Verknüpfung von Umständen, die – die …“

Ihre Mutter wurde aufmerksam. „Was ist das für ein Haus?“ fragte sie. Nun sah sie auch von ihrer Arbeit auf und zu dem Blatte hin, das Harder ihr zugewendet hatte, obgleich Irmgard es zu hindern suchte. Sie wurde bleich. „Ah, das!“ stieß sie leise hervor. „Ich wußte nicht, daß Du jene Zeichnung …“

Irmgard war aufgesprungen und zu ihr geeilt, umfaßte sie und sagte beruhigend: „Sie sollte Dir nie vor Augen kommen – ich selbst hatte sie vergessen.“

[93] Frau von der Wehr gewann ihre Fassung wieder. „Das Haus ist Ihnen bekannt?“ fragte sie den Architekten.

„Gewiß,“ antwortete derselbe, „es müßte denn ein zweites ihm völlig ähnliches geben. Mein Onkel wohnt seit vielen Jahren darin.“

„Ihr Onkel?“

„Der Maler Max Werner.“

„Er ist –?“

„Mein Onkel. Aber was ist daran so verwundernswerth oder erschreckend? Ich bemerke, daß die Damen …“

Irmgard wendete sich rasch ab, als wollte sie sich nicht in’s Gesicht sehen lassen. Sie legte die Hand auf’s Herz und schien schwer und beklommen zu athmen. Ihre Mutter saß eine Weile vorgebeugt und die Augen auf den jungen Mann geheftet, der sich nun erst als der Neffe des Malers zu erkennen gab, den er immer nur mit seinem Vornamen genannt hatte. Es war eine sehr peinliche Minute. „Sie scheinen meinen Onkel zu kennen,“ sagte Harder, um sie abzukürzen, „und die Bewegung, in der ich Sie sehe, verräth mir, daß Sie einigen Antheil an seiner Person nehmen.“

„Er war einmal mein Lehrer,“ antwortete Frau von der Wehr, sich zur Ruhe zwingend, „und wir begegneten ihm letzten Sommer in der Schweiz. Die Zeichnung, die Irmgard aufbewahrt hat, erinnert uns an einen Besuch, den wir – seinem einsamen Hause machten.“

„Sie waren also die beiden Damen,“ rief Harder, „von denen die alte Ursel so geheimnißvoll sprach? Ihre Andeutungen blieben mir unverständlich; so viel nur ging für mich daraus hervor, daß das Zusammentreffen mit denselben ihren sonderbaren Herrn in ganz ungewöhnliche Aufregung versetzt hätte und gewisse Veränderungen in der häuslichen Einrichtung auf sie zurückzuführen seien.“

Frau von der Wehr ließ die Augenlider tief hinabsinken, um nicht zu verrathen, was in ihr vorging. „Sie sahen also Ihren Onkel – nach uns?“ sagte sie. „O, bitte – theilen Sie mir etwas von ihm mit. Wie fanden Sie ihn?“

„Ich besuchte ihn im Spätherbst,“ erzählte der Architekt, „als ich von Paris zurückkam, um ihm für die großen Wohltaten zu danken, die er mir von Kindheit an erwiesen, und ihm zu sagen, daß ich seiner Unterstützung nun nicht weiter bedürfen würde. Er war damals in seinem einsamen Hause auf der Höhe schon tief eingeschneit und nur mit einiger Beschwerde zu erreichen. Seine Existenz schien mir sehr kümmerlich, wenn schon die alte Frau in ihrer Art mütterlich für ihn sorgte. Er bewies aber auch gegen alles, was seine Leiblichkeit anging, die allergrößte Gleichgültigkeit. Ich hatte ihn mehrere Jahre nicht gesehen und fand ihn sehr verändert. Damals war er schwermüthig und mied den Umgang mit Menschen, aber in seinem Urtheile über sie zeigte er sich milde, und die Kunst war ihm eine erheiternde Genossin; nun hatte sein Wesen etwas Finsteres und Verschlossenes, und seine Bemerkungen klangen oft sarkastisch. So meinte er, als ich mich darüber verwunderte, daß in einem seiner Zimmer ein gedeckter Tisch stand, dem nur die Speisen fehlten –“

Frau von der Wehr zuckte mit den Augenwimpern und den Spitzen der Finger. Er bemerkte es und pausirte. „Fahren Sie nur fort!“ bat sie.

„Er meinte lachend, es sei gut, sich immer die gedeckte Tafel vor Augen zu halten, an die man sich nicht setzen dürfe. Und dann sprach er das bekannte: ‚Zwischen Lipp’ und Kelchesrand –‘ mit schwermütigstem Ausdruck wie etwas Selbsterlebtes. Er hat viel Trauriges im Leben erfahren – davon bin ich fest überzeugt. Gesprochen freilich hat er zu mir nie davon. Ich denke mir, daß eine unglückliche Jugendliebe sein Dasein früh verstört haben muß. Was hätte er der Kunst leisten können, wenn seinem Leben wärmerer Sonnenschein zu Theil geworden wäre! Er hat von früh auf gegen widrige Verhältnisse ankämpfen müssen. Auf dem Platze, den ihm die Natur anwies, wäre er ein Bauer geworden; seine Eltern bestimmten ihn zum Stubenmaler. Er arbeitete sich durch zur freien Kunst, und was er in besserer Zeit geleistet hat, ist mehr als achtenswerth. Aber ihm fehlte die Liebe, und so ist er verkümmert.“

„Er malt doch noch?“ fragte sie bestürzt.

„Wenig. In seinem Atelier fand ich am ersten Fenster vor einem kleinen Sopha, das früher dort fehlte, eine verhangene Staffelei. Unbefangen hob ich die Decke und sah darunter ein reizendes Bild, das ein Touristenabenteuer im Gebirge darstellte. Sobald er meine Voreiligkeit bemerkte, trat er hinzu und riß mir das Tuch aus der Hand. Das werde Niemand mehr mit den zwei Augen sehen, sagte er, die zuletzt darauf geblickt hätten; es sollte verhüllt bleiben, bis man es einmal zu Häupten seines Sarges aufstelle. Er litt auch wunderlicher Weise nicht, daß sich Jemand auf das Sopha setzte. Er selbst malte jetzt am zweiten Fenster – die lächerlichsten Caricaturen.“

„O mein Gott!“ rief Frau von der Wehr mit einem schmerzlichen Seufzer aus gepreßter Brust, und Irmgard’s Hand zitterte auf der Stuhllehne.

„Ich blieb eine Woche lang bei ihm,“ fuhr der Architekt fort, „fürchtete aber ihn länger lästig zu fallen. Ich hörte von der Alten, daß er den größten Theil des Tages – öfters auch halbe Nächte – auf dem See zubringe. Er hätte ein Boot gekauft, sagte sie, einen Fährmann brauchte er nicht. Sturm und Regen hielten ihn nicht am Lande zurück; es sei zu verwundern, meinten die Leute unten, daß er nicht längst seine Waghalsigkeit mit dem Leben gebüßt habe. Ich machte ihm freundliche Vorstellungen, aber er meinte lachend, es lohne den finsteren Gewalten gar nicht, ein so schwaches Gefäß, wie ihn, zu verderben. Und übrigens fahre immer der gute Geist einer glücklichen Stunde seines Lebens mit ihm und lasse nicht zu, daß ihm ein Leid geschehe. Was könne ihm auch der Tod –“

Die unglückliche Frau vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Sie schluchzte laut auf, hielt das Tuch vor die Augen und entfernte sich mit schwankenden Schritten aus dem Zelte. Harder, bestürzt über den Eindruck seiner Erzählung, erhob sich rasch, um sie nach dem Hause zu führen, aber sie winkte ihm mit der Hand zu bleiben.

„Mein Himmel!“ rief er, „was habe ich gethan? Irmgard – was ist’s mit Ihrer Mutter? Was hat das zu bedeuten?“

Das arme Mädchen war ganz verwirrt und todtenbleich.

„Sie können ja nichts dafür,“ stammelte sie, „nicht daß Sie sein Neffe sind, nicht daß meine Mutter … o, daß diese unselige Zeichnung … daß Sie von ihm sprechen mußten –!“

„Aber wie konnte ich ahnen? Und noch jetzt weiß ich nicht – – Irmgard, was ist geschehen? Vertrauen Sie mir Alles!“

„Nein, nein, nein!“ wehrte sie heftig ab. „Ihnen am wenigsten – Sie würden mich hassen.“

„Irmgard –!“

„Nein, es ist unsagbar – ich kann’s nicht sagen.“

Er drang noch weiter in sie, aber sie schüttelte nur immer den Kopf und wiederholte: „es ist unsagbar.“

Sie schieden diesmal ganz anders als sonst. – –

Und auch am nächsten und am dritten Tage wollte die Spannung nicht nachlassen; sie verstärkte sich eher noch, je mehr vergebliche Versuche Harder machte, die Damen heiterer zu stimmen. Frau von der Wehr war von einer Unruhe gepeinigt, die sich nothwendig auch ihrer Umgebung mitteilen mußte. Irmgard beobachtete sie ängstlich, ging ihr auf Schritt und Tritt nach und wandte ihr alle Sorge einer zärtlichen Krankenpflegerin zu. Dagegen wich sie Harder aus, vermied es, auch nur auf Minuten mit ihm allein zu sein. Es war, als ob sie ihn jetzt fürchtete. Er suchte sie hinauszulocken, indem er an den Zauberwald erinnerte, den sie zusammen noch immer nicht entdeckt hätten, aber sie achtete kaum darauf. Er schlug Abends eine Kahnfahrt auf dem Mühlenteiche vor, aber sie lehnte ihre Begleitung in fast schroffer Weise ab. Harder war von Natur nicht der Geduldigste; wäre seine Neigung nicht schon so stark gewesen, er hätte sehr bald seine Pläne eingepackt und die Rückreise angetreten.

Nun konnte er sich doch nicht entschließen, Abschied zu nehmen. Er war sich bewußt, von seiner Seite bei diesem auffallenden Bruche der Freundschaft nichts verschuldet zu haben. Daß eine nahe Beziehung zwischen Frau von der Wehr und seinem Onkel bestand oder bestanden hatte, daß vor einem Jahre eine Annäherung stattfand, die Hoffnungen erweckte, und daß dann eine empfindliche Störung irgend welcher Art dazwischengetreten war, reimte er sich aus den Andeutungen dort und hier wohl zusammen, aber warum behandelte man ihn nun plötzlich wie einen Fremden, da er ihnen doch als ein Verwandter Max Werner’s näher getreten sein sollte? Denn daß Frau von der Wehr nicht [94] im Zorn von diesem geschieden war, bewies ihre warme Theilnahme an seinem Schicksal. Wenn sie aber auch schwieg, weil sie litt, warum entzog Irmgard ihm ihr Vertrauen? Jetzt gerade hätte es sich bewähren müssen. Sich von ihr zu lösen, war schon eine sehr schwere Aufgabe, aber er fühlte sich in recht geärgerter Stimmung und hatte das Bedürfniß, irgend etwas zu thun, was eine männliche Haltung bekundete, ohne doch ganz zu brechen.

So wanderte er denn eines Morgens in’s Land hinein, seinem Heimathsdorfe zu, dem er noch den Besuch schuldig war. Er konnte sich dort aufhalten, so lange es ihm gefiel, und auch wieder rasch zur Stelle sein, wenn man ihn rief oder das Herz ihn zurücktrieb. Er ließ im Gasthaus Kunde zurück, wo er zu finden sei, sagte aber den Damen nichts von seinem Vorhaben, um doch zu zeigen, daß er seine freundschaftlichen Mittheilungen nicht aufdringen wolle. Das kam ihm schon nach einer halben Stunde Weges wie kindischer Trotz vor, aber es war nun nichts mehr zu ändern.

Irmgard erschrak, als er nicht zur gewohnten Stunde kam. Es war ihr gleich gewiß, daß es seine Absicht war, nicht zu kommen. Sie hatte den Wunsch gehabt, er möchte abreisen, wo möglich erklären, daß er den Bauauftrag zurückgebe; sie sagte sich, daß ihre Mutter durch ihn immer wieder an Max Werner erinnert werden müßte. Nun er sich aber wirklich zurückzog, fühlte ihr Herz einen so heftigen Schmerz, daß sie sich Vorwürfe machte, ihn vertrieben zu haben, denn daß sie es war, die ihn vertrieb, darüber tauchte nicht der mindeste Zweifel bei ihr auf. Und sie hätte ihn doch beim besten Willen nicht sagen können, was sie ihm so plötzlich entfremdete. Konnte sie’s doch sich selbst nicht einmal klar sagen!

Was ihr bis vor Kurzem als das allein Rechte und Richtige erschienen war, gerieth in ihrer Vorstellung nun in’s Schwanken. Aber nicht der Verstand rüttelte daran, sondern das Herz, und die Stimme, die sich da heimlich mahnend vernehmen ließ, hatte vorher nie mitgesprochen. Sie sprach auch jetzt nicht in Worten, es war ihr nicht Antwort zu geben in Worten. Sie wirkte wie eine das Gemüth besänftigende und zu mildester Stimmung zwingende Musik. In die Zukunft konnte sie gar nicht denken, es gab nichts Zukünftiges für sie, nur eine Gegenwart, die sie zugleich beglückte und beängstigte, und eine Vergangenheit, in der vor ihren Augen zerbröckelte, was sie felsenfest gedünkt hatte. Das Bild des Vaters erblaßte, wenn sie sich den Lebenden vorstellte, und nahm eine festere Gestalt an, wenn sie an dem Todten dachte. Er war nun wirklich gestorben, und was in ihr von ihm fortlebte, das begehrte für sich kein ausschließliches Recht, das konnte nicht beeinträchtigt werden durch ein anderes Gesicht. Und je mehr dieses andere Gefühl erstarkte, desto schwächer äußerte sich der eifersüchtige Drang, im Herzen der Mutter das Andenken an den Vater durch keine andere Neigung gestört zu wissen. Sie fing an – was früher nie geschehen war – darüber zu grübeln, wie es wohl möglich gewesen sein könnte, daß ihre Mutter als junges Mädchen den Maler liebte und daß sie sich doch fremden Wünschen fügte. Hatte sie sich doch vor einem Jahr, gewiß mit sehr schweren Herzen, ihren eigenen Wünschen gefügt!

Nun erst begriff sie, daß ihre Mutter ihr ein Opfer gebracht haben müßte, so groß sie’s in ihrem kindischen Eifer nie zu fordern gemeint hätte. Max Werner erschien ihr jetzt in ganz anderem Lichte; sie empfand nicht nur aufrichtiges Mitleid mit ihm, er wurde ihr auch ein viel liebenswürdigerer Mensch. Es erschreckte sie nicht mehr, an den Augenblick zurückzudenken, als sie ihre Mutter in seinen Armen sah. Daß sie den nächsten Anlaß zum Wiederfinden der Beiden gegeben hatte, war sie nun schon sehr geneigt, als eine Fügung des Himmels anzusehen, die ihr Unverstand gewaltsam anders lenken wollte. Ihr eigenes Mißbehagen empfand sie nun wie eine Strafe dafür.

Sie konnte das bekümmerte Gesicht der Mutter nicht mehr betrachten, ohne im Innersten beunruhigt zu werden. So entschloß sie sich denn, sie zu nöthigen, das Schweigen zu brechen. „Es kann so zwischen uns nicht bleiben, Mutter,“ sagte sie, ihre Hand ergreifend und mit heißen Küssen bedeckend. „Ich erkenne jetzt erst, wie weh ich Dir gethan habe. Laß mich Alles wissen -“

„Wovon sprichst Du?“ fragte Frau von der Wehr kalt ablehnend.

„Von meiner Thorheit und Lieblosigkeit,“ rief Irmgard, „von Deinem Unglück, von dem trostlosen Schicksal eines Mannes, den ich –“

„Das ist vorbei,“ unterbrach die Mutter, „rühre nicht daran!“

„Und doch laß mich mehr erfahren, als ich damals in meinem kindischen Unverstand hören wollte! Du botest mir Deine Freundschaft an, Mutter – ich trotzte auf Deine Liebe; ich rang Dir ein Opfer ab, dessen Größe ich gar nicht erfassen konnte. Und gewiß, ich wäre sehr unglücklich gewesen, wenn Du mir es nicht gebracht hättest; ich glaubte es allen Ernstes nicht erleben zu können, Dich so zu verlieren. Jetzt denke ich ruhiger darüber. Wenn heute dieselbe Frage –“

Frau von der Wehr schüttelte der Kopf. „Das Schicksal stellt dieselbe Frage nie zweimal. Sie ist beantwortet.“

„Aber ich sehe Dich schwer leiden, Mutter, ich mache mir Vorwürfe – ich weiß, daß ich Dir und ihm Unrecht that.“

„Dein Bedenken kommt zu spät.“

„So versage mir wenigstens Dein Vertrauen nicht, damit ich ganz mit Dir fühlen kann! Es darf nicht etwas zwischen uns stehen, das ängstlich gemieden werden muß. Nicht wahr, Du liebtest jenen Max Werner -“

„Sprich nicht von ihm!“

„Du liebtest ihn, bevor Du meinen Vater kanntest? Es muß so sein.“

„Es war so.“

„Und Du hast meinen Vater Deine Hand gereicht – ohne …“ Ihre Stimme zitterte.

„Ohne tiefere Herzensneigung – gezwungen.“

„Gezwungen? Durch wen gezwungen?“

„Durch meinen Vater. Es war meine Schwäche, daß ich nachgab; Du weißt, wie schwach ich bin.“

„Aber wie konnte ein Vater …?“

Ein strafender Blick traf sie. „Wie konnte ein Kind –?!“

Irmgard sank neben ihr nieder und drückte das Gesicht in ihren Schooß. „Mutter! kannst Du verzeih’n?“

Frau von der Wehr legte ihre Hand auf Irmgard’s blondes Haar. „Ich kann’s,“ sagte sie. „Ich hatte schon überwunden. Nur die unerwartete Mahnung … Doch genug! Kein Wort weiter davon – es ist abgethan.“

„Aber Du liebst ihn noch,“ sagte Irmgard leise, ohne den Kopf zu erheben.

Ihre Mutter sah schmerzlich zum Himmel auf; die Lippen bebten, die Augen glänzten feucht. „Ich habe verzichtet,“ antwortete sie, „aber mein Gefühl darf ich nicht verleugnen: ich liebe ihn; ich werde ihn lieben, so lange ich athme.“ –

Irmgard drang nicht weiter in sie. Aber am nächsten Morgen stand sie früh mit der Sonne auf, kleidete sich ganz leise an, um die Mutter nicht zu wecken, nahm ihre Briefmappe und ging in’s Zelt. Sie schrieb; die Feder flog über das Papier; jedes Wort schien längst vorbedacht zu sein. „Mit Gott!“ sagte sie, als sie die Feder fortlegte, und faltete die Hände.


Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 7, S. 109–113
Fortsetzungsroman – Teil 7


[109]

8.

Seitdem war in Irmgard’s Herzen wieder Friede. Ihre natürliche Heiterkeit kehrte zurück; sie machte wieder ihre Spaziergänge, zeichnete nach der Natur, arbeitete an dem Farbenbilde, zu dem Harder ihr die Idee gegeben hatte. Es war ihr nun gewiß, daß er nicht für immer geschieden sein könnte, sondern bald zurückkehren und den freundschaftlichen Umgang fortsetzen würde, nach dem sie sich schon so sehr sehnte. Er konnte zwar nicht wissen, daß etwas geschehen war, woran auch er Freude haben dürfte. Da sich nun in ihr ein Stimmungswechsel vollzogen hatte, der das Gemüth befreite, so meinte sie, daß auch außer ihr alles freundlicher und leichter geworden sein müßte. Die Welt ist in uns.

Sie behandelte die Mutter mit zärtlichster Aufmerksamkeit, aber doch in ganz anderer Weise, als vorher. Nicht wie eine hoffnungslos Traurige, deren Leid fortgeschmeichelt werden soll, sondern wie eine betrübte Freundin, die auf ein frohes Ereigniß vorzubereiten ist, das doch noch nicht genannt werden darf. Sie ruhte nicht, bis sie ihre Begleitung zu Spaziergängen auf die Haide und an den Seestrand zusagte; sie wußte auch einen Verkehr mit anderen Badegästen einzuleiten: es sähe ja aus, als ob sie ein böses Gewissen hätten, meinte sie, wenn sie sich der Gesellschaft ganz entzögen.

Als nun Gerichtsrath Pfaff hinüber kam, theilte er mit, daß das Vergnügungscomité für einen bestimmten Tag eine Festivität in Warnicken geplant habe, bei der sich natürlich auch Rauschen betheiligen müßte, und erzählte nebenbei, daß Referendar Hell eine Eroberung gemacht habe, die bald zu Tage kommen würde. Irmgard stellte sich sogleich auf seine Seite. Frau von der Wehr war schnell gewonnen, nicht ohne ihre Verwunderung darüber auszusprechen, daß ihr Töchterchen plötzlich so lebenslustig geworden sei.

Ob nun Robert Harder auf seinem Dorfe erfahren hatte, was im Werke sei, ober ob ihn die Sehnsucht zurücktrieb – er war am Abend vor dem Festtage wieder in Rauschen. Irmgard stand am Staketenzaun und sah ihn den Weg hinaufkommen, der am Hause vorbei nach der Haide führte. Er schien danach nicht beabsichtigt zu haben, einzukehren, blickte aber doch hinauf, grüßte und blieb stehen. Irmgard nickte so freundlich; das ganze feine Gesichtchen war wie mit Purpur übergossen.

Er kletterte nun den ziemlich steilen Anberg hinauf, indem er sich an den hohen Wermuthstauden festhielt, stellte sich ihr gegenüber an den Zaun und reichte ihr die Hand. Sie trug noch den Schlangenring – das war ihm ein gutes Zeichen. Es wurde eine Weile von allerhand gleichgültigen Dingen geplaudert, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Nur daß immer auf beiden Seiten das Bemühen durchleuchtete, recht unbefangen zu erscheinen. Dann fragte sie, ob er nicht der Mutter einen guten Abend sagen wolle. Wenn er nicht unlieb zu kommen fürchten dürfe –? Er wollte nun wieder hinab, und auf dem richtigen Wege zur Gartenthür, aber sie meinte, der Zaun sei ja nicht hoch.

„Gut,“ sagte er, „so will ich einsteigen, wie ein Dieb in der Nacht, aber vergessen Sie nicht, daß Sie meine Mithelferin sind!“ Sie lachte und stützte seinen Arm.

Er blieb nun, wie er früher geblieben war, bis der Wächter mahnte. Es wurde viel von dem Feste am nächsten Tage gesprochen, ob das Wetter sich halten werde und was diese und jene Anzeichen zu bedeuten hätten? Gestern und vorgestern hatte wieder eine schwüle Hitze geherrscht. Heute stand über der See eine Wolkenbank mit scharfem Gezack, aber sie rührte sich schon seit Stunden nicht. Die Fischer wurden befragt, was sie davon hielten. Es könne besser und schlechter werden, meinten sie, und damit war man so klug als vorher. Alle Unschlüssigkeit hatte ein Ende, als um drei Uhr die Wagen aus Kuhren anlangten: das Vergnügungscomité hatte decretirt, daß das Wetter gut bleiben werde.

Die Fuhrwerke der Rauschener Wirthe standen schon angespannt. Man stieg auf, wo sich gerade ein Platz fand, nur daß „die Jugend“ zusammenhielt und den älteren Herrschaften den Vortritt ließ. So kam’s, daß die letzten Wagen nur mit jungen Leuten besetzt waren. Mit Gesang ging es durch’s Dorf und den Sandweg hinauf zur Höhe. Dort blies der Wind doch so kräftig, daß Hüte fortflogen und die Sonnenschirme der Damen geschlossen werden mußten.

Als man eine Viertelstunde unterwegs war, fuhr der Bauer den Wagen, auf dem Harder und Irmgard saßen, beim Abbiegen auf dem tiefen Sandgeleise so kräftig gegen einen Stein, daß das Rad brach. Mann mußte aussteigen und versuchen, den Schaden zu bessern. „Fahrt nur weiter!“ rief man den Andern zu, „wir kommen bald nach.“ Es hätte sich auf dem letzten Wagen auch nur mit Mühe Raum schaffen lassen.

Versuche, mit einer Nothspeiche und Stricken zu helfen,

[110] wurden angestellt. Ein Theil der munteren Gesellschaft hatte sich zu Fuß nach der Försterei aufgemacht, und zuletzt blieb neben dem Architekten nur Irmgard zurück. Der Schaden am Rade war nicht zu curiren.

„Dann freilich wird auch uns nichts übrig bleiben, als den Weg zu Fuß zu machen,“ meinte Harder.

„Aber die Andern sind weit voraus,“ warf Irmgard ein.

„Wir müssen ihnen also folgen,“ entgegnete er.

„Allerdings…“ Sie zögerte unschlüssig. „Sollten wir nicht lieber – umkehren…?“

Er sah sie überrascht an. „Umkehren? Ah – Sie wollen nicht mit mir allein –“

„O, nicht das –!“ fiel sie rasch ein. „Aber das Wetter droht ernstlich…“ Sie erröthete, wie auf einer Lüge ertappt.

„Wie Sie wollen, mein Fräulein!“ sagte er, sich zurückwendend. „Es thut ja nichts, wenn man uns auslacht.“

Sie blieb stehen. „Wenn man uns … Sie haben Recht, man wird uns auslachen. Aber es ist ja nicht nöthig, daß Sie mich nach Hause begleiten.“

„Das wird mir jedenfalls ein größeres Vergnügen sein, als allein an dem Feste Theil zu nehmen.“

„So wollen wir doch lieber…“ Sie strich das Haar aus der Stirn und wandte das Gesicht gegen den Wind. „Gehen wir!“

Er ließ ihr nicht Zeit, wieder bedenklich zu werden. Hatte er’s auch nicht darauf abgesehen gehabt, mit ihr allein zu bleiben, so konnte ihm doch etwas Lieberes kaum passiren. Nun sie sich einmal entschlossen hatte, ihn zu begleiten, wich auch rasch jede Schüchternheit. – Der Himmel über ihnen war theilweise noch blau; die Gluth der Sonne, wenn sie durch eine Wolkenlücke brach, schien stechend. Die dunkle Barre über der See hatte sich gehoben und ihre zackigen Kuppen weit vorgestreckt. Die Wolken, die mit dem Winde jagten, kamen dahinter hervor und gingen darüber hinweg. Die langsam bewegliche Masse zeigte eine unheimlich gelbröthliche Färbung. Irmgard blickte nicht ohne Besorgniß darauf. „Wir werden hier unbarmherzig vom Winde zerzaust,“ sagte Harder; „und ich möchte darauf wetten, unten am Strande ist’s windstill.“

„Steigen wir also hinab!“ meinte Irmgard, die sich von Zeit zu Zeit zurückwenden mußte, um Athem zu schöpfen.

Sie bogen nach der Haide zu ein und fanden bald einen Fischersteg, der ohne große Beschwerlichkeit zum Seestrande hinableitete. Wirklich war hier unten der Luftzug viel schwächer. Nur mitunter stieß der Wind hinab oder um eine vorspringende Ecke und trieb ihnen den Sand in’s Gesicht. Wie schauerlich einsam war’s hier! Unwillkürlich beschleunigten sie ihre Schritte. Nur hin und wieder fiel ein ermuthigendes Wort.

Das sanftere Zackengewölk über der See hob sich nun plötzlich rascher. Das Meer schien weithin nur noch als ein weißes Schaumgewoge. Immer wüthender peitschten die Wellen den flachen Strand; jede folgende näßte ihn in weiterem Halbzirkel. Es war, als ob empörte Wassergeister unermüdlich das Land stürmten, um es in ihr nasses Reich hinabzuschlingen. Harder rief von Zeit zu Zeit ein lautes „Ho–a–ho!“ darüber hin, als wollte er zeigen, daß die menschliche Stimme noch Macht habe, dieses Getose der Elemente zu übertönen.

So waren sie, ohne im Sande rasch fortzukommen, etwa eine Stunde gegangen, als der Strand sich verengte. Man mußte um eine vortretende Spitze des hohen Ufers herum, von der ein Zug gewaltiger Steinblöcke sich weit in die See hinaus erstreckte. Hier war der Ansturm der Wellen besonders stark; sie suchten die festgelagerten Steine aus dem Sande herauszuwaschen, und der Gischt der Brandung spritzte darüber hin zur steilen Wand hinauf. Irmgard stutzte doch vor dem Uebergange. „Reichen Sie mir die Hand!“ bat der Architekt, „man muß von Stein zu Stein springen, damit man bald unter dieser Douche hinwegkommt.“

Sie zögerte.

„Fürchten Sie sich?“ fragte er. „Dann kehren wir um.“

Sie zwang sich. „Ich fürchte mich nicht,“ antwortete sie entschlossen. „Wo Sie gehen, gehe auch ich. Führen Sie mich!“

Sie hielt ihm nun die Hand hin und ließ sich auf ein Steingerölle hinaufziehen, von dem man dann in kürzeren und weiteren Sprüngen über naß glatte Blöcke und angespülte Baumwurzeln wieder den flachen Strand erreichte. Er war aber hier, und so weit sich aus der Entfernung erkennen ließ, bis zum nächsten Vorsprung hin, so schmal, daß die Wellen fast bis an die steile Uferhöhe spülten und nur einen Weg von wenigen Schritten Breite freiließen. Mitunter leckte eine Wasserzunge auch darüber hin und höhlte den Sand und Lehm am Anberge aus. Man mußte dann eine Secunde abwarten und beim Rückzuge schnell die gefährliche Stelle überspringen. „Wir hätten doch lieber umkehren sollen,“ verrieth Irmgard ihre Besorgniß. Sie schaute dabei ängstlich nach der Wolkenwand seitwärts, die immer höher stieg und jetzt zeitweise von Blitzen durchleuchtet wurde, während die Sonne sich ganz versteckt zu haben schien.

„Nun müssen wir weiter,“ entschied er. „Hinter jenem zweiten Vorsprunge öffnet sich bald die Wolfsschlucht, in der wir ja geborgen sind. Sie ist nicht gefährlich, wie die im ‚Freischütz‘.“ Ihre Hand hatte er nicht mehr losgelassen und zog sie nun rascher mit sich fort. Ihre Lage schien ihm vielleicht selbst kritisch zu werden.

Bald war es nicht mehr möglich, jeder voreilenden Welle auszuweichen. Sie mußten von Zeit zu Zeit eine Strecke am Ufer hinklettern, um nicht ganz durchnäßt zu werden.

Nun ließ sich auch ferner Donner vernehmen; das Gewitter zog schnell in die Höhe und näherte sich von Minute zu Minute. Auch im Westen und Osten wurde es hell. Wie sehr der Sturm an Heftigkeit wuchs, zeigten die mächtigen Bäume hoch oben an der Uferkante; sie schienen bei jedem neuen Stoße wurzellos werden zu müssen. Als die Beiden in die Nähe des zweiten Vorsprungs kamen, überzeugten sie sich sogleich, daß hier ein Uebergang ganz unmöglich zu finden sei. Welle folgte auf Welle in rasender Eile, und der Wind stieß so gewaltsam um die Ecke, daß man sich auf den nassen Steinen nicht halten konnte.

„Wir kommen hier nicht durch,“ sagte Harder, nachdem er einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, dicht am Ufer hin feste Stützen für den Fuß zu ermitteln; „drüben ist der Lehm völlig unterwaschen, weil der Wind von dort her kommt. Wir müssen nun doch zurück.“

Aber man kam nun auch in entgegengesetzter Richtung nicht mehr weit. Vor dem heraneilenden Gewitter her übte der Sturm einen solchen Druck auf das Wasser aus, daß jetzt der ganze schmale Strand in der Bucht überspült war und bei jedem Schritte die Gefahr größer wurde, fortgerissen zu werden. Das steile Ufer aber war nicht zu erklettern. Nun fielen auch dicke Tropfen aus dem tiefziehenden Gewölk nieder, den Platzregen ankündend, der in wenigen Secunden losbrechen mußte. Es war eine verzweifelte Aussicht, ihn ohne jeden Schutz hier im Freien abzuwarten.

Da entdeckte Harder’s scharfes Auge in einiger Entfernung, etwa in halber Höhe des Uferberges, eine dunkle Stelle, die eine Vertiefung sein mußte. Er zeigte mit der Hand darauf und rief:

„Dorthin, Irmgard! Wir müssen das Unwetter vorüberziehen lassen. Gestrenge Herren regieren nicht lange.“

Er begann sogleich zu klettern, wühlte mit dem Fuß den Sand fort, um an den schwierigsten Stellen Stufen herzustellen, zog sie an der Hand nach und erreichte glücklich mit ihr einen Vorsprung, der mit Strauchwerk bewachsen war und für den Nothfall sicheren Halt gewährte. Von dort ließ sich deutlich erkennen, daß jene Vertiefung von Menschenhänden aufgewühlt war. Wahrscheinlich hatten die Fischer Bernstein gewittert und, trotz der Wachsamkeit des Strandwächters, in der Nacht „rabuscht“. Der Zugang war nicht leicht, aber nach einigem Suchen wurde doch ein schmaler Pfad durch das Gebüsch dahin entdeckt. Sie fanden eine kleine, schräg abgesenkte Höhle, groß genug um ihnen ein schützendes Obdach zu gewähren.

Kaum waren sie eingetreten, als der Regen in Strömen losbrach und einige Minuten lang See und Himmel verschleierte.

„Gott sei Dank,“ athmete er erleichtert auf, „daß wir im Trocknen und so gut geborgen sind!“

Sie hielt zitternd seinen Arm fest und zuckte bei jedem Blitze zusammen. Es war plötzlich dunkel geworden, wie nach Sonnenuntergang.

Allmählich gewöhnte sie sich an das Schauerliche ihrer Lage und gewann so viel Muth, um sich in der Höhle umzusehen. Diese verengte sich bald bis zu einem breiten und niedrigen Loche von Spatentiefe; die blaue Erde war aufgewühlt und gegen den [111] Rand hin geworfen, sodaß sich hier ein niedriger Damm gebildet hatte, der nun das Eindringen des Regenwassers hinderte. Einige große Steine waren bloßgelegt.

„Da haben wir zu unserer größeren Bequemlichkeit auch eine Bank,“ scherzte er, um sie zu ermuthigen. „Was fehlt uns noch?“ Sie fühlte sich zum Umsinken ermattet und nahm gern neben ihm Platz.

Blitz auf Blitz züngelte durch das schwarze Gewölk; der Donner rollte fast unaufhörlich; der Regen prasselte nieder; die Wellen brandeten wuchtig unter ihnen. Irmgard deckte die Hände über die Augen. „Es ist, als ob die Welt untergehen sollte,“ sagte sie nach einer Weile. „Und wer weiß – am Ende geht sie auch unter.“

Er lachte, aber er fühlte sich doch nicht ganz wohl dabei. Die Angst des lieben Mädchens schien ihm ganz gerechtfertigt, und er wußte sich verantwortlich für dessen Wohl und Wehe. „Wenn es wirklich so schlimm kommen sollte,“ antwortete er, „so wäre es mir wenigstens ein Trost, daß wir beisammen sind.“

„Mir auch,“ sagte sie leise.

Die zwei Worte klangen ihm wie eine süße Melodie durch den Gewittersturm. Er entgegnete darauf nichts, rückte aber auf dem Steine ein wenig seitwärts, bis sein Arm ihre Schulter berührte. Sie merkte es und lehnte sich an ihn.

„Es ist recht schauerlich,“ begann sie nach einer Pause wieder. „Wenn auch die Welt nicht untergeht, es könnte doch sein, daß wir Beide …“

„Was fürchten Sie?“

„Eigentlich nichts – aber doch! Daß uns hier ein Blitz trifft oder daß der Boden weicht und wir in die See hinabstürzen, oder sonst ein Unfall –“

„Hoffen wir, daß nichts der Art geschieht!“

„Aber bereiten wir uns doch auf das Schlimmste vor!“ Sie faltete die Hände und blickte eine Weile vor sich hin. Dann sagte sie leise und zögernd: „Es muß schön sein, in solchem Moment ein ganz reines Gewissen zu haben.“

„Daran fehlt es Ihnen doch gewiß nicht.“

„Wer weiß?“

„Was könnten Sie, Irmgard –?“

„Nicht wahr, Sie sind in den letzten Tagen mit mir recht unzufrieden gewesen? Deshalb gingen Sie fort…“

„Wie dürfte ich …“

„Nein, nein! Sagen Sie’s nur gerade heraus! Und Sie haben auch Grund dazu gehabt. Ich war nicht aufrichtig gegen Sie – ich hatte etwas, das ich Ihnen nicht meinte sagen zu können. Sie glauben nicht, wie mich das gequält hat. Und jetzt …“

„Wenn’s ein Geheimniß ist, so will ich es achten; seien Sie deshalb ganz ruhig!“

„Aber ich fühle, daß es vor Ihnen kein Geheimniß sein darf. Lassen Sie mich Ihnen Alles beichten!“

Sie wendete ihm dabei das Gesicht zu und sah ihn mit ihren unschuldigen blauen Augen so voll Innigkeit und Vertrauen an, daß ihm ganz wundersam zu Muthe ward. Jetzt oder nie! tönte es aus seinem Herzen herauf.

„Wohl! ich will Ihre Beichte anhören,“ sagte er, indem er ihre beiden Hände faßte und ihr freundlich zunickte; „aber dann erst, wenn ich weiß, daß ich ganze Macht über Ihr Herz habe – daß ich binden und lösen kann, wie ein Priester, dem sich die Seele öffnet.“

Nun wurde ihr recht beklommen zu Muthe. Sie senkte ängstlich den Blick und zog die Arme straff, als könnte sie ihn so ferner halten. „Eine Stunde wie diese,“ fuhr er fort, „kehrt nicht so leicht wieder, wo wir ganz abgeschlossen von der Welt nur mit einander sind, als wären wir Zwei die einzigen lebenden Wesen. Irmgard – was kümmert uns der Sturm der Elemente, wenn in uns Friede ist? Lassen Sie uns mitten im Aufruhre der Natur einen Bund für’s Leben schließen, der uns den Frieden giebt! Ich fühl’s, daß wir einander bestimmt sind – es wäre ein Frevel, wenn wir die Stimme des Herzens nicht hören wollten, die doch so laut spricht. Irmgard – ich liebe Sie. Und wenn Sie mir die Wahrheit sagen wollen …“

Sie ließ ihn nicht aussprechen, machte ihre Hände los, legte sie auf seine Schultern und barg das glühende Gesicht an seiner Brust. „Ist es denn wirklich…“ fragte sie mit bebenden Lippen. „Ist das – Liebe –? Ach! nun könnte ich glücklich sterben.“

„Nicht sterben – leben!“ rief er, indem er sie stürmisch an sich zog und ihren Mund mit Küssen bedeckte. „Du sollst gar nicht mehr an den Tod denken, nur an das Leben. Mag’s lang oder kurz währen, es wird unser sein in Liebe. Sage mir: Du liebst mich!“

„Ja – ja! in alle Ewigkeit!“

„Ach! wie glückliche Menschen wir sind!“

„Wie glückliche Menschen!“ wiederholte sie und schmiegte sich zärtlich an ihn.

So saßen sie eine Weile Arm in Arm und vergaßen, daß ihnen Gefahr drohte, und sahen und hörten von dem Unwetter draußen nichts. Da plötzlich zuckte ein Blitz dicht vor ihnen nieder, daß der grelle Lichtschein sie blendete, und in demselben Augenblicke folgte ein Donnerschlag, der den Berg erschütterte. Von der Höhe herab stürzte ein entwurzelter Baum, schlug auf den Vorsprung am Eingange der Höhle auf und polterte in die Tiefe. Irmgard riß sich ganz entsetzt los und starrte hinauf.

„Das war eine Mahnung vom Himmel –“ sagte sie zitternd.

„Ach Gott! ich vergaß …“

„Das Gewitter zieht vorüber,“ suchte er sie zu beruhigen. „Höre nur: der Donner rollt schon hinter uns – ein solcher Schlag wird Dich nicht mehr erschrecken, Liebste. Ueber der See wird’s hell – in einer halben Stunde haben wir wieder das schönste Wetter.“

Sie achtete nicht darauf, hielt ihr Tuch vor die Augen und weinte schluchzend. Er wollte sie an sich ziehen, aber sie wehrte jetzt ab. „Nein, Sie können mich nicht lieb haben,“ sagte sie. „O, mein Gott! Sie wissen nicht …“

„Was weiß ich nicht? Was brauche ich zu wissen –? Liebst Du mich nicht? Weiß ich nicht Alles in dem Einen?“

„Und doch – doch! Ach – das war’s ja, was ich beichten wollte. Ich habe Menschenglück zerstört, und nun straft sich’s an mir, daß auch ich nicht glücklich werden kann – nie, nie!“

Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wessen Glück kannst Du zerstört haben?“ fragte er. „Einbildungen, Irmgard!“

„Meiner Mutter Glück!“ rief sie. „Ich weiß nun, was Liebe ist – und sie liebte.“

„Sie liebte?“

„Den Maler Max Werner.“

„Meinen Oheim? So war sie’s wirklich?“

„Sie hatten einander vor einem Jahre das Wort gegeben, wie wir einander heute – und ich stellte mich zwischen sie und litt nicht, daß sie bei einander blieben. Nun stellen sie sich zwischen uns – und wir müssen scheiden wie sie.“

Sie nahm seine Hand, drückte sie auf ihr Herz und stand rasch auf, sich zum Gehen wendend. Er verstand nun, was ihre Mutter bekümmert, sie selbst so schwer beunruhigt hatte. Eine Secunde lang wurde es ihm dunkel vor den Augen. Dann aber gewann er wieder allen Lebensmuth zurück. „Blicke hinaus, Irmgard!“ sagte er mit weicher und doch sicherer Stimme. „Eben noch war die ganze Natur in Aufruhr und Empörung. Es schien als wollte der Himmel mit seinen dunkeln Wolkenmassen alles Lebendige auf der Erde ersticken, der Sturm die Wälder brechen, die Meerfluth das Land fortspülen … und nun ist das blaue Himmelsgewölbe wieder so hoch und weit, wie es von Anbeginn war; die schäumenden Wellen glätten sich, Regen und Sonnenschein wechseln. Sollen wir darüber klagen? Das Leben hat Tag und Nacht; manchmal ist auch sein Tag dunkel und seine Nacht sternenhell.“

Sie hatte die Fingerspitzen an die Unterlippe gelegt und schob sie gegen die kleinen Zähne hin und her, den Mund halb öffnend. Nun nickte sie nachdenklich, wandte sich aber nicht zu ihm zurück. „Gehen wir!“ sagte sie nach einer Weile, „man wird besorgt um uns sein.“

„Irmgard –!“ bat er. Er wollte sie umfassen, aber sie trat schnell einen Schritt vor. „Wir dürfen nicht –“ wehrte sie erröthend ab. „Sie wissen das Schlimmste noch nicht. Aber vielleicht – vielleicht … Es bleibt noch eine Hoffnung. Kommen Sie! Auch das sollen Sie erfahren.“

„Wenn Du mich liebst, Irmgard –“

Sie kämpfte mit sich. „Ich hab’s ja gesagt – und es ist gewißlich wahr. Aber ich darf nicht – ich habe … Nein, [112] nicht hier! kommen Sie!“ Sie führte ihn auf den Vorberg hinaus. „Der Strand ist wieder frei, wir können unten entlang gehen bis zur Schlucht.“

„Ich wollte, es hätte nicht so bald ausgestürmt,“ bemerkte er, verstimmt durch ihr zaghaftes Ausweichen.

Sobald nur die steinige Ecke überwunden war, an der die Wellen noch immer kräftig brandeten, hatten sie einen leicht gangbaren Weg bis zu dem Ufereinschnitt, der zum Gasthause neben der Oberförsterei hinausführte. Als sie neben einander schweigend – sie hatten Beide nicht den Muth, von persönlichen Dingen zu reden – durch die Schlucht gingen, glaubte er ein leises Schluchzen zu vernehmen. „Du weinst, Liebste?“ fragte er.

Sie antwortete nicht.

„Aber was ist Dir? Wer uns so sähe, könnte schwerlich in uns zwei Menschen errathen, die in der jüngsten Stunde ihres Glückes gewiß geworden.“

Sie schluchzte heftiger. „Ihres Glückes –! Ach, daß ich vergaß …! Das Herz ist mir so bekümmert, und ich weiß gar nicht, wie ich’s tragen soll.“

„Was, Liebste?“

„Daß wir einander nicht angehören können.“

„Irmgard –!“

„Nein, nein –! Es ist so; glauben Sie mir!“

„Das wäre ein unseliger Glaube, Irmgard. Weshalb in aller Welt –“

„Ich habe meiner Mutter ein feierliches Versprechen gegeben, nie … nie mich von ihr zu trennen.“

„Aber sie wird nun auch meine Mutter sein; wir trennen uns nicht von ihr.“

„Nein – nicht so. Werner’s wegen –“

„Um diese Heirath zu hindern, Irmgard?“

„Ja, ja – deshalb. Und es ist nun alles aus.“

Er begriff den ganzen Zusammenhang der Geschichte, er wußte jetzt, weshalb er berufen war, den Bauplan eines Hauses der Barmherzigkeit vorzulegen. „Das darf nicht sein,“ rief er. „Wie konnte ein solches Versprechen ernst gemeint und ernst genommen sein? Deine Mutter ist herzensgut –“

„Ja! Aber ich habe ihr zu wehe gethan, Wie könnte ich je von ihr fordern –“

„Nicht Du, aber ich.“

„Nein, auch Du nicht.“ Sie erschrak über das vertrauliche Du, das ihr unwillkürlich entschlüpft war. „Warten Sie ab! Ich habe … Vielleicht fügt sich’s glücklich –“

„Worauf sollen wir warten, Irmgard? Nein, hier kann nur ganze Offenheit zum Ziele führen. Ich fordere die Hand des Mädchens, das ich liebe und das mich liebt.“

Sie faßte seinen Arm. „Das darf nicht geschehen.“

„Das wird geschehen,“ antwortete er mit männlicher Entschiedenheit. „Verleugne mich, wenn Du kannst!“ Er umfaßte sie schnell und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

Noch einige Stufen aufwärts, und das Gasthaus war in Sicht. Alle Fenster waren weit geöffnet. Vom Saal her tönte ihnen Tanzmusik entgegen. Die leichte Jugend hatte sich durch das Unwetter in ihrer Lustbarkeit nicht stören lassen und schnell war ein Ball improvisirt worden.

„Wir wollen nach Hause gehen,“ sagte Irmgard, den Schritt hemmend. „Jetzt in diese Gesellschaft –“

„Aber warum nicht froh sein mit den Fröhlichen?“ entgegnete er. Sein Muth belebte den ihren. Sie folgte ihm –: er hatte Macht über sie. Ihr Eintreten brachte einige Unruhe in die Gesellschaft. Frau von der Wehr war wirklich schon wegen des langen Ausbleibens ihrer Tochter besorgt gewesen. Nun drängte Alt und Jung hinzu, um zu fragen, wie’s ihnen ergangen sei. Harder berichtete das Vorgefallene kurz.

Der Tanz war unterbrochen worden, und die Gesellschaft sammelte sich allmählich auf dem breiten Balcon. Man arrangirte allerhand Spielchen und vergnügte sich auf’s Beste, bis nach dem schönsten Sonnenuntergang und einem gemeinsamen Abendessen auf einem entsetzlich verstimmten Waldhorn zur Abfahrt geblasen wurde. Die Insassen des zerbrochenen Wagens fanden hier und dort glücklich ein Unterkommen. Irmgard hielt sich zu ihrer Mutter. So kam es, daß Harder neben ihr keinen Platz fand. Er suchte nun auch nicht einen andern, verschwand im Gebüsch, ließ die Fuhrwerke abfahren und ging zu Fuß nach Rauschen zurück. –

Am andern Morgen, so früh es ihm irgend schicklich scheinen wollte, stieg Robert Harder zu dem Häuschen hinauf, in dem die Damen wohnten. Irmgard mußte ihn wohl bemerkt haben; sie floh wie ein gescheuchtes Reh aus dem Garten in einen Versteck im Hause. Harder ließ Frau von der Wehr hinausbitten; er habe ihr eine wichtige Mittheilung zu machen, bei der sie ganz ungestört sein müßten.

Sie kam in’s Zelt, und dort sagte er ihr, daß er Irmgard liebe und unter welchen Umständen er ihr gestern seine Liebe gestanden habe. Frau von der Wehr schien kaum überrascht zu sein. Einen Augenblick war’s, als ob aus diesem ernsten, bleichen Gesicht die Freude aufblitzen wollte, aber gleich wieder glitt ein finsterer Schatten darüber hin, und das Lächeln, das um den Mund stehen blieb, war so bitter, daß dem jungen Freier schnell die Hoffnung schwand, ohne Widerspruch zum gewünschten Ziele zu gelangen.

„Ich habe wohl geahnt,“ sagte sie, „daß es dahin kommen werde,“ und nach einigem Bedenken: „Was hat Irmgard Ihnen geantwortet?“

„Daß sie mich liebe, wie ich sie,“ versicherte er mit leidenschaftlicher Wärme und doch den Blick senkend.

„Und nur das?“ fragte sie.

Er überwand seinen Unmuth. „Nein. Auch das noch, daß sie mir nicht angehören könne, weil sie Ihnen das Wort gegeben, ledig zu bleiben.“

In die Stirn der schönen Frau furchte sich zwischen den Augenbrauen eine tiefe Falte; der Mund zuckte, als ob er sprechen wollte und nicht könnte. „Sie hat die Wahrheit gesprochen,“ sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Irmgard hat sich – freiwillig – gebunden.“

„Und Sie wollten –?“

„Ich will nichts. Es ist eine unwandelbare Thatsache.“

„Das unüberlegte Versprechen eines Kindes –“

„Nicht das. Aber weshalb es gegeben wurde –!“

„Ich weiß Alles. Irmgard hatte von Ihnen ein Opfer gefordert; sie glaubte sich verpflichtet, dagegen ein Opfer zu bringen. Aber sie begriff dessen Größe gar nicht –“

„Mag sein. So wenig wie mein Leid.“

„Und doch soll sie so schwer büßen, als hätte sie’s Ihnen bewußt zugefügt? Nein, das kann Ihr Wille nimmer sein.“

Frau von der Wehr athmete gepreßt. „Mein Wille – nein, aber mein Wille entscheidet nicht. Ich habe Irmgard zu nichts verpflichtet, habe mich nur meines Kindes Wunsch gefügt. Ihr Versprechen … bindet sie, nicht mich. Kann sie sich selbst davon lösen – wohl! Ich werde sie nie daran erinnern.“

Er nahm ihre Hand und küßte sie. „Seien Sie gütig!“ bat er. „Keinen Augenblick habe ich gezweifelt, daß Sie Ihr Kind frei sprechen würden. Wie ich Sie kenne und verehre, werden Sie es nicht über das Herz bringen, zu sagen: ‚Weil ich nicht glücklich bin, sollst auch Du es nicht sein.‘ Aber das ist nicht genug, lange nicht genug. Was Sie thun, müssen Sie ganz thun – sonst ist’s gar nicht gethan. Irmgard fühlt sich Ihnen schwer verschuldet. Sie müssen die Schuld von ihr nehmen, wie man dem geliebten Menschen eine Thräne des Kummers vom Auge fortküßt. Sie dürfen sich nicht zwischen ihr Gewissen und ihre Liebe stellen und ihr zurufen: ‚Wähle! Ich will Deine Wahl gelten lassen, aber wähle!‘ Sie hat schon gewählt, sie glaubt entsagen zu müssen. Aber nie mehr wird sie ihres Lebens froh werden. Es handelt sich um das Glück Ihres einzigen Kindes – bedenken Sie das, und machen Sie ihr die Wahl leicht!“

Die unglückliche Frau sah finster vor sich hin. „Ich soll sie bitten, ihr Wort zu brechen –“ murmelte sie, „ich sie bitten, glücklich zu sein und das Leid zu vergessen, das sie mir zugefügt! Soll froh und zufrieden scheinen, damit sie’s vergessen kann!?“ Sie stand auf. „Fordern Sie nicht Unmenschliches von mir! Noch einmal. Irmgard ist frei – sie kann über ihre Hand verfügen, über ihr Vermögen … Ich zwinge sie nicht, sich Wort zu halten. Sie sind mir lieb und werth – schon seinetwegen –! Keinem gebe ich mein Kind so gern wie Ihnen …“ Aus ihren Augen tropften große Thränen. „Aber mehr – kann ich nicht – darf ich nicht – will ich nicht …“


Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Gebunden.
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 8, S. 127–132
Fortsetzungsroman – Teil 8 // Schluß


[127] Frau von der Wehr verließ das Zelt und ging mit raschen Schritten nach dem Hause. An der Thür blieb sie aber unschlüssig stehen, kehrte um und schritt im Garten auf und ab, den Kopf gesenkt und öfters die Hand auf’s Herz drückend. „Immer ihr – ihr – ihr Glück!“ grübelte sie in sich hinein, „und ich mag des Glückes darben. Was kommt darauf an, daß ich leide? Und doch – hat er Recht? Darf ich mein einziges Kind …? Ist das meine wahre Empfindung, was da der Schmerz im Augenblick aufwühlt und nach oben treibt? Wer kennt sich selbst? Was für unheimliche Gewalten da unten …“ Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. „Ich könnte mich hassen, daß ich so selbstisch bin. Nein! er kennt mich besser – in meiner Seele soll nicht die Finsterniß Macht haben über das Licht –: ich will ihr eine gute Mutter sein, nichts als eine gute Mutter. Glücklich machen heißt ja auch glücklich sein. O mein schwaches Herz – diesmal sollst du deine Kraft bewähren.“

Ihr bleiches Gesicht verklärte sich. So schön hatte noch keines Menschen Auge es gesehen. Sie trat in’s Haus und suchte Irmgard auf. Das arme Kind saß ganz verschüchtert in einer Ecke des hinteren Zimmers und zitterte am ganzen Leibe.

„Ich habe ihm ja gesagt, Mutter,“ rief sie der Eintretenden entgegen, „daß ich nicht die Seine werden kann. Es ist nicht meine Schuld, wenn er Dich um meine Hand gebeten.“

„Aber Du liebst ihn?“ fragte Frau von der Wehr freundlich.

Irmgard stand auf und glitt neben ihr zur Erde nieder. „Ich liebe ihn, Mutter, ich liebe ihn – lügen kann ich nicht. Und ich werde ihn lieben, so lange Gott mir das Leben schenkt und mein Herz schlägt. Aber ich weiß, daß ich nicht glücklicher sein darf, als Du bist. Bitte ihn, daß er uns verlasse und nie – nie mehr …“

Thränen erstickten ihre Stimme. Frau von der Wehr beugte sich zu ihr nieder, umfaßte sie und hob sie auf. „Das wolle der allgütige Gott nicht,“ sagte sie mild, „daß so aus Unheil weiter und weiter Unheil entstehe! Ich habe Dein Versprechen wohl gehört, aber nicht angenommen; wenn ich es nicht zurückwies, geschah’s, weil ich Dich beruhigen wollte. Wenn ich das Glück nicht gefunden habe, das ich suchte – kann es meiner Seele ein Trost sein, auch mein Kind unglücklich zu wissen? Gewinne ich, wenn Du verlierst? Nein! Du sollst ihn lieben, sollst ihm angehören. Es ist eine Fügung des Himmels, daß gerade sein – Max Werner’s Neffe, für den er sorgte wie für einen Sohn, dem Herzen meines Kindes über Alles theuer werden mußte. Wenn Du Dich mir verschuldet hast – wenn Deine Schuld eine Sühne fordert, so kann es keine geben, die mächtiger wäre zu lösen, als diesem mit Liebe heimzuzahlen, was Liebe schuldig blieb. Ich – ich – verzeihe Dir von ganzem Herzen.“

Irmgard umschlang sie mit beiden Armen und küßte ihr stürmisch Mund und Augen. „Du gute – gute – engelgute –“ wiederholte sie unaufhörlich. „Nun sind wir wirklich versöhnt. Aber darf ich denn Dein großmüthiges Geschenk annehmen? Nein, nein! Du kannst mir verzeihen, ich nicht. Es war ein Gelöbniß, das ich dem Himmel that. Wenn ich’s breche – wie sollte ich meiner Liebe jemals froh werden können? Ja, wenn ich Dir zurückgehen könnte –“

„Das ist verschmerzt. Dein Gewissen kann ganz ruhig sein. Gott weiß, wie zärtlich Du Deinem Vater anhingst –: seine Tochter konnte nicht anders empfinden. Gott weiß auch, daß Du ein Kind warst, dessen Herz nicht verstand, was die Lippen gelobten. Er hat keine Freude an unserer Selbstqual – er ist ein Gott der Liebe. Komm – Robert wartet auf uns. Kannst Du’s nicht überwinden, Dir ein solches Wort zu brechen, dann – liebst Du Robert nicht.“

„Ich liebe ihn, Mutter,“ rief Irmgard, umarmte sie von Neuem und drückte das Gesicht auf ihre Schulter.

Frau von der Wehr faltete die Hände über Irmgard’s Haupte und stand eine Weile in stillem Gebet. „Komm!“ sagte sie dann, „ich führe Dich zu ihm.“ Sie umfaßte sie und zog sie mit sich fort.

Irmgard trocknete ihre Thränen nicht. Als sie sich aber dem Zelt näherten und Robert vor ihnen stand, eine Frage an’s Schicksal in den Augen und auf den Lippen, da hörten diese Bäche zu rinnen auf und das heilige Feuer der Freude flammte aus den eben noch so bleichen Wangen. „Wir dürfen glücklich sein,“ rief sie und legte ihrer Mutter Hand in seine Hand. „Ihr – ihr haben wir’s zu danken.“ – –

Nur wenige Minuten hatten sie Zeit, Worte des innigsten Einverständnisses und Küsse zu tauschen. Der Landbriefträger öffnete die Thür des Staketenzaunes und schritt, aus seiner Tasche einen Brief heraussuchend, auf das Zelt zu. Frau von der Wehr saß am Eingange desselben. Er reichte ihr den Brief und entfernte sich. Robert und Irmgard achteten kaum darauf.

Sie sollten aber schnell aus ihrer zärtlichen Umarmung aufgeschreckt werden.

Frau von der Wehr hatte die Aufschrift des Briefes betrachtet

[128] und verwundert den Kopf gewiegt. „An den Maler Max Werner –“ und Irmgards Handschrift. Und da unten stand sie auch als Absenderin genannt. Ein freudiger Gedanke durchzuckte sie mit Blitzesschnelle. Irmgard hatte sich zu einem herzlichen Entgegenkommen entschlossen, ehe Robert Harder ihr noch seine Liebe gestand. Aber warum kam der Brief zurück? Er trug mehrere Poststempel – er mußte aus der Schweiz zurückgekommen sein. Sie wandte ihn nur und – sank mit einem gellenden Schrei gegen die Lehne des Sessels. Der Kopf fiel auf die Brust; sie war ohnmächtig.

Harder sprang auf und ihr zu Hülfe. Irmgard folgte ihm eiligst. Sie sah einen geschlossenen Brief auf der Erde liegen, hob ihn auf und erkannte ihn auf den ersten Blick. „Mein Brief – an Werner –“ rief sie; „o Gott! Mutter – ich wollte ja … liebe Mutter –!“

„Sie kommt zu sich,“ sagte Robert, sie öffnet die Augen. „Was ist’s mit dem Brief?“

Irmgard hatte ihn in der Hand gedreht. Nun starrte sie mit einem Blicke des Entsetzens aus die Aufschrift der Rückseite. Es stand dort von der Hand des Thuner Postboten der Vermerk: „Adressat ist gestern auf dem See verunglückt.“

Todtenbleich wankte sie zurück, bis ihr die Zeltstange eine Stütze bot. „O, nun – bin ich – für alle Ewigkeit – gebunden –“ stammelten kaum vernehmbar die farblosen Lippen.


9.

„Auf dem See verunglückt –“ das war eine grausame Trauerbotschaft.

Und recht als sollte Irmgard für den Bruch ihres Gelöbnisses gestraft werden, brachte sie ihr Versöhnungsbrief. So faßte sie selbst dieses traurige Begebniß auf, und nicht die zärtlichste Zusprache Robert’s, nicht die mildesten Worte ihrer Mutter konnten den schreckhaften Gedanken bannen, daß sie mittelbar an Werner’s Tode schuld sei, daß der Todte selbst sie an ihr Wort mahne, daß sie es ihm halten müsse. Sie erklärte das Verlöbniß für aufgehoben. „Ich bin gebunden – der Tod bindet.“

Frau von der Wehr hatte sich nie eingestehen wollen, daß in ihrem Herzen noch das letzte Fünkchen Hoffnung nicht erloschen sei. Nun es wirklich erlosch, merkte sie erst, wie dunkel es in ihr war. Aber sie fühlte es wie eine Erleichterung, daß Irmgard sich mit Werner ausgesöhnt.

„Gott selbst hat Dir’s eingegeben,“ sagte sie beruhigend, „diesen Brief zu schreiben, traf er ihn auch nicht mehr unter den Lebenden. Von Deiner Seite ist alles geschehen, das Unrecht gut zu machen, das Du ihm zufügtest – mehr konntest Du nicht thun. Hättest Du gezögert, ihm die Hand zu bieten, und seinen Tod erfahren, dann vielleicht hättest Du Dich schwer bekümmern müssen. Jetzt kann es Dir ein reicher Trost sein, daß Du ihn und mich glücklich zu machen wünschtest, ehe Du noch Deines eigenen Glückes gewiß warst.“

Irmgard schüttelte den Kopf. „Es mag alles so sein, Mutter,“ antwortete sie, aber mir kann das nichts bedeuten. Ich fühle in mir die Unmöglichkeit, nach diesem schweren Schlage mein Schicksal von dem Deinen zu trennen. Und auch seinetwegen kann es nicht anders sein. Es ist mir eine Gewißheit, die Nichts erschüttern kann, daß meine Liebe ihn nicht zu beglücken vermöchte.“

Robert fügte sich nicht. „Ich weiß, daß Du mich liebst,“ sagte er, „und gebe Dich nicht frei. Wie sehr Dich auch dieses unerwartete Ereigniß im Augenblicke erschütter, die Zeit wird den Eindruck mildern. Ich dringe jetzt nicht in Dich, aber vergessen darfst Du nicht, daß die Liebe mächtiger bindet als der Tod. Die Liebe überwindet den Tod.“ –

Frau von der Wehr hatte sofort einige Zeilen an ihren Vetter, den Gerichtsrath, geschrieben. Er kam noch denselben Abend und wurde nun in alle Verhältnisse eingeweiht. Vor Allem, meinte er, sei jetzt erforderlich, festzustellen, was das heiße: „auf dem See verunglückt.“ Der Jurist fand diese Nachricht zu unbestimmt, den Nachrichtgeber zu unzuverlässig. „Man muß sofort von den Behörden einen genauen Bericht verlangen.“

„Aber wie läßt sich bezweifeln –?“ wendete Elise ein. „Die Post hätte den Brief nicht mit dieser Aufschrift zurückgehen lassen, wenn es sich nicht um ein stadtkundiges Ereigniß handelte, das die Beförderung an die Adresse gänzlich ausschloß. Nein, nein; es läßt sich dieser Nachricht nur die schlimmste Auslegung geben.“

„Ich bin weit entfernt, Hoffnungen erwecken zu wollen,“ antwortete der Rath, „an die ich unter diesen Umständen selbst nicht glauben kann. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Werner ertrunken, aber man verlangt in solchem Falle Gewißheit. Wollen Sie mich mit den näheren Ermittelungen beauftragen, beste Cousine, so stelle ich meine Dienste zur Verfügung.“

„Ich habe eine größere Bitte an Sie,“ sagte Frau von der Wehr nach kurzem Bedenken. „Schon vor Ihrem Eintreffen hatte ich mir vorgenommen, sogleich selbst nach der Schweiz zu reisen und, wenn ich zum Begräbniß zu spät käme, wenigstens dem Grabe des lieben Geschiedenen die letzten Ehren mit einem Kranz aus der Heimath zu erweisen. Auch in seinem kleinen Haushalt wird Manches zu ordnen sein, was am besten eine weibliche Hand ordnet. Wer auch sein Erbe sein mag, einen Theil seiner Hinterlassenschaft möchte ich gern mir erwerben, namentlich ein gewisses Bild, an das sich gemeinsame Erinnerungen knüpfen. Auch das Haus, in dem er wohnte, möchte ich ankaufen und künftig zu meinem Sommeraufenthalt wählen; von der Gemeinde hoffe ich die Genehmigung zu erwerben, dem Künstler einen Denkstein zu setzen. Bei allen diesen Verhandlungen wäre mir Ihr Beistand wünschenswerth. Würde es Sie nicht zu sehr beschweren, lieber Vetter, mich zu begleiten? Aber schon morgen in der Frühe möchte ich fort.“

Der alte Herr stimmte sofort zu. Es sei der gescheiteste Gedanke, meinte er, an Ort und Stelle selbst zuzusehen, wie die Sachen stünden. Sein Ferienurlaub laufe zwar in den nächsten Tagen ab, aber ein so außerordentlicher Anlaß werde sicher ein längeres Ausbleiben entschuldigen. „Da muß mein junger Freund Hell zur Vertretung heran,“ schloß er, „und er wird mich nicht im Stich lassen, ob ihn schon die zartesten Bande halten. Ich denke, seine Herzensangelegenheit ist geordnet.“

Irmgard blieb in der Stadt. Es geschah nicht nur, weil sie mit Recht erwartete, auch Robert Harder werde nach der Schweiz eilen und ein Zusammentreffen mit ihm an der Unglücksstätte nicht zu vermeiden sein, sie fühlte sich auch so leidend, daß sie ihrer Mutter bei der eiligen Reise nur ein Hinderniß gewesen wäre.

Frau von der Wehr und Rath Pfaff fuhren Tag und Nacht ohne Aufenthalt. Harder folgte zwölf Stunden später nach, um sie durch keinerlei Rücksichtnahme auf seine Person zu binden. Er hatte es natürlich gefunden, daß die verehrte Frau einen älteren Mann und Verwandten zum Reisebegleiter wählte.

Noch nie war ihr eine Eisenbahnfahrt so qualvoll lang erschienen. Im Hotel zu Thun erkundigte sie sich sogleich nach dem Unglücksfall. Man wußte ihr dort wenig mehr zu sagen, als daß die Zeitung einen kurzen Bericht gebracht habe, bei dem heftigen Sturm, der auch sonst viel Unheil angerichtet, sei ein Maler Namens Werner um’s Leben gekommen, der stets waghalsig in seinem kleinen Boot Wind und Wellen zu trotzen liebte. Es solle schon längere Zeit mit seinem Verstande nicht ganz richtig gewesen sein. Im Gasthause fand der traurige Vorfall kaum Beachtung.

Frau von der Wehr bestellte, ohne sich auch nur eine Stunde Ruhe zu gönnen, einen Wagen und dirigirte ihn nach der einsamen Villa am See hinaus. Sie ließ ihn eine Strecke vor dem Hause auf der Wiese halten und ging den Rest des Weges zu Fuß, auf den Arm des Rathes gestützt. Alle ihre Kraft mußte sie zusammennehmen, nicht umzusinken. Daß der Rath voraus Erkundigungen einziehe, wollte sie nicht leiden.

Die Thür war verschlossen. Sie gingen um das Haus herum nach dem hinteren Eingange. In der Küche fanden sie die alte Ursel. Sie erkannte nach aufmerksamem Betrachten die Dame wieder, die sie nur das eine Mal gesehen hatte, als sie in Begleitung ihres Herrn kam und ihr freilich auch viel zu denken gab. „Ach, liebe gnädige Frau,“ sagte sie, „warum sind Sie nicht früher gekommen? Ich glaube, Herr Werner hat immer auf Sie gewartet – und nun ist’s zu spät. Gott habe ihn selig!“

„Ich weiß das Schlimmste,“ antwortete Frau von der Wehr, sich mit größter Anstrengung fassend, „und komme deshalb –“

[129] „Ach, wohl aus dem Briefe,“ fiel Ursula ein, „den ich zurückschicken mußte, weil mein armer Herr ihn doch nicht mehr lesen konnte. Der Postbote sagte, daß Ihr Name darauf angegeben sei, und daß er schon seinen Weg zurückfinden werde. Er wollte draufschreiben, was Sie wissen müßten. Ja, es war ein grausiger Sturm; im Sommer haben wir ihn selten so stark; das Dampfboot ist sogar in Gefahr gewesen.“

„Theilen Sie uns Alles mit, was Sie über den Unfall wissen,“ nahm der Rath das Wort. „Die Dame war die beste Freundin Ihres Herrn.“

„Weiß wohl, weiß wohl,“ knurrte die Alte, „und vielleicht noch etwas mehr. Es war nicht seine Art über solche Dinge zu sprechen, aber ich sah doch damals, was auch blöde Augen sehen mußten, und mehr als einmal hat er mir später aufgetragen, Ihnen das Bild zu schicken, wenn er gestorben sei, und dabei Ihren Namen oft wiederholt, daß ich ihn fest im Gedächtniß behalten sollte. Nun können Sie’s ja gleich selbst in Empfang nehmen. Ich dachte wohl, daß Sie sich melden würden auf den Brief.“

Elise weinte still. Die Alte betrachtete sie wehmüthig und nickte mit dem grauen Kopf dazu. „Ja, ja – es ist den Menschen manchmal nicht bestimmt,“ sagte sie. Sie nahm einen Schlüssel vom Handbrett. „Kommen Sie! Das Zimmer sieht noch so aus, wie es zu Ihrem Empfang hergerichtet wurde. Vielleicht erweisen Sie heut’ dem Hause die Ehre, ein Glas Wein zu trinken.“

Sie ging voran und öffnete die Thür. Widerspruch wäre vergebens gewesen. Da stand wirklich noch der gedeckte Tisch. Auf Tellern und Gläsern lag Staub; die Alte begann ihn mit ihrer Schürze fortzuwischen. Elise trat nicht über die Schwelle. „Lassen Sie uns drüben eintreten!“ bat sie, kaum noch fähig sich aufrecht zu halten.

„Wie die Herrschaften befehlen,“ sagte Ursel, „aber es sieht da recht unordentlich aus, wie er das Zimmer verlassen hat. Ich wollte nichts rühren, damit ich’s vor Gericht mit gutem Gewissen beschwören könnte, wenn sich die Erben melden würden. Nur die Thüren hab’ ich verschlossen.“

Im Atelier stand die verhängte Staffelei vor dem Sopha. Elise setzte sich ganz erschöpft, und die Alte sagte, wieder kopfnickend: „Ganz recht, ganz recht – das war für Sie.“

„Wo ist er begraben?“ fragte Frau von der Wehr nach einer Minute stillen Nachsinnens.

„Wo ist er begraben?“ wiederholte die Alte achselzuckend. „Das ist ja das Traurigste, daß er nicht einmal ein ordentliches Grab hat, wo man für ihn ein Vaterunser sprechen kann. Der See ist sein Grab. Er ist unergründlich tief, und wen er gefaßt hat, den giebt er nicht wieder.“

„Und wie weiß man denn, daß er ertrunken ist?“ mischte sich der Jurist ein.

„Er ist nicht wiedergekommen, Herr.“

„Das ist noch kein Beweis.“

„O doch, Herr – bei dem Unwetter! Ich habe abgerathen, so viel ich konnte. Der Sturm stieß wohl von den Bergen herunter auf das Wasser, daß es an den Ufern fußhoch übertrat; der ganze See war ein Schaum. Und auf der Nußschale von Boot mit zwei schwachen Rudern –! Aber er hörte nicht auf mich; es war immer, als ob es ihn im Sturm am liebsten hinauszog, und oft genug ist’s ja auch geglückt.“

„Hat man ihn auf dem See in Todesgefahr gesehen?“

„Nicht daß ich wüßte, Herr. Wer das Unwetter kommen sah, eilte an’s Land. Er blieb allein auf der Höhe – zu seinem Verderben.“

„Das ist nur Muthmaßung.“

„Aber man hat ja am anderen Tage das Boot auf dem See gefunden. Es war ganz voll Wasser geschlagen – da ist’s doch gewiß.“

Der Rath wagte keinen weiteren Einwand. Es war spät geworden und Weiteres von der Alten nicht zu erfahren. Sie fuhren nach der Stadt zurück. –

Am andern Tage fand sich auch Robert Harder ein. Während der Gerichtsrath die Behörden ermittelte, mit denen nach den Gesetzen des Landes zu verhandeln war, und mit der dem Juristen eigenen Zähigkeit Nachforschungen in allen Ortschaften am See anordnete, um mindestens doch einen Zeugen zu entdecken, führte Harder Frau von der Wehr wieder zur Villa hinauf. Er durfte sich als den Erben betrachten, und nahm daher auch keinen Anstand, im Atelier und Schlafcabinet des Malers aufzuräumen und seine Papiere zu durchsuchen. Es fand sich eine Art von letztwilliger Verfügung in einem offenen Briefe an seinen Neffen. Es war darin gesagt, daß das Staffeleibild Elise von der Wehr gehöre und daß ihm das Medaillonportrait in der Tischschublade unter dem Spiegel in’s Grab mitgegeben werden solle.

Ueber diesem Medaillonportrait flossen wieder reichliche Thränen. Auf der Rückseite war von des Malers Hand jener bekannte Vers aus Uhland’s „der Wirthin Töchterlein“ aufgeschrieben:

„Dich liebt’ ich immer, Dich lieb’ ich noch heut’,
Und werde Dich lieben in Ewigkeit.“

Es befand sich darunter das Datum seines Todestages: er hatte das ihm so theure Bild vor seinem letzten Gange betrachtet und, von der Ahnung seines nahen Endes ergriffen, diesen Abschied genommen.

Auch Irmgards Visitenkärtchen war aufbewahrt worden.

„Versenken wir das Bild in den See!“ entschied Elise. „Es war sein letzter Wille, daß es ihm ins Grab mitgegeben werden sollte. Der See, auf dem wir die glücklichste Stunde unseres Lebens genossen, ist sein Grab geworden. Diese Aufschrift bezeugt, daß er mich seitdem betrauert hat wie eine todte Geliebte.“

Gegen Abend, aber früher als er erwartet wurde, kam der Enkel der alten Ursula von den Bergen herunter, wo er mit dem Sohn eines der Gebirgsbauern dessen Vieh gehütet hatte. Er war gelaufen und noch ganz außer Athem, erzählte auch seiner Großmutter eine lange Geschichte, die von ihr mit Spannung angehört wurde, von der aber die Fremden wegen des schweizer Dialekts kein Wort verstanden. Die Alte schien beunruhigt, forschte ihn näher aus, schüttelte bedenklich den Kopf und überlegte, was zu thun sei. Endlich wendete sie sich doch an die Dame und ihren Begleiter. „Ich glaube nicht daran,“ sagte sie; „es ist gewiß wieder ein unnützes Gerede, aber wissen sollen es die Herrschaften doch.“

„Um was handelt es sich?“ fragte Robert.

„Ich bin eine alte Frau,“ fuhr Ursel fort, „und habe immer hier am See gewohnt. Da ist’s in manchem Jahr passirt, daß ein Boot umgeschlagen und der Fährmann verschwunden ist, weil der See die Ertrunkenen nicht zurückgiebt. Da hat’s denn jedesmal hinterher geheißen, man hat ihn da oder dort gesehen; das hat sich herumgesprochen, und wenn man ordentlich nachgeforscht hat, ist’s nichts gewesen.“

Frau von der Wehr wurde aufmerksam. „Und auch diesmal spricht man …? Sagen Sie uns Alles!“

„Mein Enkel hütet bei einem Bauer, den Herr Werner oft besucht hat, um dort zu zeichnen, und sein Sohn hat ihm persönlich den Malkasten und Schirm getragen. Die Knaben sind zusammen auf der Weide gewesen; dabei ist der Bauer zurückgekommen und hat ihnen allerlei erzählt. Er hat nämlich einen fremden Herrn über den Singriswyler Grat und den Beatenberg geführt. Kurz vor Neuhaus hat er ihn verabschiedet und den bequemeren Weg am Seeufer entlang für die Rücktour eingeschlagen, vorher aber in einem Wirthshause Station gemacht, in dem die Fischer und Schiffer viel verkehren. Da ist von dem Schaden gesprochen worden, den der letzte Sturm angerichtet, und so hat auch einer gesagt, nicht weit von dort liege ein Todtkranker, den sie aus dem See aufgefischt hätten, sie wüßten aber nicht, wer er wäre, denn er könne kein Wort hervorbringen. Indem sei einer auch von Neuhaus gekommen, den das Dampfboot von Thun dahin brachte; der habe gesagt, daß er sich überall nach einem verunglückten Maler erkundigen solle, und nun hätten sie sich’s gleich zusammengereimt, daß das wohl der Kranke sein könne. Der Bauer ist nun nach Hause geeilt und hat meinem Enkel aufgetragen, mir’s mitzutheilen. Es ist aber sicher nur unnützes Gerede: wen der See hat, den giebt er nicht heraus.“

So ruhig die Alte dies vortrug, Frau von der Wehr wurde doch dadurch in fieberhafte Aufregung versetzt. „Tausendmal mag ein solches Gerücht lügen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „einmal kann’s doch guten Grund haben. Unmöglich ist eine solche Rettung nicht, und warum sollte nicht Werner …“ Der Ton versagte ihr, sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Robert Harder erbot sich sogleich, mit dem Enkel der alten [130] Frau den Bauer herbeizuholen, damit man ihn näher ausforschen könne. Nach zwei Stunden kamen sie in seiner Begleitung zurück. Er wußte freilich nicht viel mehr, als was er schon dem Knaben mitgeteilt hatte, erklärte sich aber bereit, die Herrschaften zu dem Wirthshause zu bringen und ihnen bei weiteren Nachforschungen zu helfen. „Ich hätte schon selbst den Kranken aufgesucht,“ schloß er, „aber es hieß, daß sie Niemand zu ihm einlassen wollten.“

Man begab sich nun sofort nach Thun hinab. Der Gerichtsrath hatte auch schon von seinem Boten aus Neuhaus einen Zettel mit der vorläufigen Nachricht erhalten und schickte ihnen entgegen. Leider ging ein Dampfboot nicht mehr ab; man mußte sich entschließen, zu Wagen um den See zu fahren. Die Herren baten Frau von der Wehr zurückzubleiben und abzuwarten, bis sich Sicheres ergebe; sie war nicht dazu zu vermögen.

„Wenn er’s wäre,“ sagte sie, „und ich hätte ihn noch lebend antreffen können …! Nein, nein! Ich muß zu ihm.“

Es war Nacht geworden, als man in Neuhaus anlangte. Dennoch wurde der Weg ohne Rast fortgesetzt, das Wirthshaus am See und nach den dortigen Weisungen das Fischerhaus aufgesucht, in dem eine halbe Stunde weiter der Kranke liegen sollte. Sie begegneten einem Geistlichen und fragten ihn aus. Er bestätigte die Nachricht und fügte hinzu, die Leute hätten ihn geholt, um dem Sterbenden den letzten Trost zu spenden; er scheine aber schon das Bewußtsein verloren zu haben.

„An den Arzt hat das Volk wahrscheinlich wieder zuletzt gedacht,“ murrte der Rath.

Sie beeilten sich. Hinter den Fenstern des kleinen Hauses war nur matter Lichtschein zu bemerken. Von einigen Männer- und Frauenstimmen wurde ein geistliches Lied gesungen – vielleicht die Todtenklage. Von Angst getrieben, eilte Elise, Allen voran, in’s Zimmer.

Der Gesang verstummte plötzlich. Die Leute, die in der Nähe der Gardinenbettstelle knieten, erhoben sich und schauten verwundert auf die Dame, die sofort den Leuchter vom Tische nahm und mit hastigen Schritten auf das Bett zueilte.

„Max!“ schrie sie auf und sank neben demselben nieder.

Es war nicht ein Todter, der durch diesen Schrei erweckt zu werden brauchte. Werner athmete noch, aber freilich unruhig und ungleichmäßig wie ein Sterbender. Nun schien der Laut einer lieben Stimme sein inneres Ohr zu erreichen; er schreckte zusammen und öffnete die schweren Augenlider. Robert hatte das Licht schnell aus Elisens Hand genommen und leuchtete vom Fußende her. Sie richtete sich mit aller Anstrengung am Stollen auf und beugte sich über den Kranken. Er erkannte sie; über das marmorbleiche Gesicht verbreitete sich ein freundliches Lächeln. Die Lippen bewegten sich zitternd – Elise glaubte ihren Namen zu verstehen. Dann schien er wieder in Schlaf zu versinken. – –

Frau von der Wehr wachte die ganze Nacht am Krankenlager. Sie hielt die Hand des geliebten unglücklichen Mannes und blickte ihn unverwandt an, stille Gebete sprechend, für die das Herz unaufhörlich neue und innige Worte fand. Das Athmen des Kranken wurde von Stunde zu Stunde leichter und sanfter, der röchelnde Ton setzte öfter aus. Ging es zum Ende?

Harder war nach Neuhaus zurückgekehrt und von da nach Interlaken gegangen, um mit dem Frühesten Aerzte herbeizuschaffen. Der Gerichtsrath hatte sofort als guter Praktiker eingegriffen, die Fischerleute vermocht, das Zimmer zu räumen, und es gegen gute Belohnung der Dame zu überlassen, bis sich’s wegen des ihr sehr theuren Kranken entschieden habe. Man erzählte ihm nun auch, wie die Rettung gelungen sei. Der Fischer hätte sich an jenem Sturmtage auf dem See befunden und anfangs gemeint, das Unwetter vorüberziehen lassen zu können. Bei steigender Gefahr hätte er aber das Segel aufgesetzt und irgendwo mit günstigem Winde das Ufer zu erreichen gesucht. Da sei sein Boot gegen etwas Hartes angestoßen und wegen des Widerstandes beinahe umgeschlagen. Nun habe er seinem Buben das Steuer überlassen und, unter dem Segel durchkriechend, nachgeschaut. Ein kleines Boot, mehr als zur Hälfte mit Wasser gefüllt, sei von den Wellen auf- und abgetrieben worden. Es habe darin ein Mann gesessen, ohne Hut, die Arme übereinander geschlagen, lachend wie ein Toller. Indem sei sein Kahn mit dem Vordersteven wieder gegen die Langseite des kleinen Fahrzeugs gestoßen worden, dasselbe habe einen argen Ruck erhalten, vollends Wasser geschöpft und den Mann ausgeworfen. Doch sei zum Glücke sein Rock mit der Tasche an dem eisernen Ruderhaken hängen geblieben, sodaß er nicht gleich versinken konnte. Trotz der Gefahr für ihn selbst habe der Fischer über Bord gegriffen, den Rand des Bootes erfaßt und dasselbe zu wenden gesucht, bis er den Menschen packen und hinaufziehen konnte. Darüber sei allerdings einige Zeit vergangen, sodaß er viel Wasser geschluckt. Mit Mühe und Noth habe man das Land erreicht und dann den Ertrunkenen in’s Haus geschafft. Der sei zwar wieder zu sich gekommen, habe aber verboten, eine Anzeige zu machen und bald kein Wort mehr sprechen können oder wollen. Sie hätten noch immer gewartet, daß er sich bessern möchte, aber von Tag zu Tag sei’s schlechter geworden, und nun werde er wohl den Morgen nicht mehr erleben.

Die Aerzte konnten wenig Hoffnung geben, trafen aber die sorgfältigsten Anordnungen. Da der Kranke nicht transportirt werden konnte, quartierte Elise sich ganz in dem Hause ein. Der Fischer holte mit seinem Kahne herbei, was für einen längeren Aufenthalt notwendig war. Kaum konnte sie vermocht werden, einige Stunden zu schlafen, um ihre Kräfte nicht gänzlich zu erschöpfen. Dann saß sie wieder am Bette des Kranken, streichelte seine Wange, hielt seine Hand und beobachtete seine Athemzüge. Gegen Mittag erwachte er. Wie er die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf Elise. Er schien anfangs erstaunt über ihre Nähe; dann war’s, als ob eine Erinnerung in ihm aufdämmerte, und er lächelte wieder selig. Mit leisem Drucke der Finger prüfte er, ob er etwas Greifbares halte. Er winkte nach einer Weile mit den Augen; sie beugte sich über ihn, und er flüsterte leise, aber vernehmlich: „in Ewigkeit.“ Sie konnte die Thränen nicht zurückhalten. Thränen der Freude und des Schmerzes, senkte das Gesicht noch tiefer und küßte seine Stirn.

Das that ihm wohl. Er athmete kräftiger und wendete den Kopf zur Seite, um sie besser sehen zu können. Nach einigen Minuten fühlte sie ein Ziehen seiner Hand. Sie näherte wieder das Ohr seinem Munde. „Irmgard –“ sagte er kaum vernehmlich.

„Sie ist nicht hier,“ antwortete Elise, „aber sorge nicht ihretwegen! Sie ist ganz versöhnt und würde Dich jetzt mit aller Herzlichkeit begrüßen. Wie glücklich wird sie sein, wenn sie von diesem Wiedersehen erfährt, auf das sie nicht hoffen konnte! Sie hatte Dir geschrieben, aber der Brief kam zurück. Und daß Du ganz ruhig sein kannst, sollst Du gleich erfahren: sie ist Robert’s Braut. Aber nun sprich kein Wort mehr! Ich bin Dein Arzt und darf’s nicht leiden.“

Er schien nur langsam den ganzen freudigen Inhalt ihrer Worte fassen zu können. Dann verklärte sich sein Gesicht mehr und mehr; seine Augen ließen nicht von den ihrigen, bis er zuletzt sich doch wieder dem Schlafe ergeben mußte, aber seine Gesichtszüge waren nun sanft und auf den eingefallenen Wangen zeigte sich eine leise Röthe.

Einige Tage vergingen zwischen Furcht und Hoffnung. Die Aerzte wechselten einander ab; es geschah, was geschehen konnte. Der Zustand von Schlaftrunkenheit wich, aber nun zeigte sich oft Beängstigung und fieberhafte Unruhe. Das Bewußtsein nahm eher zu als ab. Er war meist bei klarer Besinnung und schien nun den Tod zu fürchten, der ja ein Scheiden von der geliebten Frau bedeutete.

Der Gerichtsrath hatte sofort an Irmgard geschrieben und Robert ein Briefchen eingelegt. Nun kam umgehend die Antwort zurück: „Gott wolle ihm das Leben schenken und die Liebenden vereinen! Ich habe keinen Wunsch über diesen.“ Der alte Herr, so schwer ihm zu Muthe war, mußte doch dazu lächeln. „Keinen Wunsch über diesen? Freilich – wenn er sich erfüllt, findet sich das Andere von selbst.“

Ob Werner’s Leben zu erhalten sein würde, stand allerdings ganz in Gottes Hand, aber „die Liebenden zu vereinen …“ dazu bedurfte es nur eines raschen Entschlusses, und es war vielleicht gut, wenn er gefaßt wurde. Nach reiflicher Ueberlegung nahm der Rath mit der Erklärung, daß er ihr etwas Wichtiges zu sagen habe, Elisens Arm und führte sie in’s Freie hinaus. „Wir wissen nicht,“ sagte er, „ob wir lange Zeit zum Abwarten haben; so fest wir an der Hoffnung halten wollen, müssen wir doch auf den schlimmsten Ausgang gefaßt sein. War es nun Ihre Absicht, beste Cousine, Werner Ihre Hand zu [132] reichen, warum wollen Sie nicht jetzt noch thun, was zu allseitiger Beruhigung gereichen muß? Werner wird sich am Ziele seiner Wünsche sehen. Sie werden als seine Frau hier ganz an Ihrer Stelle sein, und Irmgard wird das nächste Hinderniß ihrer Vereinigung mit Robert hinweggeräumt sehen; die Zeit und ihre tiefe Neigung werden das Uebrige thun. Vergessen Sie nicht Ihre Mutterpflicht!“

Elise mußte ihm zustimmen, und sie that es ohne Vorbehalt.

Als der Entschluß feststand, wurde schleunigst zur Ausführung geschritten. „Ich habe nicht darum zu bitten gewagt,“ sagte Werner, als er darüber verständigt wurde, „aber daß es nun ohne meine Bitte geschehen soll, macht mich unendlich glücklich.“ Der Rath besorgte alles Erforderliche bei den Behörden; ein würdiger Geistlicher erklärte sich bereit, die kirchliche Trauung zu vollziehen, auch wenn nicht alle Formalitäten erledigt werden konnten. So kam die bestimmte Stunde heran.

Sie brachte einen unerwarteten Hochzeitsgast. Irmgard hatte ihre Unruhe nicht länger bezwungen. Ohne ihre Ankunft zu melden, hatte sie in der Gesellschaft einer alten Dame ihrer Verwandtschaft, die der Arzt an den Genfer See schickte, die Reise angetreten, um ihrer Mutter bei der Krankenpflege Beistand zu leisten. Es war ihr eine unverhoffte Freude, so zur rechten Zeit einzutreffen und Zeugin des feierlichen Actes sein zu können.

Am Krankenbett sank sie nieder und küßte des Malers Hand. „Können Sie mir verzeihen?“ fragte sie sehr bewegt.

Er streichelte ihr seidenweiches Haar und sagte nur wieder und wieder: „Mein liebes gutes Kind –“

Als der Trauungsact vorüber war, wandte sich Elise, nachdem sie ihren Mann lange umarmt gehalten hatte, an Irmgard und flüsterte ihr zu: „Nun bin ich gebunden, und Du bist frei.“

Sie wollte antworten, aber Werner, der die leisen Worte verstanden hatte, hob die Hände und winkte ihr und Robert näher zu treten. „Frei,“ sagte er, „um Dich binden zu können für’s ganze Leben. Gebt mir in dieser ernsten Stunde euer heiliges Versprechen, einander mit Leib und Seele angehören zu wollen für alle Zeit! Was sich liebt, soll Eins werden aus Zweien. Lernt von uns, wie das Leben verkümmert in unerfüllter Sehnsucht! Zwar kennt die Liebe kein Zuspät, aber ihr glücklichstes Loos ist frühes Vereinen und langes Halten. Euch schenkt es der gütige Himmel – seid dankbar!“

Er fügte ihre Hände zusammen und sank dann ermattet in die Kissen zurück. Sie bückten sich zu ihm nieder, um ihm Mund und Stirn zu küssen, und dabei berührten ihre Wangen sich. Er legte den Arm um ihren Leib und zog sie an sich, sie aber litt es nun ohne Widerstreben. So standen sie eine Weile neben dem Kranken, der freundlich zu ihnen aufsah. Dann fiel Irmgard ihrer Mutter, die hinzugetreten war, um den Hals und rief: „Mutter – er will es, daß wir glücklich sind.“ – –

Die nächste Nacht war schlecht, der Zustand des Kranken mußte die größte Besorgniß erregen. Der Arzt, der am Abend gekommen und nicht fortgegangen war, verbarg den Freunden nicht, daß dieses Leben vielleicht nur noch nach Stunden zähle. Sie machten sich auf den traurigsten Ausgang gefaßt.

Aber eine jener wunderbaren Wendungen, die mitunter bei schweren Krankheiten auch den fachkundigsten Heilkünstler in Staunen setzen, vollzog sich auch hier am andern Tage. Es war, als ob das befreite Gemüth alle Plage des Leibes bändigte. Das Fieber hatte den Höhepunkt erreicht und nahm nun rasch ab. Nach einigen Tagen konnten die Aerzte die beruhigende Versicherung geben, daß baldige Genesung zu hoffen sei.

Nach zwei Wochen durfte die Uebersiedelung nach Interlaken erfolgen. Dort machte die Besserung des Kranken rasche Fortschritte. Den Herbst und Winter brachten die Ehegatten in Italien zu. Irmgard begleitete sie dahin, während Robert in die Heimath zurückkehrte, dort für sein neues Hauswesen vorzusorgen.

Der Bau des Hospitals wurde aufgegeben, aber Elise vermachte mit ihrer Tochter freudigster Zustimmung in ihrem Testament einen sehr ansehnlichen Theil ihres Vermögens ihrer Vaterstadt zu dem gleichen wohlthätigen Zweck. Hoffentlich vergehen noch viele Jahre darüber, bis es einmal nach ihrem Tode zu eröffnen sein wird; die Armen werden ihr ein langes Leben wünschen.

Im Frühjahr hat das junge Paar seine Hochzeit gefeiert. Den schönsten Sommermonat genoß es in dem stillen Rauschen, das sein Glück begründete. Max Werner und Elise aber wohnten in der einsamen Villa am Thuner See, die nach Robert’s Anweisungen wohnlich hergerichtet war. Sie fühlten sich nicht einsam darin.


  1. Verf. von „Schuster Lange“.                         
    D. Red.