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Soul Kitchen: Der Geschichte erster Teil - Das Buch vor dem Film
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eBook307 Seiten3 Stunden

Soul Kitchen: Der Geschichte erster Teil - Das Buch vor dem Film

Bewertung: 3.5 von 5 Sternen

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Über dieses E-Book

»Man steht mitten im Leben, solange man jederzeit abreisen kann.«

Zinos lebt ohne Schulabschluss in Hamburg-Altona, sein geliebter Bruder sitzt im Gefängnis, die Eltern kehren nach Griechenland zurück, und der erste richtige Sex ist vorbei, ehe er überhaupt begonnen hat. In ihrem Debüt erzählt Jasmin Ramadan eine irrwitzige Geschichte zwischen Coming of Age und Roadmovie: Die weiteren Stationen des genauso verfressenen wie ständig vom Pech in der Liebe verfolgten Helden sind die griechischen Inseln, ein Hamburger Bordell und schließlich die Karibikinsel Adios, wo er sich bereits im Paradies wähnt. Nach seiner Odyssee, die ihn beinahe das Leben kostet, beschließt Zinos, endlich erwachsen zu werden und ein Restaurant zu eröffnen – das »Soul Kitchen«.

"Dieser Roman ist das fehlende Puzzlestück meines Films. Sehr witzig, sehr traurig, sehr frivol." Fatih Akin

Jetzt als eBook: "Soul Kitchen" von Jasmin Ramadan. dotbooks – der eBook-Verlag.
SpracheDeutsch
Herausgeberdotbooks
Erscheinungsdatum19. Apr. 2013
ISBN9783955202255
Soul Kitchen: Der Geschichte erster Teil - Das Buch vor dem Film
Autor

Jasmin Ramadan

Jasmin Ramadan wurde 1974 geboren und lebt in Hamburg-Altona. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Ägypter. Sie studierte Germanistik und Philosophie. 2006 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für Literatur. „Soul Kitchen“, ihr Debütroman, ist im September 2009 erschienen. Die Autorin im Internet: www.jasminramadan.de Bei dotbooks erschien Jasmin Ramadans Roman „Soulkitchen" und ihre Kurzgeschichten „Der unhöfliche Selbstmörder" und „Murks".

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    Buchvorschau

    Soul Kitchen - Jasmin Ramadan

    Über dieses Buch:

    Zinos lebt ohne Schulabschluss in Hamburg-Altona, sein geliebter Bruder sitzt im Gefängnis, die Eltern kehren nach Griechenland zurück, und der erste richtige Sex ist vorbei, ehe er überhaupt begonnen hat. In ihrem Debüt erzählt Jasmin Ramadan eine irrwitzige Geschichte zwischen Coming of Age und Roadmovie: Die weiteren Stationen des genauso verfressenen wie ständig vom Pech in der Liebe verfolgten Helden sind die griechischen Inseln, ein Hamburger Bordell und schließlich die Karibikinsel Adios, wo er sich bereits im Paradies wähnt. Nach seiner Odyssee, die ihn beinahe das Leben kostet, beschließt Zinos, endlich erwachsen zu werden und ein Restaurant zu eröffnen – das Soul Kitchen.

    „Dieser Roman ist das fehlende Puzzlestück meines Films. Sehr witzig, sehr traurig, sehr frivol." Fatih Akin

    Über die Autorin:

    Jasmin Ramadan, l974 geboren, lebt in Hamburg-Altona. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Ägypter. Sie studierte Germanistik und Philosophie und erhielt 2006 erhielt den Hamburger Förderpreis für Literatur. Soul Kitchen ist ihr erster Roman.

    ***

    Neuausgabe Mai 2013

    Copyright © der Originalausgabe 2009 Blumenbar Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

    Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

    Titelbildgestaltung und Titelbildabbildung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

    ISBN 978-3-95520-225-5

    ***

    Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Soul Kitchen an: lesetipp@dotbooks.de

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.dotbooks.de

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    Jasmin Ramadan

    Soul Kitchen

    Roman

    Der Geschichte erster Teil –

    das Buch vor dem Film

    dotbooks.

    Für Nadine

    l975 – l997

    Besonderen Dank an:

    Philipp Baltus

    Nils Kasiske

    Heidi Ramadan

    Claudia Schneider

    Fatih & Adam

    Die Zutaten des Lebens

    »Ein Mann, der um seine Existenz fürchtet, fickt nicht gut.«

    Seit heute Mittag trank Zinos Kazantsakis nur heißes Wasser, mit dem Geschmack von Zitronenschale. Wenn er ein paar Kilo abnehmen oder seine Nerven beruhigen wollte, schüttete Zinos Unmengen davon in sich hinein. Udo Pavese hatte dieses Getränk einmal heißer Kanarienvogel genannt.

    An Pavese hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Bei ihm hatte Zinos einst kochen gelernt. Udo Paveses Vater stammte aus Turin, und dort hatte er dieses Getränk als Junge zum ersten Mal mit den Männern in den Cafés zu sich genommen.

    Pavese stellte zuerst eine Glaskanne auf ein Stövchen, füllte sie mit kochendem Wasser, schälte eine Zitrone rund– herum, ohne abzusetzen, und ließ die Schale am Stück ins Wasser gleiten. Der Anblick der Schale – wie sie über der kleinen Flamme des Teelichtes im heißen Wasser trieb – entspannte Pavese. Und dieses beinahe geschmacklose Getränk vertrieb auch den quälend zügellosen Hunger, an dem Zinos so häufig litt.

    Nun knurrte sein Magen wieder, und ihm war ein bisschen schwindelig. Vielleicht sollte er einen ordentlichen Joint rauchen. Dann wäre er vielleicht weniger wütend auf Nadine, die ihren Abschied feiern würde, um dann nach Shanghai zu ziehen. Zinos war nicht nach Feiern. Er war sicher, Nadine zu verlieren. Wie sollte man zusammen sein, wenn man nicht mal auf dem gleichen Kontinent lebte?

    Bei der Eröffnung seines Restaurants vor ein paar Jahren hatte Zinos gehofft, dass seine Irrfahrt durchs Leben für immer zu Ende sei. Seine letzte Reise aber schien immer noch wie ein Fluch auf ihm zu lasten. Keinem Menschen hatte er erzählt, was in der Karibik wirklich passiert war.

    Wie oft im Leben hatte er geglaubt, angekommen zu sein. Er hatte das Paradies gefunden – einen schöneren Ort als Adios kannte er nicht. Vielleicht wäre er jetzt aber auch nicht hier, wenn all das nicht passiert wäre. Er hätte das SOUL KITCHEN nicht eröffnet – und Nadine nicht getroffen. Sie war die erste Frau, die er liebte, die nicht narzisstisch, verlogen, labil, drogensüchtig, irre oder eine Nutte war. Jetzt aber würde sie abhauen. Vielleicht passten ihre Leben einfach nicht zusammen.

    Er arbeitete, er frittierte, aß Frittiertes, dachte an das Finanzamt, kiffte, trank ein paar Bier und Ouzos, unterhielt sich mit Bekannten und Fremden, setzte sich ab und zu in die Sonne, fuhr mit seinem Auto rum, hörte mit Sokrates griechische Musik, bis er müde wurde, und schlief traumlos.

    Das war sein Leben.

    Er hatte sich immer gefragt, ob Nadine das reichte.

    Mit ihr zu schlafen war immer gut gewesen, aber in letzter Zeit war es kaum noch dazu gekommen. Es gab nämlich ein paar Dinge, um die er sich jetzt kümmern musste. Seit Wochen musste er sich jetzt um Geldgeschichten kümmern.

    Ein Mann, der um seine Existenz fürchtet, fickt nicht gut, aber ein Mann, der sich vor gar nichts mehr fürchtet, auch nicht. Das hatte sein großer Bruder Illias immer gepredigt, wie so vieles. Eine von Illias’ Lebensweisheiten – das könnte Zinos jetzt wenigstens zum Lachen bringen, aber sein Bruder war wieder mal im Knast.

    Zinos atmete tief durch und schloss die Augen. In diesem Moment ertönte ein Schiffshorn, und schlagartig befiel ihn die altbekannte Melancholie. Am liebsten wollte er auf den nächsten Dampfer und einfach weg. Er würde Nadine niemals vergessen. So wie er auch alles andere nicht vergessen konnte. All die Rezepte, die ihn an vergangene Zeiten erinnerten, und all die Menschen, die untrennbar mit diesen verknüpft waren

    REZEPT: HEISSER KANARIENVOGEL

    MAN BRAUCHT

    – eine hitzebeständige Glaskanne

    – ein Stövchen, ein bis drei Teelichte

    – ein kleines, scharfes Messer

    – ein kleines Teeglas

    – mindestens einen Liter frisch abgekochtes Wasser

    – eine große Zitrone

    – ein paar Stunden Zeit

    ZUBEREITUNG

    Zuerst ein Teelicht anzünden, in das Stövchen stellen, Wasser aufsetzen und die Zitrone heiß abwaschen. Das kochende Wasser in die Kanne gießen und diese auf das Stövchen stellen. Während man die Zitronenschale direkt in das Wasser hineinschält, aufpassen, dass sie nicht abreißt. Die nackte Zitrone in den Kühlschrank legen, denn sie verdirbt entblößt sehr schnell.

    Man betrachtet die Schale in der Kanne, bis man vollkommen versunken ist. Dann hat der Aufguss genug gezogen. Die Zitronenschale nicht entfernen und den Aufguss über den Tag verteilt trinken. Man kann auch immer wieder heißes Wasser nachgießen. Ab und zu sollte man nach dem Teelicht sehen und es auswechseln, falls es erloschen ist. Wenn die Kanne leer ist, unbedingt noch mal mit geschlossenen Augen an der Zitronenschale riechen. Abends dann gut und reichlich essen.

    Eisvogel und AC/DC

    »Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.«

    Seit Zinos zehn war, befürchtete er, nichts in seinem Leben würde sich je verändern. Sein Bruder Illias dagegen war nur zwei Jahre älter als er, hatte aber längst aufgehört, sich für die gemeinsame Carrerabahn zu interessieren. Zinos’ Wiederbelebungsversuche blieben vergeblich. Dabei war die Carrerabahn immer der beste Anlass für Kloppereien gewesen, die reinigend waren – und die brüderliche Gemeinschaft stärkten.

    Statt wie früher gleich nach dem Aufwachen mit Zinos zu spielen – so lange, bis die Mutter drohte, das Frühstück den Armen auf der Straße zu bringen –, trainierte Illias ein paar Minuten mit einem Springseil, ehe er dann sofort das Haus verließ.

    Das gemeinsame Zimmer der beiden war fast zwanzig Quadratmeter groß. Illias hatte schon mit sechs Jahren auf dem Bett bestanden, das der Tür zugewandt stand. Schon damals war er stets auf der Hut gewesen: Bei jedem Spiel mit den Actionpuppen musste Zinos die FBI-Typen spielen, die internationale Einsatztruppe, den dümmlichen Polizisten. Illias durfte immer auf der Flucht sein, und am Ende erledigte er Zinos’ Truppen mit einem einzigen vernichtenden Schlag.

    Er hatte diese Rollenverteilung längst satt. Doch selbst ihre beiden Meerschweinchen, Rummenigge und Maradona, mussten die immergleiche Tour durch die olle Arieltonne machen. Zinos’ Meerschweinchen verblieb stets in der Tonne – weil Illias ihm mit einem Playmobil-Lkw den Weg abschnitt.

    Maradona starb lange vor Rummenigge. Doch das blieb nur ein kurzer Triumph für Zinos. Nach einem Tag der Trauer adoptierte Illias einfach das Tier seines Bruders. Zinos musste eine Buntstiftzeichnung dreimal unterschreiben. Auf dem Blatt war ein stilisiertes Meerschweinchen zu sehen und daneben ein Pfeil, der auf ein großes, starkes Strichmännchen zeigte, das den Namen Illias trug.

    Nicht, dass Illias ein ausgeprägtes Interesse am Malen und Zeichnen pflegte – nein, es war nur so, dass er große Probleme mit dem Schreiben hatte, die er auch bis zur vierten Klasse nicht löste. Viel mehr als seinen Namen konnte er aus Buchstaben nicht machen.

    Die Eltern weigerten sich, Tests durchführen zu lassen, die wohl eine Legasthenie zutage gefördert hätten. Sie sprachen damals so gut wie kein Deutsch. Möglich, dass sie also einfach nicht verstanden, was das Anliegen der besorgten Lehrerin war. Auch möglich, dass sie in jeder Hinsicht besser zu wissen glaubten, was gut für ein Kind ist.

    Die Mutter jedenfalls unterrichtete Illias schon früh in Trauerarbeit. Sie warf Maradona, immerhin in Geschenkpapier gewickelt, in den Müllcontainer im Hof. Zinos musste im Auftrag seines Bruders nach dem geblümten Päckchen suchen; seine Füße waren unter den Armen von Illias festgeklemmt, und so hing er vornüber im Müllcontainer. Als er das Päckchen hochzog, rutschte Maradona heraus. Illias sprang nun selbst in die Tonne, um die Leiche zu bergen.

    Er hielt die Klinge seines Taschenmessers noch einmal vor das kleine Maul, um sich des Tierchens Ende zu versichern. Dann wurde Maradona im Steinpissoir des Spielplatzes verbrannt.

    Es war an diesem Abend im Jahre l983, als Zinos seinen Bruder zum letzten Mal weinen sah.

    Illias lernte auch auf der Hauptschule nicht Schreiben. Aber er lernte schnell, sich auf andere Weise deutlich auszudrücken. Nachdem er auf dem Schulhof alles erreicht hatte, suchte er sich ein neues Terrain.

    Eine Weile spielte er Fußball, und er hatte einen Trainer, der etwas von ihm hielt. Bald aber arbeitete er lieber mit den Schiedsrichtern zusammen – und erkannte, dass es auch Karrieren ohne Schulabschluss gab.

    Mit Zinos spielte er da schon lange nicht mehr. Sie teilten zwar noch ihr Zimmer, doch Illias nutzte es nur noch als eine Art begehbares Schließfach. Er befahl, das Zimmer immer abzuschließen. Und es war Zinos verboten, in die Kartons zu gucken, die überall herumlagen und sich türmten. Den Eltern verkündete Illias, in der Pubertät sei das eigene Zimmer die wichtigste Intimzone.

    Zinos glaubte, er würde mit Ordnung, seinem Fleiß und der Tatsache, dass er sich Zeit mit dem Erwachsenwerden ließ, die Eltern über die ständige Abwesenheit des Bruders hinwegtrösten.

    Nach wie vor gewährte dieser keine Einblicke in sein Treiben außer Haus. Eines Nachmittags, als Zinos wie immer gewissenhaft am Schreibtisch saß und seine Hausaufgaben erledigte, hörte er seinen Bruder schon im Flur zu jemandem sagen:

    »Hier rein, Süße, meine Mutter lernst du wann anders kennen. Die hat die Hände voll Hack, und du hast nicht das Richtige an.«

    Zinos drehte sich nicht um; erst als es auf dem Linoleum ein paar Mal klack, klack! machte, wandte er seinen Kopf und entdeckte etwas Großes, Schönes, Grelles, das stark duftete – Daniela.

    Sie war wie ein Mädchen aus einer Bravo-Foto-Lovestory – in Farbe! Ihre Haare: blond, toupiert, voller Bändchen und Perlen, verdeckten ihre ganze linke Gesichtshälfte. Mit ihrem rechten Auge schaute sie kühl herab; es war metallic blau geschminkt. Ihre Lippen glänzten. Sie trug ein kurzes Kleid, das nur aus Tüll bestand. Lackpumps machten dieses angenehme Klack-klack- Geräusch.

    Zinos sprach kein Wort mit ihr Trotzdem wurde sie seine erste große Liebe.

    Einmal ließ sie ihren Walkman auf Illias’ Bett liegen. Zinos roch an dem Schaumstoff der Kopfhörer, setzte sie auf und drückte auf Play. Es erklang I want to be your man von Roger. Es wurde sofort sein Lieblingslied, und er fing beinahe an zu weinen.

    Wie ein Süchtiger atmete er den Duft von Danielas Parfüm ein, während sie klack, klack! machte. Ihre Besuche bescherten Zinos endlich das, was alle anderen Jungs in seiner Vorstellung schon lange gehabt hatten: den Traum, aus dem man aufwacht, weil einem etwas passiert war. Er war zu der Zeit fast vierzehn und hatte schon befürchtet, nicht richtig zu funktionieren

    Als er sich in dieser Angelegenheit einmal bei Illias erkundigt hatte, behauptete dieser, schon mit neun eine ganze Colaflasche vollgewichst zu haben, an nur einem Tag. Zinos hatte seitdem, mit einer Colaflasche in Reichweite, einige Male versucht, etwas herauszubekommen. Doch das Ergebnis war nichts weiter als ein wunder Pimmel – und ein Gefühl der Erniedrigung.

    Mit Daniela aber ging dann alles ganz schnell. Zum ersten Mal verlor er das Interesse an Schulnoten. Und er wusste plötzlich: Ein Mann zu werden bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als seinem Körper und seinem Herzen ausgeliefert zu sein.

    Er fragte sich, wann Illias wohl in der Pubertät gewesen sein mochte. Wahrscheinlich hatte er auch sie einfach nur besiegt. Außerdem war Illias ein Lügner. Niemals würde jemand alleine eine ganze Flasche mit Sperma füllen können. Er verkniff sich, seinen Bruder darauf hinzuweisen. Aber er fragte ihn seitdem nicht mehr um Rat.

    Illias predigte trotzdem immerzu: »Wer keine Angst hat, kann nicht mutig sein!«

    Und er sagte auch: »Wenn dir jemand schwul kommt, Zini, sag mir Bescheid, den brech’ ich ab!«

    Eine Zeit lang erfuhr Zinos, wenn auch keinen Wachstums-, so doch einen Popularitätsschub, da es sich in der Schule herumgesprochen hatte, dass Illias sein Bruder war. Sogar von Thomas Neumanns Clique wurde er zum Skateboarden mitgenommen. Zinos hatte kein eigenes Board und konnte seine Eltern nicht davon überzeugen, ihm eins zu kaufen. Er hatte keine Ahnung, wie Illias davon Wind bekommen hatte. Eines Morgens aber wachte er mit einem Skateboard im Arm auf.

    Zinos übte fleißig und wurde beinahe fester Bestandteil der Clique um Thomas Neumann, der in einer großen Altbauwohnung in der Wohlers-Allee lebte. Einmal, nach der Schule, hingen sie dort mit ein paar Jungs rum. Da stellte Thomas plötzlich eine Vase in die Mitte des Zimmers und ordnete an, dass um die Wette gewichst werden solle.

    Wer verlor, musste Gras kaufen gehen.

    In den nächsten Tagen wurde Zinos in der Schule ignoriert, und ein unbeliebtes Mädchen steckte ihm, dass Thomas rumerzählte, Zinos habe einen Schwanz, so klein wie ein Radiergummi und habe deshalb nicht vor den anderen wichsen wollen.

    Zinos erzählte Illias davon. Der sprang auf und brüllte: »Ich hab dir doch gesagt – wenn dir jemand schwul kommt, sollst du Bescheid sagen! Dein Ding geht niemanden was an, klar? Und selbst wenn du gar keins hättest oder zwei Säcke – das muss keiner wissen!«

    »Aber ich habe einen Schwanz, der ist okay, ehrlich«, murmelte Zinos, ohne zu wissen, ob das stimmte.

    Später fiel ihm auf, dass er seinen Bruder zum letzten Mal als kleines Kind nackt gesehen hatte. Warum hatte Illias seinen Schwanz seitdem versteckt? Es passte nicht zu ihm. Plötzlich war alles klar: Sein Bruder musste mindestens zwei Säcke haben. Denn er war der größte Bruder, den man haben konnte.

    Irgendjemand schlug Thomas Neumann zusammen und trat ihm so heftig in die Eier, dass er ins Krankenhaus musste.

    Zinos wurde allmählich respektiert, hatte aber noch immer keine richtigen Freunde. Das Skateboardfahren ersetzte er durch Essen. Besonders groß wurde sein  Appetit, als Illias eines Tages plötzlich verhaftet wurde. Polizisten kamen in ihr Zimmer und beschlagnahmten sämtliche Kartons.

    Zinos hatte nie darüber nachgedacht, dass das, was sein Bruder trieb, so verboten sein könnte, dass man dafür ins Gefängnis kommen konnte. Man konnte. Die Sachlage war eindeutig und die Verhandlung schnell beendet.

    Nun hatte Zinos ein eigenes Zimmer. Seit es ein begehbares Schließfach gewesen war, hatte ihre Mutter dort nicht mehr geputzt. Nun saugte sie exzessiv Staub, rückte alle Möbel beiseite, wischte stundenlang und putzte das Fenster, bis sie einen Krampf im Arm bekam. Dazu sang sie den ganzen Tag theatralische griechische Lieder. Sie wusch die Gardinen bei fünfundneunzig Grad, bügelte, zog die Betten ab, hängte die Matratzen aus dem Fenster und besprühte alles, was ihr in die Hände fiel, mit dem Raumspray Grüner Apfel.

    Von nun an schlief sie selber häufig in Illias’ Bett – weil der Vater seit der Verurteilung seines ältesten Sohnes im Schlaf vor sich hin schimpfte; manchmal brüllte er sogar.

    Da Zinos immerhin schon fast siebzehn war, wäre dies eigentlich der Zeitpunkt gewesen, um sich von seiner Mutter zu lösen. Stattdessen übernachteten sie nun beide, so wie früher in der ersten Wohnung der Familie, in einem Zimmer. Zu Zinos’ Erstaunen machte ihn das glücklich. Nach wenigen Wochen aber zog sie wieder zurück ins Ehebett, denn der Vater murmelte nur noch ab und zu – und hörte sofort damit auf, wenn die Mutter ihm die Wange streichelte.

    Zinos schätzte seine Mutter und ganz besonders ihre Küche, mit all den köstlichen Kohlehydraten und Fetten. Sie war eine Meisterin der Aufläufe. Gekonnt variierte sie Hack, Nudeln, Kartoffeln, Gemüse, Tomaten-, Käse- und Sahnesoße. Zinos wärmte sich bis zu dreimal täglich etwas auf und aß davon gerne nachts und vor der Schule auch kalt: aus der Tupperwaredose im Kühlschrank. Ihr griechisches Essen machte nicht einfach nur satt, es stellte ruhig.

    So dämmerte Zinos ein paar Monate vor sich hin – bis er oben auf dem Einbauschrank eine Tüte mit einem nagelneuen Atari-Computer entdeckte. Die Polizei musste sie übersehen haben, und seine Mutter hatte stoisch drum herum gewischt. Der Atari wurde Zinos bester Freund. Aus den Pickeln im Gesicht und auf dem Rücken war Akne geworden. Der vom Doktor versprochene Wachstumsschub kam tatsächlich, und mit ihm kam auch das Testosteron, und zwar im Überfluss.

    Er war zu einem wabbeligen Antityp geworden, der nicht Pickel, sondern Abszesse im Gesicht hatte, dessen lange Haare nachfetteten, kaum waren sie nach dem Waschen getrocknet, und dessen größte Freude es war, sich schon vor der Schule Bifteki, Pastitsio und Moussaka in den Mund zu stopfen und alles mit Erdbeer-Kaba hinunterzuspülen.

    Zinos rechnete nicht mehr damit, dass Mädchen je an ihm interessiert sein könnten. Und trotz des Wachstumsschubs war bei einseinundsiebzig Schluss. Zwei Mädchen in seiner Klasse waren noch immer größer als er.

    Ein wenig Hoffnung schöpfte er dank Prince, mit dem er neben einer geringen Körpergröße auch den Frauengeschmack teilte. Er träumte von all den Frauen, mit denen Prince sich umgab, und verlor sich stundenlang in dessen Fickballaden. Und die Frauen waren sinnlich und versaut, dabei aber romantisch und treu. Am liebsten machte Zinos es mit Apollonia zu den Klängen von International Lover, Adore, Pink Cashmere und Darling Nikki.

    Wenn er aus der feuchtheißen Geborgenheit Apollonias in sein Zimmer zurückkehrte, überfiel ihn manchmal Frustration – und Scham. Und obwohl er noch immer den größten Halt in der ordentlichen Schularbeit fand, merkte er, dass diese Art von Streben, dessen nächster Schritt das beste Abitur wäre, ihn längst nicht mehr glücklich machte.

    Er bat seinen Philosophielehrer, der auch der Vertrauenslehrer der Schule war, um Rat.

    Herr Brigge saß unter einer surrenden Hundert-Watt-Birne und riet Zinos, sich doch einmal etwas zu trauen. Zum Beispiel, um die Fantasie anzuregen, eine Aufgabe einmal nicht perfekt zu erfüllen! Man dürfe sich nicht immer fragen, was andere von einem erwarteten! Begeistert reckte Herr Brigge seine Faust in die Höhe, als hätte er in einer olympischen Disziplin den Weltrekord aufgestellt.

    Was andere von ihm dachten, war tatsächlich etwas, das Zinos ziemlich verunsicherte. Doch was war, wenn er nur noch machte, was er wollte, ohne dabei an die anderen zu denken – und dann ging alles schief? Herr Brigge schien ganz begeistert darüber zu sein, dass Zinos voller Ängste und Zweifel steckte. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte:

    »Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.« »Aber was für eine Erkenntnis? Erkenntnis zu was denn, Herr Brigge?«, rief Zinos aufgeregt.

    »Die Erkenntnis darüber, was du willst – und was nicht. Nur dieses Wissen führt dich sicher durch dein Leben. Denn das Leben ist eine Komposition aller Entscheidungen, die man trifft.«

    Nichts war je einleuchtender gewesen als Herrn Brigges Worte in diesem Moment. Und wie auf Kommando brannte die Glühbirne über den Köpfen der beiden durch.

    Zinos entschied schon bei der nächsten Schulaufgabe umzusetzen, was Herr Brigge ihm geraten hatte. Seine Unsicherheit wies ihm den Weg. Jetzt musste er ihr nicht mehr, ja, er

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