Überleben: Der Gürtel des Walter Fantl
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Über dieses E-Book
Heute ist Walter Fantl einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen in Österreich. Basierend auf jahrelangen Gesprächen und zahlreichen Originaldokumenten zeichnet der Historiker und Journalist Gerhard Zeillinger den bewegenden Lebensweg nach, der von der behüteten Kindheit in Bischofstetten in Niederösterreich direkt in den Horror der NS-Zeit und in die Stunde null nach der Befreiung mündet. Zeillingers dokumentarisch erzählender Stil macht diese berührende Geschichte achtzig Jahre später noch einmal lebendig und schildert sehr eindringlich das Bild einer Zeit, die uns bis heute beschäftigt.
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Buchvorschau
Überleben - Gerhard Zeillinger
Was jetzt?
Wien, 10. Juli 1945
1
Als er plötzlich vor ihr stand, hat Grete Gross ihn nicht mehr erkannt. Ein junger, schmächtiger Mann mit hohlen Wangen, zwar rasiert und die Haare geschnitten, aber insgesamt eine bedauernswerte Erscheinung. Alles hängt an ihm, Hemd und Hose sind um ein paar Nummern zu groß, um die Taille hat er einen breiten Gürtel geschlungen, wie ihn sonst nur die Arbeiter tragen. Der Gürtel gibt dem jungen Mann scheinbar den einzigen Halt. Kaum fünfzig Kilo hat Walter damals gewogen, zu Beginn des Jahres, wird er später erzählen, waren es gar nur achtunddreißig. Er war dürr, wie zum Abbrechen. Hätte er sich in einem Spiegel sehen können, er wäre vor sich selber erschrocken. Vorsichtig hat er zu essen begonnen, langsam, über Monate hin, hat er wieder zugenommen, aber ohne den breiten Gürtel, der ihn scheinbar so zusammenschnürt, hält ihm die Hose noch immer nicht am Leib.
Frau Gross hat im ersten Augenblick nicht gewusst, was sie mit ihm anfangen soll. Natürlich war ihr sofort klar, dass es sich um keinen Klienten handelt, der zum Dr. Stern möchte, deshalb braucht sie auch nicht zu sagen, dass die Kanzlei noch gar nicht wieder geöffnet hat, das kann noch eine Zeit dauern. Nein, dieser junge Mann, das sieht man auf den ersten Blick, hat nichts mit dem Gericht zu tun. Frau Gross kennt mittlerweile diese „Gestalten", die seit einigen Wochen in Wien herumlaufen. Die jetzt alle aus den Lagern zurückkommen, ausgehungert und wenig Vertrauen erweckend. Dabei hat Walter immer großen Wert auf ordentliche Kleidung und korrekte Erscheinung gelegt. Und er selbst weiß, so schlimm wie jetzt – wenn er von der Zeit im Lager absieht – hat er noch nie ausgesehen, abgerissen, fast schäbig, so kommt er sich vor.
Das Wenige, das er zum Anziehen hat, hat er sich in den letzten Monaten „organisiert, irgendwo auf dem Weg zwischen Gleiwitz, Theresienstadt und Wien, die Strecke seiner monatelangen Rückkehr nach Hause. Am Anfang ging es nur darum, das verhasste Streifengewand loszuwerden und wieder normale Kleidung zu tragen. Das eine oder andere Hemd, ein wenig Wäsche hat er vom Roten Kreuz bekommen. Nur den Gürtel hat er auch vorher schon gehabt. Der Gürtel, der seinen Körper so auffallend in zwei Hälften teilt, ist das Einzige, was ihm geblieben ist. So ist er vor drei Jahren in Wien als Schlosser gegangen, in der „Technischen Kolonne
der Kultusgemeinde. Da war Walter achtzehn. Er hat Türschlösser repariert, Schlüssel gefeilt. Oder er hat beim Übersiedeln geholfen. Übersiedeln hat immer geheißen, dass die Parteien in eine noch kleinere Wohnung ziehen mussten, eigentlich in ein Untermietzimmer, bis sie ein paar Wochen später abgeholt wurden, um dann für immer zu verschwinden.
Grete Gross und ihrer Mutter hätte es jederzeit auch so ergehen können. Die ganze Zeit hat sie in Angst gelebt, man könnte sie ebenfalls fortbringen, ins Sammellager, in ein Ghetto nach Polen. Auf der Straße wechselte sie die Seite, wenn sie jemanden in Uniform auf sich zukommen sah – nur nicht auffallen, nur nicht nach dem Ausweis gefragt werden. Jedes Mal dieses Herzklopfen, bis sie endlich die Kanzlei von Dr. Stern erreichte. Bei ihm hat sie sich sicher gefühlt. „Sie bleiben bei mir, hat er zu ihr gesagt, „Ihnen und Ihrer Mutter wird nichts passieren.
Aber wie konnte er das versprechen? Dr. Stern war doch selbst Jude.
Walter hat Grete und ihre Mutter das letzte Mal im September 1942 gesehen, kurz bevor er und seine Familie „auf Transport gingen". Danach hatten sie nichts mehr voneinander gehört.
Walter kommt alles fremd vor. Seit dem Morgen ist er zurück in Wien. Er ist über Pressburg gekommen, mit ein paar Kameraden, dem Leo, Kurt Herzka, Sigi Rittberg und noch vier anderen. Genau genommen ist er mit ihnen schon seit Monaten unterwegs. Gemeinsam waren sie im Lager und auf „Todesmarsch", das hat sie zusammengeschweißt. Als sie Ende Januar befreit wurden, wussten sie lange nicht, wohin. Sie zogen von einem Ort zum andern, wie eine verschworene Gruppe. Junge Männer mit Hunger nach Leben, aber ohne Vorstellung, wie dieses Leben aussehen soll. Zuletzt waren sie wieder in Theresienstadt gelandet. Das ist nun genau vier Wochen her. Sie hatten sich fast schon an diesen Ausnahmezustand gewöhnt, dann haben sie spontan beschlossen, nach Wien zu fahren – nicht, um dorthin zurückzukehren, sie wollten nur wissen, wie es in Wien jetzt aussieht.
Natürlich sind sie schockiert. Überall zerbombte Häuser, Schuttberge und Menschen, die darin herumwühlen. Alle Brücken gesprengt. Auch die Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse, wohin sie als Erstes gehen, ist in den letzten Kriegswochen von einer Bombe getroffen worden. Später wird Walter erfahren, dass mehr als sechzig Menschen im Luftschutzkeller ums Leben gekommen sind, auch Ilse, eine Jugendfreundin aus seiner Clique, die eine hübsche junge Frau geworden war. So knapp vor dem Ende. Die Eingänge sind mit Brettern vernagelt, auf einem angeschlagenen Schild lesen sie, dass sich die Amtsdirektion nun am Schottenring, Ecke Deutschmeisterplatz befindet. Dort sei auch eine Meldestelle für Rückkehrer eingerichtet und es würden Pakete ausgegeben, wird den jungen Männern gesagt.
Walter bekommt an diesem Morgen eine Legitimation ausgestellt. In vier Sprachen, auf Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch, wird ihm bescheinigt, dass er Häftling in Auschwitz war. Nunmehr ist es amtlich. Eigentlich ist er gekommen, weil er wissen möchte, ob jemand von seinen Verwandten überlebt hat. Aber keiner der Namen findet sich in den Listen. Weder hier noch beim Roten Kreuz hat sich einer von ihnen seit der Befreiung gemeldet. Das müsse nichts bedeuten, sagt man ihm, fast täglich würden neue Listen erstellt, immer noch würden sich Vermisste melden. Dasselbe hat man ihm auch in Theresienstadt gesagt, als er nach seiner Mutter und seiner Schwester gefragt hat.
Als er wieder auf der Straße steht und überlegt, wohin er gehen könnte, fällt ihm die Grete Gross ein. Die Gretl. Er kennt sie, seit er ein Kind war und sie mit ihren Eltern jedes Jahr zur Sommerfrische nach Bischofstetten aufs Land gekommen ist. Sie waren die einzigen jüdischen Sommergäste in der kleinen Landgemeinde, und Walters Eltern, die eine Greißlerei führten, waren die einzigen Juden im Ort. Da ist schnell eine Freundschaft entstanden. Als Walter 1924 zur Welt kam und am achten Tag nach seiner Geburt in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen wurde, waren die Gross eigens aus Wien gekommen. Gretes Vater hatte Walter bei der Beschneidung gehalten. Damals hat sich noch niemand vorstellen können, eines Tages alles hier aufgeben zu müssen.
Sechzehn Jahre später hieß es plötzlich fortgehen, in einem fremden Land ein neues Leben anfangen. Von Amerika wurde geredet. Aber dazu brauchte man Geld, man brauchte Beziehungen. Auch Grete Gross hat überlegt, sich und ihre Mutter irgendwo im Ausland in Sicherheit zu bringen. Nur wohin hätten sie gehen können? Und dann hat der Dr. Stern seine Hand über sie gehalten. „Machen Sie sich keine Sorgen", hat er gesagt. Aber konnte sie sich darauf verlassen?
Dr. Stern war einer der wenigen jüdischen Rechtsanwälte in Wien, die auch nach 1938 noch jüdische Klienten vertreten durften, zuletzt war er der einzige. Es war bekannt, dass er Kontakte zur Gestapo hatte. Er könne Juden vor dem Transport retten, wurde gesagt, es käme nur auf die Höhe der Summe an. Aber die wenigsten hatten noch so viel Geld, um sich freikaufen zu können. Das war 1942, auf dem Höhepunkt der Deportationen, als auch Walter und seine Familie fortmussten. Was seither in Wien geschehen ist, davon hat Walter nur gerüchteweise in Theresienstadt gehört.
An diesem Vormittag geht er noch einmal durch den 1. Bezirk. Die Kanzlei von Dr. Stern befand sich in der Wollzeile. Gibt es die Kanzlei noch? Kann er die Grete dort antreffen? Er kommt am ausgebrannten Stephansdom und an Schuttbergen vorbei. In der Wollzeile, eine Straße weiter, sind die Häuser fast alle unbeschädigt, auch das Haus Nummer 18 steht noch. Eine noble Innenstadtadresse, das Stiegenhaus mit Marmor verkleidet. Frau Gross, die in Walters Erinnerung hinter einem großen Schreibtisch im Empfangszimmer sitzt, hätte bei Dr. Stern eigentlich nichts mehr zu tun, die Kanzlei ist geschlossen, der Rechtsanwalt, der sie und ihre Mutter tatsächlich vor der Gestapo geschützt hat, wartet noch immer auf seine Wiederzulassung.
Trotzdem kommt Frau Gross, sie ist siebenunddreißig und unverheiratet, jeden Morgen in die Kanzlei, ordnet Akten und sichtet die spärliche Post. Als es läutet, geht sie automatisch zur Tür. „Ja bitte?", fragt sie, und eigentlich will sie gleich sagen, dass Dr. Stern vorerst noch niemanden vertreten kann.
Der junge Mann, der so fremd vor der Tür steht, der so entsetzlich aussieht, lächelt. Und Grete sieht ihn mit fragenden Augen an. Dann erschrickt sie. Als stünde ein Gespenst vor ihr.
„Und deine Eltern, fragt sie, „deine Schwester?
Walter schüttelt den Kopf. „Nur ich."
2
Zur selben Zeit steht Leo Luster vor der Wohnungstür, hinter der er bis 1941 mit seinen Eltern gelebt hat. Schreygasse 12, dritter Stock. Den Namen, der seither am Türschild steht, hat er nicht vergessen, und auch nicht wie der Herr Sowieso, ein illegaler Nazi, gekommen ist und ihnen die Wohnung weggenommen hat. „Packt eure Sachen, in zwei Stunden seid ihr draußen! Sie mussten in eine Kellerwohnung, die nur aus einem einzigen Raum und einer Küchenecke bestand, ohne elektrisches Licht, ohne Wasser. Mitnehmen durften sie nur, was sie tragen konnten. Leo kann sich noch gut erinnern, und wenn er manchmal im Lager an zu Hause gedacht und sich vorgestellt hat, wie er zurückkommt, dann hat er sich ausgemalt, wie er in die Schreygasse geht und es genauso machen wird. Er wird den Mann und seine Frau aus der Wohnung werfen, er wird ihnen sagen: „Packt zusammen, ihr habt zwei Stunden Zeit, dann seid ihr weg!
Eigentlich wollte Leo die Frau Schlicksbir aufsuchen, die Hausbesorgerin, die Einzige, der sein Vater damals vertraut hat, obwohl er sich auch bei ihr nicht sicher war, auf welcher Seite sie steht. Aber die Frau Schlicksbir wohnt nicht mehr hier. Aus dem Fenster der Hausmeisterwohnung sieht ein Herr um die fünfzig heraus. Leo erkennt ihn sofort. Auch er ein Parteigenosse, einer von der unangenehmen Sorte. Im Winter hat er Leo immer zum Schneeschaufeln geholt und ihn auch sonst gerne erniedrigende Arbeiten verrichten lassen, er hat sich einen Spaß daraus gemacht, Juden zu schikanieren.
Jetzt ist er offenbar der neue Hausbesorger, ein grauer, eigentlich kleiner Mann. Leo ist ihm in den wenigen Jahren, die er nicht mehr hier war, über den Kopf gewachsen und sieht nun fast auf ihn hinunter. Er merkt, wie der Mann zittert. Nicht weil er Leo erkannt hat, sondern weil Leo eine britische Uniformbluse trägt und weil man in Wien, so viel hat Leo schon begriffen, vor Uniformen der Alliierten Respekt hat.
„Sie kennen mich nicht mehr? Ich bin der Luster."
Leo sieht, wie der Mann erschrickt, wie sein Gesicht noch blasser wird.
„Ja so, Sie leben noch."
Unsicher tritt der Hausbesorger aus der Wohnung, dann sieht er Leo an und versucht zu lächeln.
„Das ist aber eine große Freude, Herr Luster. Sie wissen, ich habe Ihrer Familie immer geholfen, so gut es ging."
Leo blickt an ihm vorbei durch die geöffnete Wohnungstür, und in diesem Augenblick erkennt er die Möbel seiner Eltern aus der Wohnung im dritten Stock, die komplette Einrichtung.
„Das sind ja unsere Möbel!", ruft er.
Und wieder lächelt der Hausbesorger. „Sehen Sie, die hat mir Ihr Vater damals geschenkt, weil er sie ja nicht mitnehmen konnte."
„Aber das ist doch nicht wahr, ruft Leo, „und Sie wissen das ganz genau!
Mittlerweile sind auch andere Parteien aus ihren Wohnungen gekommen, es hat sich herumgesprochen, dass ein englischer Soldat im Haus ist. Dabei ist es nur der Luster, der Leo.
„Jö, der junge Herr Luster", sagen sie.
So wurde er früher nie angeredet, es ist überhaupt das erste Mal, dass jemand Herr zu ihm sagt.
Einen Augenblick lang weiß er nicht, was er tun soll. Soll er anfangen zu schreien, den Hausbesorger niederbrüllen? Er sieht in die Gesichter der anderen Parteien, als würde er darauf warten, dass ihm jemand recht gibt und seine Empörung teilt. Aber niemand scheint ihn zu verstehen.
Was tu ich hier eigentlich, fragt sich Leo. Was will ich hier?
Er dreht sich um und läuft aus dem Haus. Nicht weit entfernt liegt das Krügerheim, das ehemalige Sammellager, in dem Leo und seine Eltern damals kaserniert wurden, bevor sie nach Theresienstadt kamen.
Das Krügerheim sieht grau und heruntergekommen aus, die Stockwerke sind vollbelegt mit kranken und ausgehungerten Rückkehrern. Gleich gegenüber steht das Gebäude Malzgasse 16, Leos ehemalige Volksschule. Er läuft daran vorbei, immer geradeaus weiter, bis er plötzlich im Augarten steht. Aber auch hier denkt er sich: Was soll ich da? Was will ich überhaupt in diesem Wien?
Leo läuft hinunter in die Taborstraße, dann weiter zum Donaukanal. Auf dem schmalen Behelfssteg, der über den Trümmern der Marienbrücke errichtet wurde, geht er zurück in den 1. Bezirk, vorbei an den Häuserruinen am Kai. Und plötzlich empfindet er ein angenehmes Gefühl darüber, dass so vieles zerstört wurde. Es ist ihm sogar eine Genugtuung, wenn er die Menschen sieht, wie sie in den zerbombten Häusern nach brauchbaren Dingen suchen oder wie sie sich von Hydranten das Wasser holen, weil die Leitungen in den Häusern kaputt sind. Geschieht ihnen recht, sagt er sich, geschieht ihnen doch verdammt nochmal recht!
3
Auch Walter hat für diesen Tag genug gesehen. Als er Leo zur vereinbarten Zeit am Deutschmeisterplatz wiedertrifft, kommt ihm alles noch fremder vor. Lässt sich hier überhaupt noch leben? Kann man hier als Jude noch einmal anfangen?
„Ich will nicht hier bleiben, sagt Leo. „Da haben wir nichts mehr verloren. Was ist, gehen wir gemeinsam nach Palästina? Oder nach Amerika?
Leo hat sich in Theresienstadt erkundigt, es gibt in Bayern ein Lager für Displaced Persons, so werden jetzt die genannt, die keine Heimat mehr haben und nirgendwo mehr hingehören.
„Was hält uns noch hier?"
Walter kommt der Gedanke an Amerika wie ein ferner Traum vor. Die vielen Briefe, die sein Vater geschrieben hatte, die enttäuschte Hoffnung, es würde drüben weitergehen. Damals wäre Amerika die Rettung gewesen, alles wäre anders gekommen. Aber jetzt?
Man kann nicht so einfach davonlaufen, denkt er.
„Hier braucht uns doch keiner, sagt Leo, „und haben will uns auch niemand. Aber in Palästina, da werden wir gebraucht.
Vor ein paar Jahren hätte Walter jedes Schiff dorthin genommen. Aber so richtig hat er sich ein Leben im Gelobten Land nie vorstellen können. Er denkt an seine Cousine Edith, die noch rechtzeitig nach Palästina geflüchtet ist, so wie Leos Schwester. Da ist es dann einfacher, wenn man schon jemanden dort hat, wenn jemand auf einen wartet. Auch wenn er gar nicht weiß, wo Edith jetzt lebt.
„Vielleicht komme ich eines Tages nach. Vielleicht in einem Jahr."
Leo versteht nicht. „Bist du blöd? Was willst du noch hier?"
„Ich weiß nicht, sagt Walter. „Es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst.
Seit sie wieder in Freiheit sind, hat sich Walter geschworen, zunächst einmal die Dinge hier in Ordnung zu bringen. Er will sein Elternhaus zurückhaben, die Ansprüche regeln. Was dann kommt, darüber hat er noch nicht nachgedacht. Am liebsten würde er schon morgen nach Bischofstetten fahren und allen dort sagen: Ich bin wieder da, seht her, ich habe überlebt, ich will, dass ihr das wisst!
Auf dem Land
Bischofstetten 1924–1940
1
Wir lebten in einer überschaubaren Welt. Alles war überschaubar, der Ort, unsere Familie. Mein Vater war Kaufmann, gemeinsam mit meiner Mutter betrieb er eine Gemischtwarenhandlung. Meine Schwester war drei Jahre älter als ich. Auch meine Großmutter lebte bei uns, und die Pepi, unser Dienstmädchen. Wir waren die einzigen Juden im Ort.
Bischofstetten liegt im niederösterreichischen Kernland. Die Landschaft ist hügelig und von Obstbäumen bewachsen. Das Pielachtal, das sich bis in die Voralpen hineinzieht, grenzt unmittelbar an. Es ist eine bäuerliche Gegend, unscheinbar, ohne landschaftlichen Reiz. In den gängigen Reise- und Tourismusführern wird der kleine, 69 Kilometer von Wien entfernte Ort nicht einmal erwähnt. Er liegt abseits der wichtigen Verkehrsverbindungen und zählt kaum tausend Einwohner. 1938 gibt es im Ort neun Telefonanschlüsse, einer davon gehört zum Kaufhaus Fantl, das mitten im Zentrum des Ortes, an der nach Ober-Grafendorf führenden Bezirksstraße liegt. Gleich gegenüber liegen Gemeindehaus und Kirche, die Schule, das Kriegerdenkmal. Es ist eines von drei Geschäften, die im Ort ihre Waren feilbieten. Vor allem am Sonntag kaufen hier die Bauern nach dem Kirchgang ein. Haushaltsgeräte, Konfektionswaren, Güter des täglichen Bedarfs. Neben Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Geräten wie Heugabeln oder Viehstriegeln bekommt man Kleiderstoffe, Nähzeug, Einsiedegläser, Schulhefte, Steinkrüge, Holzschuhe, zu Weihnachten sogar Christbaumschmuck. Vor dem Haus steht auch eine Benzinpumpe, immer wieder machen Motorrad-, manchmal auch Autofahrer auf dem Weg nach St. Pölten halt.
Im Telefonbuch ist das Geschäft noch unter dem Namen J. Brumlik & Sohn, Spezerei- und Manufakturwarenhandlung eingetragen. Der „Sohn" ist Walters Vater Arthur Fantl, der 1921 von seinem Onkel Jakob Brumlik adoptiert wurde, seither trägt Walters Familie den Namen Fantl-Brumlik, eine Formalität auf amtlichen Dokumenten. Arthur Fantl wurde 1890 in Loosdorf geboren, einem kleinen, nicht weit entfernten Marktflecken an der Westbahn, wo sein Vater Max eine Schneiderei betrieb. 1892, mit noch nicht einmal zwei Jahren, kam er nach Bischofstetten zu Jakob und Marie Brumlik. Marie ist die Schwester seiner Mutter. Da das Paar keine Kinder bekommen kann, hat es schon bald einen Nachfolger für sein Geschäft gesucht. Das ist aber nicht der einzige Grund, dass das Kind so früh seinen leiblichen Eltern entrissen wurde. Als Schneider verdiente Max Fantl in Loosdorf offenbar nicht genug, um die Familie ausreichend versorgen zu können. Noch vor 1900 verließ er den Ort und zog nach Wien, wo die jüngsten zwei seiner insgesamt sieben Kinder geboren wurden. Kurz darauf ließ er sich scheiden und eröffnete in Klagenfurt eine Handelsagentur. Nur die einzige Tochter nahm er mit. Die übrigen Kinder wuchsen verstreut auf.
Bischofstetten, Ansichtskarte von 1914
Walters Eltern (links) vor dem Geschäft in Bischofstetten, ca. 1925
Arthur Fantl dürfte seinen Vater kaum gekannt haben, für ihn sind Jakob und Marie Brumlik seine nächsten Angehörigen, in den Dokumenten ist er deren „Wahlkind". Als er noch vor dem Ersten Weltkrieg zum Militärdienst auf dem
