Im Schilf
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Über dieses E-Book
Hansjörg Schertenleib
Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.
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Buchvorschau
Im Schilf - Hansjörg Schertenleib
Für Brigitte, love, life, wife.
Für Romana, die es mit ihm aushielt,
für Monika, die unter ihm litt,
und für Sonja, die er auf Händen trug,
bis er sie ebenfalls fallen ließ.
Ich suchte mir einen hohen Felsen,
wo ein warmer Nachtluftzug ging.
Dort schlief ich ein, während tief unten
die Fische zwischen spitzen Steinen zuckten.
Harry Martinson
Am See
Zischelnd gleitet Max’ Ruderboot durch den Teppich aus Seerosen ins offene Wasser und in die Morgensonne, die um die frühe Zeit noch kaum Kraft hat, da klingelt mein Handy: Mein Vater Arthur ist am 11. Januar, vor sechsundvierzig Tagen also, in einem Pflegeheim verstorben, zweiundvierzig Tage vor seinem 91. Geburtstag. Aus dem mit gelben Adern gesträhnten Himmel fällt ein fahler Lichtstrahl, trifft den See und blendet die Welt aus. Der Beamte des Amtsnotariats, der mich informiert, ist verständnisvoll und behutsam, in seiner Stellung wird er zerrüttete oder aus dem Lot geratene Familienverhältnisse gewohnt sein, jedenfalls vermittelt er mir nicht den Eindruck, er halte es für eigenartig oder falsch, dass er und nicht die Lebenspartnerin meines Vaters mich informiert. Ich falle in einen weißen Abgrund, fange mich aber gleich wieder; im Dickicht schimmern Spinnennetze, aufgespannt zwischen Ästen, die Taumäntel tragen. Die Weide, neben der Max und ich eine Stelle von Ranken und Unkraut befreit und zu einem versteckten Lagerplatz geebnet haben, ist niedergesunken und liegt im Wasser, der Schlag meiner Ruder versetzt ihren Stamm in träges Schaukeln. Ich empfinde Erleichterung, keine Trauer, bin vom Vorwurf erlöst, ein Leben lang der falsche Sohn gewesen zu sein. Mein Vater ist tot, und ich bin, mit vierundsechzig Jahren, befreit. Wir haben uns vor über sechs Jahren das letzte Mal gesehen und seither nicht ein Wort miteinander gewechselt. Mit vierzehn stellte ich mir zum ersten Mal vor, er sei tot, mit fünfzehn brachte ich ihn das erste Mal in Gedanken um, mit sechzehn zog ich von zu Hause aus. Etwas vom Schlimmsten, was man mir sagen kann, denn es ist eine Anschuldigung, eine falsche dazu, lautet: »Du bist wie er!« Dass ich ihm ähnlich sehe, und zwar mit jedem Altersjahr deutlicher, kann ich hingegen nicht bestreiten.
Knisternd tauen die Rispen des Rietgrases in der Morgensonne, Äste knacksen verschämt, Zweige lösen sich aus der Erstarrung, in die sie der Frost gezwungen hat, der über Nacht anschlug; die Kälte hatte mich gegen drei Uhr geweckt, ich schälte mich aus dem Schlafsack, nahm Max’ Wolldecke der Schweizer Armee aus dem Schrank, legte sie mir um die Schultern und trat auf die Veranda hinaus, um dem Glucksen des Wassers zu lauschen und auf erste Vogelstimmen zu warten. Im Morgengrauen nahm ich die Blechbüchse aus ihrem Versteck unter dem Bett, in dem Max früher schlief, und breitete die Schätze auf dem Bretterboden aus, die wir im Lauf der Jahre gesammelt haben und die außer uns nie jemand gesehen hat oder sehen wird.
Nachdem sich der Beamte verabschiedet hat, habe ich das Bedürfnis, meine jüngere Schwester Tanja anzurufen, da fällt mir mein letzter Besuch bei ihr ein, der bestimmt zehn Jahre zurückliegt; ihre Multiple Sklerose überfordert mich, doch das schlechte Gewissen, mich nicht genügend um sie zu kümmern, ist offenbar nicht groß genug, um sie häufiger zu sehen. Wir saßen auf dem Balkon ihres Heimzimmers, sie hatte zu viel Make-up aufgelegt, roch nach einem süßlichen Parfum, rauchte Kette und sah mich misstrauisch an, als werfe sie mir vor, dass es mir besser ging als ihr. Die Unsicherheit, ob ich mein Entsetzen über ihr Aussehen verbergen konnte, überspielte ich mit einer aufgesetzten Heiterkeit, die sie sicherlich durchschaute, das Unbehagen, das ihre unausgesprochenen Vorwürfe an mich auslösten, war so groß, dass ich bald nur noch über Ausreden nachdachte, um mich so schnell wie möglich verabschieden zu können. Das kalte, höhnische Lachen, das sie sich angewöhnt hatte, war mir so unangenehm wie der bittere Zug um ihren Mund und der Blick ins Leere, in den sie verfiel, sobald wir nicht über ihre Krankheit und ihr Leben im Heim redeten. Tanja hat schon immer gern im Mittelpunkt gestanden, aber seit sie krank ist, gibt es kein anderes Thema mehr, das sie interessiert; ich bin es leid, mir sagen lassen zu müssen, wie viel Glück ich habe, auch angesichts der Tatsache, dass unser Vater sie bevorzugte und ihr alles erlaubte, was uns Älteren, Veronika und mir, verboten war. Es gelang mir, die wilde Sehnsucht, die ich auf dem Heimbalkon plötzlich verspürt habe, die Sehnsucht, wieder jung zu sein und am Anfang meines Lebens zu stehen, nicht meiner Schwester vorzuwerfen, aber sie hat meinen Unwillen gespürt, in unserer Vergangenheit zu wühlen, um eine Nähe zwischen uns heraufzubeschwören, die vielleicht nie existiert hat. Über meine Lüge, sie bald wieder zu besuchen, ist sie kommentarlos hinweggegangen, kühl hat sie mich gemustert und dann spielerisch gegen den Oberarm geboxt, wie sie es als Teenager gern tat: »Hättest du mich wiedererkannt? Auf der Straße, mein ich? Ich dich auch nicht! Alt, wie du geworden bist, Bruderherz. Du hast mir gefehlt.« Mit dem »manchmal«, das sie nach einer kurzer Pause nachschob, hat sie mich vom Balkon in ihr Zimmer gedrängt.
Ein Dutzend kräftiger Ruderschläge genügt, um nicht in die Strömung zu geraten, die mich auf das Willerzeller Viadukt zutreiben würde, wie Max es mir gezeigt hat. Der verschilfte Uferbereich, in dem wir eines Nachts das Ruderboot nicht mehr fanden, nachdem wir auf der angrenzenden Wiese den gefangenen Hecht gebraten hatten, liegt keinen Steinwurf entfernt seeaufwärts. Der Holzverschlag, in dem wir damals die Nacht verbrachten, ist abgerissen worden, jetzt steht ein Carport dort. Früh am Morgen waren wir von einer Gans über die Wiese gejagt worden, die sich aufrichtete, triumphierend mit den Flügeln schlug und uns böse anfauchte.
Statt an meinen verstorbenen Vater denke ich an die Irlandreise, die ich vor vier Jahren mit Charlotte unternommen habe, obschon wir uns neun Monate davor endgültig getrennt und auf eine gütliche Scheidung geeinigt hatten. Charlottes verwitweter Vater Max hatte bei Ferien in Irland eine Frau in seinem Alter kennengelernt und war noch vor unserer Trennung kurz entschlossen zu ihr gezogen, um seinen Lebensabend mit ihr zu verbringen. Wir hatten zwar beide oft mit Max geskypt, aber besucht hatten wir ihn nie. Als Charlotte mich vor vier Jahren anrief, teilte sie mir aufgelöst mit, er liege im Sterben und wünsche sich, uns noch einmal gemeinsam zu sehen; wir hatten ihm nicht gebeichtet, dass wir kein Paar mehr waren. Die Nachricht hatte mir den Boden unter den Füßen weggeschlagen, und obwohl Charlotte sich die Unverschämtheit »Es wird dir leichtfallen, nur zu spielen, mit mir verheiratet zu sein« nicht verkneifen konnte, hatte ich zugesagt, sie als ihr Ehemann zu begleiten, um Max ein letztes Mal zu sehen.
Der leichte Dunst, der vom See aufsteigt, lichtet sich rasch, ich hebe die Riemen aus dem Wasser, kippe sie ins Boot, stelle sicher, dass die Dollen festsitzen, lege mich unter den Ruderbänken auf den Rücken und decke mich mit Max’ Wolldecke zu, um die Reise nach Irland in der Erinnerung noch einmal zu erleben und störenden Gedanken an meinen gestorbenen Vater aus dem Weg zu gehen.
Die Reise
Eins
Charlotte wartete an der Sicherheitskontrolle, sie hatte sich um Flugtickets und Boardingpässe gekümmert, am Flughafen Dublin einen Mietwagen reserviert und in einem Hotel in der Nähe von Ramelton zwei Zimmer gebucht, »weil in Letterkenny, wo mein Vater im Krankenhaus liegt, kein Mensch freiwillig über Nacht bleibt«. Im Zug zum Flughafen hatte ich es endlich geschafft, meinen Ehering auszuziehen; er glitt so mühelos vom Finger, als wollte er mich für all die vergeblichen Versuche der letzten Monate verhöhnen. Kann man ungeduldig stehen? Charlotte kann es, es hat mich von Anfang an gestört: Sie stand still vor dem Zugang, trotzdem war es, als springe sie quengelig auf und ab. Wie üblich war sie dezent geschminkt und bewies, wie wenig es braucht, wenn man alles hat. War ich etwa wieder bereit, zu sehen, was mir an ihr gefiel, statt all das, was mich an ihr störte? Ihre roten, schulterlangen Haare hatte sie mit einem hölzernen Kamm bewusst nachlässig hochgesteckt, sie trug Sachen, die ich nicht kannte. Wir umarmten uns auf jene unbeholfene und forciert zurückhaltende Art, die jedem Menschenkenner bestimmt sofort verrät, dass wir vor nicht allzu langer Zeit noch ein Paar waren und nach der richtigen Distanz suchten, die unserer neuen und noch ungewohnten Beziehung entsprach.
»Danke, machst du mit, Vik.«
»Wie geht es ihm?«
»Der Krebs hat gestreut. In der Niere, in der Lunge. Er wird blind.«
»Stirbt er?«
Vor dem Blick, mit dem sie mich ansah, habe ich mich im letzten Jahr unserer Ehe regelrecht gefürchtet. Der Blick sagt: Ich weiß, wer du in Wirklichkeit bist! Der Beamte, der uns durch die Sicherheitsschleuse winkte, reagierte auf Charlotte, wie es viele Männer tun: mit devoter Bewunderung. Wie wichtig es ihr ist, gemocht zu werden, war mir erst Monate nach unserer Hochzeit bewusst geworden.
Wir saßen in der siebten Reihe, Charlotte am Fenster, ich in der Mitte zwischen ihr und einem jüngeren, bulligen Mann, der stark schwitzte und während des ganzen Fluges vor sich hin murmelte. In den letzten Flugminuten, als das Festland Irlands zum Greifen nah vor uns lag und wir in rasch schwindender Höhe über aufgewühltes graues Meer glitten, geriet die Maschine in Turbulenzen, und mein Sitznachbar packte meinen Arm, ließ ihn aber sofort wieder los und entschuldigte sich.
Es dauerte beinahe eine Stunde, bis wir im Mietwagen saßen, einem weißen Opel Astra mit Automatikgetriebe, in dem es nach Putzmittel roch und auf dessen Armaturenbrett ein langes blondes Haar lag, das in die Höhe stieg und davonschwebte, als ich die Fahrertür zuzog. Die ersten Meilen fuhr ich unsicher, Charlotte fährt ungern, mir macht es nichts aus, erst auf der Höhe von Drogheda gewöhnte ich mich an das Steuer auf der rechten Seite. Ein Konvoi aus drei Lastwagen, der uns überholte, zog ein Luftloch hinter sich her, das unseren Wagen wie ein Faustschlag traf. Das tiefe Hornen, mit dem mich der vorderste Laster an den Rand der M1 scheuchte, wurde vom Wind verweht wie das Nebelhorn eines Dampfers. Bald darauf ließ der Regen nach, über der Irischen See war der Himmel von strahlendem Blau. Ein weiches Licht verlieh der Landschaft eine magische Aura, es war, als schwebte sie über sich selbst.
Wir fuhren schweigend, was wir in unserer Ehe höchst selten geschafft hatten, ohne dass unser Schweigen einen schalen, weil vorwurfsvollen Zug bekam. Gelegentlich machten wir uns auf etwas aufmerksam und kommentierten es. Die Landschaft fand ich enttäuschend; was ich sah, deckte sich nicht mit dem, was ich mir vorgestellt oder im Internet gesehen hatte. Reihenhaussiedlung reihte sich an Reihenhaussiedlung, Bungalow an Bungalow. Wir fuhren vorbei an Autogroßhändlern, Supermärkten, Holzlagern, kokelnden