Keine Macht der Moral!: Politik jenseits von Gut und Böse
Von Norbert Bolz
()
Über dieses E-Book
Norbert Bolz
Norbert Bolz, 1953 in Ludwigshafen am Rhein geboren, ist Philosoph und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrte bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2018 als Medienwissenschaftler an der TU Berlin. Seine Publikationsthemen kreisen um das Thema der Veränderung moderner Gesellschaften bzw. die zunehmende Versunsicherung postmoderner Gesellschaften. Zuletzt erschienen bei Matthes & Seitz Berlin: Keine Macht der Moral! (2021)
Ähnlich wie Keine Macht der Moral!
Ähnliche E-Books
Das Reich des kleineren Übels: Über die liberale Gesellschaft Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Identitätspolitik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Entdeckung der Gestaltbarkeit: Gesellschaftstheorien bei Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDenken in einer schlechten Welt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBegräbnis der Aufklärung?: Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFür einen Umweltschutz der 99%: Eine historische Spurensuche Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFreiheit oder Tod Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZwischen Biomacht und Lebensmacht: Biopolitisches Denken bei Michel Foucault und Ernst Jünger Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAdorno in 60 Minuten Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die Niederlage der politischen Vernunft: Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWas Linke denken: Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEinführung in die Ideologietheorie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWorte des Vorsitzenden Bewertung: 3 von 5 Sternen3/5Claude Lévi-Strauss Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSloterdijk – Aristokratisches Mittelmaß & zynische Dekadenz: gestalten der faschisierung 1 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAuf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung: Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Komplott an der Macht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGroßerzählungen des Extremen: Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Antichrist Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWarum Europa eine Republik werden muss!: Eine politische Utopie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRechts und Links: Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Was ist deutsch?: Adornos verratenes Vermächtnis Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPolitische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger: Philosophische Begründung des demokratischen Individualismus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVerehrte Denker: Porträts nach Begegnungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWutkultur Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFür den neuen Intellektuellen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Psychologie des Totalitarismus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPutin. Ein Verhängnis: Wie Wladimir Putin Russland in eine Despotie verwandelte und jetzt Europa bedroht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas konservative Manifest: Zehn Gebote der neuen Bürgerlichkeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCancel Culture: Demokratie in Gefahr Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Politik für Sie
Der Plan: Strategie und Kalkül des Rechtsterrorismus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSloterdijk – Aristokratisches Mittelmaß & zynische Dekadenz: gestalten der faschisierung 1 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDigitaler Faschismus: Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLexikon der Symbole und Archetypen für die Traumdeutung Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5The Four: Die geheime DNA von Amazon, Apple, Facebook und Google Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Für den neuen Intellektuellen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLernen, lernen, lernen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEinbürgerungstest für Deutschland - Ausgabe 2023: Handbuch zur Integration Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWie man eine Pipeline in die Luft jagt: Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKinderlieder: 100 Liedertexte der schönsten Kinderlieder Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die SPIEGEL-Affäre: Ein SPIEGEL E-Book Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Flugblätter der Weißen Rose: Als Fließtext und original Faksimile Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Angst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWarum Europa eine Republik werden muss!: Eine politische Utopie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie hohe Kunst der Politik: Die Ära Angela Merkel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAfD: Alternative für Deutschland Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPostkoloniale Mythen: Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Eine Reise nach Hamburg und Berlin, Leipzig, Wien und Venedig Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUlrike Guérot über Halford J. Mackinders Heartland-Theorie: Der geografische Drehpunkt der Geschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDenken Wissen Handeln Politik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Überfall - Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion: Ein SPIEGEL E-Book Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMind Food: Wie wir unsere mentale Gesundheit gegen Manipulation und Brainwash des Systems stärken Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAuf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung: Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer gelbe Bus: Was geschah wirklich am Breitscheidplatz in Berlin (am 19. Dezember 2016) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHow to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLiberalismus neu denken: Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDemokratie fehlt Begegnung: Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGroßerzählungen des Extremen: Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Keine Macht der Moral!
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Keine Macht der Moral! - Norbert Bolz
Entmoralisierung und Remoralisierung der Politik
Die großen politischen Probleme unserer Zeit können nicht sinnvoll diskutiert werden, weil sie in den Sog eines rigorosen Moralismus hineingeraten sind. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal von der »Gefahr der Entdifferenzierung« gesprochen und damit die unheilvolle Tendenz gemeint, dass der moderne Staat dazu neigt, die für die Neuzeit spezifische Ausdifferenzierung der sozialen Systeme wieder aufzuheben – und zwar zugunsten einer grenzenlosen Politisierung aller Lebensverhältnisse.
Gerade die aktuellen Protestbewegungen richten sich gegen die funktionale Ausdifferenzierung, also das Grundprinzip der modernen Gesellschaft. Diese umfasst die Autonomie und Eigenlogik von Wirtschaft und Politik, Recht und Wissenschaft, Religion und Kunst und ist das Resultat einer gesellschaftlichen Evolution, die um 1500 einsetzt. Diese neuzeitliche Ausdifferenzierung ist zunächst nur kritisch wahrgenommen worden, etwa unter Titeln wie »Entzweiung« bei Hegel oder »Entfremdung« bei Marx.
Der Prozess der Entdifferenzierung heute vollzieht sich dagegen im Medium des Moralismus, der politische Probleme eben nicht politisch, sondern moralisch beurteilt. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ist ein Blick in die Begriffsgeschichte des Staates hilfreich. Dabei zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung und der Entmoralisierung des Politischen zu Beginn der Neuzeit. Dem entspricht heute die genau entgegengesetzte Tendenz zur Entdifferenzierung und Remoralisierung der Politik.
Seit 2500 Jahren wird die westliche Welt durch ein heftiges dialektisches Oszillieren zwischen Politik und Antipolitik geprägt. Die antike Polis ist noch die Stadt, die der Bürger nicht nur bewohnt, sondern ist. Das Wesen des Menschen ist öffentlich, er ist Zoon politikon, ein von Natur aus politisches Lebewesen, dessen höchstes Gut im Wohlergehen seiner Stadt liegt. Es ist eine Welt des Wettkampfs und des Siegenwollens. Die Umwertung der Werte durch Paulus könnte nicht radikaler sein. Der antike Grieche konnte das Christentum nur als Verweichlichung seiner Kultur empfinden: Das eine, das nun nottut, ist das Seelenheil, das man nur im Glauben findet. In ihrer radikalen Urform propagiert diese Umwertung der antiken Werte den Akosmismus eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist.
Das Ausbleiben der triumphalen Wiederkehr Christi hat alsbald die Kirche als Machtform ins Leben gerufen. Es beginnt der jahrhundertelange Kampf zwischen kirchlicher und weltlicher Macht, also Papst und Kaiser. Beide Seiten bedienen sich dabei auch der Waffen des Gegners; so säkularisiert die Politik theologische Konzepte, und die Kirche betätigt sich politisch als indirekte Gewalt.
Erst Niccolò Machiavelli bricht mit der antiken und christlichen Tradition. Er steht für die neuzeitspezifische Selbstbehauptung des Politischen, emanzipiert von der Religion und jenseits von Gut und Böse. Hieran kann die Lehre von der Staatsraison anknüpfen, die nüchtern das Gewaltpragma des Politischen ins Zentrum aller Überlegungen stellt. Für Machiavelli steht nichts über der Politik. Er bleibt in Platons Höhle – ohne den philosophischen Weg zur Wahrheit gehen zu wollen. Gerade dadurch aber gelingt ihm der entscheidende Schlag gegen den politischen Moralismus.
Die Emanzipation des Politischen von der Moralität ermöglicht schließlich die Konstruktion des modernen Staates. Doch obwohl Machiavelli den modernen Begriff des Politischen entwickelt, schafft er es noch nicht, den Rahmen eines traditionellen Fürstenspiegels zu sprengen und zu einer Theorie des modernen Staates durchzudringen. Das gelingt erst Thomas Hobbes’ Leviathan – mythischer Name für die große Maschine des modernen Staates. Entscheidend für die Wendung zum modernen Staat ist die Orientierung nicht mehr am summum bonum, dem höchsten Gut, sondern am summum malum, nämlich dem gewaltsamen Tod, der jedem von jedem droht. Hegel wird das »die Furcht des Todes, des absoluten Herrn« nennen. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine völlig neue Form von Rationalität, die für die Neuzeit bestimmend wird. Hegel, der schon in dem berühmten Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes an Hobbes anschließt, bringt diese Rationalität dann in eine endgültige Fassung: der Staat als Wirklichkeit des Vernünftigen. Allerdings bleibt diese Lösung des Problems noch an die Form der Monarchie gebunden.
Wer die politische Theorie Thomas Hobbes’ nur mit Absolutismus assoziiert, verfehlt das Zentrum seines Denkens genauso wie derjenige, der Machiavellis Lehre mit dem Vulgärbegriff des Machiavellismus verwechselt. Dass man Machiavelli und Hobbes meist derart missverstanden hat, liegt unter anderem daran, dass man sich in der Sekurität biedermeierlicher und wirtschaftlich prosperierender Zeiten nicht mehr in die Verzweiflung eines Bürgerkriegs versetzen konnte – vielleicht ist unsere Gegenwart hier ja besser disponiert.
Der Rückblick auf Machiavelli und Hobbes lehrt, den Staat und das Politische als historische Begriffe zu verstehen. Der Staat im neuzeitlichen Sinne hat nur sehr wenig mit der griechischen Polis oder der römischen res publica zu tun – aber eben auch nur wenig mit unserem gegenwärtigen paternalistischen Wohlfahrtsstaat. Die Politik der Neuzeit steht in einer moralisch-religiösen Klammer. Früher, also vorneuzeitlich, war Politik mit Religion und Moral amalgamiert. Heute haben wir es mit einer Überdehnung des modernen Staates zu tun, und zwar sowohl wohlfahrtsstaatlich wie ökologisch. Mit dem Wohlfahrtsstaat, der eigentlich schon in der traditionellen Gemeinwohlformel angelegt ist, kehrt das summum bonum zurück: das größte Glück der größten Zahl; der gehobene Lebensstandard wird als politisches Recht definiert. Das hat schon Max Weber sehr scharf gesehen. Neu hinzugekommen ist die ökologische Forderung. Sie hat sich ebenfalls sehr rasch als Überforderung des Staates erwiesen. Während die wohlfahrtsstaatliche Überforderung von einem politischen Moralismus ausgeht, steht hinter der ökologischen Überforderung die Ersatzreligion der Umweltbewegung.
Max Weber in seiner Rede über Politik als Beruf und Carl Schmitt in seiner Schrift über den Begriff des Politischen markieren Rückzugspositionen – gewissermaßen ein Ausharren auf verlorenem Posten. Aber gerade von dort geraten die Tabus heutiger Politik besonders gut in den Blick. Webers Grundthese, dass Politik Kampf ist und nicht ohne Gewalt auskommt, wird heute genauso verdrängt wie Schmitts politische Grundunterscheidung von Freund und Feind. Diese Verdrängung erweist sich immer deutlicher als ein Kampf gegen das Politische selbst – ein Kampf, der mit den Waffen der Emotionalisierung und der Begriffspolitik geführt wird.
Natürlich gab es die antipolitische Politik des Liebesakosmismus schon immer; man kann sie zumindest bis zum Urchristentum zurückverfolgen: Damals hat die absolute Ethik des Evangeliums in der Bergpredigt gefordert, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstehen. Heute orchestriert dieser Liebesakosmismus seinen Kampf gegen die Staatsraison mit dem Universalismus der Menschenrechte, mit Nächstenliebe als Fernstenliebe und dem Traum von der One World, dem Weltstaat, der kein Außen mehr kennt. Für Weber und Schmitt hingegen ist es selbstverständlich, dass die Politik die Moral auf Distanz halten muss. Deshalb halten sie dem Gott der Liebe den Dämon der Politik entgegen und der Feindesliebe die Unterscheidung von Freund und Feind. Webers Kritik der Gesinnungsethiker ist heute genauso aktuell wie Schmitts Kritik der indirekten Gewalten – nur dass sich die Gesinnungsethiker heute hinter dem Begriff Verantwortung verstecken und die indirekten Gewalten als Protestbewegungen und NGOs auftreten. Die indirekten Gewalten geben sich den Anschein des Unpolitischen, um den Staat zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Niklas Luhmann nennt sie »sich selbst ermächtigende ›parademokratische‹ Repräsentanten«.
Der Staat kommt dieser Entwicklung entgegen. Seine spezifisch europäische Geschichte beginnt bei Hobbes mit protection and obedience, also Schutz und Gehorsam, und endet heute mit overprotection im Daseinsfürsorgestaat – nudge heißt das einschlägige Stichwort: der Schubser in die richtige Richtung. Früher hat der Staat die Menschen vor Gefahren geschützt; heute werden wir, so die schöne Formulierung von W. van den Daele, vor der »Gefahr, Gefahren nicht zu erkennen«, geschützt. Genau wie die sozialistischen Emanzipationsprogramme neigt auch eine Politik, die die Menschen vor sich selbst schützen will, zum Paternalismus und behandelt sie als unmündig.
Neben den ökologischen Sorgen und den wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen gibt es noch einen dritten Faktor der Remoralisierung unserer Politik. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzt ein politischer Moralismus ein, der durch seine Praxis der Tribunalisierung radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.
Wo ist unser historischer Ort? Hegel sah seine Gegenwart am Ende der Geschichte angelangt. Der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit hat im Staat als der Wirklichkeit des Vernünftigen sein Ziel erreicht. Doch schon Nietzsche macht die Gegenrechnung auf: Wir leben im Zeitalter des »letzten Menschen«, dem die Obrigkeit ein »Gehäuse der Hörigkeit« präpariert hat, dessen schicksalhafte Bürokratie dann das Lebensthema Max Webers wurde. Die Rechte spricht von »sekundären Systemen« (Hans Freyer) und kultureller Kristallisation (Arnold Gehlen), die Linke nennt es »verwaltete Welt« (Theodor Adorno). Von Heidegger philosophisch überhöht heißt das Gehäuse der Hörigkeit »Gestell«, und Helmuth Schelsky spricht nüchterner vom technischen Staat. Es ist aber leicht zu erkennen, dass dies nur verschiedene Namen desselben Sachverhalts sind: Nichts geht mehr – wir leben im Posthistoire.
Max Weber und Carl Schmitt hoffen noch auf die Sprengung dieses stahlharten Gehäuses. Ein Schlüsselbegriff Webers lautet Außeralltäglichkeit, und die schreibt er nicht nur dem prinzipiell nicht institutionalisierbaren Charisma des wahren Führers, sondern auch der intimen Erfahrung erotischer Exaltation zu. Dem entspricht bei Schmitt die Faszination durch den Ausnahmezustand. So heißt es in seiner Politischen Theologie: »In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.« Man mag das heute als romantische oder gefährliche Nostalgie einschätzen – anschlussfähig ist es nicht.
Wir müssen anders ansetzen, nämlich bei den Prozessen der Entpolitisierung, Entdifferenzierung und Remoralisierung – also beim Kampf gegen das eigentlich Politische, das schon in der Definition der Situation steckt: Was ist das Problem? Wie ist die Lage? Um diese Fragen zu beantworten, kann die Politik nicht auf das Wissen warten. Das bedeutet aber,
