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Wespennest: Der Sieg des Rattenprinzips
Wespennest: Der Sieg des Rattenprinzips
Wespennest: Der Sieg des Rattenprinzips
eBook341 Seiten4 StundenUdo Winterhalter

Wespennest: Der Sieg des Rattenprinzips

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Über dieses E-Book

Mit 86 haut der rote Karle noch einmal richtig auf den Tisch. Vom Nazi-Terror über den RAF-Terrorismus bis zum weltweiten Wirtschaftskollaps - Furcht, Schrecken und Dummheit sind einfach nicht totzukriegen. Doch im Ländle rumort es. Auf zum Widerstand! Während in Baden-Baden die postbürgerliche Revolution tobt, regt sich auch in Stuttgart Protest. Und Karle holt in Schramberg die Waffe aus dem Schrank.
Uta-Maria Heim hat ihr Krimidebüt „Das Rattenprinzip“ nach 18 Jahren vom Kopf auf die Füße gestellt. Da ist Schluss mit lustig: Aus dem elastischen Wendehals wird der knallharte Klassenfeind. Kein Wunder, wenn sich öfter mal eine Kugel verirrt. Der Sieg des Rattenprinzips verläuft selbst für echte Heldinnen und Helden tragisch.
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum8. Okt. 2009
ISBN9783839234280
Wespennest: Der Sieg des Rattenprinzips
Autor

Uta-Maria Heim

Uta-Maria Heim, 1963 in Schramberg/Schwarzwald geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Schorndorf. Sie hat Literaturwissenschaft, Linguistik und Soziologie studiert, war in Stuttgart, Hamburg und Berlin zu Hause und arbeitet als Journalistin, Roman- und Hörfunkautorin. Sie schrieb zahlreiche Features, Hörspiele und Erzählungen und veröffentlichte Kriminalromane und Romane. 1992 und 1994 erhielt sie den Deutschen Krimi Preis, 1994 den Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin. „Engelchens Ende“ erhielt 2000 den Friedrich-Glauser-Preis für den besten Kriminalroman.

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    Buchvorschau

    Wespennest - Uta-Maria Heim

    Zum Buch

    DIE HUNDE BELLEN, ABER DIE KARAWANE ZIEHT WEITER! Mit 86 haut der rote Karle noch einmal richtig auf den Tisch. Vom Nazi-Terror über den RAF-Terrorismus bis zum weltweiten Wirtschaftskollaps – Furcht, Schrecken und Dummheit sind einfach nicht totzukriegen. Doch im Ländle rumort es. Auf zum Widerstand! Während in Baden-Baden die postbürgerliche Revolution tobt, regt sich auch in Stuttgart Protest. Und Karle holt in Schramberg die Waffe aus dem Schrank. Uta-Maria Heim hat ihr Krimidebüt »Das Rattenprinzip« nach 18  Jahren vom Kopf auf die Füße gestellt. Da ist Schluss mit lustig: Aus dem elastischen Wendehals wird der knallharte Klassenfeind. Kein Wunder, wenn sich öfter mal eine Kugel verirrt. Der Sieg des Rattenprinzips verläuft selbst für echte Heldinnen und Helden tragisch.

    Uta-Maria Heim, geboren 1963 in Schramberg im Schwarzwald, lebt als Hörspieldramaturgin und Autorin in Baden-Baden und Stuttgart. Sie studierte in Stuttgart Literaturwissenschaft, Linguistik und Soziologie und arbeitete ab 1986 unter anderem für die Stuttgarter Zeitung und den Süddeutschen Rundfunk. 1993 bis 2002 lebte sie in Hamburg und Berlin. Neben vielen Features, Essays und Hörspielen veröffentlichte sie zahlreiche Bücher, vor allem Krimis. Zuletzt erschien 2023 »Tanz oder stirb«. Sie erhielt zweimal den Deutschen Krimi-Preis, den Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin, ein Stipendium der Villa Massimo in Olevano Romano sowie den Friedrich-Glauser-Preis. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

    insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG

    („Text und Data Mining") zu gewinnen, ist untersagt.

    Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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    © 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Satz/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © www.sxc.hu

    ISBN 978-3-8392-3428-0

    Widmung

    Für Eberhard und Pauline

    Zitat

    Seid wachsam! Hütet euch vor der Verbrüderung mit der Realität! Sobald ihr, sei es aus Anlehnungsbedürfnis, sei es aus Laufbahngeilheit, den Pakt mit ihr geschlossen habt, seid ihr des Teufels. […]

    … und darum gibt es für euch nichts Erstrebenswerteres als den Intimverkehr mit dem Realen, das aber heißt: mit dem Teuflischen. […]

    … die Unterwerfung, die Anpassung, die Identifikation mit den Peinigern, das jauchzende Ja zur eigenen Verstümmelung, den Zungenkuss mit dem Status quo, die demonstrative Begattung mit der Wirklichkeit! […]

    Das Bestehende sehnt sich danach, von euch gefickt zu werden, und eure Erzieher sehnen sich danach, euch dabei zuzuschauen. Und je routinierter ihr euch anstellt, umso entspannter, umso wohlwollender, umso strahlender wird ihre Miene.

    Markus Werner, Zündels Abgang

    Prolog

    Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Das ist Quatsch. Die Zeit heilt gar nichts. Ich weiß das, und du weißt es auch. Das Einzige, was hilft, ist Töten. Man muss den, der einem das Leben zerstört hat, auslöschen. Auf Gewalt folgt Gegengewalt, Auge um Auge. Das ist keine Lösung, aber es hilft.

    Du müsstest mir nun zuhören, ich könnte dich zwingen dazu. Aber leider habe ich dir nun, wo es fast schon zu spät ist, überhaupt nichts mehr zu sagen. Noch ahnst du nicht, dass ich in meiner Tasche eine Pistole habe, oder ists ein Revolver? Ich kenne mich damit nicht mehr aus, aber ich weiß, wie man die Dinger entsichert.

    Es ist nicht einfach, zum letzten Mittel zu greifen. Es kommt einem zu banal vor und zu unrealistisch. Nirgendwo gibt es ein Amt, wo man hingehen kann und einen Mord anmelden, so, wie man die Geburt eines Kindes anzeigt, einen Wohnungswechsel oder den Austritt aus der Kirche. Das ist eigentlich schade, weil es für alles andere im Leben Stempel und Urkunden gibt. Selbst der Tod wird nach Vollzug sofort aktenkundig.

    Du meinst, ich sei ganz gelassen, aber das täuscht. Meine Hände zittern, und ich kann kaum stehen, weil mir die Beine wegsacken. Ich stehe an dem Eck vom Dresdener Platz, wo schon mal was passiert ist, in der Dunkelheit und warte. Gelehnt an einen Baum, den sie wahrscheinlich nach dem Unfall damals neu gepflanzt haben. Er weiß nichts von dem, was geschehen ist. Auch nicht von dem zwischen dir und mir. Du wirst in Kürze kommen. Du wirst pünktlich sein. Ich werde dich von vorn erschießen, ins Gehirn. Ich habe gelesen, dass paranoide Beziehungstäter dem Opfer das Gesicht auslöschen. Pah! Paranoid! Beziehung! Aber es ist ein schöner Gedanke: Dein Gesicht. Nicht mehr da. Da ich so was schon lange nicht mehr gemacht habe, weiß ich nicht, was passiert, wenn ich abdrücke.

    Du kommst auf mich zu, etwas gebeugt, mit kurzen Schritten, ich nähere mich dir ohne Hast, sehe die Schemen deines Gesichts, du lächelst, ich hebe im Lauf die Hand mit der Waffe, strecke den Arm aus und drücke ab.

    Vermutlich sollte ich es gleich tun. Sobald du mich in ein Gespräch verwickelst, bin ich wahrscheinlich gar nicht mehr in der Lage dazu. Mein Plan ist einfach: Du kommst auf mich zu, ich schieße, lasse die Waffe fallen und haue ab, die Stäffele hinauf Richtung Tagblatt-Gebäude. Ich habe den Tatort mit Bedacht wählen lassen. Da auf diesem Platz schon mal einer umkam, wird die Polizei bestimmt ihre Schlüsse daraus ziehen.

    Es ist verflucht kalt und ich friere in meinem dünnen Mantel. Meine Hände sind trotz der gefütterten Lederhandschuhe schon ganz klamm. Nach und nach gehen hinter den Fenstern die Lichter aus. Die Laternen erlöschen. Die Jugendstilfassaden erstarren in einem gräulichen Zwielicht. Dräuende Figuren aus Stein werfen sich mir entgegen und verharren glubschäugig, mit wildem Haar und vor Entsetzen gespreizten Fingern. Bestimmt sind die Häuser denkmalgeschützt. Kein Mensch ist unterwegs. Nur eine gepflegte Katze kreuzt geschäftig und zielbewusst die Straße, bevor sie in einem Busch neben den Stäffele verschwindet. Unten in der Lassallestraße rauschen einzelne Autos vorbei. Gleich ist es Mitternacht und ich lausche auf den Glockenschlag, der sich mit dem Nahen deiner Schritte verbindet.

    Zitat

    »Ich sterbe«, schrie Turu.

    »Atme tief ein«, sagte Tofu, »und entspanne deine Muskeln. Das wird deine Angst beenden. Das Sterben ist eine interessante Erfahrung, aber Ängstlichkeit wird dir diese Erfahrung verderben.«

    Janwillem van de Wetering, Der neue Schüler

    Donnerstag, 17. April

    1. Fatma Özdamar

    Es wurde hell und die Vögel schrien. Es waren nur zwei oder drei Vögel, die sich im frischen Laub einer jungen Kastanie versteckten, die noch nicht blühte. Ihre Kerzen waren mickrig wie Säuglingspenisse. Der Frühling kam nicht richtig in Schwung. Ski und Rodel waren noch nach Weißsonntag auf der Schwäbischen Alb gut. Im Welzheimer Wald wurden als Aprilscherz organisierte Schneeschuhwanderungen angeboten. In Stuttgart regte sich nicht ein Blatt. Ostern Mitte März hatte das Bild geboten einer weißen Weihnacht. Nachdem es selbst in Tieflagen geschneit hatte, waren die Temperaturen nachts auf zehn Grad minus abgesunken, während tagsüber so was wie Polarsommer herrschte: Fahlblauer Himmel ohne ersichtliche Fortschritte jedweder Vegetation. Anfang April war es auf einmal fast sommerlich geworden, die Natur hatte sich nach dem langen Winterschlaf gestreckt, vorwitzig lugten die Knospen aus den Zweiglein, aber dann hatte es wieder abgekühlt. Nun regnete es schon seit Tagen, heftige Graupelschauer wechselten ab mit Nieselregen.

    Am frühen Donnerstagmorgen war es vergleichsweise trocken, nachdem es die halbe Nacht geschüttet hatte. Der Himmel hing tief. Der Stuttgarter Westen lag da in einem grauen Licht, unnahbar und steinern, ganze Straßenzüge waren baumlos und ohne Blumen, die Jugendstilfassaden rußgeschwärzt. Sie waren mit vielerlei Figuren verziert, Fabelwesen und Göttern, die wild gestikulierend und mit schmerzverzerrten Gesichtern erstarrt waren. Ihre Augen waren tot, ihre Schreie stumm. Dahinter lebten, eng auf dichtem Raum, Menschen.

    Besonders trist war an diesem Morgen die Gegend um den Dresdener Platz. Er lag am Hang, aber das Eck war zu verwinkelt, als dass man den Talblick hätte genießen können. Die denkmalgeschützten Mietshäuser, die in einem Abstand von genau drei Metern gebaut worden waren, hatte man in den Siebzigerjahren in Einheiten mit lauter kleinen Eigentumswohnungen verwandelt. Darin lebten vor allem ältere Leute, Rentner, Witwen und alteingesessene Gastarbeiterehepaare, die bescheiden und bedürfnislos ihre Kehrwoche verrichteten und kein Aufhebens machten. Daher lehnten nirgends Fahrräder, klebten nirgendwo Plakate, gab es weder Kneipen, noch Geschäfte, mit Ausnahme einer schäbigen Bäckereifiliale, die allerdings noch nicht geöffnet hatte.

    Nur vereinzelt fuhren Autos, aber man hörte den Verkehr unten in der Lassallestraße. Er strömte stadteinwärts. Das Straßennetz im Talboden war fast schachbrettartig angelegt, die wenigen Quertrassen waren früher Feldwege gewesen. Die Hänge hinauf führten Stäffele, schmale, gerade Steinstie-gen mit geschwungenen Geländern. Der Dresdener Platz lag auf halber Höhe zwischen Herbsthalde und Vogelsang. Vor den Stäffele, die hinuntergingen zur Lassallestraße, stand der einzige Kastanienbaum weit und breit. Er markierte das Ende des ovalen Plateaus, das idiotischerweise nordwestlich vom Leipziger Platz lag. Dass Dresden sich im Südosten von Leipzig befand, hatte bei der Konzeption des Viertels keine Sau interessiert. Eine gewisse Hudelei zeigte sich auch in der Anmutung. Links von den Treppen, die noch weiter nach oben führten, war ein Brunnen mit einer Wasser speienden Nixe, der wirkte wie falsch abgestellt. Rechts wuchsen Hecken, die mit einer in Virginia Beach / USA gefertigten schwäbischen Stihl-Motorsäge regelmäßig schief getrimmt wurden. Beim dritten Stäffele war in der Hecke ein Loch und unterhalb des Lochs lag, leicht sichtbar, eine Waffe im Dreck.

    Es war eine Smith & Wesson 4 Zoll brüniert 4,5 Millimeter Diabolo. Ein präzise gearbeiteter CO2-Revolver aus der Modellreihe 586/686 mit einer herausragenden Leistung und zehn Schuss. Im Hinblick auf Handhabung und Gewicht entsprach er dem legendären .357 Magnum-Revolver.

    Gegen sieben Uhr verstummten die Vögel. Auf dem Dresdener Platz herrschte eine merkwürdige Stille. Als Fatma Özdamar die Stäffele herunterkam, öffnete eben die Bäckereifiliale am Eck. »Mir hend no zu«, sagte die Halbtagskraft, die in der sperrangelweit offenen Tür stand. Von drinnen kam der Duft nach aufgebackenen Brezeln.

    »Komm, gang mer weg. Zue! Etzetle, Silvi!« Wie meist, wenn sie sich aufregte, verfiel Fatma in ihr schlimmstes Stuttgarter Schwäbisch. »Ich möchte nur meiner Mutter ein frisches Brot bringen. Weil die kann sich doch so schlecht selber versorgen, woisch, und ich muss um halb acht zum Dienst.«

    »In zehn Minuten.« Die Halbtagskraft zeigte an Fatma vorbei auf den Lieferwagen, der am Trottoir parkte. »Ich mach nur schon auf wegen den Zeitungen.«

    Fatma wandte ihr schnaubend den Rücken zu. Sie wollte schon die ganzen Stäffele wieder hinauflaufen, weil ein gutes Stück weiter die Bäckerei Häfele war, wo eine Eritreerin arbeitete, die es mit den Zeiten nicht so genau nahm. Da entdeckte sie mitten auf dem Gehweg einen bronzefarbenen Stolperstein: »Hier wohnte Lilly Winterhalter geb. Tänzer, Jahrgang 1889. / Deportiert am 22.8.1942 ins KZ Theresienstadt. / Ermordet 1943 in Auschwitz.« Fatma hob leicht den Blick. In der Hecke lag eine matt glänzende Waffe, die ungefähr die Farbe des Himmels hatte.

    2. Der rote Karle

    Ich sag nichts, nein.

    Da habt ihr es mit dem Rechten zu tun. Da hättet ihr früher kommen sollen. Als es an der Zeit war, hat keiner was gewollt. Alleweil hat man uns verseckelt bis zum seligen Ende. Aber ihr glaubt doch nicht, dass ich wirklich was damit zu tun hab? Dass wir da mit drinstecken in dem Dreck? Dass womöglich einer geschossen hat? Pfeifendeckel. Bei uns schießt lang keiner mehr. Ja, natürlich haben wir Waffen. Immer Revolver gehabt. Pistolen. Gewehre. Willst du sie sehen? Wir können allesamt runter in den Keller. Dort unten sind sie. Markenfabrikate! Mauser! FEG! Heckler & Koch! Alte Wertarbeit. Teils noch von meinem Vater. Kriegst du heut nirgends mehr. Kommt alles aus China. Alles nachgemacht. Außen hui, aber innen null Präzision. Damit kannst du nicht mal einen Hund abknallen. Marthel! Bring mir mal meinen Stecken. Die Herrschaften treibts aus der Küche. Was glotzt ihr so wie angenagelt? Man ist nicht mehr 50. Pfoten weg. Gut, dann bleib ich sitzen. Aber dann sitzt du auch. Das macht mich nervös, dein Gehampel. Du bist doch noch gar kein richtiger Kerle, Mensch. Ein Seichbüble. Nicht mal im Schwabenalter. Und so was schon Kriminalhauptkommissar. Was? Ja. Kriminalhauptkommissar Timo Fehrle. Hab ich mir gemerkt, wie du da reingekommen bist. Und aus dem Nachbarort. Vom Sulgen! Es ist nie nichts Gutes, was vom Sulgen rüberkommt. Aber jetzt hockst du in Stuttgart bei den Großkopfeten und fährst einen Audi. Stimmts? Hab ich recht? Zum Daimler langts nicht oder nur als Dienstwagen. So einer wie du ist verheiratet. Ring am Finger. Zwei Kinderfotos in der Brieftasch. Ein Bub und ein Mädle. Immer in der Ordnung alles. Bloß, wenn du dirs recht überlegst, so wie du rumläufst, bist du einer vom anderen Ufer. Schicke Klamotten und Hennendreck in den Haaren. Die vom Fehrleshof ticken eh nicht richtig mit ihren Viechern. Und du bist doch einer von denen Fehrles dort droben von der Heuwies. Da kannst du mir nichts vormachen, das seh ich gleich. Die sind nicht recht bei Verstand.

    Eine Smith & Wesson 4 Millimeter, ja so. So was haben wir hier nicht. Das wüsst ich. Das ist doch ein Murks. Ja, kann man denn damit einem überhaupt einen sauberen Genickschuss verpassen?

    »Herr Roth«, sagte Fehrle, ein junger Spund mit weichem Maul und harten Augen, großgewachsen, dunkel und schön wie ein Weib. Ein richtiger Sulgemer halt. Der Urgroßvater war ein Original gewesen, er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Fehrle-Sippe war von jeher aktiv in der Narrenzunft. Nach dem Franz war lang vor dem Krieg die erste Larve vom Sulgemer Krattemacher geschnitzt worden, die man wieder einstampfen musste, weil der Fehrle Franz so jähzornig war, dass kein Hansel sie aufsetzen wollte.

    »Die Tatwaffe ist registriert auf Ihren Namen. Es wär hilfreich, wenn Sie den Mund aufmachen.« Auch der Fehrle Timo klang, als stünde er vor einer Explosion. Obwohl er nur schwarze Jeans, ein ungebügeltes weißes Hemd und eine schwarze Lederjacke anhatte und kein bemaltes Fasnetshäs.

    »Er kann nicht«, erwiderte seine Frau, die lautlos in die Küche gehuscht war.

    »Grüß Gott, Marthel«, sagte Timo. »So sieht man sich wieder.«

    Marthel nickte. Sie hatte das niedliche, weiche Profil einer greisen Filmschönheit. Ihre Stirn war fleckig und welk, aber faltenfrei, und die Stupsnase ohne Makel. Sie schürzte die vollen Lippen, die sie mit einem rosaroten Glanzstift sorgfältig nachgezogen hatte. Zu engen weißen Jeans trug sie ein gebügeltes pinkfarbenes Sweatshirt. »Vorgestern hat er einen Schlaganfall gehabt. Es war schon sein zweiter. Seit dem Schlägle jetzt sagt der rote Karle keinen Mucks mehr. Und vermutlich weiß ers auch nicht mehr so. Es bringt also nix, ihn aufzuregen.« Marthels Augen gingen hin und her zwischen Fehrle, der dumm dastand, und seiner Kollegin.

    »Kriminaloberrätin Anita Wolkenstein.« Anita gab der alten Frau die Hand. »Als Leiterin des Dezernats Tötungsdelikte / Todesermittlungen im Polizeipräsidium Stuttgart bin ich federführend bei den Ermittlungen der SoKo.« Sie war mit Mitte 40 deutlich älter als ihr Kollege. Der strenge braune Pferdeschwanz wirkte unvorteilhaft. Ihr spitzes, ungeschminktes Vogelgesicht passte nicht zu dem teuren hellblauen Hosenanzug und dem nicht gerade dezenten Designermantel.

    »Marthel«, flötete Marthel. »Sag du nur ›Du‹ zu mir. Bist ja noch jung. Und das Timole, das kennen wir, seit es ein kleines Buele war, nicht wahr, Karle?«

    Der rote Karle saß sehr aufrecht an der Schmalseite des Tisches. Er war groß und grobknochig und trug ein geripptes ärmelloses Unterhemd und eine dunkelblaue Jogginghose mit Hosenträgern. Auf dem Hinterkopf saß schief eine speckige karierte Kappe. Das Gesicht war vom Alter gezeichnet. Von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen tiefe Falten. Der breite Mund verzog sich zu einem bitteren Grinsen. Karle glotzte alle der Reihe nach an. Er hockte steif auf der Eckbank und stierte von einem zum andern. Seine dunkelbraunen Augen glänzten wässrig. Anita versuchte vergeblich, seinen Blick aufzufangen. Plötzlich fing er an zu singen. Er sang volltönend im Bass:

    »Krattemacher Lumpenpack,

    hot koan Pfennig Geld im Sack.

    Hot koan oanzge Gulda,

    dr Buckel voller Schulda.

    Hot a grätigs Weib

    und mit em Nochber Streit,

    und mit em Schultis au,

    so ists in Sulgenau.

    Haut ihn, haut ihn,

    haut ihn uff de Deez!

    Haut ihn uff de Kratte nuff,

    haut ihn uff de Schädel druff!

    Haut ihn, haut ihn,

    haut ihn uff de Deez!«

    Dann lachte er. Er lachte laut und polternd und hieb mit der Faust auf den Tisch.

    Der Sulgemer Narrenmarsch. Das Krattemacher Original. Fehrle schwoll der Kamm. Er wurde puterrot im Gesicht und plusterte sich wie ein Auerhahn.

    »Singen kann er«, sagte Marthel. »Auch wenn er sonst radikal sprachlos ist. Vor lauter.«

    »Vor lauter?«, fragte Fehrle spitz. »Vor lauter was?«

    »Was will er uns damit sagen?« Anita schwitzte. Die niedrige, enge Küche war überheizt. Die Luft war nass und stickig. Auf dem Herd kochten Kartoffeln. Anita wischte sich über die Stirn. Sie sah auf die Uhr und knüpfte ihren Cordmantel auf.

    »Das weiß ich auch nicht, aber es hat scheints mit dem Krieg zu tun.« Marthel lupfte den Deckel und guckte in den Topf. Vom Dampf beschlug das Fenster. »Das Lied hat der Heimen Bruno geschrieben, als er von der Front kam und aus der Gefangenschaft. Der Karle war mit ihm im Jungkolping, die haben einen Haufen Blödsinn zusammen angestellt, anno 40 wurde der Kolping zum Volksfeind erklärt, und dann war er halt Kanonenfutter, der Bruno. Strafbataillon und ab als Pionier an vorderster Front bis in den Kaukasus. Zweimal wurde der Bruno verschüttet, er lag voller Granatsplitter wie eine gespickte Sau ein paar Meter tief im Dreck, verblutete bald und kriegte keine Luft mehr. Er hat überlebt, weil er ein Ziel hatte: Er wollte dem Karle, dem Kommunist, mal ordentlich die Fresse polieren. Der Bruno war nämlich stockkatholisch.«

    »Es ist langsam an der Zeit.« Fehrle sah wütend zur Küchenuhr, die über Karles Kopf tickte. Karle stierte stur vor sich hin.

    »Was glotsch?«, fragte Marthel. »Ist dir meine Sprache nicht fein genug, du blödes Mensch? Das war damals auch nicht vornehm, verstehst du? Es macht einen ein Lebtag lang mundtot. Glaub bloß nicht, ich sei pietätlos.«

    »Erzählen Sie weiter«, bat Anita und besann sich. »Schwätz du nur, Marthel.«

    »Das mit dem Narrenmarsch war nämlich so. Wo der Krieg aus war, hat der Bruno massenhaft Leichen ausgegraben und auf Soldatenfriedhöfen bestattet. Er war selber eine halbe Leich. Und als er heimkam, hat er seinen Augen nicht getraut: das ganze Nazi-Geziefer schon wieder in Amt und Würden, die Büttel und der Lehrer, alle wieder am Platz. Da hat ihn eine saumäßige Wut gepackt, weil er geglaubt hatte, die Bande sieht er nie wieder. Die Seichdackel seien sämtlich im Arrest. Pfeifendeckel! Alles ging mehr oder weniger so weiter wie vorher, und das hat den Bruno schier um den Verstand gebracht.« Marthel schnaufte. »Ja, und bei den Narren war einer, das war ein Zigeuner. Mein Schulkamerad, der Heinz. Die hätten ihn ja am liebsten den Kamin hochgejagt, sterilisiert hat man ihn, und nun war nicht viel mit Wiedergutmachung. Der Heinz ist 1962 gestorben, im gleichen Jahr wie sein Vater, wenn ichs noch recht weiß, mit gerade mal 37. Er hat ein schwaches Herz gehabt, hat man gesagt, wenn das mal wahr ist.«

    »Ah ja«, sagte Anita.

    »Da gab es immer noch ein paar braune Seckel. Das hat den Karle maßlos aufgeregt und wurmt ihn bis heut. Er war von jeher dagegen, der hat die Nazis gehasst, gegen sie agitiert und ihnen geschadet, wo er nur konnte. ›Haut ihn uff de Deez!‹ Wenn er das jetzt ums Verrecken singen muss, dann dreht sichs wohl irgendwie ums Dritte Reich. Es ist ein antifaschistisches Lied, das hat man vergessen; aber frag nur deinen Vater, Timole, der weiß das noch.«

    »Ja so«, sagte Fehrle.

    Jetzt, wo der Pflichtteil offenbar erledigt war, kam Marthel erst richtig in Fahrt. Sie redete nur selten viel, aber wenn sie einmal angefangen hatte, konnte man sie kaum noch bremsen. Mit Begeisterung wechselte sie das Thema. »Ich seh es noch deutlich vor mir. Die Mutter vom Timo, die wo Berta hieß, so hieß sie doch, oder, die hat immer die Milch bei unseren Nachbarn abgeliefert, oben bei der Milchsammelstelle. Die Bauern vom Fehrleshof sind nicht auf den Sulgen gegangen, die sind herüber nach Mariabronn. Das hat die Sulgemer geärgert. Weil die Fehrles doch weit und breit den größten Milchhof hatten, das war überall bekannt. Die Fehrle Berta ist mit dem Gaul den Berg herabgesaut, und der Timo ist immer auf dem Buckel droben gehockt. Und jetzt ist der Timo beim Trachtenverein. Warum kommst du nicht in deiner schönen Uniform? Da ist die Berta stolz auf dich.« Marthel grinste.

    Berta war Timos Großmutter gewesen. Sie war irgendwann Mitte 60, einige Jahre vor Fehrles Geburt, gestorben. »Ich bin Kriminalhauptkommissar, Marthel. Wir ermitteln in einem Mordfall. Habt ihr eine Smith & Wesson 4 Millimeter im Haus?«

    »Ja, wenn ich das wüsste!«, rief Marthel. »Da müsst ihr den Vater fragen.«

    Der rote Karle reagierte nicht. Ein schmaler Speichelfaden floss ihm aus dem Mundwinkel. Er holte ein rotes Sacktuch aus der Hosentasche und wischte ihn weg.

    »Jetzt sitzt

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