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Die Schicksalsseherin
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Die Schicksalsseherin
eBook461 Seiten5 Stunden

Die Schicksalsseherin

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Über dieses E-Book

Die Koboldvölker sind in Aufruhr. Durch einen Zwischenfall wird bekannt, dass schon bald die gesamte Glücksproduktion brachliegt und damit auch die Versorgung der angebundenen Anderswelten.

Wie werden ihre Kriege enden, wie sich Liebende finden, wenn nicht die Kobolde im richtigen Moment das Glück verteilen?

Als auch noch ihr heiliger Baum erkrankt und die Brücken brechen, scheint nur Kriegsveteran Donnersteins friedliebende Tochter Myriel das ganze Ausmaß zu erkennen: Jemand verändert ihrer aller Schicksal!
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum15. Sept. 2017
ISBN9783946172130
Die Schicksalsseherin

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    Buchvorschau

    Die Schicksalsseherin - Sarah Neumann

    Illu

    Kapitel 1

    Der geheime Garten

    In dieser Nacht verbarg sich der Neumond hinter einem Schleier aus Wolken und Sternen. Schnee fiel in kleinen Flocken vom Himmel und wir beobachteten einen Oberschüler dabei, wie er seine Verabredung nach Hause begleitete. Zögerlich erhaschte er ihre Hand auf den letzten Metern und drehte sie zu sich um. Ihre Blicke sprachen Bände, auch wenn sie kein Wort herausbrachten.

    Sie blieben eine Weile so voreinander stehen und Aktu gurrte leise. Ich wusste, was er mir damit sagen wollte, aber sollte ich ihnen nicht die Chance lassen, es aus eigener Kraft zu schaffen?

    Da bemerkte ich, wie das Mädchen den Kopf leicht nach unten neigte. Er verlor sie!

    Sofort brachte ich meine Eule mit einem Zug am Geschirr in die Luft und nahm Kurs auf die beiden Menschen. In einem silbernen Beutel an meiner Kordel befand sich das magische Glück unserer Regenbögen. Ich spürte sein unnachgiebiges Pochen, als wollte es jetzt eingesetzt werden.

    »Sophie«, stammelte der Oberschüler nervös. »Ich …«

    Während Aktu leise über ihre Köpfe hinwegzog, glitt meine Hand in den Beutel und holte drei beerengroße Kugeln hervor. Er kreiste mit einem sanften Gurren über ihnen und gab mir die Möglichkeit, das Regenbogenglück gezielt zu platzieren.

    Eine Kugel nach der anderen schwebte hinunter und blieb auf Kopfhöhe in der Luft stehen. Der Junge war jedoch so in Gedanken darin versunken, was er jetzt tun sollte, dass er sie nicht bemerkte.

    »Fortune Tellus«, flüsterte ich und mit einem Schnippen zerplatzten die leuchtenden Kugeln wie Seifenblasen. Goldenes Glück rieselte auf ihn herab und ließ seinen Körper bei der Aufnahme für den Moment einer Millisekunde schimmern. Damit war mein Auftrag erledigt.

    Aktu stieg hinauf zu den Wolken und gewährte mir noch einen Blick auf das Paar, das sich zum Abschied küsste. Wortlos, aber glücklich.

    Ich holte eine Papyrusrolle aus dem Rucksack, den Aktu auf dem Rücken trug, entfaltete sie und hakte den letzten Namen auf meiner Tagesliste ab. »Gut gemacht«, lobte ich ihn mit einem Kopftätscheln und verstaute die Liste. »Dann mal schnell nach Hause!«

    Er heulte aufgeregt und stieg höher in den Himmel. Wir genossen die Luft über den Wolken und kuschelten uns aneinander, ehe ich nach der Weltenkugel fischte, die uns hierhergebracht hatte. Sie ähnelte einer der Schneekugeln, die ich während einer Mission bei den Menschen entdeckt hatte. Nur, dass in dieser keine Stadt aus Plastik nachgestellt war. Darin befanden sich reale Welten, die wir Kobolde bereisten, um unsere Pflicht zu erfüllen.

    Die Weltenkugel der Koboldwelt stellte in ihrem Innern den großen Baum Ivar Quaoi dar, einen mächtigen Mammutbaum mit gewaltiger Krone und Blätterdichte. Leuchtkugeln wuchsen an seinen Ästen, die uns nicht nur Licht und Wärme, sondern auch Schutz spendeten. Er war unser Zuhause, Rückzugsort und Leben. Kein Kobold könne ohne ihn sein, so sagten es die Ältesten.

    Mit einem Kuss in den Aktivierungsbereich der Kugel sog sie uns in sich hinein und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen.

    Es schien nur einen Wimpernschlag lang gedauert zu haben, da waren wir zu Hause in unserer Welt. Ich roch das alte Holz der Weltenbibliothek, deren Gänge teils morsch waren, und sog den Geruch von antikem Papyrus ein. Mehr noch als den Papyrusgeruch mochte ich den Duft der Hyazinthen, der sich in diesem Bereich der Bibliothek verbreitete. Das Seltsame daran war, dass nirgends eine Blüte zu sehen war.

    Ich umfasste die Weltenkugel, die uns hierher zurückgebracht hatte, fester und sah neugierig hinein. Sie zeigte nicht länger unsere Welt, sondern die der Menschen. Die Erde präsentierte sich von ihrer schönsten Seite und ich ließ meinen Blick über die weiten Ozeane gleiten, die dem blauen Planeten seinen Namen gaben.

    Aktu stupste mich zum Abschied an und stieg in die Luft. Ich sah meiner Eule nach, wie sie über die Vitrinen hinweg zum höchsten Punkt der Weltenbibliothek flog. Dort oben war die Decke nicht geschlossen, sondern führte in die wundersam leuchtende Baumkrone, durch deren Zweige das Mondlicht leicht schimmerte.

    »Myriel Leora Donnerstein«, hörte ich, wie eine Tonblume, die im Gang hing, meinen Namen rief. »Das Registrat wünscht umgehend Informationen.«

    Ich seufzte. Das Registrat schon wieder? Hinter dieser Institution verbargen sich eine Handvoll Kobolde, die über sämtliche Reisen in Anderswelten informiert werden wollten. Eigentlich sollte es Routine sein, ihnen einen kurzen Bericht vorzulegen und auf schwierige Situationen hinzuweisen. Doch in letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie mir besonders gründlich auf die Finger schauten. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, warum.

    Ich setzte die Weltenkugel der Menschenwelt zurück in das Regal, dem ich sie vor rund fünf Stunden entnommen hatte. Ich drehte sie in ein Knochenrad, das leicht knackte und damit anzeigte, dass die Kugel eingerastet war. Eines der drei Kontrolllichter leuchtete grün.

    Man hatte mir bei meiner Einweisung vor zwei Jahren gesagt, das grüne Licht bedeute, der Welt ginge es gut. Das gelbe Licht, sollte es denn einmal leuchten, zeige einen Risikofaktor auf. Bisher hatte ich nur bei zwei Welten das Gelblicht flimmern sehen. Die Welten Ahmados und Lingui Than waren vom Krieg gezeichnet. Ich hörte beim Abendessen von meinem Vater und meinen Schwestern gelegentlich, welcher Zustand in diesen Anderswelten Alltag war. Allein der Gedanke an ihre Erzählungen schnürte mir den Atem ab.

    Und dann war da noch der rote Lichtschein, der nicht unterhalb der Weltenkugeln aufleuchtete, sondern innerhalb und alles vereinnahmte. Die Geschichte lehrte, dass diese Anderswelten im Sterben lagen und selbst unser begehrtes Koboldglück keine Rettung versprach.

    »Das Registrat wartet!«

    Ich streichelte noch einmal über die Weltenkugel und machte auf dem Absatz kehrt. Hinter einem Pult aus massivem Holz stand eine dürre Kobolddame in abgegriffener Uniform und mit streng zurückgeflochtenem Schwarzhaar. Sie drückte nervös auf eine Tastblume, die ihr Tippen mit einem seichten Ton erwiderte. Dabei blickte sie angestrengt auf ein Wassergefäß, durch das ihr Einblick in eine Anderswelt gewährt wurde. Ich erkannte einen Minotaurus mit hellblondem Fell. Die Farbe wirkte äußerst selten auf mich.

    »Sie sind gerade zurückgekehrt?«, fragte sie mit spitzem Unterton.

    »Ja. Meine Tagesliste ist komplett abgearbeitet und ich liege gut in der Zeit.«

    »Sie haben also am heutigen Tag an vier Menschenwesen Regenbogenglück verteilt?«

    »Ja. Das steht alles in meinem Bericht. Hier ist …«

    »Der ist für das Archiv, meine Liebe«, unterbrach sie mich, nahm den Tageszettel und das ausgefüllte Formular entgegen und stopfte sie ohne einen weiteren Blick in eine der unteren Schubladen. »Wieso haben Sie sich lediglich vier Menschenwesen gewidmet? Laut meiner Information sind Sie fünf Stunden und sechsundvierzig Minuten in der Anderswelt gewesen. Wie kommt es, dass Sie sich in dieser ganzen Zeit nur einer so kleinen Anzahl widmen konnten?«

    Ich mochte derartige Kontrollen nicht. Aber ich musste mich dem beugen. Falls ich mich beschwerte, würden sie mich zurück zu meinem Vater schicken, dem das natürlich in die Hände spielte, wollte er mich doch immer noch zu einer Kriegerin ausbilden. Ganz so, wie es unsere Familientradition vorsah. Jeden Abend durfte ich mir anhören, wie sehr sie mich an der Front in Ahmados bräuchten und wie diese Arbeit hier wichtiger sein könnte als das.

    »Ich schaue mir die Menschen auf der Liste genau an und gebe ihnen in den Momenten, in denen sie es am meisten brauchen, das Regenbogenglück. Gebe ich es voreilig ab, um die Quote zu steigern, verpufft es mit hoher Wahrscheinlichkeit, ohne überhaupt eine Wirkung zu zeigen. Oder es erweckt einen völlig neuen Pfad, der nicht mit dem Schicksal vereinbar ist«, erklärte ich meine Ansicht und ergänzte: »Ich setze auf Qualität meiner Arbeit, nicht Quantität.«

    Sie bemerkte meinen Unmut deutlich, notierte sich etwas und nickte. »Schönen Abend.«

    Nachdem ich die Weltenbibliothek endlich durch ihre zahlreich verschachtelten Gänge verlassen hatte, schlug mir der kalte Nachtwind ins Gesicht. Über mir schwebten samtig glühende Lichtkugeln in den Ästen, die wie melonengroße Sonnen Licht spendeten. Ihre Reichweite war jedoch so gering, dass ihr Schein nicht einmal den Boden berührte.

    »Es ist schon spät. Wie konnte ich so viel Zeit vertrödeln?«, fragte ich mich und lief eilig los. »Hoffentlich ist er noch da.«

    Wäre ich den Weg nicht jeden Tag gelaufen, hätte ich mich verirrt. Es war so dunkel, dass man ohne eine funktionierende Lichtblume gar nicht erst vors Haus gehen sollte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, sich irgendein Körperteil zu brechen. Die Wurzeln, die sich über und unter dem Waldboden bewegten, waren unvorhersehbar. Ich wusste, wovon ich sprach, war ich doch nicht zum ersten Mal über eine solche Erdwurzel gefallen.

    Schließlich blieb ich vor einem Geflecht stehen, das sich durch sprödes Mauerwerk gewunden hatte. Dahinter lag mein Ziel. Jeden Abend.

    »Ich bin gleich da«, flüsterte ich lächelnd, als könnte er mich hören, und kletterte an dem Wurzelwerk hinauf. An den Eingang dieser für mich wundersamen Welt hängte ich nach dem Eintreten Efeuranken, die wie eine Ergänzung zu den bereits vorhandenen Flechten wirkten. Niemand würde dahinter einen Geheimgang vermuten. Hatte ich auch nicht, bis ich eines Nachts durch eine zauberhafte Melodie dorthin gelockt wurde und ihm begegnet war.

    Ich schob die Ranken vorsichtig beiseite und kletterte hindurch. Vor mir erstreckte sich der prachtvolle Garten der Familie Schwarzstein. Längst vergessene Blumenarten reckten sich dem Mondlicht entgegen und sangen ihr Lied für die Fledermäuse, die über den Bachlauf glitten und ihre Beute jagten. Ich fühlte das nasse Gras unter meinen Füßen und genoss das leichte Kitzeln, während ich mich durch den Blumengarten auf eine schwarze Kirschblüte zubewegte. Dort lehnte er am Stamm und schien in einen seiner Berichte vertieft.

    Seith Maxwell Schwarzstein; gewissenhafter Anwärter der Koboldsicherheitsabteilung und der einzig wahre Freund, den ich hatte. Ihm hatte ich es zu verdanken, heute hier zu stehen und nicht in der ersten Schlachtreihe neben meinen Schwestern. In dieser magischen Nacht hatte er nicht nur mein Leben gerettet.

    »Hallo«, flüsterte ich und stieß ihm vorsichtig gegen den Stiefel, als das Papierstück aus seiner Hand auf den Boden glitt. Ich hob überrascht den Blick und musste schmunzeln, als ich bemerkte, dass er eingenickt war. Er arbeitete zu viel und versuchte dennoch, immer pünktlich hier zu sein. Kein Wunder, dass er hin und wieder einschlief.

    Ich setzte mich neben Seith, rutschte etwas tiefer und legte meinen Kopf auf seine Brust. Sein Herzschlag wirkte beruhigend auf mich. Das mochte ich besonders. Die Uniform roch nach Regen, obwohl sie nicht mehr nass war. Ein leichter Geruch von Mandelöl haftete ebenfalls daran und ich fragte mich, wohin ihn die heutige Mission wohl geführt hatte.

    Eine warme Hand umfasste meinen Hinterkopf und streichelte mir sanft das Haar. Er seufzte einmal und murmelte daraufhin: »Und ich dachte, du schaffst es nicht mehr rechtzeitig. Hat dich das Registrat wieder aufgehalten?«

    »Ja! Stell dir vor, ich …«, wollte ich ausholen, doch seine große Hand hielt mich unaufdringlich bei sich.

    »Ist schon gut«, flüsterte er. »Jetzt bist du ja hier.«

    »Ja«, lächelte ich und schmiegte mich noch etwas dichter an ihn, versuchte jedoch, dabei nicht aufzufallen. Ich mochte seine Wärme gern, liebte es, einfach so mit ihm hier zu liegen.

    »Ist sonst alles gut verlaufen? Gab es Schwierigkeiten mit einem Menschen?«, fragte er interessiert. Jeden Abend sprachen wir darüber, was auf der Arbeit passiert war. Ich mochte es, ihm davon zu erzählen. Er war der Einzige, der wirklich Interesse daran zeigte, wie mein Job lief, wie ich mich dabei fühlte und was mir sonst noch durch den Kopf ging. Mit ihm konnte ich reden. Egal worüber.

    Plötzlich ertönte ein schrilles Signal aus Trompetenblumen, Hornflöten und Tubablattfröschen, das uns beide sofort aufschrecken ließ. Das Geräusch sägte sich in meine Gedanken und ich verstand kaum, was Seith mir zu sagen versuchte, als er mir beim Aufstehen half. Er nahm mich bei der Hand und lief mit mir um den Baum herum. Von der Baumkrone baumelte eine Trittleiter herunter, die nur eine Stufe besaß. Er stellte mich darauf und knickte einen Zweig. Augenblicklich bewegte sich die Stange unter meinen Füßen nach oben und ich verstand aus der wilden Gestik seiner Arme, dass ich dort auf ihn warten solle. Nach kurzer Zeit kam ein dicker Ast in Sicht, auf den ich sprang und auf dem ich nach einem taumelnden Schritt auch endlich Halt fand. Ich geduldete mich, bis er neben mir stand und erneut meine Hand nahm. Er geleitete mich über den Ast auf einen Balkon, der sich mir erst eröffnete, als Seith ihn bereits betreten hatte. Hier war das Signal zwar nicht abgeklungen, aber um einiges leiser als unten im Blumengarten.

    Die Empore schien die Verdickung eines riesigen Baumes zu sein. Säulen mit koboldschen Verzierungen waren aus dem Urholz geschnitzt worden und verliehen ihr einen altehrwürdigen Hauch.

    »Wie ist das nur …?« Ich verstand immer noch nicht, dass dies der Weg sein musste, über den Seith in den magischen Garten gelangte.

    »Ich erkläre es dir bei Gelegenheit«, flüsterte er, als befürchte er, es könnte uns jemand entdecken. »Aber der Notfall hat nun Vorrang. Dieses Signal ruft die gesamte Koboldschaft in den großen Versammlungssaal. Es muss etwas Schlimmes geschehen sein. Wir sollten keine Zeit verlieren.«

    Illu

    Kapitel 2

    Aufregung

    Ein leichter Luftzug blies mir ihr gewelltes Schwarzhaar gegen die Nase und ich bemerkte, dass ich schon wieder eingeschlafen sein musste. In den letzten Tagen waren einige Minenkontrollgänge in den äußeren Koboldlanden angefallen, die eine Menge Papierkram nach sich zogen. Eine Angelegenheit, die nicht gerade zu meinen liebsten Tätigkeiten zählte.

    Auch ohne Myriel zu fragen, wusste ich, dass heute nur ein guter Tag gewesen sein konnte. Man merkte ihr sofort an, wenn etwas passiert war. Seit dieser magischen Begegnung vor rund zwei Jahren war ich mit ihr ohnehin auf einer Ebene verbunden, die ich noch bei keinem anderen Kobold gespürt hatte. Selbst wenn sie nicht vor mir stand oder in einer Anderswelt unterwegs war, war es mir möglich, ihren Herzschlag zu spüren – direkt neben meinem eigenen. In diesem Moment wirkte sie äußerst zufrieden, obwohl sich ein kleines Ärgernis ergeben haben musste. Ihr Atem ging ungleichmäßig.

    Als ich das Registrat erwähnte, sprudelten die Gefühle nur so aus ihr heraus und ich unterbrach sie sorgsam. Diese Kobold-Institution führte sich merkwürdig auf, wenn es sich um ihre Reisen handelte. Ich hatte sie bereits auf meiner Liste stehen. Eine Standardüberprüfung am Ende der Woche würde niemandem komisch vorkommen. Hinterfragte ich neben Myriels noch andere Koboldreisen, waren sie gewiss nicht in der Lage, eine Verbindung zwischen uns festzustellen.

    Um von dem unliebsamen Thema abzulenken, fragte ich nach ihrem Tag in der Menschenwelt. Diese Anderswelt schien ihr die liebste zu sein. Etwas an den Menschenwesen faszinierte sie dermaßen, dass sie sich freiwillig für die Arbeit in dieser bei den anderen Kobolden eher unbeliebten Welt zur Verfügung stellte. Einmal hatte ich sie nach dem Grund ihrer Faszination gefragt. Sie hatte gelächelt, mit dem schönsten Lächeln, das ich je bei ihr gesehen hatte, und gesagt: »Die Menschen besitzen eine Art zu lieben, die einfach so wunderschön ist, dass tausend Worte nicht annähernd ausreichen, um sie zu beschreiben. Ihre Liebe ist einzigartig und gleichzeitig so vielfältig. Wenn ich irgendwann jemanden so sehr lieben kann, habe ich alles auf der Welt erreicht. Alles, wofür es wert ist, zu leben.«

    Manchmal rief ich mir nicht nur dieses Lächeln, sondern auch ihre Worte ins Gedächtnis, die sie so besonnen gewählt und voller Glücksgefühle ausgesprochen hatte. Diese Myriel war mir die Liebste; jedoch zeigte sie sich so rar, dass mir nichts anderes übrigblieb, als diese seltenen Momente so lange wie nur irgend möglich auszukosten.

    Ehe sie aber von ihrem Tag in der Menschenwelt berichten konnte, ertönte im magischen Garten das laute Notfallsignal der Stufe V. Dieses Signal hatte ich in den zwei Jahren, in denen ich dabei war, nur aus Übungszwecken gehört und auch vor meiner Zeit bei der Sicherheitsabteilung hatte es nie diese Stufe erreicht. Es musste etwas Furchtbares vorgefallen sein!

    Ich blickte Myriel an, die das Signal zu ängstigen schien. Ihr Blick huschte hin und her, als versuche sie, es zu orten. Ich nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen und erzählte ihr von dem Ausgang oberhalb des Baumes, doch sie verstand kein Wort. Der Lärm war so durchdringend, dass ich nicht einmal meine eigene Stimme hören konnte.

    Ich zog sie auf die andere Baumseite und schickte sie die Holzschubleiter hinauf. Ihr Blick machte deutlich, dass sie so eine Vorrichtung bisher noch nicht benutzt hatte. Ich unterdrückte ein Schmunzeln über ihren schwankenden Schritt und folgte ihr. Oben angekommen geleitete ich sie zum Ende des dicken Astes. Für sie musste es so aussehen, als liefe ich ins Nichts und würde jede Sekunde abstürzen. Aber da ich den Weg kannte, sah ich hinter dem magischen Schleier den Balkon unseres Hauses. Als ich sie herüberzog, öffnete er sich einen Augenblick und ließ sie hindurch.

    »Wie ist das nur …?«, entwich Myriel ein Staunen, doch für Erklärungen blieb keine Zeit. Ich wusste, dass sie die angrenzende Empore noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Von dort unten war schließlich nur der weite Blick in den Garten möglich, seit ich einen spiritistischen Schutz darüber gelegt hatte. Es war einfach zu riskant, zusammen gesehen zu werden. Ich konnte diesen für uns beide so magischen Ort nicht ungeschützt lassen.

    Ich nahm sie wieder bei der Hand und führte sie ins Innere des Herrenhauses meines Vaters. Dort hielt ich sie zur Ruhe an und lugte beim Gehen vorsichtig um die Ecken der Flure, ehe wir den nächsten passierten.

    »Wir sind gleich draußen«, flüsterte ich beschwichtigend, denn ihr Herz klopfte unerbittlich vor Aufregung. Ich musste aufpassen, dass sich diese Spannung nicht auf mich übertrug, als ich plötzlich goldglänzendes Haar erblickte. Erschrocken wich ich mit Myriel zurück in den Gang und blickte nach hinten. Was jetzt?

    »Seith? Bist du das?«

    Verdammter … Sie hatte mich gesehen. Ich betete darum, dass sie Myriel nicht auch entdeckt hatte. Hastig drehte ich mich zu ihr um und packte sie bei den Schultern: »Hier trennen sich unsere Wege. Samantha ist zu hartnäckig, als dass wir uns jetzt davonstehlen könnten. Ich werde sie ablenken und du biegst rechts in den Gang ein. Folge den Türen, bis du zu einer Tür mit einem großen Vorhängeschloss gelangst. Die nächste Tür nimmst du, gehst den Flur entlang und läufst zweimal links. Hast du alles verstanden?«

    Sie nickte. Ihr grünes Auge funkelte nervös und ich spürte, wie ihr Herz augenblicklich zu hämmern begann, als mache sie sich für ein Wettrennen bereit.

    »Du schaffst das. Wir sehen uns«, hauchte ich ihr mit einem Kuss auf die Wange entgegen und bog um die Ecke. Die Hand an den Hinterkopf gelegt, versuchte ich, den Ertappten zu mimen. Nicht, dass sie mich nicht erwischt hätte – aber hoffentlich hatte sie Myriel nicht entdeckt!

    »Was tust du hier? Ich meine … was ist mit dem Notsignal? Musst du nicht sofort auf deinen Posten?«, schimpfte sie. Dabei erhob sie ärgerlich den Finger, was in ihrem pompös aufgeblasenen Kleid nur lächerlich wirkte.

    »Ja, du hast Recht. Ich hatte mein Abzeichen vergessen.« Ich schälte ein Grinsen hervor und wies auf das Wappen der Sicherheitsabteilung an meinem Revers. Es zeigte einen Rundschild, eingefasst von den drei Glücksbringern: Kleeblatt, Hufeisen und Geldstück. Danach hakte ich sie bei mir unter und sagte mit der freundlichsten Stimme, die ich für sie aufbringen konnte: »Lass uns gemeinsam gehen. Schließlich haben bei dieser Stufe alle Kobolde vor Ort zu sein.«

    Wir kehrten der Abbiegung den Rücken und ich hoffte, Myriel würde die Chance nutzen und verschwinden. Gleichzeitig wünschte ich, möglichst schnell im Versammlungssaal anzukommen, um nicht länger als nötig Samanthas Gesellschaft erdulden zu müssen. Aber mit diesen monströsen Absätzen brauchten wir wohl eine Weile.

    Die große Hauptversammlung wurde in der dritten Etage des Ivar Quaoi abgehalten. Ein Saal, der ausschließlich dann Verwendung fand, wenn es sich um einen akuten Notfall handelte oder Kobolde aus sämtlichen Landen zusammenkamen. Vermutlich war heute beides der Fall, da sie schon Stufe V ausriefen.

    Um zum Ivar Quaoi, dem einzigen Mammutbaum unseres Koboldlandes, zu gelangen, mussten wir eine der vier beleuchteten Brücken nehmen, die über den See Celeste führten. Dieser war nach dem ersten Orakel benannt, das den Ivar Quaoi gepflanzt und Jahrhunderte ihres kurzen Lebens gepflegt hatte. Dank ihr besaßen wir einen Ort der Versammlung, an dem wir einander anhören und die Dinge statt mit Gewalt mit Worten diskutieren konnten. Sie war die Koboldin gewesen, die uns den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft geebnet hatte. An manchen Tagen vermisste das Volk sie und besuchte die ewigen Hallen am Fuße des Ivar Quaoi und betete zu ihr.

    Samantha war in meinen Augen zwar eine äußerst aufdringliche Person, die mit Quengeln jedem Kobold ihren Willen aufzwang, dennoch schätzte ich ihre Hingabe für unsere Ahnen. Bevor wir den Mammutbaum betraten, kniete sie sich vor ein Abbild des ersten Orakels und versank einen Moment in ihre Gebete. Ich beschloss, nicht wütend zu werden, obwohl ich ihretwegen um einiges zu spät auf meinem Posten sein würde, und betrachtete stattdessen die Celeste-Statue. Sie war aus Kalk gefertigt und wurde von ein paar Putzteufeln, die wir einst aus einer Anderswelt vor der Ausrottung gerettet hatten, jeden Tag von Moos und Blätterwerk befreit. Ein Schleier umhüllte neben den nächtlichen Schatten den Großteil ihrer Gestalt, doch das freundliche Gesicht und das sanfte Lächeln erinnerten das Volk an ihre Güte, obwohl die gemeißelten Augen eher kalt und leer wirkten.

    Je länger ich Celeste anblickte, desto häufiger schob sich Myriels zartes Angesicht vor mein inneres Auge. Ihre Haut war weich wie eine Pfirsichfrucht, auch wenn ihre Farbe sehr viel blasser war und fast der Kalkstatue glich. Der Anblick ihrer Augen faszinierte mich jedes Mal aufs Neue und der Gedanke, wie so etwas Wunderschönes entstehen konnte, wühlte sich durch mein Unterbewusstsein. Ich war nicht imstande, die Abneigung mancher Kobolde ihres Blickes wegen nachzuvollziehen. Sie sprachen von Unheil und einer zweiten Seite, die von den zwei verschiedenen Augenfarben angedeutet werden sollte, doch Myriel war nicht so. Ich kannte sie. Und ihre beiden Augen – das linke grün, das rechte braun – wollte ich mir gar nicht mehr anders vorstellen.

    »Ich bin so weit. Du auch?« Mit diesen Worten hakte sich Samantha bei mir unter und holte mich aus meinen Gedanken zurück.

    »Ich warte nur auf dich«, brummte ich und wir betraten endlich den Ivar Quaoi. Ehe ich sie jedoch im dritten Stock im westlichen Bereich der Zuhörer abliefern und auf meinen Posten gehen konnte, kam uns mein Vater entgegen. Er wirkte gestresst und hatte sich die blonde Mähne zu einem Zopf nach hinten gebunden. Es gehörte zu seinen Angewohnheiten, mit einem dicken Grinsen eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen und dabei den Faden des Gesprächs zu verlieren. Aber ansonsten war er ein äußerst seriöser Redner, der sein Ziel nicht aus den Augen verlor.

    »Da bist du ja«, keuchte er und klopfte mir einmal auf die rechte Schulter. Samantha, die er sonst so herzlich begrüßte, würdigte er nur mit einem Blick. »Kannst du bei den Wasserkobolden für Ruhe sorgen? Sie scheinen die allgemeine Unruhe wegen der Notfallversammlung nur zu verschlimmern.«

    »Sicher.«

    »Ach und dann könntest du Stellung im zweiten Stock beim östlichen Zuhörerbereich nehmen. Ich befürchte Störungen durch die Familie Donnerstein.«

    »Aber …«

    »Seith, bitte! Es ist keine dieser kleinen Reibereien mit Aigen, das schwöre ich. Es ist etwas Furchtbares passiert und ich erwarte von dir, dass du die Situation unter Kontrolle hältst. Ist nicht genau das der Grund, wieso du dich gegen die Politik und für die Sicherheitsabteilung entschieden hast?« Sein scharfer Unterton war nicht zu überhören, aber neben seiner Bissigkeit bei diesem Thema nahm ich noch etwas anderes wahr: Angst. Das war ein Gefühl, das ich bei meinem Vater bisher nie gespürt hatte.

    Während er beschwichtigend auf Samantha einredete, die nun panisch nachfragte, was denn eigentlich los sei, legte ich die Hand unbemerkt auf seinen Arm. Ein leichtes Kribbeln überfiel meine Handfläche und der goldene Schimmer ummantelte meine Finger. Ich musste aufpassen, dass er davon nichts bemerkte, konnte er es doch auf den Tod nicht ausstehen, wenn ich meine Fähigkeiten dazu einsetzte, seine Gefühle zu manipulieren. Aber falls er einer der Redner in dieser Notfallversammlung war, war es meine Pflicht, ihn von der Angst zu befreien und ihm seine Seriosität zurückzugeben. Andernfalls würde die ganze Versammlung eskalieren, das spürte ich einfach.

    »Okay«, sprach er und zeigte damit deutlich, dass es genug der Worte war. Ich nahm meine Hand zurück und machte ihm den Weg frei. »Ich werde Samantha zu ihrem Bereich geleiten, während …«

    »Ich nach den Wasserkobolden sehe«, ergänzte ich mit einem Nicken. »Ich habe verstanden.«

    »Danke, mein Sohn. Ich verlass mich auf dich.« Mit diesen Worten wandte er sich einem Transportblattwerk zu, das in die oberen Etagen führte, und lief mit Samantha am Arm los.

    Es irritierte mich ungemein, dass sich mein Vater bei mir bedankte. Er hatte so vehement dagegen protestiert, dass ich der Sicherheitsabteilung beigetreten war, anstatt in seine Fußstapfen zu treten. Und jetzt dankte er mir. Ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, was für ein Ereignis auf uns zukam.

    Mit einem Seufzen versuchte ich, die Gedanken umzulenken und mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren: die Wasserkobolde. Ich machte mich auf den Weg zum Celeste-See, in den die Unterwasserwege ferner Koboldlande mündeten. Einige Besucher würden bei ihrer Ankunft nicht wissen, welchem der vielen Wege sie in das Innere des Ivar Quaoi folgen sollten, um den richtigen Versammlungssaal zu finden. Demnach war es neben der Beseitigung der möglichen Unruhen meine Aufgabe, sie anzuleiten.

    Ich hatte gehört, Wasserkobolde seien frech und verspielt. Ich hoffte inständig, sie waren empfänglich für ein manierliches Gespräch und verstanden den Ernst der Lage. Andernfalls war ich sicher nicht der richtige Kobold für diese Angelegenheit.

    Als ich den Ivar Quaoi verließ, hörte ich bereits lautes Geschnatter und näherte mich dem Celeste-See, der nur spärlich vom Mondlicht und ein paar Brückenlichtern erhellt wurde. Ich blickte hinunter. Mit einem Mal wurde es still und zehn Augenpaare sahen mich verdattert an. Eines grell leuchtender als das andere. Ich fragte mich, ob das Gerücht um die Leuchtkraft ihrer Augen wahr war.

    Ehe ich jedoch genauer darüber nachdenken konnte, bäumte sich ein Seepferdchen in der Größe der Celeste-Statue auf und eine Hand glitt von seinem Sattel hinunter zu mir. Sie packte meinen Uniformmantel und hob mich hoch, während sich mir der Kopf eines Wasserkoboldes bis auf einige Zentimeter entgegenstreckte. Glühende Augen blickten mich an und eine Zunge, die aus einem scharfzahnigen Maul fuhr, leckte über seine Lippen.

    »Bist di insir Fihrir?«, kam eine piepsige Stimme aus dem sonst so furchterregenden Wesen und ich musste mir ein lautes Lachen verkneifen. DAS sollten die gefürchteten Wasserkobolde sein, die ihr Unwesen in den Tiefen der Meere trieben?

    Illu

    Kapitel 3

    Gedanken an Mutter

    Sein Kuss hatte ein leichtes Kribbeln auf meiner Wange hinterlassen und ich versuchte eindringlich, Ruhe zu bewahren. Nicht nur, dass ich mich jetzt alleine in einem mir unbekannten Herrenhaus befand, in dem ich von niemandem gesehen werden durfte. Ich musste mich auch noch beeilen, um zeitig im Versammlungssaal aufzutauchen, ehe ich eine Rüge meines Vaters kassieren würde. Trotz der Eile, die mir geboten war, pumpte mein Herz nicht deswegen jede Menge Blut in den Kopf. Es war dieses Prickeln, das mich nicht klar denken ließ und das mich veranlasste, um die Ecke zu lugen.

    Das war also Samantha? Von hinten konnte ich nur ihr fast bodenlanges, goldglänzendes Haar und ein ballonartiges Spitzenkleid erkennen. Es hatte die Farbe von Zitronen und eine kleine Schleppe war daran befestigt. Mehr als dass sie Seiths unliebsame Verlobte war

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