Chapter Text
Den ersten Waschbären seines Lebens sieht Adam in Lübeck, an einem regengrauen, feuchtkalten Tag, wie bisher jeder Tag hier gewesen ist. Schön langsam hat er den Verdacht, dass diese ganzen Fotos mit hübschen Strandkörben in der Sonne reinste Propaganda sind, um arglose Touristen anzulocken. Und arglose frischgebackene Kriminalkommissare dazu zu bringen, sich für Lübeck zu bewerben anstatt für Städte wie Berlin oder Frankfurt, wo es sowas wie Sonnenschein gibt.
Dafür gibt’s hier mehr Fisch, als er erwartet hat. Und er war auf viel Fisch eingestellt, aber auf Fisch in allen kulinarischen Formen, Farben und Verarbeitungszuständen hat ihn niemand vorbereitet.
Also weiß er nicht recht, was er machen soll, als sein Chef an einem ihrer ersten Außeneinsatz-Tage im Hafengebiet an einem suspekt wirkenden, rostigen Container stehenbleibt, kurz um die Ecke verschwindet und dann mit einigen in Papier gewickelten Päckchen in seinen großen Pranken wiederkommt. Für einen Moment fürchtet Adam, dass er gerade rausfindet, wie die Lübecker Kollegen ihr Gehalt aufbessern, da wird ihm schon gewunken und er wird mit einem energischen Kopfnicken aus dem Auto und an die Kante des Hafenbeckens beordert. Oder des Kanals, oder Flusses, oder was auch immer das hier ist. Mauer halt, mit Wasser ein paar Meter tiefer.
Adam drückt Unsicherheit und Skepsis hinunter und fügt sich, weil er auch nicht wirklich eine Wahl hat. Und sitzt dann eine Minute später auf eben jener Kante, lässt die Beine über das brackig müffelnde Wasser baumeln, und bekommt zwei der Päckchen in die Hand gedrückt.
Eins entpuppt sich als eine Portion Pommes. Mit Mayo statt mit Ketchup, aber da hat er schon gelernt, dass die hier im Norden was gegen Gemüse haben. Und Ketchup ist eben Gemüse. Von dem Standpunkt wird er nie weggehen.
(Er beharrt da auch zehn Jahre später noch drauf, egal wie verzweifelt Leos Blick wird. Ketchup ist doch quasi Tomatenmatsch. Eindeutig Gemüse.)
Das zweite Päckchen enthält etwas, das Adam vorsichtig als potenzielle Mordwaffe identifiziert.
“Ubbo macht die besten Fischbrötchen von Lübeck”, klärt ihn sein Chef auf. “Wenn er grad nicht wieder im Knast sitzt.”
Adam beäugt das Ding in seiner Hand misstrauisch. Sieht schon aus wie ein Verhaftungsgrund. Spontan fallen ihm da mehrere Straftatbestände ein, angefangen damit, dass Essen einen nicht mehr anschauen sollte.
Aber es ist eine nette Geste, also gibt er sich Mühe. Beißt ein paar Mal von dem Fischbrötchen ab und versucht, möglichst wenig Fisch und möglichst viel Brötchen zu erwischen. Erwägt, spontan Vegetarier zu werden, falls das hier ein häufigeres Ereignis werden sollte. Lernt, dass er vielleicht immer gedacht hat, dass er beim Essen nie wählerisch sein wird, aber dass er es für Fischbrötchen nochmal überdenken sollte. Das sieht ihm hier eindeutig zu lebendig aus für seinen Seelenfrieden.
Die Pommes sind beruhigend normal, also hält er sich irgendwann daran fest und schiebt das Brötchen zur Seite, während er zuhört, wie sein Chef ihm erklärt, wie das in der Lübecker Kripo so läuft. Unterm Strich gar nicht so schlecht, und nach fünfzehn Minuten ist er vorsichtig optimistisch, dass das hier nicht die ganz verkehrte Wahl war. In Berlin würde er jetzt als Springer durch die diversen Kripo-Abteilungen tingeln und hoffen, dass er irgendwo klebenbleibt, wo es spannend ist, und nicht gerade bei der Wirtschaftskriminalität oder den Kunstverbrechen strandet. In Lübeck ist er gefragt worden, was ihn interessiert, und als er in einem Anflug von Größenwahn gefragt hat, ob was in der Mordkommission frei ist, wurde einfach nur genickt und ihm mitgeteilt, dass er sich in einer Woche beim Kollegen Finn Kiesewetter beim Mord melden soll.
Adam, eingestellt auf ein paar Jahre bei den Umweltverbrechen oder beim Knöllchenservice, wusste gar nicht, wie ihm geschieht.
Und jetzt ist er hier, mitten in seinem ersten Mord. Mordfall. Mordermittlung, weil er ja hier niemanden um die Ecke gebracht hat, sondern aufklären soll, wer verantwortlich ist. Das war schon irgend jemand anderes. Und das werden sie hier rausfinden, hofft er, und sein Chef klingt auch ganz überzeugt, dass das doch gar nicht so schwer sein wird. Also versucht Adam, sich nichts anmerken zu lassen von seiner Nervosität und seiner Sorge, dass er das hier alles vermasseln könnte, weil er das Gefühl hat, dass er sowas von keine Ahnung von dem hat, was er hier macht, Polizeiausbildung hin oder her.
Gestern musste er in einer Kleingartenkolonie dreihundertvierundzwanzig Gartenzwerge einer bestimmten Marke einsammeln, weil darin Drogen eingetöpfert geworden sind. Wovon die meisten Besitzer nicht sonderlich erfreut waren. Von der Beschlagnahmung der Gartenwerkzeuge, nicht von den Drogen. Die schienen den meisten egal zu sein, was Adam dann auch nicht weiter hinterfragt hat. Aber da wurden drohend Gartenwerkzeuge geschwungen und Adam mit Wasserschläuchen durchnässt, bis ihm richtiggehend mulmig wurde und er heilfroh war, als er schlussendlich mit einem Auto voller beschlagnahmter Drogenkurier-Gnome den Rückzug antreten konnte.
Darauf hat ihn keine Vorlesung vorbereitet. Und irgendwie fürchtet er, dass das erst der Anfang war.
Adam schiebt sich gerade noch die letzten Pommes in den Mund und brummt zustimmend, während er erklärt bekommt, wie das mit dem Hausmeister im Kommissariat so läuft und wie man den überzeugt, dass er einen bequemen Bürostuhl rausrückt.
Und dann wird sein Chef auf einmal still. Bekommt einen eiskalten Gesichtsausdruck. Seine Hand zuckt..
“Achtung, Schürk!”
Adam erstarrt.
Eine Sekunde später fliegt ein zusammengeknülltes Brötchenpapier an ihm vorbei und trifft ihn fast ins Gesicht.
“Zugriff! Schnell! Sonst ist es zu spät!”
Adam hat keine Ahnung, was los ist. Adrenalin schießt durch seine Adern.
Er fummelt nach seiner Dienstwaffe im Gürtelholster, will sich schon hektisch auf die Beine rappeln, zieht die Waffe und zielt auf was immer da die Gefahr direkt neben ihm ist.
"Polizei!" ruft er, weil er es so gelernt und hunderte Male geübt hat. “Hände über den Kopf!”
Er sieht Bewegung im Augenwinkel. Klein. Zu klein, registriert sein Hirn nach einem Moment, und es ist überraschend genug, dass er den Griff der Waffe fast loslässt.
Der Waschbär nutzt seine Verwirrung und schnappt sich Adams Fischbrötchen. Klemmt es sich in die Schnauze, stützt es irgendwie mit einer Vorderpfote ab und nimmt im Schweinsgalopp Reißaus. Adam kann nur mit offenem Mund zusehen, die gezogene Waffe in der Hand, wie Tierchen und Brötchen in einer Staubwolke zwischen den Schiffscontainern verschwinden. Ein einsames Salatblatt flattert zu Boden.
Über ihnen kreisen kreischende Möwen. Sie hören sich fast enttäuscht an.
“Das müssen Sie wohl auch noch lernen”, meint Finn Kiesewetter und klopft ihm tröstend mit einer dieser großen Pranken auf die Schulter. “Nie die wichtigen Dinge aus den Augen verlieren.”
“Die Waffe?” fragt Adam. So ganz hat er noch nicht kapiert, was da gerade gelaufen ist und ob er sauer sein soll oder erleichtert, dass das Fischbrötchen gemopst wurde.
Noch ein Schulterklopfen. “Ja, die auch. Nächstes Mal passen Sie einfach ein wenig besser auf. Die Waschbären sind hier hinterlistig. Und die Möwen. Aber das lernen Sie alles noch. Willkommen in Lübeck.”
Adam schaut vorsichtig zum Himmel auf, wo wohl die nächste Gefahr kreiste, und beugt sich schützend über seine paar verbleibenden Pommes.
Na wunderbar.