[go: up one dir, main page]

Geisteskrankheiten

[169] Geisteskrankheiten, Seelenkrankheiten, Gemüthskrankheiten, Seelenstörungen nennt man solche krankhafte Zustände, in denen der Mensch seiner moralischen Freiheit, d.h. seiner Selbstbestimmung, bleibend oder in immer wiederkehrenden Anfällen beraubt ist; daher werden solche Kranke wol auch Unfreie genannt. Verrückte nennt sie das Volk und zwar mit Recht, denn eben dadurch, daß die einzelnen Seelenkräfte untereinander verrückt worden sind, ist die Harmonie des Seelenlebens aufgehoben und die Seelenkrankheit bedingt. Die Veranlassungen zur Entstehung von Geisteskrankheiten können sowol von dem Körper als von dem geistigen Wesen des Menschen ausgehen, in den meisten Fällen wirken jedoch beiderlei Arten von Ursachen zusammen, um sie herbeizuführen. Der Umstand, daß Geisteskrankheiten am häufigsten in dem Alter von 25–35 und von 50–60 Jahren zum Ausbruche kommen, dürfte zu dem Schlusse berechtigen, daß diese Altersstufen eine besondere Anlage zu Seelenstörungen begründen; hinsichtlich des Geschlechts scheint es, als wenn im Durchschnitt mehr Männer als Frauen, diese aber gewöhnlich früher und zwar vorzugsweise zur Zeit der Geschlechtsentwickelung und bei dem Erlöschen der Zeugungsfähigkeit geisteskrank würden. Von den Temperamenten (s.d.) sind das melancholische und cholerische Seelenstörungen mehr ausgesetzt als das sanguinische und phlegmatische, und zwar geht, wenn es zum wirklichen Erkranken kommt, das melancholische Temperament gewöhnlich in Melancholie, das cholerische in Tobsucht, das sanguinische in Wahnsinn und Narrheit, das phlegmatische in Blödsinn über. Ferner legt eine fehlerhafte Erziehung, namentlich eine vorschnelle, einseitige oder oberflächliche Ausbildung des Geistes oft sehr früh schon den Keim zu Geisteskrankheiten. Dasselbe thun Leidenschaften und Lasterhaftigkeit, namentlich solche Laster, welche zugleich den Körper zerrütten, wie Trunksucht und Wollust. Auch die Art des Gewerbes und der gewöhnlichen Beschäftigung erzeugt zuweilen eine deutlich wahrnehmbare Hinneigung zu Seelenstörungen. So beobachtet man eine solche Hinneigung häufig bei anhaltend sitzenden, beständig über einem und demselben, vielleicht nicht einmal zu enträthselnden Gegenstand grübelnden, über ihre Kräfte und mit Abbrechung des Schlafes arbeitenden Stubengelehrten; ferner bei solchen, die nicht selten heftigen Gemüthsbewegungen in Folge plötzlichen Glückswechsels ausgesetzt sind, wie Kaufleute, Speculanten, Wucherer u.s.w.; bei Leuten, die oft aus ihrer eignen Persönlichkeit heraustreten müssen, wie Schauspieler; unter gewissen Umständen auch bei Denjenigen, die irgend eine Beschäftigung ohne innern Beruf, nur nothgedrungen, ohne Talent und ohne die dazu nöthigen Kenntnisse treiben; bei Solchen, die sich anhaltend der Sonne und dem Feuer aussetzen müssen, wie Hüttenleute, Bäcker, Köche, Winzer, Schnitter, Schieferdecker u.s.w.; endlich ist die Anlage zu Geisteskrankheiten nicht selten ererbt und verräth sich dann schon in der Kindheit durch nervöse Körperconstitution und große Geneigtheit zu krampfhaften Zufällen. Krankhafte Zustände des Körpers, welche Seelenstörungen herbeizuführen vermögen, sind namentlich Kopfverletzungen, alle Krankheiten des Gehirns, alle bedeutende Störungen des Blutumlaufs und davon abhängiger häufiger Blutandrang nach dem Kopfe, Unterleibsstockungen, Unterdrückung des Hämorrhoidal- oder Monatsflusses, Unterdrückung mancher Hautausschläge, Nervenfieber, langwierige Nervenkrankheiten, Vergiftungen u.s.w. Als besondere Arten von Geisteszerrüttung, die jedoch mannichfaltiger Schattirungen fähig sind, unterscheiden wir gewöhnlich: die Narrheit, die Tollheit, den Wahnsinn, den Blödsinn, die Willenlosigkeit und die Melancholie. Dabei darf man jedoch nicht zu streng scheiden wollen, denn alle diese Zustände greifen auf mannichfache Art mehr oder weniger ineinander über. Die Narrheit gibt sich durch ein unruhiges, zweckloses Umhertreiben, verkehrtes Handeln in Folge von verkehrtem Denken, falsche Einbildungen von Reichthum, Ansehen und Bedeutung, fixe Ideen oder auch unaufhörlichen Wechsel der Ideen, unsteten, zerstreuten, zuweilen stechenden Blick, veränderliche und zerrüttete Gesichtszüge, Vernachlässigung des Anzuges oder geckenhaften und phantastischen Anputz zu erkennen. Sie täuscht leicht unter dem Scheine körperlicher und selbst geistiger Gesundheit, so lange gewisse Ideen nicht berührt werden, und hat ihren Entstehungsgrund am häufigsten in geistiger Überspannung. Die Tollheit oder Tobsucht charakterisirt sich hauptsächlich durch einen blinden, zwecklosen Zerstörungstrieb, der sich gewöhnlich anfallsweise äußert und mit dumpfem Hinbrüten [169] abzuwechseln pflegt. In dem Anfalle selbst brüllen und schreien die Kranken, deren Gesicht glüht, deren Augen wild umherrollen, wüthen gegen Alles, was ihnen vorkommt und sind wegen der während des Paroxysmus ungemein vermehrten Muskelkraft in der Regel nur mit Hülfe von besondern Vorrichtungen (Zwangsweste, Zwangsstuhl und dergl.) zu bändigen. Diese Art von Seelenstörung befällt am gewöhnlichsten Männer von cholerischem Temperament und von robuster, vollsaftiger Körperconstitution. Der Wahnsinn, die Verzücktheit, Ekstase, das Außersichsein ist ein fortgesetztes waches Träumen, ein glückseliges Leben in einer von der eignen Phantasie geschaffenen, von der Wirklichkeit unabhängigen Welt. Bei diesem Seelenleiden zeigt sich der Wille mehr oder weniger oder auch gänzlich dem Einflusse der Vernunft entzogen und nur von Gefühlen abhängig. Die Verzücktheit kommt bei Personen sanguinischen Temperaments und lebhaften Geistes vor und wird am häufigsten durch eine schwärmerisch-mystische Bildung herbeigeführt. Über den Blödsinn s. Blöde. Die Scheu oder Willenlosigkeit besteht in gänzlichem Mangel an Selbstbestimmung, wobei weder das Urtheil noch auch die Theilnahme an Schmerz und Luft fehlen. Hinsichtlich ihrer äußern Merkmale steht diese Art von Seelenstörung mitten inne zwischen Blödsinn und Melancholie. Die Neigung mancher Menschen, sich in Allem immer von äußern Zufälligkeiten lieber bestimmen zu lassen, als von dem eignen Entschlusse, mag wol unter manchen Umständen zur wirklichen Krankheit ausarten. Die Melancholie gibt sich als trübe, verschlossene, in sich selbst versunkene Gemüthsstimmung bei völliger Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt und von Zeit zu Zeit erfolgenden Ausbrüchen von Klagen und Verzweiflung nebst Hang zum Selbstmorde zu erkennen. Sie beruht meist auf körperlichen Ursachen und namentlich in einer krankhaften Steigerung des melancholischen Temperaments, begleitet von gestörtem Umlaufe des Bluts im Unterleibe und Leberleiden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 169-170.
Lizenz:
Faksimiles:
169 | 170
Kategorien: